Frank Wedekind
Die Zensur
Frank Wedekind

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Dritte Szene

Kadidja (immer noch auf der Lauftrommel stehend): Was wollte der Herr?

Buridan (auf dem Diwan): Der Herr wollte sich auf ewig von mir verabschieden. (Er nimmt das Buch vom Boden auf und blättert darin.)

Kadidja: Die Trennung scheint dir sehr zu Herzen zu gehen. – Mich würdest du leichteren Herzens ziehen lassen. – Erinnerst du dich noch an die endlose Reihe von Särgen, die du in dein Notizbuch gezeichnet hattest?

Buridan (ohne sie anzusehen): Ja, ich erinnere mich an die Särge.

Kadidja: Auf jeden einzelnen Sarg hattest du die Worte geschrieben: Endlich allein.

Buridan: Endlich allein.

Kadidja: Und wenn ich dich nun wirklich verlassen wollte?

Buridan: Du glaubst ja gar nicht, wie inbrünstig meine Seele nach jenem Reiche verlangt!

Kadidja: Ursprünglich beziehen sich die Worte aber doch wohl auf zwei Menschen, die in ihrem Brautgemach endlich miteinander allein waren?

Buridan (ohne aufzublicken). Für die beiden werden die Worte auch noch einmal ihre Bedeutung ändern.

Kadidja: Willst du mich denn nicht ansehen? (Da Buridan nicht antwortet): Ich stehe auf deiner Lauftrommel hier. – Ich stehe in dem Maskenkostüm hier, das ich morgen abend in der Aufführung deines Stückes in dem Hochzeitsballett tragen soll.

Buridan: Ich suche vergeblich nach einem Ausdruck dafür, wie unendlich gleichgültig mir die morgige Aufführung meines Stückes ist.

Kadidja: Armer Buridan! – (Sie springt von der Lauftrommel herab.) Was soll dir noch Freude bereiten, wenn du an deinen eigenen Theaterstücken keine Freude mehr hast! (Sie setzt sich ihm auf die Knie.) Laß dich das bitte nicht mehr erschrecken. Ich komme nämlich auch nur, um mich von dir zu verabschieden. – Ich werde mich nun also wieder auf das wilde Meer hinausbegeben, auf dem du mich vor achtzehn Monaten eingefangen hattest; auf dem man sich nur durch seine Kräfte, nur durch seine Vorzüge über Wasser halten kann. Bei dir könnte ich mich von jetzt an nur noch durch meine Defekte über Wasser halten – vorausgesetzt natürlich, daß ich welche hätte.

Buridan: Ich trage mich seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, ein Freudenhaus als moralische Erziehungsanstalt ins Leben zu rufen. Ein Haus, in dem die Zöglinge Jahre hindurch derart durch Freuden übermüdet werden, daß sie dann fürs ganze Leben ihren höchsten Genuß in dem erblicken, was man sonst Sorgen und Mühseligkeiten nennt.

Kadidja (erhebt sich und kniet sich neben ihn auf den Diwan): Du scheinst wahrhaftig vom Himmel dazu beauftragt zu sein, deinen Mitmenschen die schönsten Dinge ihres Daseins zu verleiden.

Buridan: Du begreifst nicht, daß man sich selbst zu einem Gegenstand des Abscheus wird, wenn man nur um seiner selbst willen ißt und trinkt und liebt.

Kadidja: Wäre denn die Freude nicht Manns genug, solchen Abscheu zu überwinden?

Buridan: Warum lieben die wilden Tiere im Käfig nicht? – Weil ihnen die Freiheit fehlt, ihre Beute zu erjagen.

Kadidja: Mir fehlt die Freiheit erst recht, darum lieb' ich doch.

Buridan: Deine Liebe fühlt sich genau so frei, wie meine Tatkraft in Ketten liegt! – Was bin ich! – Was bin ich!

Kadidja: Nun? (Sie tritt zum Spiegel.) – Du suchst doch sonst nicht so lang nach dem treffenden Ausdruck. – Du scheinst wieder einmal der (sie blickt in den Spiegel) – nackten Wirklichkeit nicht in die Augen blicken zu können.

Buridan: Ein Tier!

Kadidja (sich im Spiegel betrachtend). Und ich soll ein Engel sein!

Buridan: Ein Tier!

Kadidja (ihr Spiegelbild küssend): Zu einem Engel bin ich mir doch noch zu jung.

Buridan. Ein Tier!

Kadidja: Aber doch wenigstens ein außergewöhnliches Tier! Ein erotisches Tier!

Buridan (aufspringend): Kadidja! Du kannst deinen Körper vor meinen Augen so bezaubernd zur Schau stellen, wie es dir irgendwie möglich ist. Aber der Schaustellung müssen ebenso viele höchste menschliche Werte das Gleichgewicht halten!

Kadidja: Trifft das bei mir nicht zu?

Buridan (stellt die Lauftrommel auf die Stirnseite): Stell' dich auf dieses Piedestal! Dann werde ich dein Zensor sein!

Kadidja: Mein Zensor willst du sein? – Aber ich bin doch kein Trauerspiel!

Buridan: Ich werde keine strengere Zensur an dir üben, als wie ich sie seit Jahren täglich, stündlich über mich ergehen lassen muß. So Gott will, findest du meine Zensur ebenso unbillig, ebenso willkürlich, wie ich die Zensur meiner Zensoren finde?

Kadidja (auf die Lauftrommel steigend): Bitte! Sprich!

Buridan: Kadidja! Wenn du über die Straße gehst, dann besteht der Zensor darauf, daß du ein langes Kleid trägst. Dir droht keine Lebensgefahr; deshalb hindert er dich, das Leben anderer zu gefährden. Wenn du aber im Zirkus als Kunstreiterin reitest und nicht vom Pferde stürzest, ohne deine Glieder zu brechen, dann gestattet dir der Zensor gern, mit allen Reizen deines Körpers zu wirken. Und wenn du auf dem hohen Turmseil von Kirchturmspitze zu Kirchturmspitze hinübertänzelst, dann fragt kein Zensor mehr, wie du dich dazu herausputzst. Du kannst dir eine Spinnwebe über den nackten Leib spannen. Man weiß, daß du keinen Fehltritt tust, ohne unten auf dem Marktplatz als unerkennbares häßliches Etwas ins Rinnsal hinabgefegt zu werden.

Kadidja (lächelnd): Sind die anderen Zensoren ebenso eifrige Bilderstürmer wie du?

Buridan: Kadidja! In Palermo sah ich einmal eine Seiltänzerin. Aber die Tänzerin tanzte auf einem elastischen Seil. Mitten unter dem Seil war ein viereckiges Brett mit aufrechtstehenden fußhohen blitzenden Messern aufgestellt. Über diesen Messern tanzend, entkleidete sich das Mädchen, indem es sich dabei nach rechts und links um sich selber drehte. Darauf setzte sie das Seil in schaukelnde Bewegung, kniete auf dem schaukelnden Seil nieder, trieb es rascher und rascher an, daß es unter ihren Knien wie eine Bogensehne schwirrte; und als es wieder in ruhiger Lage war, sprang sie auf die Füße, überschlug ihren Körper dreimal hoch in der Luft und stand dann ebenso harmlos ruhig lächelnd über den blitzenden Messern auf dem elastischen Seil, wie – wie du hier vor mir stehst.

Kadidja: Nun? Und? – Du fürchtest wirklich ernstlich, ich könnte des Hochzeitsgewandes, das ich trage, nicht würdig sein?

Buridan (keuchend, mit geschlossenen Augen): Darauf ließ sie sich einen langen Mantel heraufreichen, in den sie sich bis auf die Fußspitzen einhüllte, ging mit geschlossenen Augen zum Ende des Seiles hin, stieg herab und verschwand hinter dem Vorhang. (Die Fassung verlierend): Kadidja, deine Eitelkeit ist mir eine Folterqual. Zieh ein Reformkleid an, Kadidja! Zieh ein Reformkleid an! Ich verdurste nach Geschmacklosigkeit, nach unergründlicher Seelentiefe, in der ich mich vor allem, was Sinnlichkeit ist, verkriechen kann! Hast du denn kein Erbarmen mit dir, wenn all die Herrlichkeit so wenig mehr wirkt wie ein buntes Taschentuch, das an einem Spazierstock flattert?!

Kadidja (sehr ruhig): Habe ich mich geschaffen?

Buridan: Ich habe dich nach meinem Belieben geschaffen, ich werde dich nach meinem Belieben umschaffen!

Kadidja (sehr ruhig). Rühr' mich nicht an!

Buridan (droht, handgreiflich zu werden): Häßlichkeit will ich vor Augen haben! Häßlichkeit! Nichts als Häßlichkeit!

Kadidja (sich freimachend): Ich lasse mich nicht entwürdigen! (Sie ist rasch auf den Balkon hinausgeeilt und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Brüstung.)

Buridan (aufschreiend): Kadidja!

Kadidja (setzt sich auf die Brüstung und schlägt das eine Bein hinüber): Wenn du mir einen Schritt nahe kommst, werfe ich mich außen hinab!

Buridan (keuchend): Ich bin zur Besinnung gekommen, Kadidja! Es war ein Tobsuchtsanfall. Ich hatte einen Augenblick vollständig vergessen, wer du bist.

Kadidja (aufrecht auf der Brüstung stehend): Nicht einen Schritt – sonst lieg' ich unten!

Buridan (winselnd): Komm herein! Kadidja! Komm herein!

Kadidja: Du liebst mich ja doch nicht mehr. Und ich kann ohne dich nicht leben.

Buridan: Komm zu mir herein! Wie soll ich dich denn nicht lieben! Ich will ja mein ganzes Leben dein Sklave sein!

Kadidja (ist außen hinabgestiegen und hält sich am innern Rand der Brüstung mit den Händen fest): Nicht einen Schritt! – Ich habe dich mit deiner Gedankenwelt verfeindet; ich werde dich deiner Gedankenwelt zurückgeben! (Da ihr Buridan entgegen will, hebt sie die rechte Hand empor und lehnt sich weit nach rückwärts.) Ein Schritt noch und ich lasse die Brüstung los!

Buridan (heulend): Innigstgeliebtes, teuerstes Geschöpf! Geliebteste Kadidja! – Bleib doch! Bleib! – Alles, alles ist dein Eigen!

Kadidja (hat sich so weit hinabgelassen, daß nur noch ihr Kopf über der Brüstung zu sehen ist): Ich gebe dir deine Freiheit zurück! – Komm nicht näher, glücklicher Buridan! Sonst bist du Mörder! (Der Kopf verschwindet. Man sieht noch die Hände, mit denen sie sich festhält.)

Buridan (ist in die Knie gebrochen, ringt die Hände ineinander und betete ohne noch einen Blick nach dem Balkon zu werfen): Herr! Herr! Vater des Himmels und der Erde! Hilf uns! Hilf mir! Hilf! Wenn sie hinabfährt, ist ein Menschenleben hin! Welch ein Menschenleben! Ich habe gespottet! Herr im Himmel, ist das die Rache?! Sei barmherzig, Vater im Himmel! Du allein kannst helfen! Ich will dir dienen und deine Macht verkünden, solange ich lebe! – Hilf meiner armen Kadidja! Sie ist das herrlichste Geschöpf, die größte Seele, die in deiner Schöpfung lebt . . .

Kadidja (hebt noch einmal den Kopf über die Brüstung): Soll ich Schwester Scharolta von dir grüßen . . .? (Sie wirft die Hände in die Luft zurück und verschwindet.)

Buridan (der nicht hingesehn hat): Oh! Oh! – Das ist ihre Stimme! – Herr Gott im Himmel, ich flehe dich an! Soll ich aufspringen?! Werd' ich noch ihre Hand fassen?! – Kadidja! – Geliebte! – – (Er horcht nach rückwärts und ruft mit röchelnder Stimme) Kadidja . . .! Kadidja . . .! (Nach einer Pause sich in Krämpfen vornüberwerfend): Er läßt seiner nicht spotten! – Er läßt sich nicht versuchen! – O Gott! – O Gott, wie unergründlich bist du . . .

 
(Vorhang.)


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