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Szenerie
Zimmer in Reißners Wohnung. An der einen Seitenwand ein Flügel, an der andern ein Schreibtisch. Die Fenster sind mit dunkeln Gardinen verhängt. Es herrscht tiefe Dämmerung
Personen
Klara Hühnerwadel
Josef Reißner Else Reißner Franz Lindekuh, Literat Hildegard, Dienstmädchen |
(Klara sitzt am Flügel. Sie schlägt einzelne Tasten an und singt, ohne die Klavierbegleitung zu spielen.)
Klara (singt).
Was ist's? Worin war meine Liebe lässig? Geliebter, wessen klagest du mich an? |
(Sich unterbrechend) Was das heute wieder einmal mit meiner Stimme ist?! (Sie singt)
Weh dir! Verräter! Heuchler! Undankbarer! Ich laß dich nicht! Du darfst von mir nicht ziehn! |
Ein Dienstmädchen (öffnet von außen die Tür und sagt). Wollen Sie, bitte, eintreten. Der Herr Professor hat gesagt, er werde um sechs Uhr zu Hause sein.
(Franz Lindekuh, fünfunddreißig Jahre alt, glattrasiert und kurz geschoren, tritt ein. – Klara)
Lindekuh (bemerkt Klara und sagt erstaunt). Sie sind hier, Fräulein Hühnerwadel?
Klara (hat sich erhoben). Ja, ich bin's, Herr Lindekuh. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.
Lindekuh. Allerdings. Anderthalb Jahre werden es sein. – Ist denn Josef nicht zu Hause?
Klara. Nein. Er ist in der Musikschule. Aber er muß jeden Augenblick kommen.
Lindekuh. Und Else?
Klara. Else ist vor einer Stunde ausgegangen.
Lindekuh. Ist sie wirklich ausgegangen?
Klara. Ja, oder zweifeln Sie daran?
Lindekuh. Nicht im geringsten. Sie wird ja wohl auch bald nicht wieder nach Hause kommen?
Klara. Das weiß ich nicht. – Was haben Sie denn?
Lindekuh. Ich habe gar nichts. – Entschuldigen Sie, Fräulein Hühnerwadel. – Ich komme her, weil mir Josef in einer wichtigen Angelegenheit schreibt, daß er mich um sechs Uhr bei sich zu Hause sprechen möchte.
Klara. Er wird ja jedenfalls gleich hier sein.
Lindekuh. Ich kann ja warten. – – – Ich muß Ihnen aber aufrichtig gestehen, Fräulein Hühnerwadel, daß ich nicht erwartet hätte, Sie hier zu finden!
Klara. Warum? Was ist denn los?
Lindekuh. Sie scheinen offenbar keine Ahnung zu haben, was um Sie her vorgeht!
Klara. Nein, das habe ich auch nicht. Aber sagen Sie es mir, bitte! Ist es irgend etwas, was mich betrifft? – – Nun?! – – Sie benehmen sich mir gegenüber so sonderbar! – Reden Sie doch! – Um Gottes willen, was ist geschehen?!
Lindekuh. Geschehen? – (Er wirft sich in einen Sessel) Geschehen ist – meines Wissens – bis jetzt noch nichts.
Klara (geht an die Türe und ruft auf den Vorplatz hinaus). Hildegard, bringen Sie die Lampe! (Sie kommt ins Zimmer zurück und bleibt erwartungsvoll am Flügel stehen)
Lindekuh (nach einer Pause). Was würden Sie, Fräulein Hühnerwadel, denn dazu sagen, wenn Else Meißner von ihrem Ausgang heute nicht mehr zurückkehrte und in einigen Tagen irgendwo tot aus dem Wasser gefischt würde?
Klara. Was ich dazu sagen würde, wenn – wenn Else Meißner . . .?
(Das Dienstmädchen bringt die brennende Lampe herein, stellt sie auf den Flügel, schraubt den Docht auf und nieder, bis sie richtig brennt, und geht wieder hinaus)
Lindekuh (nachdem das Dienstmädchen draußen ist). Was würden Sie dazu sagen?
Klara. Gott sei Dank, ist es hier endlich hell. – Aber was ist denn mit Else? Ich habe nicht das geringste an ihr bemerkt.
Lindekuh (erhebt sich erstaunt). Ist das Ihr Ernst?
Klara. So wahr ich hier stehe! Sie ging fort, um, soviel ich weiß, ein Paar Schildpattkämme, die sie vorgestern gekauft hat, umzutauschen. Jetzt sagen Sie mir aber endlich, was Sie von ihr wissen! Sie begehen einen Schurkenstreich, wenn Sie jetzt nicht reden!
Lindekuh. Mein gnädiges Fräulein, soweit ich meiner fünf Sinne mächtig bin, ist Ihre Behauptung, daß Sie nichts von den Vorgängen, die sich in diesem Hause abspielen, wissen, eine – Schamlosigkeit . . .
Klara (außer sich). Mein Herr . . . (die Hände vor dem Gesicht) O Gott . . .
Lindekuh. Das berührt mich nicht. Aber ich kann um so eher sprechen, da Ihr Verhalten voraussichtlich morgen schon in den Zeitungen erörtert werden wird!
Klara (auffahrend). Ich habe keine Richter und keine Zeitungen mehr zu fürchten! Das habe ich Gott sei Dank hinter mir! Wollen Sie mir jetzt endlich Rede und Antwort stehen!
Lindekuh. Mit Vergnügen! –
Klara. Sie scheinen sich aber doch noch zu besinnen?!
Lindekuh. Weil es mir in diesem Augenblick nicht behagen kann, mich von Ihnen zum Narren halten zu lassen! Wenn in der Zeit, die wie hier mit unnützen Worten vergeuden, ein Menschenleben zum Opfer fällt, dann tragen Sie die Schuld!
Klara. Ich?
Lindekuh. Warum zum Teufel warten Sie denn, bis die Polizei Sie als Landstreicherin über die Grenze spediert, bevor Sie diesem Hause endlich den Rücken kehren?!
Klara (ruhig). Sie sind doch wohl nicht so ohne weiteres in der Lage, mein Herr, die Verhältnisse in diesem Hause richtig zu beurteilen.
Lindekuh. Ich kann Ihnen bei allem, was ich bin und habe, schwören, daß mich die Verhältnisse in diesem Hause nicht im geringsten interessieren! Ich habe Wichtigeres zu tun. Aber seit acht Tagen sehe ich ein gemartertes Menschenkind in der grauenhaftesten Verzweiflung mit dem Selbstmord ringen. Heute vor acht Tagen kam Else Meißner zum erstenmal zu mir. Ich lag noch zu Bett. Sie eröffnete mir unter Weinkrämpfen, daß sie jeden Moment fürchte, wahnsinnig zu werden, weil sie das Verhältnis zwischen Ihnen und ihrem Mann unmöglich länger ertragen könne. Sie beschwor mich, Sie, mein Fräulein, durch irgend eine Gewaltmaßregel, sie sei wie sie sei, zur Abreise zu zwingen. Sie erzählte mir, sie sei auf dem Polizeipräsidium gewesen und habe den Polizeipräsidenten gefragt, ob man Sie, da das Glück einer Familie auf dem Spiel stände, als Ausländerin denn nicht einfach ausweisen könne. Der Polizeipräsident habe ihr aber geantwortet, solange Sie als Musikschülerin von Ihrem eigenen Gelde lebten und noch nicht unter Polizeiaufsicht ständen, sei das leider nicht möglich. Ich erwiderte ihr natürlich. »Warum zum Henker hast du die Dame denn nicht ruhig im Gefängnis sitzen lassen?! Dort war sie doch einfach tadellos aufgehoben!« Ich habe sie übrigens auch ausdrücklich gefragt, ob Josef vielleicht Geld von Ihnen geborgt hat. Wenn das der Fall sei, sagte ich ihr, dann könne sie schlechterdings nichts besseres tun als die Zähne zusammenbeißen und mäuschenstill abwarten, bis ihr Mann seine Schulden an Sie zurückbezahlt habe. Soviel Rücksicht sei eine Frau, deren Haushalt aus dem Darlehen voraussichtlich Gewinn gezogen, ihrem Mann unter allen Umständen schuldig! – »Nein, davon kann gar keine Rede sein! Mein Mann ist der Person nicht einen Pfennig schuldig!« – Vorgestern abend kam sie in einem so fassungslosen, vergeisterten Zustand zu mir, daß ich im Begriff stand, die Sanitätskolonne zu alarmieren, um sie ins Krankenhaus bringen zu lassen. Ich wollte mir ganz einfach die Verantwortung für einen Selbstmord vom Halse schaffen! Sie, mein Fräulein, hatten an dem Tage mit Josef Meißner im Orientalischen Restaurant diniert! Else Meißner wälzte sich wie eine Wahnsinnige vor mir auf dem Teppich und schrie mir ein Mal über das andere zu. »Mach meinem Elend ein Ende, koste es, was es kosten mag! Ich bitte dich nur, meinem Elend ein Ende zu machen.« Ich sagte ihr: »Wenn du im voraus wußtest, daß die zwei im Orientalischen Restaurant dinieren werden, warum gingst du denn nicht mit einer Reitpeitsche hin und schlugst sie der schamlosen Person von rechts und links um die Ohren . . .!«
Josef Reißner. Die Vorigen
Josef (eintretend). Was ist denn hier los?
Lindekuh. Du schriebst mir, daß du mich um sechs Uhr sprechen möchtest. – Ich bin hier.
Josef. Ich danke dir. – Ich bitte um Entschuldigung, daß ich mich verspätet habe. – (Zu Klara) Wollen Sie uns bitte einen Augenblick allein lassen. (Er geleitet Klara hinaus und setzt sich an seinen Schreibtisch, auf den er die Lampe gestellt hat. Indem er Lindekuh einen Sessel zurechtrückt) Darf ich dich bitten, Platz zu nehmen.
Lindekuh (setzt sich zu ihm).
Josef (in einer Schreibtischschublade nach einem Brief suchend). Auf mich hageln die Unannehmlichkeiten augenblicklich so erbarmungslos nieder, daß ich gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht. (Er hat den Brief gefunden und fliegt ihn durch) Du schreibst mir da, du werdest morgen – das wäre also heute – den Zeitungen beiliegende Notiz einsenden . . . Ich muß die Notiz noch einmal durchlesen. Ich habe sie nicht mehr recht im Kopf. (Er liest, indem er jeden einzelnen Satz deutlich hervorhebt)
Skandalöser Undank. – Ein empörendes Beispiel von skandalösem Undank bietet der Verlauf einer Strafsache, die vor etwa einem halben Jahr das hiesige Landgericht beschäftigte. Es handelt sich um eine ausländische Musikschülerin, die wegen Vergehens gegen den Paragraphen 812 zu acht Monat Gefängnis verurteilt worden war. Der Gattin ihres Lehrers gelang es dann, durch ein Immediatgesuch an den Landesherrn ihre Begnadigung zu erwirken. Und nun nistete sich die Begnadigte im Hause ihres Lehrers, mit dem sie schon vor ihrer Verurteilung ein Verhältnis unterhielt, mit solcher Hartnäckigkeit ein, daß der unglücklichen Frau, der sie ihre Freiheit verdankt, nichts übrig bleibt, als sich von ihrem Gatten scheiden zu lassen und mit ihren Kindern in die weite Welt hinauszuziehen. Sollte das Gesetz denn gar keine Handhabe bieten, um mit ausländischen Elementen von so skrupelloser Gemütsbeschaffenheit kurzen Prozeß zu machen?!«
Ich fand den Brief leider erst heute früh um drei Uhr, als ich hundemüde nach Hause kam. Über Mittag war ich gestern nicht zu Hause gewesen. Ich frage dich nun zuerst: Hast du heute den Zeitungen diese Notiz eingeschickt?
Lindekuh. Ja! Ich habe sie an sämtliche Zeitungen geschickt.
Josef. So?! – Dann sind Else und Fräulein Hühnerwadel und ich verloren! Ich verliere meine Stellung als Professor am Konservatorium und verliere meine sämtlichen Privatschülerinnen!
Lindekuh. Findest du denn ein Wort in der Notiz unwahr oder übertrieben?
Josef. Nein! Aber darüber werden wir später sprechen. – Ich fragte mich, nachdem ich den Brief gelesen, immer und immer wieder vergebens: Welchen Beweggrund kann mein Freund Franz Lindekuh haben, um in dieser – unerhörten Weise gegen mich vorzugehen? Und nun kommt eine zweite Frage, die ich an dich richten muß. Hat dir vielleicht meine Frau durch Äußerungen irgendwelcher Art Veranlassung gegeben, mir diesen Brief zu schreiben?
Lindekuh. Nein. Das hat sie nicht getan.
Josef. Du kannst es mir, wenn es sich so verhält, ruhig sagen. Ich würde es verständlich finden und würde meiner Frau, obschon es eine maßlose Dummheit von ihr gewesen wäre, deswegen kein Haar krümmen.
Lindekuh. Ich habe deine Frau seit vier Wochen überhaupt nicht mehr gesehen.
Josef. Sie kann dir aber geschrieben haben?!
Lindekuh. Nein, sie hat mir nichts geschrieben! Nicht eine Silbe! Ich kann dir mein Ehrenwort darauf geben.
Josef. Aber dann sag mir doch zum Henker einmal, welchen Beweggrund du dazu hast, um uns alle zusammen mit einem Schlage zugrunde zu richten?!
Lindekuh. Ich – ich konnte die Verhältnisse, in denen du lebst, nicht länger ruhig mit ansehen.
Josef. Das war in der Tat auch die einzige Erklärung, die mir für deine Handlungsweise übrig blieb. Du hast einen Sparren! Du giltst infolge deiner Schriften seit Jahren als der unmoralischste Mensch, der unter Gottes Sonne umherläuft, in Wirklichkeit läufst du aber tagaus, tagein mit einem ungestillten, unersättlichen moralischen Heißhunger umher! Du bist moralisch ein Monomane! Du bist ein Don Quichote, der nicht ahnt, um was es sich in dieser Welt handelt, sondern der vom Leben nur die Erfüllung seiner hirnverbrannten Zwangsvorstellungen erwartet und der gemeingefährlich wie ein toller Hund wird, sobald die erhoffte Erfüllung ausbleibt! Du bist einem als Freund durch deinen Wahnsinn gefährlicher, als es einem der erbittertste Feind, der bei gesunder Vernunft ist, durch die abgefeimteste Bosheit werden könnte!
Lindekuh. Wenn du mir weiter nichts mitzuteilen hast, dann werde ich gehen.
Josef. Und – die Notiz steht morgen in den Zeitungen?
Lindekuh. Gewiß. Die Notiz steht morgen in den Zeitungen.
Josef. Nun sag mir einmal, welchen Erfolg du dir denn von dieser Notiz versprichst!
Lindekuh. Fräulein Hühnerwadel wird ein unverhofftes Wiedersehen mit dem schweizerischen Bundesrat feiern und wird am eidgenössischen Preis- und Wettringfest in Appenzell die Partie der Julia in Spontinis »Vestalin« singen!
Josef. Allem Anschein nach fürchtest du also doch, daß meine Frau innerlich unter der Tatsache leidet, daß Fräulein Hühnerwadel trotz ihrer Verurteilung nach wie vor unbehindert in unserem Hause ein und aus geht?
Lindekuh. Offen gestanden, ja!
Josef. Wie kommst du denn aber zu der hirnverrückten Annahme? Meine Frau lebt mit mir in dem glänzendsten Einvernehmen, das sich zwei verheiratete Menschen nur wünschen können!
Lindekuh. Wie du weißt, kenne ich deine Frau seit nun bald sechs Jahren und hatte in dieser Zeit reichlich Gelegenheit, sie sowohl in glücklichen wie in unglücklichen Gemütsstimmungen zu beobachten. Ich habe deine Frau in Zeiten gesehen, wo sie sich in unserem Kreise als unumschränkte Herrin fühlte; ich habe sie in anderen Zeiten gesehen, wo sie der umsichtigsten Lebensklugheit bedurfte, um ihre Stellung als deine legitime Frau zu behaupten. Aber dieser zur äußersten Zuflucht, zur Lieblingsbeschäftigung gewordene Selbstmordgedanke, den ich jetzt bei jeder Gelegenheit, wo wir uns begegneten, unheilvoller in ihren Zügen lese . . . was soll ich dir sagen?! Ich finde seit Tagen, seit Wochen keine Ruhe mehr! Ich kann des Nachts nicht mehr schlafen!
Josef. Ich kann dir mit dem besten Gewissen von der Welt die Versicherung geben, daß deine Befürchtungen vollständig unbegründet sind!
Lindekuh. Das wäre mir eine große, aber überraschende Beruhigung.
Josef. Diese Beruhigung kannst du dir aus dem Munde meiner Frau, sobald sie nach Hause kommt, bestätigen lassen. Mach dich nur bitte darauf gefaßt, daß meine Frau vor Empörung über deine Handlungsweise völlig außer sich ist. Selbstverständlich zeigte ich ihr, sobald ich mich vom ersten Schrecken erholt hatte, deinen Brief sowohl wie die Notiz, die du für die Zeitungen geschrieben hast, und fragte sie, was sie mir in der Angelegenheit zu tun rate. Ich frage meine Frau nämlich immer um Rat, wenn ich vor einem wichtigen Entschluß stehe. Meine Frau war zuerst wie aus den Wolken gefallen und brach dann in eine Flut von Schimpfreden über dich aus, die ich dir hier nicht wiederholen will. Sie sagt, wie kommt dieser Lindekuh zu der unerhörten Unverschämtheit, sich in unsere Privatangelegenheiten zu mischen! Kümmern denn wir uns um seine Privatangelegenheiten?! Ich begreife nicht, woher dieser Mensch die Stirne nimmt, uns vorschreiben zu wollen, wie wir uns in unserem eigenen Hause einzurichten haben!
Lindekuh. In solcher Entrüstung sprach deine Frau über mich?
Josef. Laß ihre Ausdrücke bitte mich nicht entgelten! Alles, was ich dir hier sage, kannst du, sobald meine Frau nach Hause kommt, von ihr selber hören.
Lindekuh. Aus ihrem weiblichen Stolz ist mir diese Empfindungsweise erklärlich. Mein gewaltsames Vorgehen war natürlich darauf berechnet, daß deine Frau nie etwas davon erfahren würde.
Josef. Wie konntest du das denn aber bei der uneingeschränkten Offenherzigkeit, in der, wie du weißt, meine Frau und ich miteinander leben, jemals voraussetzen?!
Lindekuh. Ich konnte das voraussetzen, weil ich glaubte, deine Frau werde Gott für ihre Erlösung danken wie jemand, der nach zweijähriger Kerkerhaft plötzlich in einem idyllischen Blumengarten erwacht!
Josef. Und statt dessen wünscht meine Frau dich mit allem, was du für sie tun zu müssen glaubtest, zu allen Teufeln! – Du siehst, daß du der unglückseligste Hansnarr bist, der je das Opfer seiner lebensgefährlichen psychologischen Phantastereien war! Soll ich dir sagen, woher das kommt?! Du lebst zu wenig unter Menschen! Du trinkst zu viel! Du solltest dich endlich einmal verheiraten, um nicht mehr wie eine reißende Bestie durch unsere friedlichen Straßen zu trotten!
Lindekuh. Weißt du unter deinen Schülerinnen vielleicht ein liebenswürdiges, hübsches Mädchen, das eine solche Bestie heiraten würde?
Josef. Vorderhand habe ich leider noch dringendere Angelegenheiten zu erledigen. Bevor ich für dich auf die Brautschau ausziehe, möchte ich wenigstens erst selber vor deiner Raserei in Sicherheit sein. Deshalb bitte ich dich, mir jetzt aufmerksam zuzuhören, sonst laufe ich von neuem Gefahr, infolge irgend eines Mißverständnisses, das kein normaler Mensch voraussehen konnte, zum Opfer deiner blinden Wutanfälle zu werden. Fräulein Hühnerwadel hat mir in einem Augenblick, wo ich nicht aus noch ein wußte, ihr ganzes väterliches Erbteil in Höhe von fünfzigtausend Francs als Darlehen überlassen, nota bene, ohne daß ich nötig hatte, sie mit einem Wort darum zu bitten. Dein unheilvoller Eifer zwingt mich schlechterdings, dir alle, auch die unerfreulichsten Beziehungen, die zwischen Fräulein Hühnerwadel und mir bestehen, rückhaltlos aufzudecken! Das Mädchen hat sich durch dieses Darlehen bis auf den letzten Heller sämtlicher Einkünfte entblößt, die ihr jemals zu ihrer künstlerischen Ausbildung zur Verfügung gestanden haben! Und ich bin leider seit Monaten nicht in der Lage, ihr von meiner Schuld einen Pfennig mehr als das, was sie für ihr tägliches Brot unbedingt nötig hat, zurückbezahlen zu können.
Lindekuh (sich erhebend). Das ändert die Sachlage allerdings gewaltig.
Josef Und nun willst du das Mädchen mit Polizeischergen in die weite Welt hinaushetzen!
Lindekuh. Gott behüte mich davor!.
Josef. Wenn du nun einen Funken Ehrgefühl im Leib hast, dann wirst du in die Notiz, die du an die Zeitungen verschickt hast, wenigstens eine ergänzende Bemerkung einflechten müssen. Diese Einflechtung wird freilich nicht hindern, daß Fräulein Hühnerwadel und Else und ich und meine Kinder morgen abend auf dem nackten Straßenpflaster liegen!
Lindekuh. Wenn sich die Dinge so verhalten, dann verdiene ich totgeprügelt zu werden.
Josef (sich gleichfalls erhebend). Offenbar glaubtest du meine Frau gegen die Umtriebe einer Dirne, einer Hochstaplerin in Schutz nehmen zu sollen! Laß dir sagen, daß dieses Mädchen das edelste, anständigste Menschenkind ist, das ich jemals kennen gelernt habe! Und was hat sie nun davon, daß sie mir ihren letzten Pfennig zum Opfer brachte?! Tagelang sitzt sie in ihrem möblierten Zimmer in der verlängerten Käferstraße an einem Fenster, das auf den Hof hinausgeht, und wünscht nichts sehnlicher, als der Stadt den Rücken kehren zu können. Von allem künstlerischen und gesellschaftlichen Leben ist sie, da sie mich um keinen Preis kompromittieren will, erbarmungslos ausgeschlossen. Unser Haus ist das einzige in der ganzen Stadt, das ihr offen steht. Dabei hat sie hier wenigstens Gelegenheit, hin und wieder ein wenig zu musizieren. In dem Hinterzimmer, das sie in der Käferstraße bewohnt, ist für ein Pianino leider kein Platz, und wenn sie ihre künstlerischen Zukunftspläne auch längst zu Grabe getragen hat, so ist ihre künstlerische Zukunft ihr eben doch immer noch die teuerste Erinnerung aus ihrer künstlerischen Vergangenheit . . .
Lindekuh. Kann ich vielleicht, bevor ich gehe, noch ein Wort mit der Dame sprechen?
Josef. Was führst du denn jetzt wieder im Schild?
Lindekuh. Dir, lieber Freund, brauchte ich das wahrlich nicht auf die Nase zu binden!
Josef. Ich frage mich natürlich, welch ahnungloses Opfer du denn jetzt wieder meuchlings aus dem Hinterhalt überfallen wirst?!
Lindekuh. Ich nehme die nächste Automobildroschke, die ich finde, und fahre, so rasch sie mich trägt, von einer Redaktion zur andern, um wenn irgend möglich den Abdruck der Notiz bis morgen noch zu verhindern. – Vorher muß ich aber noch deiner Schülerin sprechen.
Josef. Ich werde sie hereinrufen. Aber (ihm die Faust über den Kopf haltend) nimm dich vor mir in acht! Ich warne dich! – Wenn du den geringsten Versuch machst, das Mädchen zu beleidigen, dann – schlage ich dir die Zähne ein und werfe dich kopfüber die Treppe hinunter!
Lindekuh (ihm kalt in die Augen sehend). Traurigerweise muß ich mir diese Behandlung von dir gefallen lassen. Ich habe sie mir durch meine Beschränktheit redlich verdient! – Wo ist die Unglückselige?
Josef (öffnet die Tür und ruft hinaus). Fräulein Hühnerwadel! – Wollen Sie eben hereinkommen.
Klara (tritt mit ruhigem Stolz ein, zu Lindekuh) Was wünschen Sie noch von mir?
Lindekuh. Mein gnädiges Fräulein – ich habe Ihnen, als ich vor einer halben Stunde, ohne die Verhältnisse zu kennen, hier eintrat, so weh getan, daß ich mich jeder Demütigung unterziehen würde, die meine unmenschliche Roheit ungeschehen machen könnte. Gott sei Dank können solche Verfehlungen aber trotz ihrer erschütternden Traurigkeit noch zu glücklichen Ergebnissen führen. Ich bitte Sie inständig, mein Fräulein, lassen Sie mich diese einzige Hoffnung als geringen Trost aus unserer unseligen Begegnung mitnehmen! In mir haben Sie in dieser Welt auf lange Zeit Ihren größten Schuldner! Sollten Sie je einmal eines Menschen bedürfen, von dem Sie aus irgend einem Grunde ein großes Opfer zu fordern genötigt sind, dann bitte ich Sie, sich meiner zu erinnern. – (Zu Josef) Weiter wollte ich nichts sagen. – Jetzt in die Redaktionen! (Ab)
Josef, Klara
Josef (aufatmend). Da geht der Esel hin!
Klara. Ich merkte sofort, daß es nicht bös von ihm gemeint war.
Josef (ihm nachsehend). Solch ein Hanswurst! – Bildet sich ein, ich werde vor seinem Revolverjournalismus zu Kreuze kriechen! Sobald der Mensch mit seiner deutschen Literatur nur halb soviel verdient, wie ich mit meiner Gesangspädagogik, dann läßt er den berüchtigtsten Raubmörder, der ihm in die Hände läuft, ungeschoren. In meinen häuslichen Einrichtungen glaubt er endlich den geeigneten Stoff für sein geplantes Sittengemälde gefunden zu haben. Deshalb bietet er sich dir als opferfreudiges Faktotum an! Ich bedanke mich! Ich verspüre nicht die mindeste Lust, mich auf allen Schauspielbühnen als modernen Cagliostro dargestellt zu sehen. Wenn sich mir der Esel noch einmal über die Schwelle wagt, dann schlage ich ihm, bevor er irgend etwas in meinem Hause zu sehen bekommt, den Hirnkasten ein!
Klara. Mir schien, daß er die Absicht hatte, irgend etwas über uns in den Zeitungen zu veröffentlichen.
Josef. Ich habe ihm seine Finger so blutig gequetscht, daß sie ein halbes Jahr lang nicht daran denken, die Feder zu ergreifen! (Klara ins Gesicht sehend) Aber nun sag mir endlich einmal, mein liebes Kind, was ist denn nun eigentlich mit dir?! – Seit Tagen und Wochen bist du unausgesetzt in einer Stimmung, als hättest du einen Tümpel voll Kröten verschluckt! Das wird für deine Umgebung auf die Dauer einfach zur Quälerei! Wir bemühen uns hier alle auf das redlichste, um dir dein Unglück so erträglich wie nur irgend möglich zu machen! Jeder Mensch im Hause tut, was er dir an den Augen absehen kann! Und für alles Zartgefühl bekommt man von Morgen bis Abend immer nur das gleiche saure Gesicht zu sehen. Ich wiederhole mir jede Minute, wie unendlich viel du durch mich gelitten hast und wie große Opfer ich dir zu danken habe. Aber ich habe wie jeder Künstler meine Nerven. tagaus tagein ununterbrochen die verkörperte Unzufriedenheit, die sich durch keine Liebenswürdigkeit erschüttern läßt, vor Augen zu haben, das bringt einen schließlich zur hellen Verzweiflung!
Klara. Mit mir ist nichts.
Josef. Das hast du mir schon ein halbes Dutzend mal geantwortet! Wenn nichts mit dir ist, dann benimm dich bitte wie andere Menschen! Ist dir das aber nicht möglich, dann sag mir, was dich daran hindert! Meine Geduld hat schließlich auch ihre Grenzen! Welchen Vorteil erhoffst du dir denn davon, daß du dein Leben damit hinbringst, über längst vergessene Unglücksfälle zu trauern, an denen mit dem besten Willen kein Mensch mehr was ändern kann! Raff doch lieber deine eingeschüchterten Lebensgeister durch einen kräftigen Ruck zusammen und frag dich endlich einmal, wie du dir mit den Hilfsmitteln, die dir augenblicklich zur Verfügung stehen, ein neues, freieres Leben gestalten kannst! Ich rate dir das weiß Gott im Himmel nicht mit der geheimen Absicht, mich deiner zu entledigen! Aber du leidest offenbar an einer Art von Willenslähmung! Du bist infolge deiner aufregenden Erlebnisse Neurasthenikerin geworden! Sobald dein Wille wieder ein festes Ziel erfaßt hat, wirst du mit uns anderen, denen es im Grunde genommen nicht um ein Haar besser geht als dir, deines Daseins endlich auch wieder froh werden können!
Klara. Mit mir ist nichts.
Josef. Nichts? – Nichts! – Nichts bis auf deine verbissene halsstarrige Melancholie, die dich für die bestgemeinten Ratschläge, die man dir erteilt, taub und blind macht! – Es ist rein um aus den Fugen zu gehen! – (Von jetzt ab ganz kalt) Meiner selbstlosen unbestechlichen Vernunft nach, für deren Ergebnis ich meinerseits jede Verantwortung ablehne, führt dein Verhalten zu folgendem logischen Schluß. Von jedem modernen Mediziner wird gegen das Leiden, unter dem du dahinsiechst, als erstes und sicherstes Mittel – Luftveränderung verordnet. Mit dem Gelde, das ich dir monatlich von meiner Schuld zurückzahle, kannst du bei deiner Mutter in der Schweiz in jeder Hinsicht behaglicher leben als hier bei uns! Sobald du dich dann von deiner Schwermut nur halbwegs erholt hast – und du wirst dich unter völlig veränderten Verhältnissen rascher erholen, als es dir jetzt glaubhaft erscheint . . .
Klara. Ich kann augenblicklich nicht zu meiner Mutter.
Josef. Sag mir bitte, warum nicht!
Klara (aufflammend). Dir, mein Freund, das zu sagen, kann mir noch einmal in diesem Leben einfallen! Alle himmlischen Mächte mögen mich vor dieser Greueltat bewahren! Ohne mich eines Unrechtes zu versehen, bin ich zur gemeinen, verabscheuungswürdigen Verbrecherin geworden! Die niedrigste Entwürdigung, die einem weiblichen Wesen vorbehalten ist, habe ich bis zur Grundhefe ausgekostet, weil ich einmal feige genug war, dir zu offenbaren, wie es mit mir stand! – Nein, mein lieber Freund! Das Kind, das ich jetzt von dir unter dem Herzen trage, ist vor deinen wohlgemeinten Ratschlägen in Sicherheit! Dies Kind gehört mir! Was ich noch an Schrecknissen auszustehen haben werde, bis es das Licht der Welt erblickt, das will ich, wenn Gott mir hilft, mit der letzten Kraft, die mir aus meinen Erlebnissen übrig geblieben ist, freudig auf mich nehmen! Und nachher – nachher habe ich dann Gott sei Dank wenigstens ein lebendes Geschöpf auf dieser Welt, bei dem ich alles Unrecht, das ich erlitten – bei dem ich meine wundervolle Stimme, meine Kunst – bei dem ich alle irdische Herrlichkeit, die ich einst aus meiner künstlerischen Begabung erhoffte – bei dem ich alles, alles vergessen kann!
Josef (ist fassungslos in einen Sessel gesunken). – Klara – Klara – ich kann es nicht glauben! – Sollte das wahr sein . . .?
Klara (in höchstem Stolz). Beklage ich mich denn?! – Will ich irgend etwas von dir?!
Josef. Was – in aller Welt – soll denn werden . . .?
Klara. Jetzt schick mich nach Hause zu meiner sechzigjährigen Mutter, wenn du den Mut dazu hast!
Josef (glotzt sie mit blöden Augen an).
(Es klingelt. Gleich darauf tritt Else Reißner ein)
Else (aufgeregt, in jammerndem Ton). Ach, da seid ihr ja! – Ich kann euch sagen, es ist mit diesen Leuten rein nicht mehr auszuhalten! Vorgestern kaufe ich mir in der Königstraße für achtzehn Mark zwei echte Schildpattkämme und sehe, sobald ich sie zu Hause ins Haar stecken will, daß der eine zerbrochen ist. Und nun behaupten diese Menschen, ich hätte mich in der Elektrischen auf meine Tasche gesetzt, und wollen den Kamm nicht umtauschen. (Sie sinkt weinend in einen Sessel) Wenn diesen Spitzbuben ihr Handwerk nicht bald gelegt wird, dann verliere ich noch den Verstand!