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Szenerie
Eine graugetünchte Gefängniszelle. In der vom Zuschauer aus linken Wand die eisenbeschlagene Türe, mit Guckloch und Klappe zum Hinausreichen des Speisenapfes. In der rechten Seitenwand ein kleines, sehr hoch angebrachtes stark vergittertes Fenster. An der Rückwand von links nach rechts zuerst ein schlichter, an der Wand befestigter Tisch, der hinaufgeklappt werden kann. Daneben eine ebenso eingerichtete primitive Bank ohne Lehne. Neben der Bank steht eine braune, irdene Schale am Boden und darinnen ein brauner, irdener Wasserkrug. Darüber an der Wand ein kleines Regal, worauf eine Bibel, ein Speisenapf, ein eiserner Löffel, eine Salzbüchse, ein Kamm und ein Ende Zwirnsfaden liegen. Neben dem Regal hängt ein Handtuch. Mehr dem Fenster zu ist an der Rückwand das hinaufgeklappte und an die Mauer festgeschlossene Bett angebracht, bestehend aus einer Pritsche und einer grauleinenen Matratze. Über dem Bett hängt die gedruckte Gefängnisordnung mit den sieben Disziplinarstrafen
Personen
Klara Hühnerwadel
Josef Reißner Else Reißner Der Gefängnisdirektor Ein Aufseher im Gefängnis Eine Aufseherin im Gefängnis |
(Klara sitzt in blau und weiß gestreifter Sträflingskleidung, bestehend aus Rock und Jacke, am Tisch und liest im Neuen Testament. Plötzlich hört man draußen das Rasseln eines Schlüsselbundes. Sie erhebt sich und bleibt regungslos stehen. Ein Schlüssel wird von außen ins Türschloß gesteckt und umgedreht, zwei schwere Riegel werden zurückgeschoben. Darauf öffnet sich die Tür, und die Aufseherin in schlichter, grauer Kleidung, einen Packen Zeitungen unter dem Arm, tritt ein)
Die Aufseherin. So! Da ist die Allgemeine Deutsche Musikzeitung! Der Herr Direktor hat mir mein Fett gegeben! Unsereins hat alles auszufressen! Das ist ein Leben mit euch Weibsbildern, ich danke schön! Eben kommt er ins Magazin, der Herr Direktors »Na, was fahren diese Zeitungen im Gefängnismagazin herum?! Ist unser Gefängnismagazin eine Trödelbude?!« – »Herr Direktor, das ist die Allgemeine Deutsche Musikzeitung, die das Fräulein von Siebzehn allwöchentlich zugeschickt bekommt.« – »Dann sagen Sie ihr, sie solle die Zeitungen ganz genau eine nach der andern dem Datum nach ordnen, und sie solle sie ganz genau eine auf die andere legen, so daß sich nirgends ein Eselsohr in dem Packen findet, und daß nirgends eine Ecke von einem Blatt aus dem Packen heraussteht!« Da haben Sie nun wenigstens was zu tun! Sie sollen die Zeitungen ganz genau eine nach der andern dem Datum nach ordnen, und Sie sollen sie ganz genau eine auf die andere legen, so daß sich nirgends ein Eselsohr in dem Packen findet, und daß nirgends eine Ecke von einem Blatt aus dem Packen heraussteht. Haben Sie soviel Verstand, um das zu begreifen?
Klara. Ja, ich habe es verstanden.
Die Aufseherin. Also vorwärts, flink an die Arbeit! Bis Sie das Essen fassen, müssen Sie fertig sein! Dann kann ich den verdammten Packen wieder ins Magazin zurückbringen. (Sie nimmt den Kamm vom Regal und betrachtet ihn genau) Es ist nicht zu glauben, was das für Ferkel sind! Wozu gebe ich Ihnen denn den Zwirnsfaden? Sagen Sie mir nur, wozu gebe ich Ihnen jeden Sonnabend nachmittag einen Zwirnsfaden?!
Klara. Ich habe den Kamm, so gut ich konnte, gereinigt. Aber Sie haben mir noch nie gesagt, wozu der Zwirnsfaden da ist, den Sie am Sonnabend nachmittag hereinreichen.
Die Aufseherin. Ihnen muß man alles hundertmal sagen!
Klara. Das lügen Sie! Sie haben es bis jetzt in den vier Monaten, die ich hier bin, absichtlich unterlassen, mir zu sagen, wozu der Zwirnsfaden da ist, den Sie mir am Sonnabend hereinreichen, damit Ihnen ja noch ein Vorwand übrig bleibt, um mich wie einen Dienstboten anzuschnauzen!
Die Aufseherin. So eine Frechheit! Na, Sie sehen vor Pfingsten übers Jahr keinen grünen Baum wieder! Das kann ich Ihnen sagen! – Den Zwirnsfaden bekommen Sie, um Ihren Kamm damit zu reinigen! Wo haben Sie ihn denn?!
Klara. Meinen Kamm? Sie halten ihn ja in der Hand!
Die Aufseherin. Nicht Ihren Kamm, zum Donnerwetter! Ihren Zwirnsfaden!
Klara. Ach so, meinen Zwirnsfaden. (Sie nimmt den Zwirnsfaden vom Regal) Hier ist der Zwirnsfaden.
Die Aufseherin. Geben Sie her! Natürlich voll Schmutz! Ferkel! Das eine Ende nimmt man in den Mund, zwischen die Vorderzähne. So! (Sie tut es) Das andere Ende hält man mit der linken Hand fest. So, sehen Sie! Merken Sie sich das jetzt! Ich habe keine Lust, Ihnen das noch hundertmal vorzumachen! Dann faßt man den Kamm mit der rechten Hand und fährt an dem Zwirnsfaden gleichmäßig auf und nieder. (Sie tut es) So, sehen Sie! Und so reinigt man – sorgfältig – der Reihe nach einen Zahn um den andern. Einen um den andern! (Mit dem Kamm auf und nieder fahrend) Eins, zwei! Eins, zwei!– Werden Sie das jetzt endlich begriffen haben?– Eins, zwei! – Sie?!
Klara. Ja, jetzt wo Sie es mir gezeigt haben, weiß ich es. – (Angstvoll) Aber der Arzt ist heute wieder nicht gekommen! Vorgestern versprach er als sicher, daß er heute kommen und mir etwas verschreiben werde!
Die Aufseherin. Der Gefängnisarzt? Das glaube ich Ihnen. – Nehmen Sie sich gefälligst ein Beispiel an unseren Mannsbildern da drüben! Wenn die sechs Wochen bei uns in Kost sind, dann haben sie ganz und gar vergessen, daß es überhaupt noch Weiber auf dieser Welt gibt. Fünfzehn Jahre bleiben sie dann hier, ohne daß ihnen auch nur im Traum einmal ein Weib vorkommt! Aber Ihr Weibsleute! Euch kann man im Dunkeln an die Kette legen, Ihr denkt Tag und Nacht nur an den Mann! Heute ist es der Gefängnisarzt und morgen ist es der Gefängnisgeistliche! Ihr denkt nur an den Mann, der Euch für all Eure Schande und all Euer Elend trösten soll!
Klara (unter Krämpfen). Ich werde wahnsinnig! Ich bin dem Selbstmord nahe! Ich habe gestöhnt und gestöhnt die ganze Nacht hindurch! Mein Herz hält das nicht mehr aus! Ich muß ein Schlafmittel haben! Ein Schlafmittel! Sagen Sie das dem Gefängnisarzt! Er muß mir etwas beruhigendes geben!
Die Aufseherin. Ein heißes Fußbad! Ja, das können Sie haben! – Das hilft gegen Ihre Herzbeklemmungen. Ich bringe das heiße Fußbad herein, wenn Sie das Essen gefaßt haben. Bis ich Ihr Bett losschließe, stecken Sie Ihre Füße hinein, auch wenn's etwas weh tut. Soviel hält man aus, wenn man schlafen will! Den Gefängnisarzt, den haben Sie hier zum Schlafen nicht nötig!
(In der offen gebliebenen Türe erscheint Josef Reißner, hinter ihm ein Wachtmeister in Uniform)
Klara (schreit überwältigt). Josef . . .!
Josef (sie mit einem Blick zur Besinnung bringend). Gnädiges Fräulein.
Der Wachtmeister. Sind Sie da, Aufseherin?
Die Aufseherin. Ich bin hier, Herr Oberaufseher! Was ist es mit dem Herrn?
Der Wachtmeister (in der Tür stehen bleibend) Der Herr Direktor haben dem Herrn Professor gestattet, die Zelle der Gefangenen zu betreten, natürlich vorausgesetzt, daß die Aufseherin anwesend ist. – Sie, Aufseherin, sind also da?
Die Aufseherin. Ich bin hier!
Der Wachtmeister. Und Sie bleiben auch hier?
Die Aufseherin. Schon gut. Ich bleibe in der Zelle, solange der Herr hier ist.
Der Wachtmeister. Na also. (Er sieht sich flüchtig in der Zelle um und bleibt am Bett stehen) Wie das hier aussieht.
Klara (zuckt nervös zusammen).
Die Aufseherin. Ich sage es ja! Man kann mit den Weibsbildern reden und reden, soviel man will, es nutzt alles nichts!
Der Wachtmeister. Eine gerade Linie muß die Matratze mit dem oberen Rand des Bettes bilden! Eine gerade Linie! Wenn das der Herr Direktor gewahrt, dann kriege ich einen Verweis!
Klara. (eilt an das Bett). Ich bringe es gleich in Ordnung.
Der Wachtmeister. Na also. (Er verläßt die Zelle. Die Türe bleibt geöffnet).
Klara. Die Aufseherin. Josef
Josef. Gnädiges Fräulein! Ich möchte um alles in der Welt nicht, daß mein Erscheinen Erwartungen in Ihnen wachruft, die im nächsten Moment zur schmerzlichsten Enttäuschung werden können. Glauben Sie bitte nicht, in mir Ihren Befreier vor sich zu sehen. Mit voller Bestimmtheit läßt sich in diesem Augenblick noch wenig sagen. Aber die Tatsache, daß mich der Herr Gefängnisdirektor Ihre Zelle betreten läßt, ist mir ein untrügliches Zeichen dafür, daß Ihrem Geschick jedenfalls eine günstige Wendung nahe bevorsteht.
Klara. Herr – Herr Professor! – Ich – ich – die Sprache – ich kann nämlich nicht sprechen! – in der Kehle – hier – seit vier Monaten – ich habe seit vier Monaten – keinen bekannten Menschen habe ich mehr gesehen! – Herr Professor – (plötzlich angstvoll auffahrend) Herr – Herr – Nein! – Gehen Sie fort, Herr! Lassen Sie mich allein! Sie bringen nichts Schönes, Herr! Mit Ihnen, Herr – kommt nichts Gutes über diese Schwelle! Nein! Niemals! Ich habe geschworen. Herr! Ich will mich auf das, was Sie mir sagen – ob Sie es mit Bestimmtheit sagen oder nicht mit Bestimmtheit sagen! – nie, nie mehr einlassen!
Josef (räuspert sich laut, dann mit starker Stimme). Gnädiges Fräulein! In einer Viertelstunde von jetzt ab gerechnet – Es kann höchstens zwanzig Minuten dauern! – wird meine Frau hier bei Ihnen sein. Sie werden sich meiner Frau noch erinnern! – Gnädiges Fräulein, meine Frau hat ohne Ihr Wissen ein Immediatgesuch an den Landesherrn gerichtet . . .
Klara (vor sich hinmurmelnd). Gnädiges Fräulein . . .?
Josef. Meine Frau, gnädiges Fräulein, hat ein Immediatgesuch, indem sie unter allerhand Begründungen um Ihre Begnadigung nachsucht, durch ich weiß nicht welche Vermittelungen an seine königliche Hoheit zu bringen verstanden. Und seine königliche Hoheit – soviel steht augenblicklich unumstößlich fest – haben das Gnadengesuch selber in Händen gehabt . . .
Klara (betrachtet lächelnd ihre Kleidung von oben bis unten). Das gnädige Fräulein, das soll wohl ich sein?
Josef. Ich konnte mit dem besten Willen nicht darauf gefaßt sein, gnädiges Fräulein, daß Ihnen der Anblick Ihres Lehrers, dem nur die Wahrscheinlichkeit einer baldigen günstigen Wendung in Ihrem Schicksal Zutritt zu Ihnen verschafft, daß Ihnen dieser Anblick so unerträglich sein werde! – Meine Frau hat sich an eine Dame gewandt, deren Verbindungen und Beziehungen gar keinen Zweifel an dem besten Erfolg ihrer Bemühungen aufkommen lassen!
Klara (bricht plötzlich in die Kniee und windet sich in Krämpfen auf der Erde). O womit habe ich das verdient! Womit habe ich das verdient! Nein, ich bin kein hysterisches Weibsbild! Ich bin nicht hysterisch! Ich bin es nicht! Aber ich kann nicht anders! Ich kann mir nicht anders helfen! O Gott, womit habe ich das verdient! O Gott, o Gott! ich bin nun einmal so! Die ganze vergangene Nacht habe ich an den fürchterlichsten Herzkrämpfen gelitten! Was Wunder, daß jetzt alles zum Ausbruch kommt. – O Gott, o Gott, o Gott, wenn mich doch jemand durchpeitschte! Wenn mich nur jemand peitschen wollte. Peitschenhiebe, bis ich kein Gefühl mehr in den Gliedern habe. Nur kein Gefühl mehr im Körper. Peitschenhiebe brauche ich. Nur kein menschliches Gefühl mehr! Um Gottes Barmherzigkeit willen die Peitsche. – Die Peitsche!
Josef (kniet neben ihr nieder und streichelt ihr geschäftig Stirn und Wangen). Beruhigen Sie sich, mein Fräulein! Beruhigen Sie sich, mein Kind! Beruhigen Sie sich doch in des drei Teufels Namen! Habe ich als Ihr Lehrer denn nicht die Pflicht, mich darum zu kümmern, was aus Ihnen wird? Ich versichere Ihnen, daß ich Ihr Geschick während der ganzen Zeit Ihrer Gefängnishaft nicht eine Minute aus dem Kopfe verloren habe! (Er richtet sie langsam empor) Und Gott sei's gedankt, hat sich Ihr Los doch seit dem Beginn Ihres Prozesses stetig zum Besseren gewandt. Vergessen Sie das doch bitte nicht! Sie sind jetzt auf dem allerbesten Wege, sich Ihr künstlerisches Leben neu zu gestalten. Denken Sie doch nur zurück! Unendlich viel schlimmer als der Aufenthalt hier im Gefängnis war doch für Sie die Zeit, die Sie in Antwerpen verlebt haben! Ihre Existenz war damals vollständig aussichtslos! War es denn da ein so unverantwortungsvolles Verbrechen von mir, daß ich Ihnen als Ihr Lehrer den Rat gab, nach Deutschland zurückzukommen, sich kurzerhand verurteilen zu lassen und in aller Stille Ihre Strafe zu verbüßen?. Jetzt können Sie doch endlich Ihre ganze Lebenskraft wieder frei und ohne Hindernisse für Ihre Kunst einsetzen! Bedenken Sie doch, was Sie durch die Quälereien, die Sie hier erdulden mußten, gewonnen haben! Die Hälfte der über Sie verhängten Strafen haben Sie ja nun schon glücklich überstanden! Und wie ich eben andeutete, findet das Rätsel Ihres Geschickes ja in diesem Augenblick vielleicht schon eine ganz unerwartete günstige Lösung!
Klara (unter seinen Liebkosungen wollüstig erschauernd) Wie wohl das tut! – O Gott, wie wohl das tut!
Josef In Antwerpen kannten Sie keine menschliche Seele! Deutschland war Ihnen verschlossen! Zu Ihrer Mutter in die Schweiz zurückzukehren war Ihnen, solange Ihre künstlerische Zukunft nicht wieder frei und offen vor Ihnen lag, gleichfalls unmöglich!
Klara. Sie hatten recht, Herr Professor! Gottes Gnade behüte mich davor, die Tage noch einmal erleben zu müssen, die ich in Antwerpen verbrachte! Das war schrecklicher als alles, was ich hier in den vier Monaten ausgestanden! Vor meinem Fenster der schwarze Kanal, in den ich hinunterstarrte, während ich Woche um Woche kein Wort über die Lippen brachte! Kein Klavier! Keine Noten! Tat ich einmal den Mund zum Singen auf, dann war mir meine Stimme das gellende Verdammungsurteil, vor dem ich mich in den dunkelsten Winkel verkroch! Ein zermalmender Donnerschlag war mir der leiseste Laut, den ich sang! Und in der Schweiz meine Mutter, deren Briefe mir gewissenhaft nachgeschickt wurden! Die nicht ahnen durfte, wo ihr Kind war, geschweige denn, weshalb es dort war! Ich las und las und sah keine Möglichkeit, ihr ein Lebenszeichen von mir zu geben!
Josef. Ja, was ich noch sagen wollte . . .
Klara. Als du dann schriebst, es wäre wohl das beste, zurückzukommen, weil ich ja doch voraussichtlich freigesprochen würde . . .
Josef. Mein gnädiges Fräulein . . .!
Klara. Ja, ja! Gewiß. – Meine Richter dachten im Traum nicht daran, mich freizusprechen. Sie verurteilten mich zu acht Monaten Gefängnis und ließen mich aus dem Sitzungssaal in diese Zelle bringen! Aber trotzdem ist mir doch die Fahrt von Antwerpen hierher als das reinste, schönste Glück im Gedächtnis, das mir seit den Erlebnissen meiner frühesten Kindheit zuteil geworden ist.
Josef. Sie spannen mich absichtlich auf die Folter
Klara. Wie es freilich jetzt um meine künstlerische Zukunft aussieht, das liegt einstweilen für mich noch im dunkeln. Legen Sie hier doch einmal Ihre rechte Hand auf Ihr Herz, Herr Professor, und sehen Sie mir in die Augen! Glauben Sie immer noch daran, daß ich in einem Jahr eine der gefeiertsten Wagnersängerinnen bin?!
Josef (ihr ruhig in die Augen blickend). Wenn Sie bei mir Privatunterricht nehmen.
Klara. Wenn ich bei Ihnen Privatunterricht nehme?!
Josef. Was kann ich Ihnen als Gesangspädagoge anderes antworten. – Gott sei Dank, da kommt meine Frau!
(Else Reißner, einige große Rosen in der Hand, tritt ein. Hinter ihr erscheint der Wachtmeister in der Tür. Die Vorigen)
Else (rasch auf sie zugehend). Klara, ich bringe dir diese Rosen!
Klara. Else! – Die schönen Blumen! – Du findest mich hier in einer ganz unmöglichen Toilette!
Der Wachtmeister (in der offenen Tür). Aufseherin! Der Herr Direktor sagt, Sie könnten die Gefangene mit den Herrschaften jetzt, wo die Frau Professor hier ist, allein in der Zelle lassen. Sie wissen, was Sie zu tun haben?
Die Aufseherin. Schon gut, schon gut. Sie bleiben hier, Herr Oberaufseher?
Der Wachtmeister. Gehen Sie nur. Ich bleibe hier.
Die Aufseherin. Dann gehe ich also! (Sie verläßt die Zelle. – Der Wachtmeister bleibt anfangs in der Türe, tritt dann in den Gang hinaus und geht vor der offenen Zelle auf und nieder)
Else. Deine Begnadigung, Klara, ist ausgefertigt! Du bist begnadigt, Klara! Du bist begnadigt. Wir warten hier nur noch auf den Gefängnisdirektor, der dir die allerhöchste Entscheidung mitteilen muß, und dann verlassen wir dieses entsetzliche Bauwerk!
Klara (scheu und angstvoll). Ich soll voraussichtlich wieder einmal freigesprochen werden!
Else. Du bist begnadigt, Klara. Glaub mir, du bist begnadigt! – Seit dem Verhandlungstage, an dem du zu acht Monaten verurteilt wurdest, gab es in meinem Kopfe nur einen Gedanken: Wie kann ich sie befreien! Wie kann ich Klara befreien! Nächtelang habe ich mein Gehirn mit diesem einen Gedanken zermartert! Endlich kam mir die Erleuchtung: ein Gnadengesuch an den Großherzog! Erste Bedingung war natürlich, daß das Gnadengesuch dem Justizminister nicht in die Hände geriet. Denn der Justizminister hat für alles, was nicht gleich Räuber und Mörder ist, nicht das geringste Verständnis. Dein Gnadengesuch mußte dem Großherzog von jemandem, der ihm menschlich nahe steht, zu lesen gegeben werden, und diesen hilfreichen Engel fand ich in der Person der Baronin Sommerfeld. Ich tat einen Fußfall vor ihr, ich habe aufrichtig und ehrlich vor ihr geweint. Wie das in dem Augenblick plötzlich so gegen all mein Erwarten über mich kam, ist mir heute noch nicht verständlich. Nun handelte es sich nur noch darum, das Begnadigungsgesuch wirkungsvoll zu stilisieren. Deine beste Fürbitterin, Klara, war, ohne daß sie sich's träumen läßt, deine liebe Mutter. Ich schrieb, daß du eine schweizerische Offizierstochter seiest, und daß deine Mutter seit Jahren an einem schweren Herzleiden daniederliege. Der Großherzog soll sofort geäußert haben. daß nur ja die alte Dame nichts von der Geschichte erfährt! Er begreife ja, wie einem hübschen, jungen Mädchen so etwas passieren könne, aber es wäre doch zu gräßlich, wenn die alte Mutter dafür büßen müßte.
Klara. Ich möchte mich vor Scham erdrosseln, Else, daß ich hier in diesem Rock und in dieser Jacke vor dir stehen muß! Da, nimm deine Blumen. Die Blumen passen mir nicht recht zu meiner Frisur! Ich will Gott danken, wenn diese Tür wieder hinter Euch zugeriegelt wird! Mir war in dieser Zelle so wohl wie dem Fisch im Wasser, solange ich allein darin war! Euer Besuch martert mich mehr, als es der Untersuchungsrichter mit all seinen Verhören getan hat!
Else. Klara, Klara, wie kannst du mich so fürchterlich quälen! In einigen Minuten – es kann höchstens noch eine Stunde dauern – wird der Gefängnisdirektor hier sein! Ich kann ja vor Glück über deine Befreiung die Tränen kaum zurückhalten! (Vom Weinen überwältigt) O Klara, du ahnst ja gar nicht, wie gut es dir ergangen ist! In jener gleichen Nacht, in der du damals nach Antwerpen flohst, wurde die unglückliche Frau Fischer, mit der zusammen du angeklagt warst, zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt!
Klara. Allmächtiger Gott!
Josef (sachlich). Die Frau Fischer wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt! Ein Jahr von ihrer Strafe hat sie bis heute schon abgebüßt!
Der Wachtmeister (tritt hastig ein und geht direkt auf das Bett zu). Der Herr Direktor kommt! Haben Sie die Matratze vorschriftsmäßig zurechtgerichtet? (Fährt mit der Hand über den oberen Rand des Bettes) Na, Gott sei Dank! (Die Zeitungen bemerkend, die auf dem Tisch liegen) Was tut denn der dicke Packen Zeitungen hier?
Klara. Der Herr Direktor hat mir die Zeitungen eben erst hereingeschickt, damit ich sie dem Datum nach ordnen soll.
Der Wachtmeister. Das weiß der Herr Direktor aber doch gar nicht mehr! Ich kriege einen Verweis! (Strammstehend, da von außen rasche Schritte laut werden) In Gottes Namen!
Josef (zu den Damen). Jetzt, bitte, ruhig!
(Der Gefängnisdirektor tritt ein, ein hochgewachsener, rüstiger Graubart in Offiziersuniform mit schweren silbernen Epauletten. – Die Vorigen)
Der Gefängnisdirektor. Was fahren heute hier überall, wohin man kommt, diese Zeitungen herum?!
Der Wachtmeister. Befehl, Herr Oberst!
Klara. Die Zeitungen wurden mir hereingebracht, damit ich sie dem Datum nach ordnen soll.
Der Gefängnisdirektor (Josef die Hand reichend) Herr Professor! – Wollen Sie mich, bitte, Ihrer Frau Gemahlin vorstellen.
Josef. Herr Gefängnisdirektor – meine Frau.
Der Gefängnisdirektor (zieht ein Schriftstück aus der Tasche und prüft es von oben bis unten. Zu Klara). Ich habe Ihnen mitzuteilen, daß Ihnen durch Allerhöchste Entschließung seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs der Rest Ihrer Strafe – und zwar auf dem Gnadenwege – erlassen ist. Der Allerhöchste Erlaß, den ich hier in Händen halte, ordnet ausdrücklich an, daß Sie mit dem heutigen Tage aus der Haft entlassen werden. – (Das Schriftstück zusammenfaltend) Von diesem Augenblicke an sind Sie nicht mehr meine Gefangene. (Sich leicht verbeugend und Klara die Hand reichend) Gestatten Sie mir, mein Fräulein, daß ich Sie aufrichtig, aus vollem Herzen, zu Ihrer unverhofften Befreiung beglückwünsche.
Klara (sinkt langsam in die Kniee, küßt die Hand des Gefängnisdirektors, die sie in der ihrigen hält; darauf fällt sie vornüber und bricht, auf der Diele zusammengekauert, in herzerschütterndes Wimmern aus)
Der Gefängnisdirektor (sehr ruhig zu Josef). Ich habe dem Fräulein vom ersten Tage an Krankenkost verabreichen lassen. Für Leute aus guten Verhältnissen ist der Aufenthalt bei uns eine ganz unverdiente Grausamkeit, während ein Landstreicher jedenfalls nirgends in der Welt gesundere Kost und Pflege findet als hier im Gefängnis.
Else (ist neben Klara niedergekniet und richtet sie empor). Ich bitte dich, Klara, steh doch ruhig auf! Du bist frei, Klara! Du bist frei!
Klara (hat sich wortlos erhoben).
Der Gefängnisdirektor. Diese Kleider hier legen Sie unten bei unserer Zeugmeisterin ab, die Ihre Sachen in Verwahrung hat. Sie werden sich der Güte unseres allergnädigsten Großherzogs erst voll und ganz bewußt werden, wenn Sie sich wieder hübsch und menschlich gekleidet sehen. Vor allem aber, mein Fräulein, muß ich Sie zu den aufopfernden treuen Freunden beglückwünschen, die Sie in Herrn Professor und seiner Frau Gemahlin haben! Daß jemand in seinem tiefsten Elend noch auf solche Freunde rechnen darf, das kommt nur äußerst selten bei uns vor. (Josef die Hand reichend) Herr Professor, ich habe Sie als Sänger schon mehrfach an Ihren musikalischen Abenden bewundert. Ich freue mich sehr, Sie bei diesem Anlaß als Lehrer und als Menschen persönlich kennen zu lernen. (Zu Klara) Halten Sie sich nur immer an Ihre Freunde, mein Fräulein, dann werden Sie in Zukunft vor solchen Kalamitäten gesichert sein.
Josef. (dem Gefängnisdirektor die Hand reichend). Gestatten Sie, Herr Oberst, daß wir uns empfehlen. (Leise zu den Damen) Vorwärts marsch! Hinaus aus diesen Mauern! (Else und Josef führen Klara hinaus)
Der Wachtmeister. Zu Befehl, Herr Oberst! Sollen der Gefangenen die Zeitungen nachgeschickt werden?
Der Gefängnisdirektor. Lassen Sie mich doch erst mal sehen, was das ist. (Er entfaltet eine der Zeitungen und liest den Titel) Das ist die »Allgemeine Deutsche Musikzeitung«. – Die Zeitungen sollen in unserer Buchbinderei gebunden und der Gefängnisbibliothek einverleibt werden. Unsere Leute hier sind durch die Bank weg außerordentlich stark musikalisch veranlagt.