Frank Wedekind
Mine-Haha
Frank Wedekind

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Von Beginn des fünften Jahres an wurden wir allesamt, die Knaben sowohl wie die Mädchen, dazu angehalten, die kleinen Kinder zu pflegen, die ins Haus gebracht wurden. Jedes von uns hatte seinen Säugling. Ich bekam ein Mädchen, während die kleine Lora, die indessen meine Freundin geworden war, einen Knaben hatte. Wir mußten die Kinder rein halten, sie den Tag über in den Garten hinausbringen oder unter die hölzerne Halle, wenn es regnete, und ihnen die Flasche geben; geradeso wie es die älteren Kinder, die jetzt längst nicht mehr da waren, mit uns gemacht hatten. Des Nachts schliefen die Kleinen allein unter der Obhut Naemas, während wir älteren mit Gertrud zusammenschliefen. Wenn Gertrud ausging, dann blieb sie immer auch nachts über fort und kam erst am Morgen wieder. Dann war sie meistens sehr gutherzig und lächelte noch mehr als sonst.

Und nun komme ich auf Morni, einen der ältesten Knaben, der mir über alles gefiel, und den ich später nie wieder gesehen habe. Beim Baden sah ich ihn und nur ihn. Er war schon so groß, daß ihm das Wasser nicht bis an den Leib reichte. Er hatte ein Paar Augen, so voll Sonnenglanz und Herrlichkeit, daß ich ihn nur immer bei Namen rief, um ihm recht in die Augen sehen zu können. Und dann dieser feine Rücken, wenn er sich niederbeugte, um ein kleines Kind durchs Wasser zu leiten. Einmal erinnere ich mich, da stand er oben auf der Brüstung und sprach mit einem Kameraden, der noch im Wasser war. Ich kauerte mit zwei anderen Mädchen unter dem Springbrunnen. Da sog ich seine Schönheit in vollen Zügen in mich ein, und die Nacht darauf schlief ich so süß, als hätte ich eine frischere, bessere Luft geatmet. Drei Wochen später, als uns Gertrud eines Morgens die Decken abnahm, war sein Bett leer samt dem seines Kameraden und eines Mädchens. Niemand von uns wagte eine Frage zu tun. Auch untereinander sprachen wir nicht darüber. Ich fragte mich damals im stillen, ob es damit zu Ende sei. Naema und Gertrud hielt ich dann hin und wieder für Geschöpfe höherer Art, die niemals Kinder wie wir gewesen. Bei alledem hatte ich ein bestimmtes Gefühl, als müßte man sich doch noch einmal wiedersehen, besonders, wenn ich an Morni dachte. Ich habe ihn, wie gesagt, nie wiedergesehen. Ich habe mich mein ganzes Leben lang, auch noch in späteren Jahren, oft nach ihm erkundigt. Die wenigsten erinnerten sich seiner überhaupt noch. In seinem neunten Jahr, nachdem er bereits zu den Besseren erwählt war, zerschmetterte er sich bei einem Sturz vom Turngerüste den Kopf. Mir blieb er unvergeßlich.

Während des letzten Jahres unterrichtete uns Gertrud im Laufen und Springen. Dann erinnere ich mich auch einer großen roten Kugel, die unter der hölzernen Halle lag und auf der wir so ziemlich alle gehen lernten, aber mehr aus eigenem Antriebe. Wir stellten uns oft zu zweit darauf, Lora und ich, umschlangen uns mit den Armen so fest wie möglich, setzten die Füße zwischen einander und bewegten die Kugel so zwischen Tischen und Bänken durch in der ganzen Halle umher. Einmal überfuhren wir ein Kind, ohne daß es Schaden genommen hätte. Auch das Stelzengehen war sehr beliebt, aber Gertrud hielt nichts davon. Sie konnte es nicht sehen. Sie sagte, es sei geschmacklos und ungesund. Dagegen spielte sie sehr gern Ball mit uns, wenn sie einen freien Moment hatte. Ihre Lieblingsunterhaltung aber war das Springseil, in welchem sie die Knaben sowohl wie die Mädchen springen ließ, und sich immer freute, wenn einem das Kleid ins Gesicht schlug. Sie selber war Virtuosin darin. Von uns Kindern konnte ihr niemand das Seil rasch genug schwingen. Wenn sie es selber tat, schwang sie es während eines Sprunges dreimal unter den feinen straffgestreckten Fußspitzen durch, und im nächsten Moment berührte sie, bei derselben Geschwindigkeit, zwischen jedem Schwung den Fußboden. Dann sah man kein Seil mehr und sie selber verschwamm einem vor den Augen.

Während der heißen Sommertage waren wir fast ununterbrochen im Wasser, hockten auf der Weiherbrüstung umher oder lagen unter dem Springbrunnen und ließen uns den Regen ins Gesicht plätschern. Unsere breiten Strohhüte behielten wir dabei auf, während wir die Kleider nur zu den Mahlzeiten und zum Unterricht anlegten. An Schwimmen dachte noch niemand von uns, auch die Knaben nicht. Es wäre auch in dem niedrigen Wasser nicht gut möglich gewesen. Eines übrigens fällt mir erst jetzt ein, daß weder Naema noch Gertrud jemals mit uns gebadet haben. Beide gingen immer mit bloßen Armen, aber niemand von uns Kindern hat jemals eine von ihnen so gesehen, wie wir damals den halben Tag über waren. Es mochte das nicht wenig zu der Ehrerbietung beitragen, die alle vom jüngsten bis zum ältesten den beiden Mädchen gegenüber hegten. Morgens, wenn uns Gertrud aufdeckte, war sie immer schon vollständig angekleidet und abends kam sie nie, bevor es dunkel geworden war. Einmal bemerkte ich, daß sie nachts über ein Hemd trug. Sigwart, dessen Bett neben dem meinigen stand, hatte einen Erstickungsanfall bekommen. Gertrud stand auf und machte Licht. Das Hemd reichte ihr bis auf die Knöchel. Ich sehe sie noch, wie sie den dunkelroten Kopf des Jungen zwischen ihren weißen Händen hielt. Sie machte Sigwart einen kalten Umschlag, setzte sich auf die Bettkante und sprach ihm leise zu, bis er eingeschlafen war. Darauf legte sie sich im Hemd wieder zu Bett.

Aber nun die Unterrichtsstunden. Ich freute mich schon immer darauf, wenn ich morgens die Augen aufschlug. Morni war nicht mehr da; die Knaben in meinem Alter hatten nichts, was mich hätte interessieren können, und so war mir Gertrud alles, was ich Schönes auf dieser Welt kannte. Das Kostüm, das wir zum Laufen und Springen trugen, habe ich doch nachher oft wiedergesehen, meistens sogar an Erwachsenen; aber an niemandem, selbst nicht an Arno, mit dem ich die seligsten acht Tage meines Lebens verbrachte, hat es mir besser gefallen, als damals an Gertrud. Ich war noch nicht ganz sieben Jahre alt, aber der Eindruck ist mir unauslöschlich geblieben. Bei unseren früheren Übungen hatte Gertrud immer ihr gewöhnliches weißes Kleid anbehalten, das sie dann einfach bis zum Knie hinaufnahm. Jetzt trug sie sich ganz wie wir. Sie war immer schon fix und fertig, wenn sie mit der Weidenrute in der Hand aus dem Hause trat und uns rief, wir sollten uns parat machen. Wir eilten hinein, warfen unsere kurzen weißen Röckchen ab und schlüpften in unsere Kostüme, die wir uns gegenseitig über den Rücken hinauf zuhakten. Sie reichten nicht bis über den Leib und waren zwischen den Beinen geschlossen, so daß die Beine bis zum Leib hinauf nackt waren. Gertrud musterte uns eins nach dem andern, sah, ob alles gut sitze und zog gewöhnlich bei jedem den Gürtel noch etwas fester. Den Kopf mußten wir soweit wie möglich zurücklegen und die Hände hinter dem Kopf gefaltet halten. Solange die Übung dauerte, durften wir mit den Fersen die Erde nicht berühren. Gertrud sagte, das gäbe schöne Waden. Die Knie durften wir nur ganz wenig biegen und während des Laufens den Fuß nur mit der Spitze aufsetzen. Lora und Heidi konnten das ausgezeichnet. Man hörte keinen Kieselstein sich bewegen, wenn sie gingen. Beide hatten schmale Gelenke und runde Knie und konnten die Finger hinter die Hand zurückbiegen. Gertrud ließ sie oft allein einen Rundlauf durch den Garten machen. Dann war es, wie wenn sie von dem leisen kühlen Windhauch getragen würden, der unter den Bäumen durchstrich. Ehe man sich's versah, standen sie wieder bei uns. Die Knaben hatten längere, dünnere Beine als wir und konnten sich infolgedessen besser auf den Fußspitzen halten, aber sie knickten meist mit den Knien ein. Im Springen mit geschlossenen Füßen waren sie uns Mädchen weit überlegen. Wir standen dicht vor dem Seil, mit erhobenen Fersen, die Hände in die Hüften gestützt, die Ellbogen möglichst nach hinten. So mußten wir springen, uns auf der anderen Seite tief in die Knie sinken lassen, aber im nächsten Moment wieder ebenso ruhig auf den Fußspitzen stehen wie vorher. Tat man nur einen kleinen Schritt, so gab es eins an die Beine, daß es einem zum Nacken hinaufrieselte. Gertrud lächelte immer, wenn sie zuschlug. Manchmal schlug sie sich selbst mit der Rute über die gestreckten Beine hinunter, daß es nur so klatschte. Wenn sie sprang, zitterten ihre Fußspitzen über dem Seil. Ihre Füße waren nicht wie bei anderen Frauen unten gegeneinander gestellt. Wenn sie aufrecht, mit festgeschlossenen Beinen, dastand, blieb immer ein kleiner Zwischenraum zwischen den Knöcheln. Ich sah sie vor allen Dingen gerne von hinten so dastehen. Dann gingen von beiden Fersen zwei gerade, senkrechte Linien bis in die Kniekehlen, trotz ihrer vollen Waden. Aber diese Waden waren so fein verjüngt, daß ich mich fragte, wie die so schmalen Füße den ganzen schönen Körper tragen konnten. Sie trugen ihn auch mehr durch ihre Sehnenkraft und ihre Elastizität. In den Hüften war Gertrud nicht auffallend breit, dafür aber auch nicht dick, wenn sie sich von der Seite zeigte. Dann schien ihr Leib im Gegenteil um vieles schmaler als von vorne. Der Oberkörper wuchs schlank und selbständig aus den Hüften empor, als wäre er ein Geschöpf für sich, und die Arme standen, was Schönheit und Fülle betrifft, nicht hinter den Beinen zurück. Gertrud war immer fest gegürtet; darin ging sie uns mit gutem Beispiel voran. Wenn sie aus dem Hause trat und wir noch hinten im Garten spielten, ließ sich kaum unterscheiden, wo ihre nackten Beine aufhörten und das weiße Kleid begann. Ihre weißen Socken, das einzige, wodurch sich ihr Kostüm von dem unserigen unterschied, sind ihr trotz Laufens und Springens während des ganzen Jahres nicht ein einziges Mal über die Schnürstiefel geglitten. Ihre hohen gelben Schnürstiefel sahen immer nagelneu aus, kein Knoten im Schuhband, keine Falte im Leder, was man von den unserigen nicht behaupten konnte. Das ganze Mädchen war schön gebaut; auch das Gesicht hatte einen angenehmen, interessanten Ausdruck, aber ihre beiden Füße, wenn sie so nebeneinander auf dem Kies standen, waren ein Meisterwerk der Natur, wie ich es nicht wiedergesehen habe.

Eben fällt mir noch ein Mädchen ein, das mit uns in gleichem Alter stand, aber seit etwa zwei Jahren nicht mehr da war. Den Namen habe ich vergessen. Ich weiß auch nicht, daß je eins von uns sich seiner noch erinnert hätte. Sigwart, Arthur, Calmar, Heidi, Lora und ich waren jetzt die ältesten; drei Knaben und drei Mädchen. Scheu gingen wir aneinander vorbei. Ich wagte nicht einmal mehr mit Lora zu sprechen. Des Abends fürchtete ich mich einzuschlafen. Naema und Gertrud mochten die Beklommenheit und Aufregung in unserem Wesen merken und wurden noch schweigsamer als sonst. Sie warfen uns, wo sie uns trafen, ernste Blicke zu. So verkroch sich jedes in einen Winkel. Ich wünschte im stillen, wenn es doch nur vorüber wäre. Eines Nachts kam dann Naema, schlug die Decke zurück und trug mich nackt hinaus. Draußen legte sie mich in eine schmale Kiste, in die ich gerade hineinpaßte und machte den Deckel zu. Weiter weiß ich dann nichts mehr, als daß ich mir auf einmal das Tageslicht durch die Löcher der Kiste in die Augen scheinen sah. Dann wurde die Kiste aufrecht hingestellt und aufgeschlossen. Ich trat heraus.


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