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Eric erzählt die Geschichte mit Emil

Es verstrichen ein paar endlose Sekunden, in denen keiner von den vier im Zimmer etwas zu sagen, sich zu rühren oder auch nur, so unglaublich es klingen mag, zu atmen wagte. Nelson, der sich in diesem Augenblick wahrscheinlich am meisten zusammennahm, weil er fühlte, daß seine Stellung nur noch an einem Faden hing, und er sie, wenn irgend möglich, halten wollte, raffte sich schließlich auf, trat an die Küchentür und schloß sie hinter seiner Frau zu. Hierauf drehte er sich um und sagte, zu Eric gewandt, sehr ernst: »Hoffentlich nehmen Sie es ihr nicht übel. Sie hat seit der Mordnacht ziemlich viel durchgemacht, und sie kann es nicht vertragen, wenn irgend jemand an den Worten unserer Kleinen zweifelt oder sie nicht ernst nimmt. Aber sie hat es bestimmt nicht böse gemeint. Sobald sie wieder hereinkommt, wird sie sich bei Ihnen entschuldigen.«

»Mein Gott!« rief Eric. »Wofür denn? Da bedarf es doch gar keiner Entschuldigung! Wenn der Mann, mit dem sie am Mittwochabend am Tor gesprochen hat, genau so aussah wie …«

Er hielt so unvermittelt inne, daß Camilla sich nach ihm umblickte. Bis dahin war es ihr nicht möglich gewesen, ihm ins Gesicht zu sehen. Er hatte so natürlich zu sprechen begonnen, wie man es von einem Menschen erwarten konnte, der sich gerade erst von einem so großen Schreck, wie er ihn gewiß bekommen haben mußte, erholt hat. Nun aber, da er plötzlich verstummt war, machte er auf Camilla einen ganz benommenen Eindruck, als wäre er von einer plötzlichen Eingebung gelähmt worden.

Im nächsten Augenblick jedoch gewann er, mit einem ihm eigentümlichen Kopfschütteln, die Selbstbeherrschung wieder, wandte sich an Murray und sagte: »Ich bitte um Entschuldigung. Wahrscheinlich ist die Frau ganz anderer Auffassung: sie hatte nicht eine Ähnlichkeit im Auge, sondern eine Identität. Sie denkt, ich sei der Mann, den sie am vorigen Mittwochabend hier gesehen hatte.« Er machte eine kurze Pause, sah dabei Camilla flüchtig ins Gesicht und wandte sich wieder Murray zu. »Übrigens«, fuhr er in einem etwas schärferen Tone fort, »ist es ja nicht ausgeschlossen, daß auch Sie und Camilla diese Identität für möglich halten!«

»Vermutlich hätten wir so eine Möglichkeit zumindest in Betracht gezogen«, erwiderte Murray, »wenn nicht das Telegramm gewesen wäre, das Sie uns in Odgen aus dem Zuge geschickt haben.«

Eric holte tief Atem und stieß die Luft geräuschvoll wieder aus. »Ich hatte dieses Telegramm im Augenblick ganz vergessen«, sagte er. Dann, sich diesmal an Nelson wendend, fuhr er fort: »Ich glaube, Ihre Frau hat uns auf eine sehr wichtige Spur gebracht. Danken sie ihr in meinem Namen dafür, daß sie tapfer genug war, uns gegenüber so offen ihre Meinung zu äußern. Und sagen Sie Ihrer Kleinen, daß sie keine Angst mehr vor mir zu haben braucht.« Und um Nelson endgültig zu beruhigen, um ihm gleichsam zu zeigen, daß er sich nicht beleidigt fühlte, schüttelte er ihm zum Abschied herzlich die Hand. Dann verließ er mit Camilla und Murray das Häuschen und ging geradewegs auf das Herrenhaus zu.

Die weitere Besichtigung des Grundstücks wurde ohne jede Debatte aufgegeben. Nachdem sie in nachdenklichem Schweigen ein kurzes Stück dahingeschritten waren, meinte Eric: »Ich glaube, euer Freund, der Polizeiinspektor – Hopkins heißt er, glaube ich –, sollte unverzüglich von diesem Ereignis in Kenntnis gesetzt werden. Wenn er noch vor dem Abendessen herauskommen und mit mir sprechen will, werde ich ihm etwas mitteilen können, was ihn interessieren dürfte.«

Auch Murray war bereits zu der Ansicht gelangt, daß Hopkins benachrichtigt werden müßte, und es befreite ihn aus einer leichten Verlegenheit, daß die Anregung dazu von Eric selbst kam. Ohne viel Worte zu verlieren, ging er, sobald sie im Herrenhaus angelangt waren, ins Arbeitszimmer, um den Inspektor anzurufen.

Als er ein paar Augenblicke später in den Salon zurückkehrte, traf er dort Camilla allein an. »Eric ist auf sein Zimmer gegangen, um sich noch einmal umzuziehen«, erklärte sie, »– diesmal zum Abendessen. Ich glaube, sein großes Gepäck ist soeben angekommen. Ich sagte ihm, daß wir beide – du und ich – uns nicht umziehen würden, aber er ließ sich dadurch nicht stören. Er sagte, er könnte sich sonst nicht wohlfühlen. Kommt Hopkins her?«

»So schnell, wie sein Wagen ihn herbringt. Ich habe ihm am Telefon nur gesagt, daß wir ein paar neue Entdeckungen gemacht hätten.«

Camilla führte ihn auf die Südveranda, von wo sie Hopkins kommen sehen konnten. Dort setzten sie sich auf die obersten Stufen und zündeten sich eine Zigarette an. Dann aber begann Camilla plötzlich aus freien Stücken und obendrein ziemlich wohlwollend über Eric zu sprechen.

»In der letzten halben Stunde kam er mir netter vor, als ich es je erwartet hätte«, sagte sie. »Du weißt doch, das Benehmen eines Menschen in einer schwierigen Situation ist der beste Prüfstein. Wenn man plötzlich gewissermaßen als Mörder seines Großvaters und seiner Gattin entlarvt wird, und dennoch fair und anständig bleibt, so ist das ein sehr gutes Zeichen. In der ersten heftigen Überraschung, bevor man Zeit zum Nachdenken hat, läßt man sich sehr leicht gehen. Er hat sich aber wirklich sehr gut benommen. Komisch ist nur, wie wichtig ihm seine Kleider sind. Ich habe ihn nicht so in Erinnerung. Du vielleicht?«

»Soweit ich mich entsinnen kann, hatte er schon immer ein bißchen stutzerhafte Neigungen«, erwiderte Murray, »allerdings nicht in einem so übertriebenen Maße wie jetzt. Möglich ist aber auch, daß wir ihm unrecht tun, liebes Kind. Vielleicht ließ ihn ein bloßes Taktgefühl zu der Ausrede greifen, daß er sich umziehen wollte. Möglicherweise wollte er uns nur Gelegenheit geben, Hopkins rückhaltlos unser Herz auszuschütten. Zumindest wirkt sich sein Verhalten jetzt so aus, denn da kommt schon Hopkins.«

Das ruhige und fast zufriedene Aussehen Camillas und Murrays schien den Inspektor zu überraschen. »Ich habe Walsh mitgebracht«, bemerkte er, »weil ich nicht wußte, ob wir uns nicht mit Schüssen den Weg ins Haus bahnen müßten, um etwa Fräulein Camilla gewaltsam zu befreien oder sonst etwas. Aber offenbar kommt hier ein Revolverdrama gar nicht in Betracht.«

»Nein«, erwiderte Camilla, »wir brauchen Sie nur zu einer kleinen Unterredung. Lassen Sie Walsh ruhig zurückfahren und bleiben Sie bei uns zum Abendessen. Ja? Eric möchte mit Ihnen sprechen und ist jetzt oben, um sich für diese Gelegenheit fein zu machen.«

Augenscheinlich war Hopkins über diese Einladung an sich erfreut, aber er überlegte dennoch eine Weile, ehe er sie annahm. Dann, mit der Beteuerung, daß ihn die Einladung besonders erfreue, schickte er den Motorradfahrer zur Polizeiwache zurück und schwang sich ungeniert auf den Backsteinpfeiler, auf dem schon die kleine Ruth einmal bei einem Gespräch mit Camilla und Murray gethront hatte.

Murray warf einen Blick in die leere Diele hinter sich und sagte kurz: »Wir haben Sie aus folgendem Grunde zu uns gebeten, Herr Hopkins. Eric hat Frau Nelson und ihrer Kleinen vor kurzem den größten Schrecken ihres Lebens eingejagt. Das Kind erblickte ihn heute zum erstenmal, als er es gerade hinter einem Busch ansah. Er trug seine Mütze und sah offenbar dem Mann, den die Kleine hier am Vorabend des Mordes gesehen hatte, auffallend ähnlich, denn sie lief sofort schreiend davon, eilte zu ihrer Mutter und erzählte ihr, der Mörder selber sei hier. Auch die Mutter erkannte später die Ähnlichkeit Erics mit dem Mann, der an jenem Abend am Tor mit ihr gesprochen hatte, und nicht etwa nur, weil sie ihrer Tochter die Stange halten wollte. Sie hätten die Frau sehen müssen! Sie betonte nachdrücklich, daß es ihrer Ansicht nach keine größere Ähnlichkeit geben könnte als zwischen jenem Mann und Eric.«

Das gespannte Schweigen, mit dem Hopkins der Erzählung Murrays folgte und die starre Regungslosigkeit seiner Gestalt verrieten, wie sehr diese Mitteilung ihn überraschte und welche Bedeutung er ihr beimaß. Sobald Murray verstummte, fragte er: »Und wie benahm sich darauf der junge Herr Lindstrom?«

»So gut, wie ein Mensch nach einem solchen Schlag ins Gesicht sich überhaupt benehmen kann. Er gab zu, daß Camilla und ich jetzt das Recht hätten, ihn zu verdächtigen. Er sagte selber, daß man Sie sofort benachrichtigen müßte. Und man merkte deutlich, daß ihm ein Stein vom Herzen fiel, als ich ihm auseinandersetzte, daß sein Telegramm, das er uns am Donnerstagnachmittag aus Ogden geschickt hatte, klar genug bewiese, daß er an jenem Abend nicht hier gewesen sein könnte.« Er hielt einen Augenblick inne. »Aber in Wirklichkeit beweist das vermutlich gar nichts«, fügte er dann hinzu.

»Nein«, gab Hopkins ihm recht, »an sich ist dieses Telegramm natürlich kein Beweis. Er kann einen Komplizen im Zug gehabt haben, der die Aufgabe hatte, das Telegramm aufzugeben. Aber zufällig bin ich selbst in der Lage, ihm ein weit besseres Alibi zu verschaffen. Ich habe heute früh zwei Beamte zum Zug hingeschickt. Sie fragten dort den Schlafwagenschaffner und den Speisewagenkellner und den Frisör und so weiter aus. Sie wissen, dieses Zugpersonal macht ja die ganze Fahrt mit.«

»Dann wurden wir also heute früh, als wir auf dem Bahnsteig warteten, doch beobachtet?« unterbrach Camilla. »Pete meinte, es sei nur Einbildung von mir gewesen.«

»Es tut mir leid, daß meine Beamten so plump gearbeitet haben«, erwiderte Hopkins mit einem Grinsen, »aber sie waren tatsächlich dort. Nun, jetzt kann ich ja frei von der Leber weg reden. Ich habe nie geglaubt, daß Sie irgend jemand ermordet hätten, Fräulein Camilla. Aber als ich die Flugzeugspuren auf der Wiese entdeckte und bemerkte, wie tief beeindruckt alle von dem Telegramm waren, das so ausführlich mitteilte, in welchem Zug und Wagen und Abteil der junge Herr Lindstrom hierher reiste, da dachte ich mir, daß diese beiden Tatsachen zusammenhängen könnten. Ich wußte, daß Sie Fliegerin sind – davon hatte ich schon vor dem Mord gehört – und ich wußte auch, daß Sie Ihre Fliegerei möglichst geheim hielten. So kam mir der Gedanke, daß Eric vielleicht unerwartet in jener Nacht hergekommen wäre, sich mit seinem Großvater gestritten und ihn ermordet hätte, und dann von Ihnen im Flugzeug nach irgendeinem Ort im Westen gebracht worden wäre, um noch den Zug, mit dem er angeblich hierher reiste, rechtzeitig zu erreichen. Als sich dann obendrein herausstellte, daß seine Frau mit ermordet war, wurde ich meiner Sache sicherer denn je. Sein zweites Telegramm machte mich für eine Weile stutzig, aber ich erklärte es mir als das Werk eines Komplizen. So war ich heute morgen zum Handeln bereit, und ich wollte mich hängen lassen, wenn sein Alibi stimmte. Aber ich war in einem Irrtum begriffen. Ich hatte eine gute Theorie, aber sie stimmte nicht. Es besteht nicht mehr der leiseste Zweifel daran, daß Eric Lindstrom am Mittwochmorgen in Los Angeles in den Zug einstieg und daß er in jener Stunde, in der sein Großvater und seine Frau ermordet wurden, sich in jenem Zuge befand.«

»Aber es muß doch auch Ihnen recht merkwürdig erscheinen«, bemerkte Murray, »daß er dem Mann, der vermutlich die beiden Morde beging, so auffallend ähnlich ist.«

»Nun ja«, gab Hopkins zu, »obwohl dieses Rätsel uns vielleicht nicht mehr ganz so sonderbar vorkommen wird, wenn wir den Mann finden. Identifizierungen sind die unzuverlässigsten Beweise auf der Welt. Die der Kleinen besagt in diesem Fall sehr wenig. Sie kann jenen Mann doch nur flüchtig gesehen haben. Bedenken Sie, daß sie ihn gestern während der Verhandlung absolut nicht beschreiben konnte. Wahrscheinlich wäre sie vor jedem Fremden mit einer Mütze, der sie über einen Busch angesehen hätte, genau so laut schreiend davongelaufen. Daß ihre Mutter den jungen Herrn Lindstrom für jenen Mann hält, ist schon bedeutend wichtiger und ich zweifle nicht im geringsten daran, daß sie es durchaus ehrlich meint. Sie ist aber immerhin eine sehr leicht beeinflußbare, übermäßig temperamentvolle Frau. Geben Sie ihr nur einen kleinen Anhaltspunkt, und sie wird sehen, was Sie wollen. Ihre Ansicht, daß Herr Lindstrom dem Mann, mit dem sie am Tor gesprochen hatte, täuschend ähnlich sähe, gibt uns zwar eine ungefähre Vorstellung von dem Äußeren des Burschen, den wir suchen, aber das ist auch alles.«

»Danach scheint mir die Hoffnung darauf, daß Sie ihn jemals finden werden, nicht sehr aussichtsreich zu sein«, bemerkte Camilla mißvergnügt.

»Ich hoffe stark, daß Sie sich irren«, versicherte Hopkins. »Ich wollte übrigens noch eine Frage an Sie richten«, fuhr er, sich an Murray wendend, fort. »Ist Ihnen nicht schon einmal der Gedanke gekommen, daß der alte Lindstrom, der sich ja dadurch, daß er fünfundzwanzigtausend Dollar Bargeld in seinem Geldschrank aufbewahrte, wissentlich der Gefahr aussetzte, eines Tages beraubt zu werden, diese Gefahr vielleicht dadurch zu verringern suchte, daß er sich die Nummern der aufbewahrten Banknoten notierte und ihr Verzeichnis irgendwo – nicht im Geldschrank natürlich, sondern anderswo – verwahrte, um sie im Falle eines Diebstahls suchen und wiederbekommen zu können?«

Murray schlug sich vor die Stirn. Es war ihm unbegreiflich, warum er nicht schon selber daran gedacht hatte. Das wäre ja dem alten Herrn so ähnlich gewesen! Es mußte allerdings ebenso leicht sein, eine Nadel in einem Heuhaufen zu finden, wie zwischen den endlosen Akten ein so kleines Verzeichnis herauszusuchen. Sechzig Jahre lang hatte der alte Lindstrom nie etwas vernichtet; da mußten sich wahre Berge von Papieren angesammelt haben. Gleichviel, die Sache war eines ernsten und systematischen Suchens durchaus wert.

Camilla lachte mitleidig auf und schlug Murray aufs Knie. »Wie willst du denn dabei vorgehen?« fragte sie. »Mit den Dokumenten aus dem Jahre achtzehnhundertsiebzig beginnen und dich allmählich durchwühlen? Ich wette, daß ich dieses Verzeichnis ganz leicht und ohne jedes System finden kann.« Sie sprang auf, ohne ihm Gelegenheit zu geben, diese Wette tatsächlich einzugehen, und sagte, sie wolle nur anordnen, daß man noch ein Gedeck für Herrn Hopkins auflegen solle. Aber dann blieb sie viel länger weg, als sie dazu gebraucht hätte, und Eric, zum vierten Male an diesem Tage anders gekleidet, erschien noch vor ihr.

Als sie endlich zurückkam, stellte es sich heraus, daß auch sie sich ein anderes Kleid angezogen hatte: ob es dasselbe war, das sie am vorigen Abend getragen hatte, oder ein ganz ähnliches, wußte Murray nicht genau. Der Schnitt war der gleiche, und Camilla sah darin wieder verwirrend aus. Als sie auf die Veranda trat, wurde gerade zum Essen gerufen, und so begaben sie sich alle zusammen ins Eßzimmer.

Camilla setzte sich an das eine Ende der Tafel und wies Hopkins und Murray die Plätze zu ihrer Rechten und Linken an. Eric aber nahm, wie Camilla schien, etwas widerstrebend den Platz seines Großvaters ein. Es war befremdend, ihn auf diesem Platz sitzen zu sehen, und das machte alle für eine Weile stumm. Dann aber sagte Camilla zu Hopkins: »Ich freue mich, daß Sie heute abend hiergeblieben sind. Es ist mir angenehm, keine leeren Plätze zu sehen.«

»Auch ich freue mich darüber«, fiel Eric ein. »Vermutlich hat man Ihnen, Herr Inspektor, schon erzählt, was ich heute nachmittag in Nelsons Häuschen erlebt habe, und ich nehme an, daß Sie sich nicht mit mir an einen Tisch zum Essen setzen würden, wenn Sie vorhätten, mich als den Mörder zu verhaften und einsperren zu lassen.«

Diese Überleitung schien Murray recht geschmacklos, aber Hopkins nahm sie geschickt auf.

»Die Indizien, die sich bisher ergeben haben, reichen noch nicht ganz«, erwiderte er mit einem Lächeln. »Ich bin aber ziemlich überrascht, daß Frau Nelsons Worte auf Sie alle einen so großen Eindruck gemacht haben. Der von ihr ausgesprochene Verdacht hebt sich doch ganz von selber auf.«

Er wandte sich beim Sprechen Camilla zu. Sie machte ein etwas verdutztes Gesicht und sagte dann: »Die beiden Herren verstehen vermutlich, was Sie meinen, Inspektor, aber ich nicht, auch jetzt noch nicht.«

»Nun, die Dinge liegen so«, erwiderte Hopkins. »Frau Nelson glaubte in Herrn Lindstrom den Mann wiederzuerkennen, mit dem sie am Tor gesprochen hatte. Nehmen wir also – obwohl wir wissen, daß es sich um eine Unmöglichkeit handelt – für einen Augenblick an, daß Herr Eric Lindstrom am Mittwochabend wirklich hier war, nachdem er sich vorher ein lückenloses Alibi verschafft hatte. Nehmen wir ferner an, daß er seine Frau und seinen Großvater töten, dann nach dem Westen flüchten und seinen Zug rechtzeitig wieder erreichen wollte, um das Alibi vollkommen zu machen. Und unterstellen wir schließlich als wahr, daß er durch das Tor hineinschlüpfte, als es gerade offen stand, und von der kleinen Ruth, die über die Straße gegangen war, um sich Zuckerstangen zu kaufen, nicht bewacht wurde. Soweit hatten wir es hier also mit einem durchaus folgerichtig und sorgfältig eingefädelten, geschickt ausgeführten Verbrechen zu tun. Aber da ist noch eine Tatsache, die dieser ganzen Kombination widerspricht und diese Tatsache wirft alle gezogenen Schlußfolgerungen einfach über den Haufen. Erinnern Sie sich, bitte, an Frau Nelsons Aussage, nach der jener Mann, den sie jetzt für Herrn Lindstrom hält, an jenem Abend gegen sechs Uhr am Tor klingelte und Herrn Eric Lindstrom – mit anderen Worten sich selbst – oder sonst seinen Großvater zu sprechen wünschte. Im Zuge des Plans aber, den er nach unserer Annahme mit so großer Sorgfalt durchführte, muß es für ihn wichtig gewesen sein, von keinem Menschen gesehen oder erkannt zu werden. Er muß doch Wert darauf gelegt haben, den unbedingten Glauben daran zu erwecken, daß er nicht hier war, sondern weit, weit weg. Es steht indessen fest, daß er durch sein sonderbares Verhalten, das heißt durch das Klingeln und Fragen nach sich selbst, nichts weiter erreichen konnte, als daß irgend jemand, der auf sein Klingeln herauskommen mußte, Gelegenheit bekommen hätte, ihn gründlich und in aller Ruhe in Augenschein zu nehmen. Und deshalb sage ich, ist diese Annahme unlogisch. Sie hebt sich selber auf. Der Mann, den die kleine Ruth gesehen hat, könnte schon Herr Lindstrom gewesen sein, aber dann war der Mann, der mit ihrer Mutter gesprochen hatte, jemand anders, und zwar jemand, möchte ich behaupten, der unserem Herrn Lindstrom wohl ziemlich oder vielleicht sogar auffallend ähnlich sieht – aber bewiesenermaßen doch nicht er selber sein kann.«

Nach diesen Worten wandte sich Hopkins wieder Eric zu. »Kommt Ihnen das nicht plausibel vor?« fragte er.

Eric nickte. »Doch. Ich weiß allerdings nicht, ob ich das hätte heraustifteln können, wenn ich vollkommen uneingeweiht gewesen wäre, oder auch nur so viel oder so wenig von der Sache wüßte, wie Camilla und Murray. Aber ich bin durchaus im Bilde. Ich weiß nicht nur, daß ich in jener Nacht nicht hier war, um am Tor zu klingeln und nach mir selbst zu fragen, sondern ich glaube bereits, ziemlich deutlich zu ahnen, wer jener Mann war, der es getan hat. Als Nelsons Frau mir den Rücken zuwandte und aus dem Zimmer stürzte, war ich zunächst wie gelähmt, als ich aber wieder zu mir kam, war es mir, als ob eine Erleuchtung über mich gekommen wäre. Ich sagte Camilla und Herrn Murray vorhin, daß ich Ihnen eine Geschichte zu erzählen hätte, die Sie wohl interessieren würde, und Sie sollen sie gleich hören. Ich erzähle sie allerdings auch jetzt nur sehr ungern, weil sie mich als einen recht leichtsinnigen, dummen Jungen bloßstellt.

Es sind jetzt drei Jahre seit jener Zeit vergangen, kaum viel mehr als drei Jahre. Ich habe seitdem, auf diese oder jene Weise, ziemlich viel gelernt.«

Er hielt inne, um sich eine Zigarette anzuzünden, machte einen tiefen Zug, und fuhr fort:

»Es fing an einem Abend in Paris an, in einer überfüllten Untergrundbahn, wo ich plötzlich in ein Gesicht starrte, das meinem so ähnlich war, daß ich vor Erstaunen kaum einen Gedanken fassen konnte. Mein Doppelgänger war ein Mann von ungefähr derselben Größe wie ich und stand vermutlich auch ungefähr im gleichen Alter. Es war ihm anzusehen, daß er über unsere Ähnlichkeit genau so verblüfft war wie ich. Nachdem wir einander ein paar Minuten in stummer Verwunderung angeglotzt hatten, sprach ich ihn unbefangen und scherzend an, und er antwortete im gleichen Stil. Natürlich unterhielten wir uns auf Französisch. Er sprach es ziemlich gut, aber mit einem deutlichen ausländischen Akzent, ungefähr so, wie ich es selber spreche. Deshalb versuchte ich es plötzlich mit Englisch, in der Meinung, daß es vielleicht auch seine Muttersprache wäre. Er antwortete indessen auf Französisch, daß er nur wenig Englisch verstünde, und höchstens ein oder zwei Sätze sprechen könnte. Ich fragte ihn also, was für ein Landsmann er wäre, und er sagte: Norweger. Ich hatte natürlich keinen Grund, deswegen überrascht zu sein, aber ich war es dennoch und erklärte ihm, daß auch ich Norweger wäre, oder doch ein halber zumindest, da meine Großeltern aus Norwegen stammten. Ich setzte hinzu, daß ich das Land meiner Vorfahren nie besucht hätte und nicht ein Wort ihrer Sprache verstünde. Das sei sehr schade, meinte er, da es ein herrliches Land sei und auch die Sprache sehr schön klinge. Ich erwiderte, daß ich kaum je die Sprache erlernen würde, daß ich aber vorhätte, das Land sehr bald zu besuchen.

Um diese Zeit kamen wir auf dem Bahnhof Etoile an, wo ich aussteigen mußte, weil ich dort in der Gegend wohnte. Er verließ den Zug mit mir zusammen, und wir machten einen kleinen Bummel. Erst jetzt sah ich ihn mir etwas genauer an – sein Äußeres, meine ich. Seine Kleider waren ziemlich sauber, aber etwas schäbig, und sein Gang hatte etwas Schleppendes und Unentschlossenes. Es war der Gang eines Menschen, der keine Bleibe hatte. Aber sonst machte er einen sympathischen, netten Eindruck, und er tat mir eigentlich leid. Ich schlug ihm also vor, mich in ein nahegelegenes Café zu begleiten und mit mir ein kleines Bier zu trinken. Und da er ein wenig zögerte, meine Einladung anzunehmen, stellte ich mich ihm vor. Als er aber meinen Namen hörte, zuckte er zusammen und brach in ein verlegenes Lachen aus. Es sei zu komisch, meinte er, aber er hieße ebenfalls Lindstrom, Emil Lindstrom. Einen Augenblick war mir, offen gesagt, doch ein bißchen sonderbar zumute, aber er ging über diese Entdeckung einfach wie über einen ziemlich dummen Zufall hinweg.

Nachdem wir unser Bier ausgetrunken hatten, kam er auf meine geplante Reise nach Norwegen zurück. Ob es mein Ernst sei? Mein voller Ernst, sagte ich. Ich sei erst heute auf einem Schiffahrtsbüro gewesen, um mich über die Reise nach Hammerfest zu erkundigen, wo ich mir die Mitternachtssonne anzusehen gedachte. Das schien ihn aber zu enttäuschen. So etwas wäre ganz gut für schwatzhafte Reisende, aber für jemand, der Norwegen ernstlich kennenlernen wollte, namentlich wenn er norwegisches Blut in den Adern hätte, wäre das Land auch an sich interessant. Und nun plauderte er eine Weile darüber, was man alles sehen könnte, wenn man von der herkömmlichen Reiseroute abweiche. Dann sei das Reisen wohl etwas schwieriger, sagte er, aber es gäbe einem mehr. Allerdings müßte man wohl, um alles richtig genießen zu können, auch die Landessprache beherrschen. Viel mehr haben wir damals darüber nicht gesprochen. Zum Schluß bestellten wir – als eine Art Schlaftrunk – zwei Kognaks mit Benediktiner. Inzwischen wurde ich von unserer Ähnlichkeit immer mehr und mehr fasziniert und nach und nach hatte ich mir auch schon eine Theorie zu ihrer Erklärung zurechtgemacht. Wir waren zweifellos Vettern, sagte ich mir, Vettern vierten, fünften oder sogar sechsten Grades, aber irgendwo im verflossenen Jahrhundert mußten wir einen gemeinsamen Vorfahren gehabt haben, den wir nun zufällig beide wiederverkörperten. Um diesem Vorfahr auf die Spur zu kommen, verriet ich ihm den Namen meines Großvaters und die Stadt, aus der er stammte. Aber er setzte meinen Wissensdurst unter eine kalte Dusche; er interessiere sich nicht für seine Verwandten, erklärte er. Dann wollten wir – obwohl wir nicht viel weiter gekommen waren – uns schon voneinander trennen. Heute wünsche ich bei Gott, wir hätten es getan.

Ich hatte nicht so viel getrunken, um nicht mehr zu wissen, was vernünftig war. Hätte er da irgendeinen Vorschlag gemacht, so wäre er bestimmt von mir abgelehnt worden. Aber gerade weil er keinen machte und es sich nicht nehmen ließ, auch seinerseits eine Lage aus einer bedauerlich dünnen Brieftasche zu bezahlen, und gerade weil ich, wie ich schon zugegeben habe, noch unerfahren war, schlug ich ihm selber vor, mich, falls er nichts Wichtigeres zu tun hätte, auf meiner Reise nach Norwegen als Führer zu begleiten. Zwei oder drei Tage später legten wir dann alles genau fest, und den Rest des Sommers verbrachten wir tatsächlich zusammen in Norwegen.«

»Du hast auch mir ein paar Ansichtskarten geschickt«, flocht Camilla ein. »An eine erinnere ich mich noch ganz besonders …«

»Warte mal!« unterbrach Eric und lachte. »War da nicht eine Ziege abgebildet, die das Dach einer Hütte abgraste?«

Camilla nickte nur zur Bestätigung.

»Emil erwies sich als ein vortrefflicher Reisebegleiter«, fuhr Eric fort. »Er erfüllte sein Versprechen, mir alles Sehenswerte in Norwegen zu zeigen. Und wir verlebten zusammen viele, manchmal vielleicht alberne, aber recht nette und lustige Tage. Den größten Spaß machte es uns, alle mit unserer Ähnlichkeit zum Narren zu halten. Denn wir waren einander wirklich zum Verwechseln ähnlich, und die einzige Sprache, die wir beide beherrschten, klang in unserem Munde auch ziemlich gleich. Die Tatsache aber, daß jeder von uns noch eine andere Sprache kannte, die dem anderen völlig fremd war, machte das Ganze um so unterhaltsamer.«

»Es stimmte also«, fragte Hopkins, »daß er kein Englisch sprach?«

»Damals stimmte es. Später, als wir zusammen nach Paris zurückkehrten, muß er sich ziemlich viel Englisch angeeignet haben. Er bestürmte mich stets, es ihm beizubringen. Sein Plan war, mich auch nach Amerika zu begleiten. Es ist ja heutzutage der Wunsch jedes heruntergekommenen Europäers, nach Amerika zu reisen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet. Aber ich war ein schlechter Sprachlehrer. Ich konnte mir einfach nie die Zeit dazu freimachen.«

»Ihre Bekanntschaft mit ihm nahm also mit dem Ausflug nach Norwegen ein Ende?« streute Murray ein.

Mit einem verlegenen Erröten senkte Eric den Kopf und gestand, daß sie nicht damit geendet hätte. »Danach fängt der wirkliche Blödsinn erst an«, sagte er. »Es war viel leichter, ihn an sich zu ziehen, als ihn loszuwerden. Er war nicht ungebildet und schien auch intelligent zu sein. Aber er wußte offenbar einfach nicht, wie er sich sein Brot verdienen sollte, es sei denn als Führer größerer nach Norwegen reisender Gesellschaften, und im Winter reist ja kein Mensch nach dem Norden. So behielt ich ihn noch ein paar Monate, fast bis zum nächsten Frühjahr, als eine Art von Kammerdiener. Es war lustig, und ein- oder zweimal, wenn irgendein gewagtes Abenteuer mich in Verlegenheit zu bringen drohte, auch recht angenehm. Nach und nach aber merkte ich, daß er äußerst unzuverlässig war, und entließ ihn schließlich.«

»Gab es dabei einen richtigen Krach?« fragte Hopkins.

Eric überlegte. »Nein, ich möchte es nicht so bezeichnen. Warum fragen Sie danach?«

»Ich dachte dabei«, erwiderte der Inspektor, »an die Abenteuer, von denen Sie sprachen, und wollte wissen, ob er Sie im Zorn verließ …«

»Sie meinen, ob er mit einem Haß gegangen wäre, der sich während dieser ganzen Jahre nicht gelegt hätte«, unterbrach Eric lächelnd, »mit einem Haß, der ihn auch am vorigen Mittwoch getrieben haben könnte, Rache zu nehmen? Nein, so tragisch war es wahrhaftig nicht. Es ärgerte ihn wohl, daß er eine bequeme Stelle verlor, namentlich weil er doch, wie er sagte, gehofft hatte, mit mir nach Amerika zu reisen. Aber das war, glaube ich, auch alles.«

»Sie trugen sich also um jene Zeit mit dem Plan einer Rückkehr nach Amerika?«

Eric lachte auf. »Oh, mit diesem Plan trug ich mich eigentlich immer! Aber es kam stets etwas dazwischen, und aus diesem oder jenem Grunde schob ich dann die Reise immer wieder auf.«

Camilla warf einen Blick auf Murray und spürte deutlich, daß ihm der gleiche Gedanke gekommen war wie ihr. Nach dem Trauschein, den sie im Geldschrank gefunden hatten, mußten Eric und Lucretia gerade um jene Zeit herum geheiratet haben. Das war natürlich Grund genug, um eine Reise zu verschieben. Aber hatte das noch andere Folgen gehabt?

»Eric«, fragte Camilla impulsiv, »hatte Lucretia irgend etwas damit zu tun? Ich meine mit deiner Entdeckung, daß er nicht zuverlässig war, und mit seiner Entlassung? – Sei mir, bitte, dieser Frage wegen nicht böse. Ich wollte nicht neugierig sein. Ich dachte nur, wenn Emil sehr aufgebracht gegen sie war, weil sie ihn – tatsächlich oder auch nur seiner Meinung nach – aus seiner Stellung gebracht hatte, daß dann vielleicht der Haß daher rührte, verstehst du, daß er dann womöglich doch zu unserem Tor gekommen war, um sich nicht an dir, sondern an ihr zu rächen.«

Die deutliche Verwirrung, die sich Camillas während ihrer Worte mehr und mehr bemächtigte, wurde durch den finsteren Blick und den unverhohlenen Ärger, mit dem ihr Bruder auf die Erinnerung an seine Frau reagiert hatte, zur Genüge erklärt. Ihre Bitte um Entschuldigung besänftigte ihn nicht im geringsten. Er unterbrach sie nur nicht, weil er im Augenblick einfach sprachlos zu sein schien.

Dann aber ergriff er, ein wenig stammelnd vor stiller Wut, das Wort. »Wir wollen gefälligst nicht von meiner Frau sprechen. Hast du denn kein Gefühl dafür, daß mir das peinlich ist? Ich habe heute morgen dir zuliebe ihre Leiche identifiziert, und jetzt ist sie begraben. Soviel ich mich erinnern kann, hatte sie mit der Entlassung meines Kammerdieners nicht das geringste zu tun. Lassen wir sie also aus dem Spiel.«

Es folgte ein peinliches Schweigen. Man war mit dem Abendessen fertig und saß bereits rauchend beim Kaffee, so daß eigentlich kein Grund vorlag, die Tafel nicht aufzuheben, aber in diesem Augenblick hätte das den Zwischenfall noch peinlicher unterstrichen. Hopkins rettete die Situation.

»Ich glaube, die Frage nach den Beweggründen kann vorerst beiseite gelassen werden«, sagte er. »Soviel ich sehe, besteht jetzt meine erste Aufgabe darin, diesen entlassenen Diener aufzufinden. Wenn er wirklich Emil Lindstrom heißt und erst vor kurzem mit einem richtigen Paß in dieses Land gekommen ist, kann das Einwanderungsbüro uns vielleicht Auskunft über ihn geben. Es wäre allerdings von Vorteil«, fuhr er fort, sich an Eric wendend, und holte dabei ein Notizbuch und einen Bleistift hervor, »wenn Sie mir noch ein paar weitere Einzelheiten über ihn mitteilen könnten. War es Ihnen während jenes mit ihm in Norwegen verbrachten Sommers gelungen, festzustellen, ob er tatsächlich ein entfernter Verwandter von Ihnen war, und wenn ja, aus welcher Stadt oder Gemeinde er stammte?«

»Nein, das habe ich nicht erfahren«, antwortete Eric kurz. Nun, da sein Zorn verraucht war, trug er wieder ein eigentümlich unwirsches Wesen zur Schau, und das war vielleicht seine Art, zu bekennen, daß er sich dumm benommen hatte. »Ich habe kein Verständnis dafür, daß jemand die Nase in fremde Angelegenheiten steckt, namentlich, wenn man ihm zu verstehen gibt, daß man in Ruhe gelassen werden möchte«, sagte er. »Ich glaube jetzt alles erzählt zu haben, was ich von ihm weiß. Wenn mir später noch mehr einfallen sollte, werde ich mich von selber melden.« Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Für heute habe ich genug. Ich bin ja schon seit sieben Uhr morgens in Aufregung«, fuhr er fort. »Wenn du nichts dagegen hast«, schloß er dann mit einer ironischen Verbeugung gegen Camilla, der er offenbar noch nicht verziehen hatte, »ziehe ich mich jetzt zurück.«

Hopkins und Murray waren gleichfalls aufgestanden, aber Eric beachtete sie gar nicht weiter, und gleich darauf hörte man ihn die Treppe hinaufgehen.

»Du hast vollkommen recht«, sagte Pete zu Camilla. »Es ist erstaunlich, wie wenig er sich in den acht Jahren geändert hat! In allem, was er tut, zeigt sich immer wieder der alte Eric.«

Hopkins bemerkte, gutgelaunt, daß es jedenfalls ein aufschlußreicher Abend gewesen sei. Dann dankte er Camilla für die Einladung zum Essen und meinte, daß es jetzt wohl das beste für ihn sei, nach Hause zu fahren. Er ging ins Arbeitszimmer, um nach seinem Wagen zu telefonieren, als er aber an den Apparat trat, begann es plötzlich zu klingeln. »Ich werde das Gespräch abnehmen«, sagte er zu Pete und Camilla. »Aber treten Sie doch für einen Augenblick näher. Mir ist ein interessanter Gedanke gekommen.«

Der Mann am anderen Ende der Leitung wünschte Herrn Eric Lindstrom zu sprechen.

»Ich glaube, Herr Lindstrom hat sich bereits schlafen gelegt«, erklärte Hopkins. »Soll ich ihm vielleicht etwas bestellen?«

Camilla und Murray sahen, wie der Gesichtsausdruck des Inspektors plötzlich sehr gespannt wurde. »Moment mal«, meinte er dann. »Herr Gordon Taylor, ja?« Daraufhin deckte er die Muschel mit der Hand ab und wandte sich an Camilla: »Er sagt, es sei eine persönliche Angelegenheit, und er scheint es ziemlich eilig zu haben. Wollen wir nach Sophie klingeln und sie nach oben schicken, um Eric Bescheid zu sagen?«

»Ich gehe selber hinauf«, erwiderte Camilla und eilte aus dem Zimmer. Hopkins und Murray hörten, wie sie, immer gleich über zwei Stufen springend, hinaufstürmte. Erics Zimmer lag im dritten Stock.

»Mein Gedanke von vorhin«, erklärte Hopkins, den Hörer noch immer zuhaltend, »war, daß wir uns vielleicht noch nach einer weiteren Auskunftsquelle umgucken sollten. Hatte der alte Herr Lindstrom eine Familienchronik oder eine Art Abstammungsregister aus der Stadt, aus der er stammte? Oder hatte er sonstige Aufzeichnungen über seine norwegischen Vorfahren? Wenn ja, könnten wir wenigstens die Frage lösen, ob es einen Vetter Emil gab oder nicht.«

»Glauben Sie denn, daß jener Kammerdiener wirklich Lindstrom hieß?« fragte Murray. »Ich persönlich zweifle sehr stark daran. Ich hatte den klaren Eindruck eines abgekarteten Spiels – schon von der Begegnung in der Untergrundbahn an. Wahrscheinlich war dieser Bursche im Schiffahrtsbüro, wo Eric sich über die Reisen durch Norwegen erkundigen wollte, auf Erics Spur gestoßen, und heftete sich dann an seine Fersen, bis sich ihm Gelegenheit bot, Eric scheinbar ganz zufällig und obendrein auf dessen eigene Veranlassung hin kennenzulernen.«

Hopkins nickte wie zur Bestätigung. »Dennoch«, meinte er gelassen, »dürfte sein Name wirklich Lindstrom gewesen sein. Er hätte nicht ohne Paß nach Norwegen und wieder nach Frankreich zurückreisen können, und er würde sich wohl kaum als Lindstrom vorgestellt haben, wenn sein Paß auf einen anderen Namen gelautet hätte. Allerdings konnte dieser Paß gefälscht sein.«

»Von einem Stammbaumauszug oder Familienregister hier im Hause ist mir nichts bekannt«, begann Murray. »Aber warten Sie mal!« In seinem Gedächtnis war gerade das Bild der alten Familienbibel aufgetaucht, die in einsamer Majestät im hinteren Salon auf einem besonderen kleinen Tischchen ruhte. Er ging hinaus, um sie zu holen. Auf dem Rückweg traf er mit Camilla zusammen, die langsam und nachdenklich die Treppe hinuntergekommen war.

»Eric will in Frieden gelassen werden«, sagte sie zu Hopkins. »Er bittet Herrn Taylor, ihm mitzuteilen, wo er zu erreichen sei und er wird ihn dann morgen früh anrufen.« Sie war aber offenbar tief in Gedanken versunken, sonst hätte sie wohl Pete gefragt, was er in aller Welt mit der Bibel wollte.

Hopkins richtete die Bestellung aus und hängte, mit einer ebenfalls ziemlich nachdenklich gewordenen Miene, ab. »Herr Taylor sagte, daß er morgen früh wieder selber anläuten würde«, erklärte er. Dann rief er die Polizeiwache an, bat, Walsh herüberzuschicken.

»Hier sind einige Aufzeichnungen«, sagte Murray, und überreichte dem Inspektor die dickleibige Bibel. »Aber ich habe gar nicht erst lange versucht, sie zu entziffern.«

Hopkins musterte eine ganze Weile schweigend die mit verblaßter Tinte geschriebenen unleserlichen Krähenfüße und meinte schließlich: »Die Entzifferung wird offenbar wirklich recht umständlich sein. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich den Band mitnehmen …«

»Hier haben Sie noch etwas zum Mitnehmen«, unterbrach Camilla und reichte ihm ein in dunkelrotes Saffianleder gebundenes kleines Notizbuch. Murray entsann sich auf dieses Büchlein so gut, daß er bei seinem Anblick zusammenzuckte. »Es lag in der Schublade, in die wir alle Sachen hineingetan haben, die Großvater in den Taschen hatte«, erklärte sie. »Ich habe es jetzt schnell im Vorbeigehen geholt. Die letzten Seiten sind mit sehr vielen Nummern beschrieben. Könnten es nicht die Nummern der Scheine sein, die aus dem Geldschrank gestohlen wurden?«

Ein Blick bestätigte den beiden Männern, daß Camilla recht hatte. Pete schüttelte verdrossen den Kopf. »Um wieviel haben wir gewettet?« fragte er.

Aber Camilla triumphierte nicht, wie man vielleicht hätte erwarten können. Sie erklärte ernst, daß die Wette nicht gelte, und begleitete dann ebenso ernst die beiden Männer auf die Veranda.

Bald vernahmen sie das Rattern der Maschine, mit der Walsh die Anfahrt entlang kam. Hopkins, der noch immer ziemlich gedankenverloren vor sich hinsah, sagte plötzlich mit der Miene eines Mannes, der sich zu einem Entschluß durchgerungen hat: »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen einen Rat erteile, einen – sagen wir – rein häuslichen Rat, Fräulein Camilla?«

»Nein«, versicherte sie ihm, »natürlich nicht.«

»Ich glaube, daß Sie jetzt vor allem einen Kammerdiener brauchen – einen guten tüchtigen Kammer- oder Hausdiener, wie Sie ihn nun nennen wollen.«

Ob Camilla klar verstanden hatte, welche Absicht hinter diesem Vorschlag steckte oder nicht, konnte Murray nicht feststellen. Sie erwiderte zögernd: »Ja, natürlich sind wir etwas knapp an Personal ohne Frau Smith, zumal jetzt, wo Eric wieder hier ist. Ich wollte ohnehin am Montag jemand einstellen.«

»Nun, dieser Mühe kann ich Sie entheben«, teilte der Inspektor ihr fröhlich mit. »Ich kenne den gegebenen Mann für Sie. Und er kann gleich morgen früh eintreten, also noch einen Tag eher als Montag.«

Jetzt verstand ihn Camilla ganz genau, aber sie antwortete völlig ruhig: »Sehr freundlich von Ihnen. Ich danke schon im voraus.«

»Er wird seine Arbeit zur Zufriedenheit erledigen«, versicherte Hopkins. »Sie brauchen da keine Angst zu haben. Aber ich denke, es ist besser, wenn außer Ihnen und Herrn Murray niemand erfährt, daß der Mann von mir kommt.« Und als sie zustimmend nickte, fügte er hinzu: »Machen Sie sich nur keine Kopfschmerzen deshalb.« Er wünschte ihnen fröhlich gute Nacht und fuhr mit dem inzwischen angekommenen Walsh davon.

Camilla rührte sich erst, als die beiden Beamten hinter der Biegung des Fahrwegs verschwunden waren. Dann sank sie auf die oberste Stufe der Freitreppe nieder, und als Murray sich neben sie setzte, nahm sie seine Hand und drückte sie fest zusammen.

»Was wir gestern abend vermutet haben, ist also wahr, Pete«, sagte sie. »Nur daß wir da noch nicht wußten, wer es war. Du verstehst mich doch, ich meine den Mann, an dem Eric und Lucretia etwas verbrochen haben. Deshalb war er hierhergekommen. Er wollte sie beide töten, aber Eric war nicht da. Nun ist er jetzt seinetwegen wieder zurückgekehrt. Er und kein anderer war der Mann, der vorhin angerufen hat.«

»Liebes Kind, du mußt nicht so voreilige Schlüsse ziehen«, protestierte Pete. »Wie kommst du bloß auf so ausgefallene Gedanken? Warum sollte jemand, der einen Mord plant, sich erst telefonisch anmelden?«

Er hätte ihre Befürchtungen noch mehr ins Lächerliche gezogen, wenn er sich nicht an die nachdenkliche Miene erinnert haben würde, die Hopkins gemacht hatte, als er plötzlich vorschlug, einen Polizisten ins Haus einzuschmuggeln. Aber Camilla schien noch mehr auf dem Herzen zu haben.

»Hör' zu, Pete«, sagte sie. »Als ich vorhin zu Eric hinaufging, um ihn ans Telefon zu rufen, wollte ich ihm sagen, daß ich mein rücksichtsloses Verhalten bei Tisch bedauere, und daß so etwas nie wieder vorkommen würde. Ich klopfte also an seine Tür, aber er antwortete nicht. Er hat zwei Zimmer oben, außer dem Bad und der alten Kammer, die er früher als Dunkelkammer zu benutzen pflegte. Ich dachte, er hätte mein Klopfen vielleicht überhört, und drückte deshalb auf die Klinke. Die Tür war jedoch abgeschlossen. Und er muß mich sehr gut gehört haben, denn im selben Augenblick rief er: ›Wer ist da?‹ Ich sagte, daß ich es sei und daß er am Telefon verlangt würde. Da riß er die Tür auf – er war noch immer verknurrt, verstehst du – und fragte, warum, zum Teufel, man ihn zu dieser nachtschlafenden Zeit wegen eines Anrufs störe. Ich sagte, daß der Mann nicht Bescheid hinterlassen wollte und daß er Gordon Taylor hieße. Und da, Pete, da veränderte sich sein Gesicht nicht ein bißchen, aber mit seinen Augen geschah etwas Unbegreifliches. Irgend etwas ging in ihnen vor. Er sah mich an, wie – wie ein gehetztes Wild. Aber er wollte sich nichts anmerken lassen und meinte bloß: ›Ach, Taylor! Das wird wohl irgend jemand sein, den ich im Zuge kennengelernt habe.‹ Darauf fragte ich: ›Soll ich ihm sagen, daß er seine Nummer hinterlassen möge, und daß du ihn morgen anläuten wirst?‹ Damit war er einverstanden, aber seine Lippen zitterten so stark, daß er kaum sprechen konnte. Es war furchtbar! Nun, ich werde mich schon zusammennehmen. Aber versprich mir, Pete, daß du mich nicht verlassen wirst. Versprich mir, daß du hier bleibst, auch wenn Herr Hopkins einen Polizisten herschickt. Irgend etwas wird noch in diesem Hause geschehen, Pete. Es ist noch nicht alles zu Ende.«

Er versprach ihr bereitwillig, das Haus nicht zu verlassen, und spielte dann mit ihr, da es eigentlich noch zu früh zum Schlafengehen war, im Arbeitszimmer eine gute Stunde Dame. Und dieses Brettspiel schien sie sehr gut abzulenken, denn sie konzentrierte sich bald so trefflich, daß es ihr gelang, ihm einen Dollar und achtzig Cents abzugewinnen.

Dann aber, nachdem sie Türen und Fenster revidiert und das Licht ausgemacht hatten, und er sich an der Tür ihres Schlafzimmers von ihr verabschieden wollte, sagte sie: »Ich bin froh, daß dein Zimmer gleich neben dem meinen ist, Pete. Hast du etwas dagegen, daß ich, nachdem du zu Bett gegangen bist, die Tür einen Spalt weit offen lasse?«


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