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Die einschläfernde Hitze eines späten Julinachmittags lastete ziemlich empfindlich auf dem Anwaltsbüro »Ford, Scheidenham und Murray«. Wer von den Inhabern nicht gerade Urlaub hatte, war entweder auf dem Golfplatz oder hielt im Klub sein Nachmittagsschläfchen. Wachhalten konnte einen nur die tägliche Tretmühle, und auch die nur mit Not.
Als der Anwalt Prentice Murray gegen vier Uhr in sein Büro zurückkehrte, begrüßte ihn Fräulein Foster mit einem Lächeln, das freundlicher ausfiel, als man es von einer Sekretärin erwarten durfte. Sie freute sich aber wirklich, ihn wiederzusehen, denn nun war es möglich, daß er ihr nach Erledigung der auf seinem Tisch bereitliegenden Post bald sagen würde, daß sie nach Hause gehen könnte.
Da sie ihm etwas zu bestellen hatte, folgte sie ihm in sein Privatbüro.
»Haben Sie nichts Neues von Camilla gehört? Wie? Sie hat doch nicht etwa versucht, sich mit mir verabreden zu wollen? Hatte sie nicht die Absicht, heute nachmittag mit mir zu fliegen?«
Camilla Lindstrom, Murrays Mündel, hatte fliegen gelernt und besaß seit kaum einer Woche den Flugschein. Sie hatte sich bereits ein Flugzeug gekauft, das heute geliefert werden sollte.
Prentice hatte seine Vormundschaft über dieses junge Mädchen stets als eine der größten Verdrußquellen seines Daseins bezeichnet. Aber in Wirklichkeit war er in Camilla vernarrt. Er war einer der gewandtesten Rechtsanwälte der Stadt, ein Junggeselle von etwa vierzig Jahren, ein Mann, der absolut wußte, was er wollte; aber von diesem neunzehnjährigen Kind ließ er sich fast zu allem überreden. Sogar den Ankauf der Flugmaschine hatte sie durchzusetzen vermocht, und er hatte ihr, obwohl er über diesen neuen Einfall entsetzt gewesen war, ohne sich lange zu sträuben, den größten Teil der Anzahlung vorgestreckt.
Nichts in Fräulein Fosters Gesicht oder ihrer Stimme verriet, daß sie das alles wußte, als sie erwiderte:
»Nein, Fräulein Lindstrom hat nichts von sich hören lassen. Aus Oak Ridge ist aber doch angerufen worden. Der alte Herr Lindstrom möchte Sie heute abend gern bei sich sehen. Sie möchten hinauskommen, wenn es Ihnen nur irgend möglich ist, hat seine Sekretärin gesagt. Es handelt sich wohl um etwas Wichtiges, oder sie glaubt es zumindest. Sie meinte, Sie sollten um halb sieben dort sein.«
Offenbar neigte auch Murray zu der Ansicht, daß es sich um ernste Dinge handelte, denn alles, was er nach kurzem Schweigen sagte, war: »Ich werde mit ihr sprechen.«
Wenn man ihn mit Dingen belästigte, die seiner Meinung nach geringfügig waren, pflegte er die Ruhe zu verlieren und seinem Unmut hörbar Luft zu schaffen. Wenn er aber selber von der Wichtigkeit einer Angelegenheit überzeugt war, blieb er still. Fräulein Foster griff nach seinem Tischtelefon, stellte die Verbindung her, reichte ihm den Hörer und wäre hinausgegangen, wenn er sie nicht durch eine Kopfbewegung und einen Blick auf den zweiten Apparat zurückgehalten hätte. Sie wußte, was das bedeutete, und so setzte sie sich mit Block und Bleistift bewaffnet an den Apparat und begann, die ganze Unterredung stenographisch aufzunehmen.
Es kam dabei nichts heraus. Nachdem Murray der Sekretärin des alten Herrn Lindstrom mitgeteilt hatte, daß er zum Abendessen kommen würde, hielt er höflich inne, um ihr die Möglichkeit zu geben, ihr Herz auszuschütten. Aber sie hatte offenbar nichts, was sie ihm unbedingt hätte mitteilen wollen. Sie hieß Parsons, und Fräulein Foster mochte ihre Stimme nicht leiden.
»Nun, das war verlorene Zeit«, wandte sich Murray an Fräulein Foster, als sie beide abhängten. »Aber es spinnt sich dort dennoch irgend etwas an. Ich hätte nur zu gern gewußt, was diese junge Dame für ein Geheimnis hat. Ihnen jemals irgend etwas an ihr ausgefallen?«
»Ich habe sie noch nie gesehen«, wich Fräulein Foster aus. »Wie sieht sie denn aus?«
»Sie ist ein ›blondes Gift‹, wenn Sie wissen, was ich damit meine. Ihre Haarfarbe paßt nicht zu ihrem Teint. Sie ist etwa dreißig Jahre alt und hält anscheinend viel auf ihr Äußeres.«
»Überrascht Sie das?« fragte Fräulein Foster. »Von Männern im Alter des Herrn Lindstrom nimmt man an, daß sie sehr leicht zu heiraten sind.«
»Das denkt auch Camilla«, erwiderte Murray. »Vielleicht steckt auch tatsächlich weiter nichts dahinter. Aber danach klang ihre Stimme eigentlich nicht. Es lag eine merkwürdige Schärfe in ihrem Ton. Vielleicht ist ihr etwas von Camillas Fliegerei bekannt geworden. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, daß sie aus einem mir nicht bekannten Grunde in Sorge ist.«
Das gehörte nun wieder zu den Dingen, an die sich Fräulein Foster nie gewöhnen konnte. Woher hat, fragte sie sich, ein in mittleren Jahren stehender, Golf und Bridge spielender Rechtsanwalt die Anlage zu derart feinen Wahrnehmungen mit geschickten Kombinationen? Und dabei traf er mit seinen Vermutungen meistenteils das Richtige. Aber nach wie vor verriet ihr Gesicht nichts von diesen heimlichen Gedanken. Sie erlaubte sich keine Bemerkung über seine Vermutung, sondern saß still da und ließ ihn überlegen.
Eine Minute später unterschrieb er die Post und sagte ihr, daß sie nach Hause gehen dürfe.
Dann wartete er ab, bis sie weg war, und ging hinaus, um der Telefonistin zu sagen, daß sie nach Schluß ihres Dienstes seinen Apparat mit der Hauptleitung verbunden lassen solle. Er rief seine Wohnung an und sagte dem Diener, daß er – falls jemand nach ihm verlangen sollte – bis sieben im Büro zu erreichen sein würde. Erst nach Erledigung all dieser Dinge setzte er sich nieder, um in Ruhe eine Klageschrift durchzulesen, befriedigt darüber, daß ihm Camilla, falls sie etwas von ihm wollte, nunmehr unbehindert erreichen konnte. Dieses Mädel machte ihm mehr Sorgen als alle übrigen Klienten zusammengenommen.
Diesmal ließ sie ihn jedoch in Frieden. Sie rief zumindest nicht an. Dabei hätte sie ihn heute eigentlich doch mal anläuten können, dachte er, wenn auch nur, um ihm zu sagen, daß sie nach dem ersten Flug in ihrer neuen Maschine wieder wohlbehalten gelandet sei. Aber sicher ging es ihr gut. Sie hatte ja auch zu ihrem ersten Aufstieg einen erfahrenen Piloten mitgenommen.
Um sieben holte er seinen Wagen und fuhr nach Oak Ridge, diesem wunderlich verbauten Vorort im Nordwesten, hinaus, wo der alte Lindstrom seit fast sechzig Jahren sein Domizil hatte.
Lindstroms Vermögen und seine erfolgreiche Laufbahn interessierten Prentice Murray erst, seit er in ihnen das Ergebnis eines einzigen weisen oder glücklichen Entschlusses zu sehen gelernt hatte. Lindstrom war mit seiner jungen Frau und einem Vermögen von etwa zwanzigtausend Dollar aus Norwegen nach Amerika gekommen, um sich in Chicago niederzulassen und mit dieser Stadt groß zu werden. Das junge Paar traf in Chicago an einem Oktoberabend des Jahres 1871 ein, und zwar zu der Stunde, in der eine riesige Feuersbrunst den ganzen Ort bis auf den Grund zu vernichten drohte. Lindstroms entscheidender Entschluß bestand nun darin, daß er sich nicht zurückzog und sich nicht anderswo ansiedelte, sondern an Ort und Stelle abwartete, bis die Flammen erloschen und die Asche sich abkühlte, um dann die Gelegenheit zu ergreifen, die sich einem Mann mit etwas flüssigem Geld nunmehr fast von selbst bot.
Das war die einzige Spekulation, zu der er sich je entschlossen hatte. Von da an unternahm er stets nur ganz sichere Dinge und wurde dabei immer reicher, so daß sein Vermögen jetzt, da er fünfundachtzig Jahre alt war, weit über fünf und vielleicht sogar volle zehn Millionen Dollar betrug. Dabei ließ er nichts von irgendeinem unfehlbaren Scharfsinn verspüren, und nicht einmal aus seinen Geldanlagen konnte man auf sein besonderes kaufmännisches Geschick schließen. So hatten sich zum Beispiel seine Berechnungen, die sich um Oak Ridge drehten, sogar als auffallend falsch erwiesen. Aber durch seine Vorliebe für Binsenwahrheiten, die er feierlich und mit einem leicht fremden Akzent, den er nie verlor, zu äußern pflegte, gelang es ihm, sich mit einem Schein abgrundtiefer Weisheit zu umgeben, die nach und nach beinah sagenhaft wurde. So gelangte er, ohne auch nur eine einzige Tat von ungewöhnlicher Großzügigkeit vollbracht zu haben, sondern lediglich durch regelmäßige Zuwendungen an die bekanntesten religiösen und karitativen Verbände, in den Ruf eines sozial denkenden und feinfühligen Menschenfreunds.
Er und seine Frau hatten sich in Oak Ridge in erster Linie einfach deshalb angesiedelt, weil es vom Feuer verschont geblieben war und nicht in der Windrichtung des Brandes lag. Sie zogen auch nicht wieder weg, weil nach Lindstroms Ansicht hier später der führende Villenvorort der Stadt entstehen mußte. Als er allmählich zu Geld kam, kaufte er in der Umgebung von Oak Ridge ein Grundstück von etwa fünfzehn Hektar, das am Fluß lag, und erbaute hier sein rotes Backsteinhaus mit vielen Giebeln und einer alles krönenden zierlichen Kuppel, die viele Meilen weit zu sehen war und weidlich bewundert wurde. Doch gerade zu dieser Zeit entdeckte Chicago den See und begann sich an seinen Ufern nach Norden und Süden auszubreiten, was zur Folge hatte, daß Oak Ridge sich jahrelang überhaupt nicht mehr vergrößerte. Noch immer verkehrten hier täglich nur drei Züge aus der Stadt hin und zurück, und die fruchtbaren Humusfelder zu beiden Seiten des Lindstromschen Anwesens wurden nach wie vor mit Gemüse bepflanzt. Der ganze Verkehr auf der alten Chaussee, die unmittelbar an dem Lindstromschen Grundstück vorbeiführte, bestand fast ausschließlich aus einem Zug von knarrenden Bauernkarren, die von Mitternacht bis drei Uhr morgens ihre Erzeugnisse zum Markt brachten. Lindstrom aber harrte aus, errichtete um sein Besitztum eine hohe Backsteinmauer, die es nur von der Flußseite nicht von der Außenwelt abschloß, und ließ seine Frau in den ums Haus angelegten Blumengärten Zerstreuung suchen. Dies war fast das einzige Vergnügen, das die Arme sich überhaupt leisten konnte.
Sie war nervenleidend. Ihr Zustand schwankte zwischen sanfter Schwermut und plötzlichen Tobsuchtsanfällen, und in schweren Zeiten mußte sie sorgfältig bewacht werden. Sie konnte das Zusammensein mit fremden Menschen nicht ertragen und verließ eigentlich nie das Grundstück. Ihrem Mann gebar sie nur ein Kind, einen Jungen, der im Jahre 1875 das Licht der Welt erblickte und Charles getauft wurde.
Als der Knabe fünfzehn Jahre alt war, schickte der Vater ihn zur Vervollkommnung seiner Erziehung ins Ausland, und die nächsten zehn Jahre verbrachte Charles hauptsächlich in Deutschland und in der Schweiz, wo er zu einem zwar ziemlich farblosen, jedoch recht sympathischen jungen Mann mit viel Charme heranwuchs. Fast in allen Lebenslagen machte er den Eindruck größter Unbefangenheit, aber dieser Eindruck täuschte gründlich und verhängnisvoll.
Irgendwo im Ausland lernte Charles Camilla Fairwether aus Philadelphia kennen, verliebte sich in sie, kehrte mit ihr fünfundzwanzigjährig nach Hause zurück und heiratete sie, ohne die Zustimmung seines Vaters abgewartet zu haben. Bis zum grauenhaften Abschluß seines Daseins blieb dies sein einziger Ungehorsam. Nun lagen die Dinge so, daß Camilla zwar eines Tages ein ziemlich großes Vermögen erben sollte. Vorläufig aber war sie auf ihren Gatten angewiesen, der wieder vollkommen von seinem Vater abhing. Der alte Dickschädel verlangte, daß die jungen Leute zu ihm und seiner leidenden Frau in die Villa nach Oak Ridge ziehen sollten; Charles gehorchte, und man lebte dort zwanzig Jahre lang nebeneinander und aneinander vorbei.
Unter dem Vorwand der notwendigen Einführung in die Geschäfte machte der alte Lindstrom aus Charles eine Art Botenjungen und zahlte ihm das Gehalt eines besseren Schreibers. Das unglückliche junge Paar bekam zwei Kinder, im Jahre 1901 einen Jungen, den man Eric taufte, und zehn Jahre später ein Mädchen, Camilla. Und als dann weitere zehn Jahre vergingen, trat etwas ein, was wie ein Lichtstrahl aus düsteren Wolken wirkte: Charles' Gattin erbte endlich das Fairwethersche Vermögen, das so lange auf sich hatte warten lassen, fast eine Million Dollar.
Wenige Monate nach diesem Ereignis wurde Charles plötzlich wahnsinnig und tötete seine Frau mit dem Rasiermesser. Daraufhin machte er den Versuch, sich selbst umzubringen, aber die Ärzte erhielten ihn am Leben, und er wurde in einem Privatsanatorium untergebracht, wo er noch ein paar Jahre lebte.
Das saumselige Vermögen aber, das zu spät eingetroffen war, um der Ermordeten noch zugute zu kommen, machte die Kinder unabhängig. Nach dem Testament ihrer Mutter wurde es unter sie geteilt. Eric erhielt, als er mündig wurde, sein Erbteil voll ausgezahlt und ging ins Ausland, um Kunst zu studieren. Camilla aber blieb daheim unter dem Schutz zweier durch das Testament ernannter Vormünder: ihres Großvaters und des Anwalts Prentice Murray, von der Firma, die in den letzten fünfzig Jahren mit der Erledigung der juristischen Angelegenheiten des alten Lindstrom betraut wurde.
Murray nahm seine Pflichten keineswegs leicht. Den Plan Lindstroms, das tief erschütterte, ganz verstörte Kind auch weiterhin in Oak Ridge, zusammen mit ihm und der nach dem Unglück noch schwächeren Großmutter, bleiben und von einer Erzieherin und den Dienstboten betreuen zu lassen, verwarf Murray als völlig unannehmbar. Wochenlang suchte er nach einer geeigneten Schule für die kleine Camilla, und als seine eigenen Pläne genau festgelegt waren, zwang er dem alten Lindstrom die Einwilligung dazu ab.
Murray hatte sich für seine Verhandlungen mit dem alten Herrn eine eigene Taktik zurechtgelegt, die – selten angewandt – stets zu dem erwünschten Erfolge führte. Mit dem gutmütigsten und freundlichsten Lächeln pflegte er dem Alten gründlich den Kopf zu waschen und dabei Dinge offen in das sture, selbstgefällige Gesicht zu sagen, die ein anderer auch nicht im Traume zu äußern gewagt hätte, worauf dann der alte Lindstrom stets zu lachen anfing und immer so tat, als hielte er alles nur für einen Scherz. Er tat aber dann meistens das, was Murray von ihm verlangt hatte, und versuchte nur den Anschein zu erwecken, als hätte er selber auch schon seit jeher nichts anderes gewollt.
Durch seine geschickte Taktik rettete Murray sein Mündel Camilla und verhalf ihr zu einem einigermaßen glücklichen Jungmädchendasein, und das war im Grunde alles, was sie brauchte. Murrays Freunde und näheren Bekannten, besonders die Damen, machten sich über ihn lustig, weil er seine Vormundspflichten so ernst nahm, aber das konnte seine Einstellung nicht ändern. Eigentlich sollte Camilla, wenn sie nicht im Pensionat war, bei den Großeltern sein. Während der Ferien unternahm aber Murray große Reisen mit ihr, von denen sie zwei sogar nach Europa führten. Tatsächlich verbrachte Camilla also nur einige Tage im Jahre in Oak Ridge.
Murray verwöhnte sie maßlos und tat ihr jeden Willen. Und wahrscheinlich hatte Fräulein Foster auch recht, wenn sie behauptete, daß er in Camilla verliebt, oder wie sie es ausdrückte, »vernarrt« sei. Aber das war eine Seite dieser ganzen Angelegenheit, die er einfach nicht zu bemerken schien und die er auch zweifellos aufs entschiedenste in Abrede gestellt hätte. Er fand es sogar ziemlich betrüblich, daß seine Beziehungen zu Camilla, obwohl er genau genommen immer noch fünfundzwanzig Jahre älter war, allmählich an Ungezwungenheit verloren und etwas kompliziert wurden.
Camilla war achtzehn Jahre alt, als der Tod ihrer Großmutter einem neuen störenden Element den Weg nach Oak Ridge frei machte: jenem Fräulein Parsons, deren Stimme Fräulein Foster nicht mochte. Man hatte dieses Fräulein Parsons ein paar Monate vor dem Tode der alten Dame als eine Art Sekretärin und Gesellschafterin zur Entlastung der Krankenschwester engagiert. An den Tagen, an denen es Frau Lindstrom etwas besser ging, schrieb sie für sie ein paar kurze Briefe, las ihr vor und sorgte für ihre Zerstreuung. Ging es aber der alten Dame schlechter, so daß sie der Krankenschwester überlassen werden mußte, leistete Fräulein Parsons dem alten Herrn Lindstrom ähnliche Dienste, und sie verstand sich so sehr bei ihm einzuschmeicheln, daß er sie auch nach dem Tode seiner Frau behielt.
Frau Lindstrom starb in der letzten Maiwoche. Camilla kam zwar aus dem Pensionat zur Beerdigung, fuhr aber gleich wieder zurück. Von dem Entschluß des alten Lindstrom, Fräulein Parsons bei sich zu behalten, hatte sie während ihres kurzen Aufenthalts nichts erfahren. Erst als sie aus dem Pensionat entlassen wurde, begann sie etwas zu ahnen. Sie erhielt von ihrem Großvater einen maschinengeschriebenen Brief – drei Seiten guter Ratschläge – und einen Scheck über fünf Dollar als Geschenk zu ihrem Abitur. Den Scheck hatte – der Handschrift nach – eine Frau ausgestellt, und der Brief selbst trug am Kopf das Diktatzeichen L. P.
Als Murray, der an Camillas Abiturientenfeier teilnehmen sollte, aus dem Zug stieg, stand sie bereits auf dem Bahnsteig und erwartete ihn. Sie ließ sich kaum Zeit zu einem flüchtigen Begrüßungskuß. Gleich nach den ersten Worten holte sie den sonderbaren Brief hervor und machte den Anwalt auf die traurigen Folgerungen aufmerksam, die sie aus dem Schreiben herauslas.
» L. P., – das ist doch diese Parsons, nicht wahr, Pete?« Sie bediente sich schon seit einigen Jahren dieses Kosenamens, mit dem Murray von seinen Freunden angeredet wurde. »Er hat sie also als Sekretärin behalten. Schöne Bescherung! Lebt sie mit ihm zusammen?«
»Sie wohnt im Hause«, erwiderte Murray und merkte an dem Lächeln, das auf Camillas Lippen erschien, daß sie den Unterschied wohl verstanden hatte. Diese holden Abiturientinnen wußten wahrhaftig mehr, als man ihren jungen Jahren zutrauen sollte.
»Was bedeutet › L‹?« wollte sie wissen. »Lucy …?«
»Viel schöner«, entgegnete Murray. »Lucretia.«
»Lucretia Borgia«, ergänzte sein Mündel bitter. »Nun«, fuhr sie nach kurzem Überlegen fort, »vermutlich hättest du es kaum verhindern können. Es sei denn, du hättest mich rechtzeitig benachrichtigt. Komm jetzt mit, wir wollen telefonisch einen Schlafwagenplatz für mich bestellen. Ich reise nach der Feier mit dir nach Hause«
Sie hätten sich wegen dieses Entschlusses fast überworfen, denn es war vereinbart, daß Camilla noch drei Wochen in der Schule bleiben sollte, um tüchtig zu arbeiten und anschließend ihr Lehrerinnenexamen zu machen. Murray konnte natürlich das plötzliche Aufgeben eines so wichtigen Planes zum mindesten nicht ohne Widerspruch hinnehmen.
Freilich hatte er selbst die Gefahren der Lage erkannt, in die sie durch Fräulein Parsons so geschickt hineinmanövriert worden waren, und bereits einige Schritte unternommen, um ihre Absichten zu durchkreuzen; aber Camillas Vermutung, daß diese Frau ihren Großvater heiraten und sich sein ganzes Vermögen erschleichen wollte, verblüffte ihn. Es war ihm aber noch nicht in den Sinn gekommen, daß er in Camilla eine wertvolle Verbündete finden würde.
»Kümmere du dich um deine Examina und überlaß die Parsons mir«, wies er das Mädchen zurück. »Ich werde schon dafür sorgen, daß sie uns keinen Streich spielt. Ich lasse sie beobachten, und wenn sie irgend etwas anstellt, werde ich sie bestimmt klein kriegen. Schlimmstenfalls wird sie mit einer bescheidenen Summe bestochen. Vorerst liegt jedoch noch kein Grund zur Besorgnis vor.«
»Du meinst, dir sei noch keiner aufgefallen«, entgegnete Camilla. »Aber Großvater hat Respekt vor dir. Du läßt ihn nach deiner Pfeife tanzen. Und ich wette, daß auch sie das weiß. Wenn die beiden nun irgend etwas Drolliges vorhaben, wenn sie zum Beispiel ein neues Testament aufsetzen wollen, dann können sie sich dazu auch einen anderen Anwalt nehmen, nicht wahr? Und wenn sie heiraten wollen, haben sie nicht einmal das nötig. Heiraten dürfen zwei Menschen doch immer, selbst wenn sie noch so alt und närrisch sind. Wie bald nach dem Tode der ersten Gattin ist die nächste Ehe gesetzlich zulässig?«
»Einen Augenblick«, warf Murray zerstreut ein. Die Ansicht Camillas, daß der Alte etwas hinter seinem Rücken, also ohne ihn zu Rate zu ziehen, unternehmen könnte, hatte ihn ein wenig unruhig gemacht, aber er gab sich alle Mühe, dem Mädchen nichts davon merken zu lassen. »Selbst wenn du mit deiner Vermutung recht hättest, sehe ich immer noch keinen Grund, in Angstschweiß zu geraten. Wenn es ihr gelingt, ihn zu heiraten, wird ihr doch nur ein Drittel seines Vermögens zufallen, und dir und Eric bleibt, weiß Gott, noch immer genug – mehr sogar, als es für euch beide gut ist.«
»Darum handelt es sich gar nicht«, erwiderte sie zornig. »Ich habe auch jetzt schon genug Geld. Aber ich vergesse nicht das entsetzliche Leben, das er meinen Eltern bereitet hat. Er hat sie schikaniert und ihnen nie einen eigenen Willen zugestanden. Mir hat er jetzt fünf lumpige Dollar zu meinem Ehrentage geschenkt. Ich werde nie zulassen, daß er aus irgendeiner hergelaufenen Abenteuerin mit blondgefärbtem Haar eine Millionärin macht. Bevor er sie heiratet, tue ich ihr lieber etwas an. Nein, im Ernst, Pete, ich reise nach Hause, und zwar so schnell als möglich. Wenn du morgen zurückfährst und mich nicht mitnimmst, tipple ich zu Fuß! Ich will heim, um ihre Stellung zu übernehmen.«
Später sah Murray ein, daß es – wenigstens den unmittelbaren, greifbaren Folgen nach zu urteilen – damals wahrscheinlich ein Fehler war, dem Mädchen nachzugeben. Er hatte sich auf der Rückreise in der Bahn richtig heiser geredet und Camilla immer wieder und wieder zur Vorsicht und Besonnenheit ermahnt.
»Du mußt Lucretia so behandeln, als wenn du sie gern hättest«, betonte er. »Sie wird jede Gelegenheit sofort ergreifen, um dich bei deinem Großvater zu schädigen. Vergiß das nicht. Und versuche um Gottes willen ja nicht, den Alten irgendwie zu bedrängen. Bedenke, daß du deinen eigenen Starrsinn von ihm geerbt hast. Dein Trotz ist gar nichts im Vergleich zu dem seinen.«
Camilla, die ihm dankbar war und es vielleicht ein wenig bereute, ihm ihren Willen aufgezwungen zu haben, versprach, sich zusammenzunehmen und vernünftig und besonnen zu handeln.
Dennoch kam es, noch ehe sie drei Tage in Oak Ridge war, zu dem von Murray gefürchteten Krach. Ihr Großvater, versicherte sie Murray, habe sich scheinbar sehr gefreut, sie wiederzusehen und zu hören, daß sie den Gedanken an das Collegestudium aufgegeben hätte, um nach Hause zu kommen und mit ihm zusammen zu leben; außerdem sei sie wirklich überzeugt gewesen, daß er auch selbst immer mehr und mehr einsähe, daß diese Parsons tückisch, falsch und bösartig sei und irgend etwas im Schilde führe. Aus allen diesen Gründen habe sie – Camilla – es für notwendig gehalten, das Eisen zu schmieden, so lange es heiß war, und da hätte sie den alten Lindstrom ganz offen um die Sekretärstelle gebeten. Der plötzlich ärgerlich und argwöhnisch gewordene Blick des Großvaters aber hätte sie sofort erkennen lassen, daß sie einen Fehler begangen hatte. Da sei es indessen schon zu spät gewesen, und so habe sie sich eben weiter ausgesprochen, und dabei wäre es dann eben zu einem heftigen Zank gekommen.
»Du hattest mit deinen Warnungen ganz recht«, schloß sie, »und es war sehr dumm von mir, daß ich meinen Kopf durchsetzen wollte. Und dennoch«, fuhr sie fort, nachdem sie einen Augenblick geschwiegen hatte, um dieses Eingeständnis wirken zu lassen, »dennoch bin ich froh, daß ich nach Hause gefahren bin, und eigentlich auch froh, daß ich mich mit dem Großvater gezankt habe. Denn jetzt werde ich fliegen lernen.«
»Ach was, ich bin noch dümmer als du«, erwiderte Murray bitter. »Ich hätte wissen müssen, daß es so kommen wird. Ich hätte dich als unschuldiges Kind mit deinen eigenen schönen rabenschwarzen Locken erdrosseln müssen! Camilla, sei nicht töricht! Du weißt doch, wie dein Großvater über die ganze Fliegerei denkt.«
»Natürlich!« rief Camilla. »Ich bin doch nicht umsonst vier Tage zu Hause gewesen.«
Am Fluß, dem Lindstromschen Anwesen gerade gegenüber, befand sich ein weites, flaches Feld, auf dem man in diesem Jahre eine Fliegerschule und einen Flughafen eröffnet hatte. Der Fluß, der langsam zwischen niedrigen Sandbänken dahinströmte, war in jener Gegend an keiner Stelle breiter als fünfzig Meter. Jedesmal, wenn der Wind von Osten oder von Westen wehte, schwirrten unaufhörlich dicht über dem Dach des Herrenhauses aufsteigende oder landende Flugzeuge. Selbst wenn sie so hoch flogen, daß man sie kaum hören konnte, machte schon die bloße Vorstellung, daß Flugzeuge über dem Grundstück kreisten, den alten Lindstrom fast rasend vor Wut. Er versicherte sich hoch gegen jeden durch sie möglichen Sachschaden und hoffte wahrscheinlich im stillen, daß eines Tages so ein großer mechanischer Vogel durch das Dach seines Treibhauses stürzen würde.
»Du weißt, er ist imstande, dich wegen dieser dummen Fliegerei sang- und klanglos zu enterben«, sagte Murray zu Camilla. »Im Ernst. Vielleicht redet er sich dann noch ein, dein Benehmen sei ein Beweis dafür, daß du viel zu leichtsinnig und verantwortungslos seiest, als daß man dir eine größere Summe anvertrauen könnte. Und wenn er sich einmal etwas fest eingeredet hat, dann kann ihn nichts umstimmen.«
Murray glaubte, mit diesen Worten einen gewissen Eindruck auf Camilla zu machen, aber sie wußte auch diesmal wie gewöhnlich etwas zu erwidern: »Was ihn gestern so wütend gemacht hatte, war der Argwohn, daß ich nur nach Hause gekommen sei, um diese Parsons aus ihrer Stellung zu verdrängen. Vielleicht befürchtet er auch, daß ich seinem Geld nachstelle. Er glaubt nämlich, daß die Menschen sich im stillen immer fragen, wieviel und wann sie etwas von ihm bekommen werden, und er haßt diesen Gedanken. Von dieser Perspektive aus gesehen wäre aber das Fliegen oder etwas Ähnliches wahrscheinlich das Beste, was ich tun kann, denn dadurch beweise ich ihm ja, daß ich auf sein Geld pfeife. Freilich war das nicht der eigentliche Grund, der mich veranlaßt hatte, mich für den Kursus anzumelden, Pete. – Doch, doch, das habe ich wirklich getan, und bezahlt habe ich auch schon, jawohl, mit dem Geld, das du mir zum Abitur geschenkt hast. Ich tat es, weil es mich von innen heraus dazu drängte. Ich spüre diesen Drang in mir bereits seit zwei Jahren, als wir zum erstenmal zusammen von Berlin nach Amsterdam geflogen sind. Ich habe mir alles reiflich überlegt. Es ist die vernünftigste Ausbildung, die ich überhaupt bekommen kann, Pete. Ich will auch ganz, ganz artig und vernünftig sein, wenn du mich gewähren läßt. Und ich sehe nicht ein, warum Großvater und diese Parsons etwas darüber erfahren sollten. Jedenfalls nicht, ehe ich ausgelernt und meinen Führerschein habe. Ich sagte den Leuten auf dem Flugplatz gleich bei der Anmeldung, daß ihr Pressevertreter mich unter keinen Umständen erwähnen darf, und sie waren damit einverstanden. Ich gab ihnen deine Wohnung als meine Adresse an – schließlich bist du ja mein Vormund –, alle mit dem Fliegen zusammenhängende Post wird also zu dir kommen.«
Zum Schluß hatte Murray natürlich nachgegeben, und nach und nach kam er sogar zu der Ansicht, daß er in diesem Falle richtig gehandelt hatte. Dem Urteil ihres Lehrers zufolge war sie zum Fliegen wie geboren. Nicht nur weil sie mit einem richtigen Gefühl und einer sicheren Hand ausgestattet war, sondern auch weil sie einen kühlen, klaren Kopf hatte.
Ihr machte die Fliegerei offenbar gewaltigen Spaß. Noch stundenlang konnte man nach jeder Landung etwas wie ein Leuchten in ihren Zügen sehen. Und eines Tages fragte sie Murray durchaus ernst, ob er nicht fände, daß sie sich »gebessert« hätte.
»Dir ist es vielleicht noch nicht so deutlich aufgefallen, aber Großvater merkt es ganz bestimmt«, sagte sie. »Ich bin jetzt wirklich nett zu ihm, und der Lucretia Borgia gegenüber bin ich einfach zuckersüß.«
»Die Erfüllung eines Wunschtraumes veredelt den Menschen«, versuchte Murray sich diese Wandlung zu erklären.
Aber sie glaubte, daß die Vorgänge in ihr noch eine tiefere Ursache hatten.
»Fräulein Kittredge hat uns immer Selbsterziehung gepredigt«, sagte sie nachdenklich. »Sie meinte, das sei etwas, was zum Denken anspornt. Wenn das stimmt, so ist das Fliegen wirklich ein trefflicher Weg dazu. Du mußt mich richtig verstehen, Pete, es handelt sich dabei nicht um eine Gefahr, mit der man spielen kann, wie etwa wenn man befürchten muß, daß man von einer Hausdame bei irgendeinem Unfug erwischt wird oder beim Nehmen einer Hürde vom Pferd stürzt. Hier kommt es darauf an, so sicher wie nur möglich zu fliegen, und deshalb muß man alles, was damit zusammenhängt, sehr ernst nehmen. Und ich glaube«, schloß sie, »wenn man wirklich gelernt hat, irgend etwas ernst zu nehmen, dann hört man ganz von selber auf, sich anderen Dingen gegenüber wie ein Blödian zu verhalten.«
Camilla wurde wahrhaftig immer reifer. Und es stand für Murray fest, daß sie sich nunmehr über kurz oder lang verlieben und irgend jemand heiraten würde. Unter den Piloten des Flughafens war ein junger Mann, der nach seiner Ansicht hierfür durchaus in Frage kommen konnte.
*
Als er sich dem Lindstromschen Grundstück näherte, gefährdete er ein wenig den übrigen Verkehr auf der Chaussee, weil er wenigstens mit einem Auge den Himmel zu beobachten versuchte. Eine Reihe von Flugzeugen schwirrte, das windstille Wetter und das klare Abendlicht ausnutzend, hin und her. Eine dieser Maschinen gehörte vielleicht Camilla, und Murray hielt nach ihr Ausschau, obwohl er gar nicht wußte, wie ihr Apparat aussah. Im Grunde hoffte er, von ihr am Schofförhäuschen erwartet zu werden, am großen Eisentor, das, wenn man die Flußseite nicht in Betracht zog, den einzigen Zugang zum Grundstück bildete.
In früheren Zeiten war dieses Tor mehr ein Prunkstück gewesen, aber jetzt, in Anbetracht der neuen Nachbarschaft, mit einer Tankstelle, einem Rummelplatz und einem Tanzpavillon auf der gegenüberliegenden Straßenseite, mußte es geschlossen gehalten werden, weil sonst ganze Scharen neugieriger Menschen das Anwesen überflutet hätten. Dabei hätte man den Leuten das unbefugte Betreten fremden Bodens in diesem Falle nicht einmal übelnehmen können, denn die zierliche Kuppel, die allein vom Tor aus zu sehen war, verlieh dem Grundstück nach außen hin mehr den Charakter einer öffentlichen Anlage als den eines privaten Wohnsitzes.
Dennoch war Murray überrascht, als er das Tor tatsächlich geschlossen vorfand. Auf sein Läuten hin kam aus dem Schofförhäuschen ein etwa zehnjähriges Mädchen, um ihn hineinzulassen, und obwohl die Kleine Murray zunächst etwas zu jung für eine Pförtnerin vorkam, wurde durch ihr äußerst selbstsicheres Auftreten jeder Argwohn in ihm sofort wieder erstickt. Sie riß das Tor auf und lehnte, als er sich erbot, ihr behilflich zu sein, seinen Beistand so empört ab, daß er sie gewähren ließ. Die Folge war aber eine ziemlich angeregte Unterhaltung, die dem Mädchen schließlich ein kleines Trinkgeld von zehn Cent einbrachte. Es schien, daß die Kleine bei weitem aufgeweckter war, als man hätte annehmen können. Das Tor, sagte sie, sei heute etwas früher abgeschlossen worden, weil ihre Eltern zusammen fortgegangen wären. Sie hätten ihr eingeschärft, niemand hereinzulassen, den sie nicht kannte. Aber Herrn Murray kannte sie ja sehr gut. Er war doch Camillas Vormund. Sie war ein wenig erstaunt, daß Camilla nicht in seinem Wagen mitgekommen war, da sie sich doch den ganzen Tag nicht hatte zu Hause blicken lassen. Wo mochte sie nur sein? Ach, vielleicht war sie ihrem Bruder entgegengefahren.
»Eric?« entfuhr es Murray überrascht. »Wo ist er denn?«
»Oh, er kommt nach Hause«, antwortete die Kleine. »Es ist heute von ihm ein Telegramm aus Kalifornien eingetroffen.«
Wahrscheinlich hätte sie ihm noch zehn Minuten lang weitere interessante Neuigkeiten mitgeteilt – ihr Benehmen jedenfalls ließ darauf schließen –, aber da ertönte ein ziemlich wüster Lärm aus dem Lautsprecher einer an der Tankstelle haltenden Limousine, und das war wohl interessant genug, um ihre Aufmerksamkeit abzulenken. So nahm sie mit aller Selbstverständlichkeit sein Trinkgeld und lief fort. Ein dunkles Gefühl sagte ihm, daß er eigentlich hätte warten sollen, um zu sehen, ob sie das Tor auch wieder abschließen würde, zumal sie für das Zehncentstück, das sie in ihrer kleinen Hand hielt, in der Verkaufsbude jenseits der Chaussee sicherlich sofort etwas kaufen wollte. Aber er hörte nicht auf diese innere Stimme – und auch das mußte er später tief bedauern.
Hatte man einmal Einlaß ins Lindstromsche Anwesen gefunden, erkannte man bald, daß man ihm dank seines wohlgepflegten Rasens, seiner dichten Büsche und des stolzen Ulmen- und Ahornbestandes eine gewisse Schönheit nicht absprechen konnte. Sogar das Haus hatte im Laufe der Jahre unter dem wilden Wein, der es nach und nach überwuchert hatte, viel von seiner ursprünglichen Häßlichkeit verloren. Murray wurde jedesmal, wenn er durch den Park zum Herrenhause fuhr, an das Unglück erinnert, das der Familie Lindstrom in diesem Hause widerfahren war. Es schien ihm stets, als hätten diese trüben Erinnerungen auch dem Park ihren Stempel aufgedrückt, der ihn ernst und geheimnisvoll wirken ließ. Sicher wäre diese melancholische Stimmung heute von ihm gewichen, wenn er Camilla begegnet wäre. Sie hätte ihn doch wirklich erwarten können, um sich mit ihm zusammen über den ersten Flug im eigenen Flugzeug zu freuen! Und seine Stimmung wäre noch besser geworden, wenn sie ihm außerdem hätte sagen können, daß jenes kleine, geschwätzige Mädchen am Tor sich hinsichtlich des Telegramms von Eric getäuscht habe.
Die Nachricht von der plötzlichen Rückkehr dieses völlig entfremdeten und ihm fast unbekannten Weltenbummlers hatte für ihn etwas Beunruhigendes. Weshalb kam Eric gerade jetzt nach Hause? Welchen Einfluß würde sein Wiederauftauchen auf Camilla, auf ihren Großvater und auf die etwas rätselhaften Pläne der Sekretärin haben?
Und plötzlich glaubte Murray zu verstehen, warum er herbestellt worden war und warum Lucretias Stimme am Telefon so sonderbar geklungen hatte.