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[II. Abschnitt.
Worningen]

Das Palais. Die erste Schulbank. Der Vormund. Der Stotterer. Der Lateinschüler.

 

Die Häuslichkeit wurde nun aufgelöst. In dieser letzten betrübten Zeit aß man meist in der Küche zu Mittag. Schweigend leerte man seinen Teller und nahm langsam Abschied vom guten Land und den guten Leuten und genoß gar wehmütig all die Freundlichkeit, die sich dem Häuslein nun verdoppelt zuwandte. Hier wurden die Briefe aus Sachsen gelesen und die immer häufiger eintreffenden Päcklein aus der Heimat der Mutter geöffnet, die mit so viel Liebe gefüllt und meist so sorglos verschlossen waren, daß der weite Weg ihnen und ihrem Inhalt wohl anzusehen war. Kam da nicht einmal wie ein Gruß aus einer anderen Welt ein Brief aus Böhmen mit einer roten Zehnermarke und dem Bildnis Kaiser Franz Josephs?

Um dem Kinde allerlei unerfreuliche Eindrücke zu ersparen, auch um mehr Bewegungsfreiheit zu haben, schickte man es auf einige Zeit nach Möckingen zu dem Pfarrer Brast, dem Märchenerzähler. Nach Vollendung des Umzuges brachte der gütige Mann den Kleinen im Fuhrwerk nach Worningen, dem neuen Wohnort.

O, Reinhart weiß noch gut, was diese Fahrt für ihn bedeutete. Mit erwartungsvoller Seele ließ er das Neue auf sich wirken. Es ging über die alte Steinbrücke mit dem Nepomuk, über den Fluß, der ihm außerordentlich breit vorkam, in die Straßen der Vorstadt, deren Dürftigkeit und Zusammenhangslosigkeit er nicht gewahrte, – die wenigen größeren oder sonst merkwürdigen Häuser ließen alles in höherem Glanze erscheinen. Der Pfarrer machte einen kleinen Umweg, damit der Knabe sogleich die Hauptstraße zu sehen bekäme. Die Spätsommersonne strahlte freundlich, der Gaul ging Schritt auf dem holprigen Pflaster der Kleinstadt. Ja die Hauptstraße! Leipzig hatte ihn kalt gelassen. Hier dagegen war es eine Großartigkeit, die man fassen und lieben konnte. Die enggedrängten Häuser, Giebel an Giebel, jeder in besonderer Form, alle höher und kühner als die Häuser und Hütten von Rohrachau. Ob er die Menschen, die da wohnten, je kennen lernen würde? Immer wieder eine Gastwirtschaft mit weitvorspringendem Schild, immer wieder ein Kaufladen, immer wieder ein Bäcker, ja sogar mehrere Metzger in einer Straße! Was hatte dagegen die verlassene Heimat aufzuweisen? Dann schob sich der gelbe Bau des fürstlichen Schlosses quer über die Straße, so jäh und vollständig der Weiterfahrt wehrend, daß man den Weg durchs Schloß selbst nehmen muß. Der Pfarrer ließ halten und Reinhart, ohne ihn zu stören, den gewaltigen Bau betrachten. Über den wohlgepflegten Kieswegen und Teppichgärtnereien erhoben sich drei Reihen hoher Fenster, die meisten mit roten Vorhängen verhängt. Nur im obersten Stockwerk waren einige aus Butzenscheiben zusammengefügte Flügel geöffnet. Da saß eine schöne, dunkle Dame in mittleren Jahren, rauchend und lesend und das bescheidene Leben auf dem Schloßplatz beobachtend. Ein Springbrunnen vor den Stufen des Portals warf seinen Strahl in die Luft. So etwas hatte Reinhart nie gesehen. Die Theater und Paläste und Plätze und die gedrängte Fülle der Villen der Tauchnitzstraße in Leipzig, der Park des dortigen zoologischen Gartens hatten ihn verwirrt, – dies Bild der Großartigkeit und Lieblichkeit zugleich ergriff seine Seele.

Sie fuhren durchs Halbdunkel des Schloßtunnels an einem Stück des fürstlichen Hofgartens vorbei in die Mühlstraße zur neuen Wohnung.

Ja, wo wohnten nun Reinhart und die Seinigen? In einem prinzlichen Palais. In einem kleinen Schloß. Im Hause eines wirklichen deutschen Prinzen und Standesherrn aus reichsunmittelbarem Geschlecht, des Prinzen Maximilian. Wenn der Besitzer, aus dem Norden kommend, ab und zu die kleine Stadt aufsuchte, meldete das Wochenblatt: »Seine prinzliche Durchlaucht nebst Gemahlin sind im Palais in der Mühlstraße abgestiegen.« Für gewöhnlich lebte die Durchlaucht in Thüringen, fern von den übrigen Gliedern der Familie, die vermutlich mit dem Einspänner nicht recht auskamen. Da ihm die Füße den Dienst versagten, benützte er zwei Krücken, mit denen er sich rasch vorwärts zu bewegen vermochte. Die blau gepolsterten, glänzend schwarz polierten Stützen ächzten ein wenig, wenn er ging. Im schnellsten Laufe blieb er oft plötzlich stehen, hob die eine Krücke und deutete auf den Gegenstand seines Gefallens oder Mißfallens. Darauf redete er in seiner scharfen norddeutschen Sprechweise laut, abgebrochen und ungemein rasch, für fränkische Dorfkinder vollkommen unverständlich. Von seiner religiösen Weltauffassung gab die Einrichtung eines Betsaales Zeugnis, der im oberen Stockwerk eines Anbaues lag und von dem prinzlichen Paare zum Abendgottesdienst benutzt wurde, bei dieser Gelegenheit aber jedermann offen stand. Die Prinzessin spielte das Harmonium, der Prinz vertrat den Geistlichen. Eine Apsis mit Altar sowie ein Rednerpult fehlten nicht. Die gewölbte Saaldecke war blau gemalt und mit silbernen Sternen besät, Spruchbänder verkündeten die Bestimmung des Raumes.

Prinz Maximilian besaß ursprünglich mehrere nebeneinander liegende Häuser und Grundstücke der Straße. Ein großes Haus nebst großem Garten hatte er schon mehrere Jahre zuvor zum Zwecke der Gründung eines evangelischen Pensionates für Lateinschüler schenkweise abgetreten. An das Knabenpensionat stießen die Gebäulichkeiten des »Palais«: eine Art Kavalierhaus für Gäste und Angestellte, eine Scheune, an sie angebaut eine offene, von Holzsäulen gestützte Halle und über dem Hofe das Haupthaus mit dem angebauten Betsaal, unter dem sich eine Stallung für zwei Pferde befand. Aus einfachen kleinstädtischen Häusern war durch allerlei Zutaten etwas halbwegs Herrschaftliches, freilich auch Absonderliches, entstanden.

Die Prinzessin war eine bedeutende Frau mit geistvollen, wahrhaft aristokratischen Zügen. In treuer Anteilnahme war sie auch vielen kleinen Leuten des Städtchens von Herzen zugetan, wie man das bei dem in kleinen Orten wohnenden hohen Adel nicht selten finden kann. Von Löhe angeregt, war sie zu selbständiger Frömmigkeit gelangt; später ist sie in der Sittlichkeitsbewegung führend hervorgetreten. Sie war mit Reinharts Vater befreundet, hatte auch bei einer seiner Schwestern die Patenstelle übernommen. Ihr war es wohl zu verdanken, daß den Verwaisten gegen eine sehr mäßige Miete das Erdgeschoß des »Palais« als Wohnung angeboten wurde.

Hier hat Reinhart die schönste Zeit seines Knabenlebens verbracht.

Das zweistöckige, hellgraue, schiefergedeckte Palais stand unmittelbar an der Straße. Vom Hofe aus führten zwei zusammenlaufende Steintreppen zur messingbeschlagenen, stattlichen Haustüre empor. Schon der Eingang verriet die phantastische Art des Besitzers: das zierlich geschweifte Blechdach über der Pforte, davor der Aufbau von Steinblöcken, überschattet von Zypressen und Eschen. Trat man ein, so hatte man links das ansehnliche Wohnzimmer, daneben zwei Schlafräume, rechts ein kleines Gastzimmer. Über eine Stufe trat man in die geräumige Küche, an die sich die nie ganz mäusereine Speisekammer und das noch mäusereichere Bubenschlafzimmer anschlossen. Gegen den Garten hinaus lag ein langes, schmales Zimmerchen, das den verschiedensten Zwecken diente, besonders als Ferienstudierstube begehrt war.

Von ihm aus führte eine Steintreppe von etwa zehn Stufen zum Garten hinab. Es war ein beliebtes Verfahren, sich die Stufen zu ersparen und unmittelbar von der Steinmauer aus in den Garten zu springen. Als viel, viel später Reinhart der Mann seinen ältesten Sohn, auch ein Kind, durch das Haus führte und mit ihm an diese Stelle kam, konnte auch sein Sohn nicht anders, als unmittelbar von der Mauer in den Garten springen.

Ja, der Garten! Wenn der nicht gewesen wäre! Er war ganz und gar nicht von gewöhnlicher Art. Von der Erfindungslust eines auf kleinen Raum angewiesenen, romantisch veranlagten Sonderlings angelegt, war es ein Phantasiestück. Er war nicht groß. Als Reinhart der Mann ihn nach vielen Jahren wieder betrat, erschien er ihm sogar recht klein. Dem Kinde erschien er so groß und weit, weil er eine Hauptquelle seiner Jugendfreuden und späteren Gesundheit war, ein Sprungbrett, von dem das junge Denken und Sehnen aufstieg, ein Ort unersetzlicher Erinnerungen, Anregungen, Gesichte, Inspirationen, Freuden und Leiden, Arena wilder Knabenlust und Gnadenort stiller Sammlung zugleich. Mehr lang als breit erstreckte er sich hinter dem Palais bis in die benachbarten Wiesen hinaus. Auf der Seite des Knabenpensionates bildete eine lebende Hecke die Scheidemauer, die aber an mehreren Stellen unterwühlt oder unauffällig durchbrochen war, so daß die geschmeidigen Knabenleiber bequem hinüber und herüber schlüpfen konnten.

Der Garten war reich an allerlei Bäumen. Jetzt war alles ein wenig verwildert und ineinander verwachsen.

Übrigens waren Reinhart und die Seinigen nicht die einzigen Nutznießer des Paradieses. Es war strenge Weisung ergangen, daß sie nur von den Bäumen auf der linken Hälfte, also nur links vom Hauptweg, essen durften, während die rechte den Bewohnern des Kavalierhauses zugewiesen war.

Ohne jede Schwierigkeit, ohne sein Gedächtnis anstrengen zu müssen, kann Reinhart der Mann auch heute noch durch diesen Garten gehen, von Baum zu Baum, dann den schmalen Mittelweg mit den Blumenrabatten entlang zu den einzelnen Ruheplätzen und überall überkommt ihn die Knabenzeit.

Der Mittelpunkt der Obstfreuden war jedenfalls der Wasserbirnbaum inmitten des Gartens, unbestrittener Anteil der Leute im Palais. Was war das erste, wenn mit dem 1. August die großen Ferien gekommen waren? Man stellte sich unter den Wasserbirnbaum. Prangte doch der treue Freund fast alle Jahre in stattlicher Fülle. An ihn konnte man sich halten, wenn die Ferien sonst nicht allzu reich an Freuden waren, unter und auf ihm sein bißchen Schülerleben genießen.

Nun aber die beiden Burgen, die Kastanienburg und die Steinburg.

Ganz hinten im Garten stand eine prächtige Kastanie, unter deren Ästen ein umfangreiches, rundes Gartenhaus angelegt war. Weit beliebter aber war die Über- und Oberlaube, die über dem Gartenhaus, mit der Erde durch eine feste Holztreppe verbunden, in die ersten ausladenden Äste des Baumes eingebaut war. Das war ein herrlicher, luftiger Sitz zum Lesen und Lernen. Zwei Bänkchen boten für vier Personen bescheidenen Platz. Wer ganz ungestört sein wollte, setzte die Reise in die oberen Regionen fort und richtete sich in der Mitte des grünen Blätterhauses ein drittes Stockwerk oder an seinem Rande ein gewagtes Mansardenstübchen oder ganz oben ein Turmstübchen und Luginsland ein. Hier hat Reinhart die meisten der wenigen Jugendbücher, die er las, in sich aufgenommen, – er las nie viel und immer zu langsam. Hier hat man mit Freunden aus dem benachbarten Pensionat heimliche Zusammenkünfte gepflogen und mit Tabak aus getrockneten Kastanienblättern magenaufreizende Rauchversuche gemacht. Waren die Kastanien reif und fielen sie krachend aus den braunen Gehäusen in den Garten hinab, so war die Kastanienburg ein Schauplatz wilder Kämpfe.

Und weiter vorn, gegen das Palais zu, von Fichten und Zypressen und Linden umsäumt, die andere Burg, die Steinburg! In welchem Garten steht Ähnliches? Auf erhöhtem Grunde ragte ein kreisförmiger Horst empor. Den Rand bildeten mächtige in den Boden gerammte Felsblöcke. Zwischen ihnen befanden sich, Ausguck und Schießscharte zugleich, kleine Zwischenräume. Stufen aus unbehauenen Steinklötzen getürmt, führten zum Horste empor. Am Eingang in denselben ragte, einen Steinsitz beschattend, auf braunem Eichenschaft ein eiserner Schirm bis in die Höhe der umgebenden Bäume. Steinblöcke von mancherlei Herkunft, von Moos und Gestrüpp überwuchert, umgaben das Ganze. Aus dem Gewirr der von der Natur geformten Trümmer erhob sich unvermittelt, von Menschenhand geglättet, hoch und schmal, ein wenig mager, eine Kalksteinsäule, auf die mit spitzem Pinsel gemalt war: »Großmuttersäule«, – eine Aufmerksamkeit für die großmütterliche Wächterin des Gartens, der die Aufsicht über alle prinzlichen Häuser und Gärten anvertraut war, für die im Kavalierhause wohnende Witwe Seibott. So oft der prinzliche Garteninhaber seine Ankunft gemeldet hatte, erschien ein Maler und pinselte allenthalben sinnige Inschriften an und frischte auf, was verblaßt war. Auch das gußeiserne Kruzifix, das in eine Seite der Steinburg eingelassen wie ein Marterl ernst und fromm im Schatten des Hauptwegs aus dem Jasmin aufragte, bekam dann wieder neuen Glanz.

Ja, die Steinburg! Eigentlich war sie dazu bestimmt, ein Ruheplätzchen versonnener Beschaulichkeit zu sein, eine Ruine Weibertreu im kleinen, wenn auch die Äolsharfen fehlten. Die Knaben aber verkannten diesen Zweck. Ihre Augen ersahen sofort die strategische Bedeutung des Baues als einer Festung, um deren Besitz zu ringen des Schweißes der Edlen wert war. So wurde sie denn berannt und verteidigt mit Steinen, Kastanien und Prügeln, mit Speer und Schild, Holzschwert und Rohrsäbel, Schneeballen und Eisstücken, oder auch mit der blanken Faust, – mit allen Mitteln einer ursprünglichen, unverdorbenen Kriegführung. Und auch Reinhart der Unsichere hat um ihren Besitz jauchzend und schreiend, sich und seine Schüchternheit völlig vergessend, mitgestürmt, die empfangenen Wunden männlich ertragen und, wenn er in Gefangenschaft geriet, – wie er es von den Humanisten des Knabenpensionates lernte –, Menschen und Göttern wehklagend geflucht. Mitten im heißesten Toben der Schlacht konnte es geschehen, daß der Späher oben im Schirm, – dessen Besteigen strengstens verboten war, – den gefährlichsten Gegner meldete: im Laubgang von wildem Wein hatte er eine weiße Haube bemerkt, Frau Seibott nahte. Blitzschnell wurde der Kampf abgebrochen und Feind und Freund verließ die heißumstrittene Walstatt, um im entfernteren Gebüsch gemeinsam Deckung zu suchen. Die dünne Stimme der Großmutter, der die Säule gewidmet war, redete von Beschädigung der Anlagen, von ihrer Verantwortung und von einem Bericht an Seine Durchlaucht. Die Dame, die im Grunde des Herzens voll Freundlichkeit war, selbst Kinder und Enkel besaß und durch Blumensträußchen immer wieder zu besänftigen war, schrieb aber doch nicht oder doch nicht scharf genug. Es kam nie eine prinzliche Rüge.

Ja, die Steinburg! Du Quell jugendlicher, furchtloser Unternehmungslust, die die Folgen nicht ängstlich zuvor erwägt! Gesegnet seist du, du kraftzeugender Steinhaufen, der du dem Uneingeweihten so klein und unbedeutend vorkommst! – –

Gleich in den ersten Tagen, nachdem man im Palais eingezogen war, kündigte das Worninger Wochenblatt eine Auktion an, die im Garten des Palais stattfinden sollte. Die Bücher des Vaters waren zum größeren Teile an einen Leipziger Antiquar übergegangen, manches hatten Freunde erhalten; was künftigen Theologen zu grundlegendem Studium von Nutzen sein konnte, legte man für die Söhne zurück. Außer den Büchern waren aber noch allerlei Gegenstände vorhanden, deren Verkauf Raum schaffte – eine beschränkte Mietwohnung ist kein Pfarrhaus – und vor allem ein wenig Geld einbrachte. In der von Holzsäulen getragenen »Halle«, unter der himmelblauen Decke mit den goldenen Sternen, stand der kleine Auktionator und geschworene Taxator Regensburger und rief auf: Geschirr, einen Krankenstuhl, Bücherregale – die man später so schwer vermißte –, Töpfe, Bretter, Möbel – an denen das Herz hing. Die Kinder sahen nicht hin. Sie begriffen nicht ganz das Wehmütige des Vorgangs. Aber sie fühlten doch, daß da der Tod noch einmal seine Klauen öffnete, um einen Nachtragsposten einzustreichen. Sie hörten nur die gleichmütige Stimme des Juden: »Zum ersten, zum zweiten, zum dritten …, der hat's!« Sie haben dann in ihrer Weise das Ungewohnte zum Gegenstande des Spiels gemacht und die Übertreibung der jüdischen Sprechweise dabei nicht vergessen. Als die Versteigerung beendigt war, kam Regensburger ins Haus. Alles hatte seinen Liebhaber gefunden, denn wo ein Aas ist, sammeln sich die Geier. Er legte seine Liste vor, schüttete den Betrag auf den Tisch und zog seine Gebühren ab. Um ihn herum standen die Kinder und besahen die Stoppeln in seinem roten Gesicht, die Uhrkette aus Menschenhaar mit den goldenen Schließen, die billige Nadel auf der verblaßten Kravatte unter dem Gummiliegekragen und die Wölbung des Bauches unter der schmierigen Weste. Der Mann mit dem Anstrich des Beamten, der so sicher und gleichmütig sein Geschäft erledigt hatte und nun noch einige Worte der Teilnahme für die veränderte Lage der Familie und über die Wandelbarkeit der menschlichen Verhältnisse sprach, beschäftigte sie aufs allerlebhafteste. Das merkte er denn auch, zählte rasch die Kinderköpfe ab, griff in die Weste und warf ein Häuflein kleiner silberner Zwanzigpfennigstücke auf den Tisch. Aus seinem Zöllnergesicht brach ein Schein von Erbarmung über sie und von Rührung über sich selbst, als er sagte: »Da darf sich jeder eines nehmen.« Und die Kinder nahmen auch jeder eines von dem – guten Mann.


Wer aber hatte denn die Mutter in den Sarg gelegt und war mit Reinhart dem Kind von der Eisenbahnstation zur Beerdigung nach Freudenau hinüber gewandert? Wer hatte den Haushalt im Heimathaus aufgelöst und war mit den Geschwistern und Habseligkeiten in Worningen eingezogen? Das war Tante Konstanze. Als die Mutter ganz deutlich sah, daß sie sterben müsse und keinen Rat wußte, wer die Kinder nun übernehmen würde, erbat sie sich ein Stückchen Papier und schrieb darauf ihr letztes Geschriebenes: »Konstanze soll ihnen Mutter sein.« Das drückte sie ihrer Schwester Konstanze in die Hand. So wurde Tante Konstanze die Mutter der Kinder. –


Reinhart war sieben Jahre alt, es war höchste Zeit, ihn der Schule zu übergeben.

Im Schatten der Stadtkirche standen zwei ganz verschiedene Häuser: die Volksschule und die Lateinschule, oder wie man auch sagte, das gelbe und das rote Haus. Das gelbe Haus, ganz bescheiden, schon damals zu klein für seinen Zweck, darum bald durch einen stattlichen Neubau in einer anderen Gegend der Stadt ersetzt. Das rote Haus, stattlicher, in den Hausfarben der Gründer der Gelehrtenschule, der Fürsten von Worningen, rot und gelb gestrichen: rot die großen Flächen, gelb die Einfassungen der Fenster und Türen.

Einen nagelneuen Schulranzen auf dem Rücken, fröstelnd, erwartungsvoll, vom Getöse der fremden Kameraden umbraust, stand Reinhart am Morgen des 1. Oktober pünktlich um ¾8 Uhr vor dem gelben Hause, der Volksschule. Es war ihm gesagt worden, daß nun das eigentliche Leben beginne. Die Spielerei habe in der Hauptsache ihr Ende erreicht, die Pflichterfüllung habe nun das erste Wort. Tante Konstanze hatte auch in der Hausandacht am Morgen darauf Bezug genommen.

Um dem Knaben die Bedeutsamkeit des neuen Anfangs recht vor Augen zu führen, war sie mit ihm einige Tage vorher in die Wohnung des Lehrers Lent gegangen, um den Knaben vorzustellen und ihn so auch äußerlich abzulösen von der ersten Kindheit. Lehrer Lent empfing sie in seiner in einer engen Gasse gelegenen dunklen und ein wenig dumpfen Wohnung, die infolge der eben erfolgten Reinigung von Flur und Treppe zumal jetzt im Spätherbst einen feuchtkühlen Eindruck machte, mit Freundlichkeit. Der schneeweiße Bart, die Langsamkeit der Bewegungen, die leise Stimme verrieten, daß er ein alter Mann war. Er war ein wenig verwundert, mit welchem Ernst Konstanze von dem neuen, bedeutsamen Zeitabschnitt sprach, der nun für den Knaben begonnen habe, von der häuslichen Unterstützung, die sie, wenn auch unter erschwerten Verhältnissen, reichlich und freudig gewähren wolle, und wie sie den alten Schulmann feierlich bat, sich des Knaben anzunehmen. Das war bei der Aufnahme in die Volksschule sonst nicht Sitte. Lent kam sich wohl wie ein Eli vor, dem man einen Samuel brachte. Er versprach mit wenigen freundlichen Worten, daß er gerne sehen wolle, was sich machen ließe.

Und dann kam die erste Schulstunde. Die Erscheinung des Lehrers bewirkte vollkommenes Stillschweigen. Die alten Augen, die gestern so rein menschlich und fast befangen dreingesehen hatten, flogen gebietend über den gemischten Haufen und gewannen rasch Übersicht. Von vielen der Kleinen hatte Lent schon die Eltern unterrichtet und vom ersten Geschlecht läßt sich ja auf das zweite schließen, – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Von anderen kannte er die Geschwister. Viele der Neuen hatte er bereits beim Spiele beobachtet, – in den kleinen Städten kennt man sich. Nun war sein erstes Werk, den Haufen richtig zu ordnen: vorn auf die ersten Bänke ein paar Gescheite zum Führen, auf die letzte ein paar Tüchtige zum Schieben, in die Mitte den Haufen der Mittelmäßigen und Schwachen, an die Flanken verteilt ein Paar Offiziere. Reinhart merkte sofort, was der Lehrer tat. Ihm selbst gab man einen Platz in der Mitte. Man kannte ihn noch nicht; mochte er sich emporarbeiten, wenn er das Zeug dazu hatte. Auffallend war ihm der äußere Unterschied innerhalb des Kameradenkreises: die Verschiedenheit der Schulranzen und Taschen vom teuren Seehund-»Päck« bis zur handgestrickten Tasche, die man auch zu allerlei Besorgungen benützen konnte; die Verschiedenheit der Kleidung von den Feingestiefelten bis zu den Unbeschuhten, vom Ledergürtelbewehrten bis zum Westenlosen, vom wohlgebügelten Umlegekragen bis zum Bloßhalsigen. Eine Kopfbedeckung irgendwelcher Art trug damals jeder Schüler.

Der Anfang war leicht. Mit einer Stunde war es getan, und auch diese wurde nicht der eigentlichen Wissenschaft, sondern den Allgemeinbegriffen des neuen Standes gewidmet. Angenehm enttäuscht wollte man hinausstürmen. Aber der auch hierin vorausblickende Lehrer wies mit vorgehaltenem Metermaß die Schar in die Bänke zurück und brachte ihnen ein für allemal bei, daß man paarweise und stille aus der Schule geht. Als Reinhart mit einer daheim eingeübten Verbeugung an ihm vorübergehen wollte, löste ihn der Greis aus der Schar und hieß ihn ein wenig warten. Als kein Zeuge mehr zugegen war, öffnete er den Schulschrank, entnahm ihm eine Tüte aus braun-goldgemustertem Papier, übergab sie ihm und sagte: »Weil du heute so brav warst und damit du immer so brav bist.« Der Knabe errötete tief. Er war der einzige, dem das widerfuhr. Sein erster Gedanke war: das kommt von dem lieben Lehrer, weil er gerade mir eine besondere Freundlichkeit erzeigen will, da ich so fremd hier bin und keine Eltern mehr habe und mich darum wohl schwer eingewöhnen werde; – warum sonst gerade mir? Er bedankte sich hastig und verwirrt von so viel Güte. Draußen öffnete er den umfangreichen »Scharmützel«. Aus einer Fülle blauer Zwetschgen ragte eine hölzerne bunte Federbüchse, wohlgefüllt mit Schieferstiften, die aus bunten, klebrigen Papierumhüllungen ihre sorgsam gefeilten Spitzen zum Gebrauche darboten. Mit Spannung erwartete ihn Tante Konstanze. Als er kam, schon ein wenig vom Meltau der Schule berührt, schloß sie ihn in die Arme und sagte: »Brave Kinder sollen es am ersten Schultag gut haben, damit sie brav bleiben.« Da wußte der Knabe, von wem die Weihegabe stammte. Er verteilte ein weniges an die lauernden Brüder, dann aber zog er sich mit dem Hauptteil in den Garten zurück und tat, was er mit Zwetschgen zeit seines Lebens getan hat: er verzehrte in einer Mahlzeit, was er hatte.

So saß Reinhart in der Mitte, im Haufen der Mittelmäßigen und der unbeschriebenen Blätter. Er hielt sich ganz zurück. Das brachte nicht nur die beständig erneute Mahnung zu Hause, ja bescheiden zu sein, sondern auch seine eigene Veranlagung mit sich. Doch beobachtete er, was um ihn her vorging. Er sah, wie sich die Kameraden mehr und mehr dem Schulwesen anpaßten, wie sie sich in ihrem Gebaren immer ähnlicher wurden, bis in die Schulausdrücke, in die Art sich zu mißhandeln und zu beschimpfen, sich zu loben und zu schmeicheln, hinein. Er hörte Ausdrücke, die er dumm und sinnlos fand, die aber schlechterdings zur Verständigung zu gehören schienen. Er sah, wie die Mädchen drüben auf der anderen Seite aus ganz anderem Holze geschnitzt waren, ihre eigenen Wege gingen und sich von dem Lärm und der Roheit und den ordinären Schulausdrücken fern hielten, wie sie vom ersten Tage an gewissenhafter, sauberer, fleißiger, freilich auch kleinlicher und zimperlicher und ein wenig augendienerisch waren. Mit Verwunderung sah Reinhart, wie an sie die gleichen Anforderungen gestellt wurden wie an das männliche Geschlecht, wie es auch drüben Tadel und Strafen und Tränen gab, wie der Stock, der fleißig gebraucht wurde, auch in ihren Reihen sein Werk tat.

Bald aber erhob er sein Haupt über seine Umgebung. Der mütterliche Unterricht machte sich geltend. Was im ersten Schuljahr zu lernen war, hatte er in der Hauptsache mitgebracht. So geschah das Seltene: er durfte vor der Zeit in die zweite Klasse aufsteigen. Sein Lehrer war nun ein jüngerer, schwarzbärtiger Mann, von dem er nur noch das eine weiß, daß man ihm zutraute, er wisse alles und könne alles, weshalb man ihm auch gerne alles mögliche zulieb tat.


Waisenkinder haben einen Vormund. Haben sie Glück, so ist es ein tüchtiger Mann, der mitten im tätigen Leben steht und eigene Kinder hat – und doch immer noch Herz und Zeit für seine Pflegebefohlenen. So einer war der Kommerzienrat Bergfried in Worningen, Reinharts und seiner Geschwister Vormund, Tante Konstanzes Berater. Wenn man die Mühlstraße hinauf ging, an der »Rose« und dann am Kratzer und dann am Herrn Kluge, der einen Papagei besaß, vorbei, – so sah man über einer Gruppe zusammengehöriger Werkstätten und Holzlager den Kamin einer Fabrik aufragen, der einzigen, die Worningen besaß. Das war die Orgelfabrik des Kommerzienrats Bergfried. Pünktlich mit dem Glockenschlag vom Stadtkirchturm hörte man bis zum Palais hinunter die Fabrikglocke das Zeichen zur Mittagspause geben, worauf die Arbeiter und Angestellten aus dem Fabriktor traten und sich eilig, die kostbare Erholungszeit auszunützen, in die Straßen des Städtchens zerstreuten. Von einem »Strömen« konnte man nicht reden, – es waren insgesamt noch nicht siebzig Mann. Dafür befand sich aber unter ihnen mancher Künstler, insbesondere mancher treffliche Zeichner, Schnitzer und Musiker. Und man kannte sie fast alle mit Namen.

Gar oft ist Reinhart mit den Bergfriedsbuben durch die Werkstätten gestrichen: durch die Abteilungen der weitläufigen Schreinerei, in deren unterster der junge angehende Orgelbauer, auch wenn er ein Sohn des Fabrikherrn ist, mit der ersten Arbeit, der Herstellung von Holznägeln, beginnen muß, – durch diese immer warmen Räume mit ihrem Holz- und Leimgeruch, wo neben den Wandteilen der Gehäuse die Reihen der Holzpfeifen, von der kleinsten bis zur größten »wie die Orgelpfeifen« stehen; durch die Schnitzerei, wo die kunstvollen Prospekte Teil um Teil zusammengesetzt werden; durch die Sattlerei, wo die Lungen der Orgeln und Harmonien, die Blasebälge, entstehen; durch die Lackiererei und Malerei, wo immer ein Stückchen Blattgold in der Luft schwebt; durch die Zinngießerei, wo die peinlich genau gearbeiteten Zinnpfeifen gegossen und gelötet werden, von den winzigen Flöten hinauf bis zu den mächtigen Röhren der Bässe, – wie gern strich man mit dem Finger über die mattglänzenden Münder und Mäuler der künftigen Sänger! Dann kletterte man ein wenig über die riesigen Vorräte alter Hölzer im hinteren Hofe und auf das flache Dach des Bretterschuppens, schärfte am Schleifstein zum soundsovielten Male das Taschenmesser, trat in die Holzsäge und schließlich ganz heimlich und kurz in den Maschinenraum, der halb unter der Erde lag.

Die Krone der Gebäulichkeiten war der Orgelsaal, dessen gotische Fenster nach dem Garten hinaus gingen. Den ganzen Tag über war aus ihm das Stimmen zu vernehmen, das scharfe Angeben eines Tones, der dann ein wenig hinaufgetrieben oder ein wenig heruntergedrückt wurde, bis er endlich saß. Dazwischen hörte man einen Akkord, eine Tonleiter, oder auch die chromatische Folge der ganzen Klaviatur, höchst selten eine Melodie. Meist standen mehrere halbfertige Instrumente nebeneinander in dem hohen, aber nicht sehr breiten Raum. War ein besonders schönes Werk vollendet, so gab es ein kleines Orgelkonzert. Einer der Lehrer des Ortes, bei besonderen Anlässen der Organist der Nachbarstadt, führte die neugeborne Königin der Instrumente vor. Andächtig saßen die Worninger Honoratioren auf ihren Stühlen und ließen die Vorspiele und Fugen und Konzerte über sich ergehen, stolz auf den Erfolg ihres Mitbürgers, mit ihm stolz auf die hohe Nummer des neuesten Werkes, die auf einem Täfelein » Opus …« hoch oben über dem Spieltisch prangte. Ob viele der Anwesenden der spröden Orgelmusik mit Verständnis zu folgen vermochten, wagt Reinhart der Mann nicht zu entscheiden. Saß er selbst unter den Zuhörern, so war er jedenfalls der Geduldigsten einer, sehnte sich aber im stillen nach der Schaukel in Bergfrieds Garten und nach dem Birnbaum davor, dessen Zweige bei genügend kräftigem Antrieb gut zu erreichen waren.

An dem Hof, zwischen Fabrik und Wohnhaus, lag Bergfrieds Kontor, Mittelpunkt und Heiligtum des Ganzen. Hier herrschte lautlose Stille, Ordnung, Gehorsam, Pflichterfüllung, geschäftliche Rechtschaffenheit. An den Wänden hingen Abbildungen der vornehmsten Orgelbauten sowie die Auszeichnungen des Hauses Bergfried. Über Reißbretter und Geschäftsbücher gebeugt arbeitete der Stab des Fabrikherrn. Am dritten Fenster, gegen den Hof hinaus, stand der älteste Sohn und künftige Inhaber an seinem Pult. Am mittleren Fenster saß Kommerzienrat Bergfried selbst.

Reinhart konnte ihm nie anders als mit tiefster Ehrerbietung begegnen. Er hatte gehört, daß dieser Mann, von der Hobelbank kommend, ganz von vorn angefangen und sich durch eigene Kraft so hoch erhoben habe. Er wußte, daß er im Rate der Stadt sehr viel galt, daß sein Name aber auch weit über Worningen und Bayern, ja über Deutschland hinaus bekannt war; daß seine Werke in vier Erdteile gingen. Hier lief mancher Brief mit fremder Marke ein und das bayrische Kursbuch reichte hier nicht mehr aus. Das »Eile mit Weile« war in Bergfrieds Erscheinung verkörpert, – rastlos, aber mit Bedacht, das prägte sich in allen seinen Bewegungen aus. Er war eine ehrwürdige Gestalt: mittelgroß, durch frühere harte körperliche Arbeit gekräftigt, das gesunde Gesicht von einem kurzen weißen Vollbart und vollem weißen Haupthaar umrahmt. Er sprach knapp, mit gütiger, gedämpfter Stimme, wobei die Augen prüfend, ermunternd oder strafend, ohne Menschenscheu geradeaus auf den Angeredeten gerichtet waren. Die feinen Hände begleiteten mit ausdrucksvollen Gebärden die Rede. Es war eine Lust, den ehrwürdigen Mann, dem auch das 80. Lebensjahr die männliche Schönheit nicht genommen, den Rücken nicht gebeugt und Pflichtgefühl und Arbeitslust nicht geschmälert hat, aufrecht und sicher, stets gut gekleidet, durch die Straßen gehen zu sehen. Am Sonntag saß er, wenn nicht dringende Reisen ihn fern hielten, in der Stadtkirche in seinem Stuhl seitwärts der von ihm erbauten Orgel. Aber auch im eigenen Hause, das kinderreich und auf den Ton schlichter Wohlhabenheit gestimmt war, hielt er strenge auf Einhaltung der Gebetszeiten. Im Anschluß an das Mittagessen ward vor dem Dankgebet ein Erbauungsbuch vom Rahmen genommen und ein Abschnitt vorgelesen.

Es war immer ein Ereignis für Reinhart, vor diesen Mann zu treten. Am leichtesten geschah es beim Glückwunsch zum neuen Jahre. Da verschwand man im Haufen der glückwünschenden Arbeiter, – und zum Schlusse erhielt man wie jeder andere Gratulant aus einem bereitstehenden Holzschälchen eine blanke Mark. Viel, viel schwerer war es, wenn man auf Tante Constanzes Befehl mit einer schlechten »Skription« oder gar mit einem schlechten Schulzeugnis den Gang zum Vormund machen mußte. Stumm trat man in das Kontor, stumm reichte man dem Gewaltigen das Papier, stumm las er es durch, schüttelte den mit Geschäftsangelegenheiten erfüllten Kopf, wandte sich und gab in halblauten, schonenden, aber unmißverständlichen Worten seiner Verwunderung und Betrübnis Ausdruck. Mitunter geschah aber etwas Lustiges. Statt einer Rüge erfolgte ein Lob. Wenn nämlich die Noten so in der Mitte lagen, daß sie nach dem Urteil der Tante eine Schande, nach des Vormundes Meinung aber noch ganz annehmbar waren. Er hatte nämlich selbst Söhne, die auf der Walstatt der Schule auch nicht lauter Lorbeeren pflückten. So war er in diesem Punkte ein wenig abgehärtet. –

 

Eines Tages erhielt Tante Constanze von Reinharts jungem Lehrer die Aufforderung, ja die Aufforderung, sie möchte sich gelegentlich zur Entgegennahme einer wichtigen Mitteilung bei ihm einfinden. Der Respekt vor der Schule ließ die Aufgeforderte nicht auf den Gedanken kommen, daß der junge Mann recht wohl auch zu ihr kommen könne. Dazu aber kam die Sorge, es möchte sich um eine wichtige erzieherische Angelegenheit handeln, die ihr sofortiges Eingreifen erforderte. So machte sie sich sogleich aus den Weg.

Der Lehrer empfing sie mit sicherer Höflichkeit und fragte sie, was sie gegen Reinharts zunehmendes Stottern zu tun gedenke. Das Übel mache beängstigende Fortschritte, man könne ihn kaum mehr aufrufen und die Kameraden machten sich über ihn lustig. In den Pausen beim Spiel auf dem Hofe sei es wesentlich besser, so daß er schon auf den Gedanken gekommen sei, ob es nicht vielleicht eine Art Schulkrankheit wäre, ein halbbewußt oder unbewußt angewandtes Mittel, Unwissenheit und besonders Unfleiß zu verbergen. Jedenfalls halte er als Lehrer es für seine Pflicht, ihr als der »Erziehungsberechtigten« Mitteilung zu machen und sie um ihre Meinung zu befragen.

Tante Konstanze war durch diese Eröffnung nicht gerade überrascht. In der Tat, Reinhart stotterte. Anfangs gab sie wenig darauf, hielt es für eine sprachliche Unbeholfenheit, dann für Nervenschwäche, der sie durch ihr Universalkräftigungsmittel, ungereinigten Lebertran, beizukommen suchte. Da aber das Übel nicht wich, auch bei Reinharts Geschwistern nichts davon zu bemerken war, – niemand in der ganzen Familie stotterte –, begann sie sich Sorge zu machen. Sie versuchte es damit, daß sie dem Knaben möglichst viel Gelegenheit gab, seine Sprechwerkzeuge zu gebrauchen. Sie ließ ihn erzählen und vorlesen, vor allem aber schickte sie ihn, ausgesucht ihn, auf Besuch bei Bekannten, betraute ihn mit Geschäftsgängen aller Art, so daß er schließlich müde und unwillig wurde und nicht selten beim Gehen die Türe zuschlug und ingrimmig in sich hineinrief: »Immer ich!« Erfolg hatten die vermehrten Gelegenheiten »sich zusammenzunehmen«, zu zeigen, »daß man sprechen könne, wenn man nur wolle«, nicht. Reinhart erlag regelmäßig.

Da sollte er z. B. beim Kratzer Zucker holen. Bis zur »Rose« blieb er zuversichtlich. Er redete sich ein, daß ihm der Kratzer und seine zwei Töchter ganz wurst wären, und daß er vor ihnen jedenfalls keine Szene machen werde. Als er aber ihres Hauses ansichtig wurde, kam die Furcht: am Ende wird es die alte Geschichte? Die Sorge wuchs zur Gewißheit: du kannst ja nicht. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß kein Käufer im Laden war, öffnete er mit starkem Anlauf die Ladentüre. Die Glocke gellte durchs Haus; der Kaufmann, ein unförmlich dicker, langsamer Mann, oder eine der dünnen Töchter erschien und sah dem Knaben fragend ins Gesicht. Der schlug die Augen nieder, wurde rot und immer röter, die Kinnladen zitterten, der Mund öffnete sich und klappte zuckend wieder zusammen, der Anfang eines Wortes wurde mühsam herausgewürgt, wiederholt und mehrmals wiederholt, während der Wille des Knaben nach der Fortsetzung rang. Er begann zu keuchen, griff mit hilflosen Augen nach dem Rande des Ladentisches oder nach einem Knopfe seines Kittels, als suchte er eine Stütze in seinem schweren Ringen. Manchmal kam es denn auch glücklich heraus, was er zu sagen hatte; meist aber erlag er vollkommen und blieb matt und beschämt stehen. Der Krämer und die Seinigen wußten nicht selten auch so, was das Gewünschte war, – man kennt seine Kunden und ihre sich regelmäßig erneuernden Bedürfnisse; auch gibt das mitgebrachte Gefäß einen Anhaltspunkt. Oder sie fragten, ob er dies wolle oder jenes, bis Reinhart ja sagen konnte. Im äußersten Notfall rissen sie ein Stückchen von einer Lage strohigen, braungelben Einwickelpapiers ab und ließen ihn das Gewünschte aufschreiben.

Tante Konstanze aber vergaß selten zu fragen: »wie ist es mit der Sprache gegangen?« Die Antwort blieb Reinhart meist schuldig. In seinem trübseligen, zu Boden gesenkten Blick las sie die Antwort. Es war klar, daß etwas geschehen mußte, ehe das Übel noch mehr überhand nahm.

Da sandte eines Tages Kommerzienrat Bergfried eine Nummer des Daheim mit der von ihm blau umrandeten Anzeige: Stottern heilt auf naturgemäßem Wege Gustav Mosetter, Karlsruhe, Waldstraße 79. Das klang vertrauenerweckend. »Auf naturgemäßem Wege.« Also nicht durch Suggestion oder Elektrizität. Auch war Karlsruhe immerhin nicht ganz aus der Welt. So beschloß man, es mit Herrn Mosetter zu versuchen. Reinhart setzte auf den Namen Waldstraße einige Hoffnung.

Natürlich konnte der achtjährige Knabe die weite Reise durch Mittelfranken, Württemberg und Baden nicht allein machen. Tante Konstanze begleitete ihn, vor allem auch in der Absicht, Mosetters Methode kennen zu lernen, so gut das in den wenigen Stunden, die ihr für den Aufenthalt in Karlsruhe zur Verfügung standen, möglich war. Träumend fuhr Reinhart an der Seite der Tante durch so viel fremdes Land. Das Herz war ihm nicht leicht. Der Berg des Heimwehs stand vor ihm, auch fühlte er sich mehr schuldig als krank. In seinen Ohren klang immer wieder: »Du kannst, wenn du willst!« In Württemberg erschreckte ihn der fremdartige hohle Schrei der Lokomotiven, der sich in Baden fortsetzte, – wie hell und fröhlich pfiff es dagegen aus den bayrischen! Endlich liefen sie in den Karlsruher Bahnhof ein.

Ein junger Mosetter, Gymnasiast einer mittleren Klasse, holte sie ab, schob sie geschickt über die Geleise durch die Menschenmenge, sorgte gewandt für ihr Gepäck und lud sie ein, unter Verzicht auf die Pferdebahn den Weg zur Wohnung zu Fuß zu machen. Sie würden dabei gleich einen Eindruck der badischen Residenz gewinnen. Tante Konstanze begann mit dem jungen Mann sofort ein Gespräch über seine Familie, über die Zahl der Pfleglinge und, da sie jede Minute ausnützen wollte, war sie bald bei der Mosetter'schen Methode angelangt. Reinhart ging hinter ihnen her. Es war fast wie in Leipzig. Doch war hier die Luft schlaffer, heiß lag die Mittagssonne des Frühsommertages auf den Dächern. Häuser, nichts als Häuser. Häuser ohne Eigenart, keines etwas für sich, jedes abhängig von der Größe und Form des andern, nirgends eine Lücke, nirgends ein Garten, alles vollgeschlichtet mit Steinen, hinter denen Menschen wohnen, die man nicht kennt, nicht kennen lernen soll. Auf den kerzengeraden Straßen Ordnung und wieder Ordnung, auf dem Asphalt Reihen gleichartiger, gesitteter Menschen, alle trotz des Werktags mehr oder weniger sonntäglich gekleidet, die meisten mit sich selbst beschäftigt, hie und da ein Fetzen Papier oder eine Kartoffelschale aus dem Mülleimer. Erschrocken fuhr er aus seinen Betrachtungen auf, als die beiden andern in ihrer Wanderung innehielten. Der junge Mosetter sagte nach rückwärts gewendet: »Wir sind da!« – Warum gerade dieses Haus? Das nächste und übernächste und alle hinauf und hinab sahen genau so aus wie dieses. Man hätte also ebensogut in irgend ein anderes gehen können. Aber da stand die Nummer golden auf schwarz: 79. Also in Gottes Namen!

Der erste Mensch, der ihnen in dem fremden Hause entgegen kam, war der Hausherr, Herr Gustav Mosetter, selbst. Er führte sie in ein kleines Empfangszimmer zu ebener Erde, bat sie abzulegen und machte den Vorschlag, sogleich eine kleine Prüfung von Reinharts Sprechkünsten vorzunehmen, da er sich hernach wieder seinen Pfleglingen widmen müsse; seine Frau dagegen freue sich, mit den lieben Gästen aus Bayern sogleich nach beendigter Prüfung eine Tasse Kaffee zu trinken. Er sagte das mit freundlicher Bestimmtheit, wie einer, der gewohnt ist, daß man seinen Anordnungen Folge leistet. Er bat Tante Konstanze, auf einem Sofa im Hintergrunde des Zimmers Platz zu nehmen, während er seine breite, wuchtige Gestalt an dem runden Mahagonitisch in einen Stuhl fallen ließ und Reinhart aufforderte, sich ihm gegenüber zu setzen. Schüchtern sah dieser zu dem Manne auf, der im Begriffe war, sein Arzt und Herr zu werden. Er sah in ein Paar helle, gebietende, von starken Brauen beschattete Mannesaugen, über denen sich eine mächtige Stirn aufbaute. Wangen und Kinn waren von einem stark angegrauten, ehemals blonden Bart umsponnen.

Herr Mosetter begann die Unterhaltung, indem er den Blick, der bisher forschend und ermutigend zugleich auf dem Knaben geruht hatte, auf die Tischplatte senkte und, als wolle er nur die Zeit ein wenig ausfüllen, und gar nicht im Tone des Prüfenden, einige Fragen an ihn stellte: wie er heiße, wie lange die Reise gedauert habe, wie ihm Karlsruhe bisher gefallen habe. Da Reinhart die Augen nicht mehr auf sich gerichtet fühlte, schwoll ihm der Mut. Er beschloß zu zeigen, daß er sehr wohl reden könne, daß er überhaupt kein Stotterer und hier fehl am Platze sei. Mit kurzem Atem und zusammengepreßter Kehle stieß er die Antworten hervor, mit Weglassung mancher Silben, mit listiger Umgehung manches gefährlichen Wortes und Buchstabens, – unvollkommen, freilich, – aber seiner Meinung nach für seine Verhältnisse auffallend gut. Er triumphierte im geheimen und hoffte das Urteil zu hören: »Ja, da bin ich überflüssig; reisen Sie ruhig mit dem Kinde wieder nach Hause, es macht sich von selbst!« Mosetter schien weniger begeistert. Er hob die Augen und sah den Knaben wieder mit seinem freundlich-bestimmten Blick an; diesmal lag aber ein so starker Strahl von Mitleid und Barmherzigkeit darin, daß Reinhart beschämt und verwundert auswich.

Er wurde nun aufgefordert, ein wenig zu singen. Er solle es ohne alle Scheu tun, hier geschehe das oft; er dürfe auch ruhig falsch singen, es komme mehr auf die Worte an. Was singen? Reinhart besann sich, endlich fiel ihm ein Weihnachtslied ein und er sang: »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit.« Tadellos in Ton und Wort strömte das alte liebe Lied aus dem diesmal nur von Schüchternheit zitternden Munde des hübschen Knaben. Nach dem ersten Verse schon winkte Mosetter freundlich ab und sagte: »Na, siehst du!« Bei sich aber brummte er: »Immer die alte Geschichte.« Und zu Tante Konstanze gewendet: »Sie sehen, beim Singen geht es; das muß der Ausgangspunkt unseres Schlachtplanes sein!«

Der dritte Teil der Prüfung bestand darin, daß Reinhart vorlesen mußte. »Hast du vielleicht dein Schullesebuch im Köfferchen?« Gewiß, das hatte man wie all seine Schulbücher mitgenommen, damit er nicht ganz »raus« käme. »Schlage irgend etwas auf, was du gerne lesen magst!« Da Reinhart kein Lieblingsstück hatte und darum unentschlossen in dem kleinen gelben Buch blätterte, auch nicht recht wußte, ob er deutschen oder lateinischen Druck wählen solle, legte Mosetter den dicken, faltigen, behaarten Finger auf das nächste beste Lesestück. Es war lateinisch gedruckt und trug die Überschrift: Die Gartenrose. Die Augen des Knaben überflogen die beiden Worte. Sofort war ihm klar, daß diese Aufgabe für ihn zu schwer war. Das erste Wort war mit einem gehörigen Anlauf und unter Anwendung einiger Kniffe zu bewältigen, – das zweite nicht. Das G, zumal wenn ein Selbstlauter und gar ein a darauf folgte, ging über seine Kräfte. Sein zuversichtlicher Blick erlosch, der Mund öffnete und schloß sich, die Schultern hoben und senkten sich. Je mehr Anlauf er nahm, je mehr Atem er in die Lungen pumpte, um so drohender stand die Gartenrose vor ihm. Ja, sie verdarb mit ihren Stacheln auch das Vorwort, das außerhalb ihrer Gesellschaft weniger verhängnisvolle »die«. Endlich war das erste Wort überwunden. Am zweiten versagte Reinharts Kraft. Da nahm Mosetter seinen silberbeschlagenen Bleistift aus der Westentasche, verband die beiden Wörter mit einem kräftigen Bindebogen und forderte den Knaben auf, er solle lesen, als ob die zwei Wörter eines seien. Aber auch so gelang es nicht. »Lassen wir die Überschrift und gehen wir einmal lieber gleich in das Stück selbst hinein!« »Die Gartenrose ist die herrlichste Zierde unserer Gärten.« Reinhart überflog das und wußte wieder, das geht nicht. »Gartenrose« und »Gärten« dazu, zwei Schwierigkeiten erster Größe so nah bei einander, das war zu viel für ihn. Der Examinator merkte es sofort. »Lies lieber gleich den zweiten Satz!« »Ihre schöne Form, ihre angenehme Farbe und ihr vortrefflicher Geruch machen sie zur Königin aller Blumen.« Das ging bedeutend besser, schon deshalb, weil der lange Satz nicht vorher genauer übersehen werden konnte, also auch nicht schon im voraus die Angst einsetzen konnte. Der lauernden Gefahren unbewußt, kam Reinhart leidlich glatt über die Hindernisse hinweg, die sonst für ihn unübersteiglich gewesen wären. Doch war der Mann auch mit dieser Leistung nicht zufrieden. Wieder machte er seine Bindebogen, dazu nach dem Worte »Geruch« zwei starke senkrechte Striche und verlangte, den ganzen Satz als aus zwei langen, unzerreißbaren Worten bestehend anzusehen. Reinhart begriff und wunderte sich, wie viel leichter es nun ging.

Da erhob sich Mosetter und erklärte, daß er nun Bescheid wisse. Er bat Tante Konstanze nochmals, den unvermittelten Eintritt in mediam rem nicht übelnehmen zu wollen, ihn selbst aber zu entschuldigen, da ihn seine Stotterer oder vielmehr Nichtstotterer – in seinem Hause dürfe überhaupt nicht gestottert werden – erwarteten. Er freue sich darauf, nach dem Abendessen mit ihr alles Nötige eingehend zu besprechen. Damit erhob er sich kerzengerade, legte dem Knaben herzhaft die Hände auf die Schultern und verabschiedete sich von der Tante mit Handschlag und höflicher Verbeugung. Er sprach alles in einer gewissen Gleichartigkeit, die aber keineswegs störte, in vollkommener Ruhe, in vollendetem Hochdeutsch, keinen Buchstaben verschluckend, sorgfältig, aber ohne Schulmeisterei jedem Redeteilchen sein Recht gebend, – auch er band die einzelnen Wörter und Silben sorgsam aneinander, – auch er machte Einschnitte, wenn er eines neuen Atems bedurfte.

Frau Mosetter erschien und bat zu einer Tasse Kaffee ins leere Familienzimmer. Ihr gütiges Gesicht und freundlich-besonnene Rede erweckten in dem kleinen Gaste wachsende Sicherheit. Auch sie sprach in der merkwürdig schwebenden, gebundenen, leidenschaftslosen Art ihres Mannes. Ob hier alle so sprachen? Ob darin das Geheimnis des »naturgemäßen Weges« bestand?

Als der Reisekorb mit den Habseligkeiten des Knaben gebracht worden war, räumten die beiden Frauen ein.

Eine Glocke läutete zum Abendessen, wie man hier zu Reinharts Befriedigung statt des fatalen sächsischen »Abendbrotes« sagte. Stumm übersah er die Schar der »Hausfreunde«, wie hier die Pensionäre genannt wurden, er zählte ihrer fünfzehn: keiner seines Alters, der Jüngste sechzehnjährig, die andern lauter Männer und Frauen, wenn auch alle noch verhältnismäßig jüngere Menschen. Er wagte kaum aufzusehen. Aber so viel gewahrte er: sie redeten wirklich alle in der Weise der Hauseltern. Offenbar war das hier Vorschrift. Ob er je so weit kommen würde? Warum waren die Leute eigentlich hier? Sie stotterten ja gar nicht. Sie kamen über die gewaltigsten Schwierigkeiten langsamer oder schneller glatt hinweg. Einige freilich verhielten sich wortkarg, aber die hatten wohl keine Lust zu reden.

Nach dem Essen, das von Tischgebeten umrahmt war, – auch dabei wurde nicht gestottert –, wurde der müde Knabe ins Bett geschickt. Während seine Seele wachend nach Worningen zurückflog und ein wenig die Steinburg hinaufkletterte und mit dem ersten Heimweh kämpfte und dann träumend um die unergründlichen Augen Mosetters flatterte, hielt dieser mit Tante Konstanze die angekündigte Besprechung ab. Alles wurde berührt, so daß das Bedürfnis der Tante nach »gründlicher Durchsprache aller Verhältnisse« volle Befriedigung fand. Die körperliche Verfassung des Knaben und seine bisherige Ernährung, vor allem die Beschaffenheit seiner Nerven, seine geistigen Fähigkeiten, Lebensweise und Gesundheit der Eltern, die Geschwister, die sonstige Umgebung, die Erziehungsgrundsätze der Tante, das Temperament des Knaben, – alles wurde eingehend besprochen. Zum Schlüsse meinte Herr Mosetter, daß 13-16 Wochen genügen würden, ihn für das Leben geschickt zu machen. Tante Konstanze würde gut tun, ihn nach Ablauf dieser Zeit selbst abzuholen; sie würde dabei Gelegenheit bekommen, die Mosetter'sche Methode gründlicher zu erfassen, damit sie selbst die künftige Überwachung und Beeinflussung in die Hand nehmen könne. Eine mechanische, unbedingt »sitzende« Besserung des Leidens oder gar eine Änderung der Sprechwerkzeuge könne, wie in allen solchen Fällen so besonders auch in diesem, nicht zugesagt werden. Es sei eine Nervenstörung. Dann begab sich auch Tante Konstanze zur Ruhe.

Am andern Morgen sah sie den Knaben beim Frühstück und bat ihn, ihr schon heute beim ersten Unterricht Ehre zu machen. Auch solle er auf seine Sachen achten, sie seien seine erste Aussteuer. Sie selbst werde gleich abreisen und sobald als möglich wieder kommen, ihren geheilten Jungen heimzuholen. Den Weg zum Bahnhof finde sie gut allein. Dann umschlang sie das schluchzende Kind und entfernte sich rasch. –

Es war gut, daß man den kleinen Fremdling sofort in das Reich der Pflicht wies. Herr Mosetter eröffnete ihm freundlich aber bestimmt, daß er und die Tante sich nur mit einem Erfolg der Kur zufrieden geben würden.

Die besten Stunden des Vormittags und Nachmittags saß die Stotterergesellschaft in der umfangreichen Gartenlaube um den runden Tisch, sich das Stottern abzugewöhnen. Ein bunt zusammengewürfelter Kreis aus allen Gegenden des deutschen Vaterlandes und darüber hinaus. Da hatte ein Kadett aus Potsdam ein dickes Schaubeckbriefmarkenalbum vor sich und einen Malkasten und malte mit feinem Pinsel in leuchtenden Farben – auch das Gold haftete vorzüglich – die Wappen der einzelnen Länder. Ein älteres Mädchen aus Ostindien stichelte an einer Handarbeit, wenn sie nicht Deckchen flocht, allerliebst aus Bast oder Papier, – Reinharts stilles Entzücken. Ein junger Braumeister aus Pforzheim schrieb seiner Frau, daß er bald so weit sei, zu Hause selbst das Wort führen zu können. Ein Deutsch-Spanier übersetzte ein spanisches Buch und schrieb die seltenen Wörter in ein Heft. Der Sechzehnjährige trieb Geometrie, so gut es in dem Schwarm ging … So war jeder schweigend beschäftigt und scheinbar ganz und gar seiner Arbeit hingegeben, während doch ein Auge und ein Ohr auf die Unterweisung des Meisters und Arztes gerichtet war. Bis man dann selbst wieder auf fünf Minuten an die Reihe kam, im Vorlesen oder freien Sprechen zu zeigen, daß man eigentlich gar kein Stotterer sei.

Herr Mosetter saß in seinem Stuhl, das Haupt zurückgebeugt, die Arme ruhten auf den Lehnen, in unvergleichlicher Ruhe und Sicherheit, streng und gütig zugleich. Aus jedem seiner Worte klang es: »Wenn Sie nur wüßten, wie gut Sie eigentlich sprechen könnten!« Wehe dem, der nicht Silbe für Silbe mit einem Schlag des Fingers auf die Tischplatte begleitete! Wehe dem, der überhaupt eine der Sprechregeln versäumte! Die Buße in die Ausflugskasse war das Geringere. Die Rüge des Meisters, den niemand kränken mochte, war ein Stich ins Herz. – Worin aber bestanden diese Sprechregeln?

Ehe man in die Gartenlaube zugelassen wurde, wurde man, je nach Bedarf länger oder kürzer, von Herrn Mosetter selbst, vertretungsweise auch von einem seiner älteren Söhne, dem Gymnasiasten oder dem Studenten der technischen Hochschule, vorgenommen. Zuerst sich sammeln – ganz ruhig werden – Atem holen – den Atem ein wenig halten – ihn ruhig ausströmen lassen – mit dem gleichmäßigen Ausströmenlassen des Atems die Worte ausströmen lassen – auf jede Silbe einen Schlag mit dem Zeigefinger machen, namentlich im Anfang, erst dem Fortgeschritteneren ward es allmählich erlassen – keinen Buchstaben verschlucken – vollkommen gebunden, in gleicher Höhenlage und ohne jedes Abreißen sprechen – keinen Selbstlauter unvermittelt, keinen Mitlauter ganz ohne Vorton aussprechen – anfangs nur lesen, dann erst freies Sprechen – anfangs in Gesellschaft nicht viel reden, dann erst, wenn man sich ganz sicher fühlt, mitreden, ja dann möglichst viel reden.

Wie oft hat Reinhart der Mann den lieben rauhen Mosetter gepriesen, der mit dieser naturgemäßen Weise Hunderten geholfen hat und durch sie anderen Tausenden; der durch seine Methode, die ja eigentlich gar keine künstliche, ausgeklügelte Methode ist, sondern nur das allgemein geltende Sprechgesetz, seine Pfleglinge gezwungen hat richtig reden zu lernen. Mancher, dessen Nerven von dem Übel weniger geschwächt waren, hat später sogar das Langsame, Eintönige, Singende über Bord werfen können und sich ohne Gefahr einer rascheren, abgetönten, der gewöhnlichen sehr nahe kommenden Sprechweise bedienen gelernt, – doch das sind Ausnahmen. Mancher ist durch die beständige Nötigung ruhig zu bleiben, ein ruhigerer, sicherer, nervenstärkerer Mensch geworden.

Schulpflichtige Pfleglinge wurden vor der Entlassung noch ein paar Wochen in die entsprechende Schule geschickt, um hier, auf dem allergefährlichsten Boden, wo Schlagfertigkeit des Geistes und Mundes zu den Haupterfordernissen gehört, zu zeigen, ob sie wirklich etwas gelernt hatten und zur Heimreise reif seien. Obwohl sich ganz in der Nähe eine Volksschule befand, blieb Reinhart diese Probezeit erspart. Es waren gerade Schulferien.

Einer anderen Probe aber entging er nicht. Sie war noch viel schwerer, für den Achtjährigen fast zu schwer. Das waren die Besuche, die man bei unbekannten Menschen in der Stadt zu machen hatte, Besuche, die mit keinerlei persönlichen Gründen und Absichten verbunden waren, sondern lediglich dazu dienen sollten, dem Stotterer zu zeigen, ob er nun unter die Leute gehen könne, und dem Lehrer, ob er den augenscheinlichen Erfolgen trauen dürfe. Nach dem Mittagessen empfing man von Herrn Mosetter einen kleinen, schmalen Zettel mit dem Namen und der Wohnung eines seiner vielen Freunde am Ort. Ach, manchmal war es gar so weit und das Haus gar so schwer zu finden, so daß es dem Knaben nicht leicht wurde, sich allein bis zur gesuchten Türe durchzufragen. Dazu litt er immer von neuem unter dem, was man »großstädtisch« nennt, unter der gemachten Großartigkeit und Blankheit, unter dem Staub, der insgeheim alles bedeckte, unter der Hochsommerhitze, die in den Häuserschächten besonders drückend zu sein schien, unter dem eigenartigen aus Allem und Nichts gemischten Geruch, der aus den Fluren und Höfen und Kellerwohnungen strömte, unter den anspruchsvoll und selbstbewußt prächtigen Fronten der Häuser, die die Pracht der vorigen gleich wieder vergessen ließ, unter den glatten, strengverschlossenen Türen, blitzenden, abweisenden Messingschildern, Briefladen und Rolläden, hinter denen im Kühlen fremde, kühle Menschen wohnten. Während die Fremde und Unnahbarkeit der Stadt seine Seele beschwerte, rang er im Gedenken an Ehre und baldige Heimkehr um das Bestehen der Visite.

Mit der Schüchternheit des Kindes und der Entschlossenheit des Helden, dem Siege zugewandt, trat er in die auf dem Zettel bezeichnete Wohnung und ließ sich in die gute Stube führen. Mit geschlossenen Füßen und furchtlosem Blick ließ er seinen Zensor auf sich zukommen und gab auf sein: »Womit kann ich dienen?« in tadelloser Beherrschung der Methode unter Vorzeigen des Zettels die Antwort: »Gu-ten-Tag,-mich-schickt-Herr-Mo-sett-er.« Oft aber war diese Einführung gar nicht nötig. Das schmale Papier redete für sich selbst.

Und nun kam alles darauf an, daß der fremde Mann sich mit dem Kleinen innerlich richtig in Verbindung setzte. Bot er ihm freundlich und ruhig, ein wenig gemächlich, einen Stuhl oder noch besser das Sofa an, ohne sich unvermittelt in ein Frage- und Antwortspiel zu stürzen, – hatte er vollends die Freundlichkeit, in Mosetters Methode zu sprechen, ohne dem Knaben immerfort ins Gesicht zu sehen, – dann war alles gut. Dann fürchtete dieser keinen Teufel. Wurde solche innere Verbindung aber nicht hergestellt, so war es sehr schwierig. Auf ein hastiges, abgerissenes, unvollkommenes Sprechen langsam und schulgerecht antworten, also gewissermaßen dem andern, dem Erwachsenen, vormachen, wie er eigentlich sprechen sollte, das war schwer, zu schwer und ließ leicht zuschanden werden.

Man sprach natürlich vor allem von der Heimat. Keiner kannte Worningen, keiner wollte es kennen lernen. Manche fragten nach den Geschwistern, wenige nach den Eltern, ganz wenige nach dem Ersatz der Eltern. Alle priesen Herrn Mosetter und ließen ihn grüßen. Nach der Unterhaltung kam der leichtere Teil. Aus dem nächsten besten Buche, mitten heraus, oder aus der Zeitung, mußte ein wenig vorgelesen werden, – namentlich, wenn es vorher nicht gut gegangen war. Für einen, der an die Heimreise dachte, waren damit besondere Gefahren nicht mehr verbunden. Endlich beschloß ein »Danke« die Vorlesung und die Prüfung zugleich. Auf dem mitgebrachten Zettel aber wurde ein Eintrag gemacht, eine Beurteilung der Leistung. Man verabschiedete sich und draußen war das erste, die erhaltene Zensur zu studieren.

»Es ging recht ordentlich.« »Nicht übel.« »Meinen Glückwunsch.« Man strahlte. »Die Worte, die mit L (Leipzig) anfangen, machen ihm sichtlich Schwierigkeiten.« »Das D ist sein Freund nicht, noch weniger das G.« »Halb fertig.« Man strahlte nicht. Denn zu Hause mußte das Blatt vorgelegt werden. Lob gab es bei Mosetter überhaupt nicht, auch für Achtjährige nicht. Wohl aber Blicke: freundliche und andere. Und einmal gab es eine derbe Ohrfeige, die man hier »Backpfeife« zu nennen beliebte, und den Befehl, den Besuch zu wiederholen. Reinhart wußte nicht, was ihm unangenehmer war, der Schlag selbst oder die ihm schreckliche Bezeichnung. –

Schon um die aus Strafgeldern gespeiste Ausflugskasse ihrer Bestimmung zuzuführen, wurden von der bunten Gesellschaft mancherlei Wanderfahrten unternommen. Man kann ja auch unterwegs in der Methode sprechen, allenfalls auch eine kleine Sprechübungsstunde einlegen. So kam Reinhart an den Rhein, sah Eisenbahnzüge über eine schwankende Schiffbrücke fahren, durfte den jungen Leib mit den Fluten des heiligen Stromes netzen. Mit Ehrfurcht hörte er von den andern, was er für Deutschland bedeute. Er sah die ersten Weinberge, er wanderte durch die Ausläufer des Schwarzwalds, bis die böse Stadt ihn wieder verschlang.

Aber auch hier gab es einen außerordentlich beliebten Ausflugsort. Das war der Stadtgarten. Allein durfte er ihn nicht besuchen. So lauerte er denn am Sonntag vormittag, wenn man vom Kirchgang aus der Stadt zurückgekehrt war, ob nicht einer der Älteren ihn, nur weil er ihn gerade stehen sah, einlud: »Kannst heute mit!« Natürlich ging er mit. Die Kähne am See waren meist schon mit Beschlag belegt. Wurde einer frei, so galt es schnell sein. Das aber war Reinharts Sache nicht gerade. So kam er nur ganz selten zur Wonne einer Kahnfahrt auf dem von Schwänen und Menschen belebten Wasser. Meist stand er am Ufer und sah dem aufgeregten, lauten Treiben zu, nicht beteiligt, aber doch wenigstens beschäftigt. Nach dem Kahnfahren ging's zur Musik. Auf der erhöhten Terrasse des Wirtschaftsgebäudes saß das Orchester und unter ihm an gelben eisernen Tischen das sonntägliche Volk. Niemand sprach mit dem Knaben. Er entbehrte es auch nicht. Was den meisten der Zuhörer nur Begleiterscheinung war, erfüllte ihn, schreckte ihn, riß ihn auf und ab und erschien ihm als Menschenwerk unvergleichlich und unfaßbar großartig: er hörte die erste große Musik.

Hörte er sie so ganz in der Nähe, so erregte sie ihm alle Sinne und erschütterte ihm seine ganze kleine Seele, die so unfähig war, sich auszusprechen und doch so verlangend, sich mit innerem Besitze zu füllen.

Beinahe noch stärker aber wirkte sie auf ihn, wenn er sie von ferne hörte. Wenn ihn niemand mitnehmen mochte und er mit einem Buche daheim im Hofe saß und die Stille und Einsamkeit des Sonntagnachmittags auf ihm lastete und nun auf einmal aus dem fernen Stadtgarten über Häuser und Höfe die Musik herübertönte, wie Klänge aus einer anderen Welt, – da wurde Reinhart der Stammler ganz wach. Er setzte sich in den Sand und steckte den Kopf zwischen die Kniee und lauschte und sog in sich, was da zu ihm kam. Das fremde, große Haus und die häßliche Stadt und die fremden Menschen und sein Stottern und der morgen zu erledigende Besuch und die Enttäuschung, die er den Worningern wohl bereiten würde, und seine Einsamkeit und seine Armut, – das alles versank. Tränen traten ihm in die Augen und er war geborgen in einem anderen und schöneren Reiche, in dem er – das fühlte er – nie Bürger, aber allzeit Gast werde sein dürfen. Wenn er später aus der Ferne Musik erklingen hörte, Militärmusik aus irgendeinem Biergarten, die Kadenzen einer Sängerin in Lugano über den See herüber, Klavierspiel abends aus einem vornehmen Hause, eine Drehorgel am Sonntag Nachmittag über die Kornfelder her, – immer hörte er die Musik des Karlsruher Stadtgartens und spürte das Große, das ihn damals mit dunkler Gewalt ergriff. –

Sechzehn Wochen waren vergangen. Die Stotterergesellschaft hatte sich soeben mit Begeisterung an die Einstudierung einer Theateraufführung gemacht, bei der auch Reinhart ein Röllchen zugedacht war, da teilte ihm Herr Mosetter mit, daß er Heimreisen dürfe. Tante Constanze kam und studierte zwei Tage lang mit Hingabe die Methode. Wie immer, wenn einer seiner Pfleglinge Abschied nahm, stand auch an ihrem Abschiedsabend Herr Mosetter mit seinem Waldhorn im Hofe und blies ihnen deutsche Volkslieder, ging dann zu Chorälen über, bei denen »Nun ruhen alle Wälder« nicht fehlen durfte und schloß mit »Befiehl du deine Wege«. –

Auf der Heimreise aber, – ach, da kam es wirklich wieder, das alte Unvermögen, die schreckliche, sein Leben lähmende Krankheit. Reinhart war nicht geheilt. Er umging sichtlich gewisse Schwierigkeiten und manchmal stotterte er, als wäre er gar nicht in Karlsruhe gewesen. Tante Konstanze war aufs tiefste betroffen. Aber da sie sah, wie peinlich es dem Knaben selbst war, wollte sie ihn nicht noch mehr demütigen und sagte: »Daheim geht es schon ganz gut. Weißt du, wir helfen recht zusammen. Du weißt, was du zu tun hast, und ich weiß es auch. Du mutzt nur deinen Willen anwenden und ich will dich dabei stützen.« Man kam heim und es ging leidlich. Täglich wurde geübt und wieder geübt. »Das Dach« und »der Garten« und alle möglichen anderen schwierigen Wörter wurden dekliniert, es wurde gelesen und nacherzählt. Konstanze gab sich unendliche Mühe, so zu reden, wie sie Mosetter und die Seinigen hatte reden hören, so gleichmäßig gütig und freundlich und ebenso energisch zu sein. Vor allem aber schickte sie den Knaben häufiger als je zum Einkäufen in die Geschäfte, zum Kratzer, in die »Rose« zum Bierholen, zum Mebert und zum Rosenbeck zum Brotholen, zum Metzger Eger (wo man die alten, irgendwie entbehrlichen Schulhefte als Einwickelpapier verkaufte, um 10 Pfennig das Pfund) und zum neuen Metzger, der die Bockwürste in Worningen einführte, an die Post beim Bahnhof …, in die Nachbarschaft und Bekanntschaft. »Übung macht den Meister!« »Du weißt, du kannst!«

Es ging leidlich. Aber die Worninger waren doch enttäuscht. Das Geld schien umsonst ausgegeben zu sein. Richtig geheilt war er nicht. Er hatte seine guten Tage. Oft aber schlechte und manchmal sehr schlechte. Am allerwenigsten gut ging es leider da, wo die Zeit zur Sammlung kurz bemessen, wo die Schlagfertigkeit alles ist und man sich mit allerlei Methoden abgibt, nur nicht mit der Mosetterschen, – in der Schule.

Tante Konstanze bat den Lehrer eindringlich auf Reinhart Rücksicht zu nehmen. Er war ein tüchtiger, strammer, jüngerer Mann, ein guter Sänger und fleißiger Musiker, und bemühte sich einige Zeit wirklich, auf die Sprechmethode des Knaben einzugehen, ja sie ihm gegenüber selbst zu gebrauchen. Mit der Zeit aber wurde ihm die Sache zu umständlich und zu zeitraubend. Da er sah, daß der Knabe mitkam, auch wenn man sich ihm weniger widmete, ließ er ihn mehr und mehr sitzen und die Wahrheit des Sprichwortes »Schweigen ist Gold« beglückend empfinden.

Auch aus anderen Gründen schätzte Reinhart gerade diesen Lehrer. Er hatte noch nie einen Menschen so schön singen hören. Beim Morgenlied vor dem Schulbeginn sang Lehrer Just zum ersten Vers die erste Stimme mit, vom zweiten an aber ging er seine eigenen Wege. Und doch, wie prächtig klang es zusammen! Auf der Grundlage seines Baritons erhob sich, als würde er von Harmoniumbegleitung getragen, der Gesang der Kinder froh und sicher. Das war für Reinhart eine starke musikalische Anregung: der Zauber des Zusammenhangs des mehrstimmigen Gesanges. Wenn Just vor der Singstunde die Geige aus dem Schranke nahm und erst ein wenig präludierte, – wie konnten menschliche Finger aus Holz und Darm solche Töne hervorbringen?

Er war es aber auch, der während der Ferien einen kleinen Ferienkurs abhielt für solche, die nach dem vierten Schuljahr in die Lateinschule übertreten wollten. Gegen ein ganz geringes Entgelt sammelte er die Schar der Auserwählten in seinem Schulzimmer um sich und bereitete sie mit unermüdlicher Treue aus ihre Prüfung vor, die sie seinem Bereich entführen und aus dem gelben Hause hinüberbringen sollte in das vornehmere rote Haus, – in die Lateinschule.

 

Die Aufnahme in die Lateinschule war bedingt durch das Bestehen einer Aufnahmeprüfung, die zu Beginn des neuen Schuljahres stattfand. Reinhart fürchtete sich nicht davor. Nach gründlich genossenen Ferien stellte er sich mit dem neuen Weihnachtsfederhalter im Erdgeschoß des roten Hauses ein. Kantor Georgi, den man vom Zeichenunterricht in der Volksschule schon ein wenig kannte, stellte die Aufgaben. Leicht war es, leicht, das reine Vergnügen. Als am Tage darauf vom Subrektor »das Resultat verkündigt« wurde, ergab sich, daß nur ein einziger durchgefallen war. Man hatte Milde walten lassen, auch paßte man sich unwillkürlich dem Bildungsstand der Kleinstadt an. Außerdem hoffte man, bei strenger Arbeit in kleinen Klassen aus den Buben etwas zu machen.

Mit einer gewissen Feierlichkeit wurden nun Bücher und Hefte eingekauft. Beim Buchbinder Josef, dessen Haus das schmalste am Marktplatz war, lag ein ganzer Stoß »Biedermann«, so hieß das lateinische Übungsbuch, – Band auf Band in makelloser Unberührtheit. Reinhart wählte nach langem Überlegen einen mit blauem Umschlag. Daheim wickelte er ihn umständlich aus, wog ihn in der Hand, betrachtete mit Wohlgefallen die saubere Arbeit des Buchbinders, überblätterte das schmucke neue Buch vom Vorwort bis zur Schlußseite 116 mit Andacht und Ehrfurcht und beschloß seiner Herr zu werden.

In den schon auf der Volksschule betriebenen Fächern wurde ganz allmählich ein Übergang vom Alten zum Neuen hergestellt. Zunächst wurde darin überhaupt nichts Neues gelehrt, sondern nur eine Art von Schule der Geläufigkeit absolviert. Kantor Georgi gab mehrere Wochen dran, um den Buben vor allem eine einigermaßen geläufige Schrift beizubringen. Langsam und schnell, in deutschen und in lateinischen Buchstaben, und zwar immer im Takt, wurde Stunde um Stunde geschrieben und nichts als geschrieben, wobei er mit dem abgesägten unteren Ende eines derben Spazierstocks den Takt schlug.

Der lateinische Unterricht dagegen versetzte die Kleinen in eine neue Welt. Er fand nicht im Lateinschulgebäude selbst statt, sondern drei Minuten entfernt im Arbeitssaale des prinzlichen Knabenpensionats.

Der Lateinlehrer war einer der besten Lehrer, die Reinhart je gehabt hat. Assistent Grallath war Anfänger im Lehramt, aber einer von denen, denen Jugend und Berufsbegeisterung den rechten Weg zeigen. Er war gelehrt, gebildet, aus guter Familie, streng, gewissenhaft, dazwischen hinein gemütlich, ein wenig schrullenhaft und absonderlich, – kurz, ein ausgezeichneter Lehrer. Was von ihm aus geschehen konnte, die vierundzwanzig Erstklässer in die zweite Klasse hinaufzubringen, hinaufzuzwingen, geschah. Nur seine Stimme war nicht ganz die richtige Schulstimme. Sie war laut genug, gewiß, aber etwas reichlich scharf, mitunter schartig und bröselig, nicht auf Schulvortrag eingestellt. Es gab eben damals noch keine Stimmbildungskurse für Lehramtskandidaten. Offenbar las er seine Bücher und Zeitungen immer leise, sonst hätte er nicht geredet, als wäre er sein einziger Zuhörer. Und da er nicht musikalisch war, hörte er sich selbst nicht sprechen. Wer aber von den Kleinen hätte gewagt zu sagen: »Entschuldigen Sie, Herr Assistent, wir verstehen Sie nicht recht?« Das gab es damals einfach nicht. Also in Gottes Namen, verstehen oder nicht verstehen, jedenfalls begreifen, was er will!

Grallath betrieb mit den Buben das Latein, als ob es für ihn selbst eine neue und an sich selbst eine im höchsten Grade lebende Sprache wäre. Mit leuchtenden Augen hob er neue Wörter, neue Ausdrucksmöglichkeiten, neue Regeln aus der Taufe. Mit unübertrefflicher Sorgfalt und künstlerisch feinster Raumverteilung malte er an die viel zu kleine, abgenützte Wandtafel die Kolonnen der Stämme und Endungen. Der bewegliche Schwabe zwang die unbegabten, trägen Worninger Köpfe zur Mitfreude an dem Wachsen der sprachlichen Beweglichkeit. Anfangs gab es ja recht steife und gezwungene Zusammenstellungen. Ohne mit der Wimper zu zucken, zwang er die Inseln und Nachtigallen des Vaterlandes, die Dichter und Schreiber und Störche der Königin, die Kühe und Rosen und Fuhrleute und Mägde des Landmanns zu immer neuen Verbindungen zusammen. Dann aber kamen lieblichere Sachen, kleine selbstgezimmerte Stückchen de Worningo oppido (über das Städtlein Worningen), über der Heimat Feld und Wald und Fluß, über die guten und schlechten Eigenschaften des Schülers, über den Nutzen der lateinischen Sprache, aus Geschichte und Sage, ja mitunter etwas Zahm-Lustiges. Grallath war unermüdlich im Zusammenleimen solcher Sachen. Schmunzelnd brachte er immer wieder eine neue Komposition, die ihm aus dem mageren Bestände des verfügbaren Wortschatzes erstand.

Er gehörte zu den Lehrern, die den Stock nicht verschmähten, keine Schulordnung hinderte ihn. Ja, der Samstagmorgen, da er die lateinische Hausaufgabe »herauszugeben« pflegte, sah ihn nicht selten hitzig und grausam. Als Gelehrter konnte er es sich mitunter nicht versagen, unter eine gute, aber doch nicht ganz fehlerlose Arbeit einen lateinischen Vers zu schreiben, der dem Verfasser erst später offenbar werden konnte. So stand einmal unter Reinharts Übersetzung in wuchtigen Buchstaben: Incidit in Scyllam, qui vult vitare Charybdim (die Charybdis wollte er meiden, da fiel er in die Scylla).

Das Schlimmste aber waren die Probearbeiten, die sogenannten »Skriptionen«. Obwohl deren im Lateinischen allein nicht weniger als sechzehn im Jahre stattfanden, war die Aufregung, die sie mit sich brachten, für die meisten bei der letzten genau so groß wie bei der ersten. War eine Skription angesagt, einige Tage vor der Schlacht, so begann ein fieberhaftes Repetieren und Zusammenraffen dessen, was bis dahin durchgenommen worden war. War die Zeit erfüllt und der gefürchtete Tag da, so blieb das Frühstück fast unberührt und in der Hausandacht wurde alles auf das bevorstehende Ereignis bezogen. »Geh mit Gott!« sagte Tante Konstanze. Mit Beben wurde der Schulweg, ein paar Häuser die Mühlstraße hinauf, angetreten. Wie beneidete man den Bauern, der sorglos aufs Feld fahren konnte, das Dienstmädchen, das guter Dinge seine Gänge machte, den Hund, der stillvergnügt seiner Nase nachging, – jedes Wesen, das keine lateinische Skription zu machen hatte. Früher als sonst stellte sich die Klasse an der Gartenmauer des Pensionates ein, um den neuesten Stoff, das, was dran kommen konnte, ja mußte, hastig und unruhig durchzuberaten. Drinnen im Garten traten die Zöglinge, die »Pensionäter« oder »Bengsionäter«, in Reihen zu dreien an. Grallath, der ihr Inspektor war, zählte sie ab. Geyer, der Vertrauensmann, der schon in der fünften Klasse war, übernahm die Führung, kommandierte rechtsum und führte sie zum Tore hinaus. Nun konnten die Erstklässer hereinkommen. Nun mußten sie. Nun brach das Gericht herein. Scheu schritt man am Inspektorszimmer vorbei, dann rechtsum in den Lehrsaal. Erbleichend gewahrte man die besonderen Vorbereitungen, die besagten, daß die Skription nicht etwa verschoben worden war, daß kein Naturereignis die Anschläge der Menschen zunichte gemacht, keine Krankheit den Lehrer dienstunfähig gemacht hatte. Die Tintenfässer waren frisch gefüllt, ein Stoß Schreibpapier lag bereit, Grallath saß bereits auf seiner Lehrkanzel. Was sollte man noch schnell ansehen, ehe das Morgengebet alle weiteren Vorbereitungen abschnitt? Grallath befahl: »Papier verteilen! Fertig machen!« Was wohl auf das unschuldige, unbeschriebene Blatt zu stehen kommen würde? Wie viele Fallen und Listen, Mißverständnisse, Gedächtnisschwächen waren nun möglich! Jeder Buchstabe war nun eine verantwortungsvolle Tat. Ums Leben ging's, ums Glück, um den Frieden in Schule und Haus, ja auch im Hause, denn in der Skription sind Schule und Haus ineinander verkettet wie durch nichts sonst. Angst vorher, Angst und Unruhe bei der Arbeit selbst, und hernach die gespannte Erwartung des Ausgangs. Es konnte Alles gewonnen sein, es konnte aber auch Alles verloren sein. »Du, wir vergleichen nachher gleich unser Aufgesetztes!« Nur die ganz Ruhigen und Starken verglichen miteinander und überschlugen den Erfolg. »Zu dem langt's noch!« Nur ganz sichere Reiter konnten so sagen. Reinhart gehörte nicht zu ihnen. »Ich will nichts mehr davon wissen, bis wir's herauskriegen!« Er wollte vorläufig abschließen. Doch gelang es ihm nicht ganz. Das Spielen und Arbeiten des Tages, besonders aber die Träume der nächsten Nächte waren erfüllt von skriptionären Gesichten. Als glühende Feuerleiter zog sich den leergelassenen Rand der Arbeit hinauf und hinab eine ununterbrochene, lohende Reihe von roten Strichen und Kreuzlein, das waren die ganzen und halben Fehler.

Und wenn dann Grallath einige Tage später mit dem kleinen Stoß rotbespritzter Blätter vor die zitternde Klasse trat, – wenn es so still geworden war, daß man das Weinlaub am Fenster atmen hörte –, dann, – ja Gott sei gelobt –, dann war es doch meist gut, ja oft sehr gut. Reinhart wurde – fast bedauerte er es – ein wenig sicherer. Mit der Zeit war es doch nicht mehr die furchtbare, lähmende, allen Frohsinn auslöschende Spannung, wenn am Skriptionstag der Lehrer den schmalen Papierstreifen, einen abgetrennten Rand der Augsburger Abendzeitung, aus der Westentasche zog und zu diktieren begann. Neben der Angst wagte sich allmählich ganz schüchtern eine ermunternde Stimme hervor: er ist gerecht – und ich hab' mein Sach getan – komme was wolle!

Reinhart begann den Lehrer zu lieben, dessen knochige, siegelringbewehrte Hand er nicht zu spüren bekam, – – im Unterschied vom langen Kauth, einem Bierbrauerssohn, und dem kleinen Keßler, einem Wirtssohn, dem allerschlechtesten der Klasse, mit denen Grallath alle Samstage fürchterliche Abrechnung hielt. Als Reinhart eines Tages an des Lehrers geöffnetem Fenster vorbeiging, Bier zu holen, wurde er hereingerufen. Schüchtern klopfte er an. Grallath reichte ihm die Hand und sagte: »Du freust mich, darum wollte ich dir auch einmal eine Freude machen.« Damit überreichte er ihm zwei Geschenke: eine Bratwurst, die ihm von der Mahlzeit übrig geblieben war, und ein Christusbild, das Haupt des Dornengekrönten in satten, schreienden Farben. Und einmal lieh er ihm aus seinen eigenen Büchern eine Bearbeitung der Ilias für die lernfreudige Jugend. Reinhart, der wenig und langsam las, war noch nicht fertig damit, als der Besitzer sie nach vielen Wochen zurückforderte.

Mit dem Wachsen der Zuversicht ließ auch das Stottern merklich nach. Kantor Georgi war im Rechnen, Schreiben und Geographie soweit zufrieden. Tante Konstanze lobte ihn und stellte ihn den kleineren Geschwistern als Vorbild auf. Er hatte eben begonnen, ein Auge für Brüder und Schwestern, für den Wert eines großen Geschwisterkreises zu bekommen. Mit einigen Kameraden hatte er so etwas wie Freundschaft geschlossen. Worningen fing leise an, Heimat zu werden. Da wurde er aus dem allen herausgerissen, – man verpflanzte ihn, den kaum Eingewurzelten, in einen anderen, steinigen Boden, für den er nicht zähe genug war.

Warum ließ man ihn nicht, wo er war? Bei Steinburg und Biedermann und Grallath? Er hatte einen so schönen Anfang im Lernen gemacht. Aber das war es eben: er saß nun im lateinischen Sattel und konnte vermutlich auch anderswo drin weiter reiten. Und der nächstjüngere Bruder Eduard war auch so weit, daß er mit ihm in die Welt hinausgeschickt werden konnte. Sie waren versandreif.

Dazu kam aber noch etwas anderes. Das waren die Vermögensverhältnisse. Wenn es eine Lateinschule im Lande gibt, die just für Pfarrerskinder ins Leben gerufen worden ist, für Pfarrersdoppelwaisen im ganz besonderen und Pfarrerswaisen im besonderen und für die Buben lebender Pfarrer in zweiter und für andere Buben in letzter Linie, dann greift man zu. Dann entscheidet nicht das Bedenken: vielleicht heraus aus dem Glück? – sondern nur die Aussicht: hinein ins Glück der Versorgung! Es war Gelegenheit gegeben, zwei Kinder zu versorgen, zwei von neun!

Als Tante Konstanze merkte, daß Reinhart still und stumm wurde, sobald von der bevorstehenden Übersiedlung nach Steingarten die Rede war, ergriff sie ein herzliches Mitleid mit dem Knaben. Sie sprach ihm ermunternd zu: »Mein Kind, du weißt, es muß sein. Das ist dein Weg. Danke deinem Gott, der uns diesen Weg zeigt, auf dem du etwas werden kannst! Paß auf, du wirst dort in der munteren Schar ein strammer, munterer Junge, der frisch aus sich herausgeht, daran fehlt es dir überhaupt noch ein wenig.«

Eduard war anders veranlagt. Beim Wort Steingarten dachte er an die achtzig Kameraden, die es dort geben sollte, darunter gewiß viele Laubsäger und Schusserer und angehende Klavierspieler. Ihm stand die ganze Frage unter dem Zeichen einer außerordentlichen Erweiterung des Gesichtskreises und großartiger Anschlußmöglichkeiten. Für Reinhart bedeutete die Änderung eine Katastrophe, – die Preisgabe keimenden Glückes, das Abschneiden der Wurzel. Fast hätte er sich zum Vormund geschlichen, um mit ihm die Sache auf ihre Notwendigkeit zu prüfen. Aber er wußte, daß auch er mit der Änderung vollkommen einverstanden war.

Die letzten Ferien vor Steingarten! Im Besitze eines ausgezeichneten Zeugnisses, wie er es später niemals mehr hat sein eigen nennen können, setzte sich Reinhart unter den Wasserbirnbaum. Aber Birnen und Zeugnis und Ferien schmeckten ihm nicht. Vom Morgen bis zum Abend begleitete ihn der bevorstehende Abschied.

Bald mußte der Biedermann hervorgeholt und repetiert werden. Tante Konstanze saß vom Morgen bis zum Abend über der Instandsetzung der kleinen Anstaltsaussteuer, über Betten und Strümpfen und Hemden. Kämme und Bürsten wurden gekauft, auch Schuhbürsten, grob und fein. Schließlich war alles in Ordnung. »Einfach, aber gut und recht.« Die beiden Knaben machten ihre Abschiedsbesuche. Die Lehrer sagten nicht viel, wunderten sich fast, daß man solche Umstände machte. Bergfried, der Vormund, empfing sie freundlich wie immer. Er freute sich im stillen an der Arglosigkeit des Jüngeren, lobte ihn, nannte ihn einen tapferen kleinen Kerl und weissagte ihm viel Freude und viel Freunde. Als er die zusammengekniffenen Lippen und hilflosen Augen Reinharts sah, kam er fast in Verlegenheit. Er ahnte, was in dem Kinde vorging, obwohl er Gleiches nicht an sich selbst erfahren hatte. In aufwallender Herzlichkeit nahm er die beiden Ohren des Knaben zwischen die beringten Hände, rieb sie ein wenig, gab ihm einen leichten Schlag auf die Schulter und sagte: »Du wirst sehen, es wird anders, als du glaubst.« Reinhart wollte sehen und wollte zufrieden sein, wenn es irgend ging.

Im Morgengrauen des folgenden Tages reiste Tante Konstanze mit ihnen nach Steingarten. Für den letzten Teil der Reise mußten sie die Kariolpost benützen, die an diesem Tage des Schulanfangs wegen eine ganze Reihe von Beiwagen hatte. Außerdem fuhren noch mehrere Privatfuhrwerke die nämliche Straße. Überall Knaben, einige von ihren Vätern begleitet, einige wenige von den Müttern, – einige sicher und froh, die meisten still und beobachtend, mehr rückwärts als vorwärts schauend, viele mit Geigenkasten bewehrt, die sorglos hin und her gestoßen wurden, alle schwer beladen, – man sparte. Eduard beobachtete das Treiben mit großem Interesse, weltoffen und furchtlos. Sie alle würden nun seine Kameraden sein. Die Welt wuchs ihm, neue Menschen und Dinge traten verheißungsvoll an ihn heran. Reinhart sah nur Schatten, er lebte wie im Traum. Er wagte nicht um sich zu blicken, fremd und ohne Beziehung auf ihn erschien ihm das alles, unnötig und erzwungen das ganze Unternehmen. Als sie durch den öden fränkischen Föhrenwald fuhren, durch ungepflegten Bauernwald, dem die letzte Spur der Moosdecke geraubt war, kroch er ganz in sich hinein, – hinter ihm versank, was der Elternlose eben zu lieben begonnen hatte.

Die Knaben waren in Steingarten erwartet worden. Ja, sie hatten dort, schon ehe sie ankamen, ihre Nummer, eine Nummer, die sie überall begleitete, am Pulte im Arbeitssaal, am Bett im Schlafsaal, am Schrank im Hausflur, am Stiefelfach im Wichszimmer, am Stuhl im Speisesaal. In diese Nummer brauchten sie sich nur noch einzuleben, dann war alles getan.



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