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[Der Kreis]

Wieder saßen sie, verschiedene Menschen, aber in Freundschaft und starker Willigkeit zu geistiger Gemeinschaft verbunden, in dem gemütlichen Eckzimmer beisammen und hielten »Reinhart-Abend«.

Die Gäste nannten diese regelmäßigen Zusammenkünfte so nach dem Vornamen des Gastgebers, obwohl dieser sie viel lieber als »offene Abende« bezeichnete. Schüchtern, mit unbeholfenen, suchenden Worten hatte er ihnen immer wieder gesagt: »Ich kann das nicht anerkennen. Unsere Tagungen werden von unseren Gästen bestritten. Wir bieten nur die Gelegenheit. Und was die Bewirtung betrifft, Tee und Salzstengel das eine Mal, und Salzstengel und Tee das andere Mal und nie etwas anderes, so ist auch in dieser Hinsicht der Name ein Mißgriff.« – Der Doktor aber meinte: »Es bleibt dabei. Übrigens nur nicht so schüchtern! Sie tun, als ob Sie zeitlebens eine gewisse Befangenheit und besorgniserregende Bescheidenheit nicht ganz ablegen wollten. Fort mit den Eierschalen! Gut deutsch, aber … Woher Sie das wohl haben?«

Man hatte, wie verabredet worden war, über »Lebenskunst« verhandelt. In guter Ordnung hatte einer nach dem andern aus Büchern und aus dem eigenen Leben beigesteuert, was ihm am Herzen lag. Und nun galt es, den Gegenstand des nächsten Abends zu bestimmen. Man machte allerlei Vorschläge, bis der gemütliche Herr in dem grünen Lehnstuhl, der Literarhistoriker und Realpolitiker der Gesellschaft, erklärte: »Die Lebenskunst beginnt mit der Jugend. Unser nächstes Thema heißt »Früheste Jugenderinnerungen. Eigene oder fremde«.

Als man vierzehn Tage später wieder versammelt war, jedes an seinem angestammten Platz, elf Freunde, die aus gar verschiedenen Nestern den Flug ins Leben unternommen hatten, und die Nachtigall von Kumpfmühl zum Eingang Lieder von Jugend und Heimat gesungen hatte, packten sie aus. Diesmal alle aus dem Eigenen. Denn sie scheuten sich nicht, sich gegenseitig ins Herz zu sehen. Sie hatten sich mit Eifer an die Aufgabe gemacht und fleißig gesammelt. Und merkwürdig, sie brachten fast ausschließlich Heiteres, in der Hoffnung, den andern eine kleine Freude zu machen in der schweren, trüben Zeit.

Unter denen, die ihre Erinnerungen schriftlich niedergelegt hatten, war auch Reinhart, der Gastgeber. Ehe er zu lesen begann, sagte er: »Ich weiß nicht, ob es Ihnen wichtig genug ist, was ich da habe, es ist so gar nichts von Belang. Mich selbst hat es ein wenig mitgenommen. Denn, verzeihen Sie, es ist eben das Leben, das eigene, nicht ganz leichte, von frühester Jugend an vielfach gehemmte Leben.« Als er aber dann auf Verlangen doch alles gelesen hatte, was auf den Blättern stand, meinte eine Stimme vom Sofa her: »Das ist es ja, man kommt durch solche Erinnerungen anderer ein wenig in sich selbst hinein!« Und eine andere: »Das sollten eigentlich auch andere Leute hören, die vielleicht ganz gern wüßten, wie man es in den achtziger Jahren angefangen hat, auf bescheidenem Erdreich einen schwierigen Buben fürs Leben auszurüsten, damit er einmal seinen Mann stellen könne.« Die lebhafte blonde Frau, die in einem tiefen Plüschsessel unter dem Hugo Wolf zu sitzen pflegte, die Rezitatorin des Kreises, mahnte: »Sie werden das fortsetzen! Um Ihrer selbst willen. Sie sind im besten Zug, hinter sich selbst zu kommen!«

Auch der Rektor und seine Gattin und der Ingenieur und die Pianistin und die Doktorin und die Bubenmutter und der Gymnasiallehrer bestätigten es kräftig.

Als Reinhart einwendete: »Ach, das gibt es ja schon tausendmal und tausendmal besser, und ich habe nicht die Beharrlichkeit, Angefangenes zu vollenden, wenn ich keinen Treiber habe«, faßte ihn die Sängerin, die Nachtigall von Kumpfmühl, fest ins Auge und sagte mit einer Bestimmtheit, die man nicht an ihr gewohnt war: »Reinhart, ich habe eine Offenbarung. Du befiehlst mir zu singen, auch wenn mir's gar nicht ums Herz ist, und ich tue es. Nun sage ich Dir: Sprich dich aus, du redeungewandter Mann! Schreib nieder, was dir von deinen Anfängen noch vor der Seele steht! Schreib von deinem Tasten nach Menschen und Freuden und Selbstgefühl! Schreib, wie es gewesen und geworden ist in Schatten und Sonne! Vielleicht wirst du dadurch innerlich vollends frei. Vielleicht, trotz allem, dankbar gegen deine Jugend.«

Reinhart entgegnete: »Es könnte unter die Menschen kommen, die aber wollen Herzhafteres lesen. Meinem Helden würde Frische und Frohsinn und Sicherheit doch allzu sehr mangeln. Diese Jugend ist allzu sehr ein Stammeln gewesen. › Reinhart der Stammler‹ wäre der rechte Titel und kein verlockender.« Die zähe Frau aber ließ nicht nach: »Wenn ich es aber wünsche? Wenn ich dich aber kennen lernen möchte, richtig kennen lernen? Der Titel gefiele mir übrigens. Nenne dich ruhig so! Stammler haben oft feinere Ohren als andere. Mit geringen Mitteln erlebt mancher mehr als mit reichen. Mit gehemmter Zunge sagt mancher mehr als ein anderer mit der freien. Vielleicht ist manches von den gebundenen Lippen ins Herz zurückgekehrt und da bewahrt worden und ist gereift und Lebensgut geworden. Erzähl doch davon!«

Da gab er nach: »Ach ja, es ist das Leben. Das eigene Leben. Ich würde mich schließlich ganz gern einmal an das Ufer des jungen Stromes setzen, auf sein Rauschen hören und sehen, wie er sich in schmalem Bett seine Bahn bricht. Ich fürchte nur, ich bin zu unbeholfen, meiner eigenen Vergangenheit gegenüber auch noch zu unfrei.« Sie aber trieb ihn an: »Schreib dich frei! Schreib alles, ganz wie es war!« – »Alles?! Das geht nicht. Ich möchte niemandes Frieden stören.« »Also nicht alles. Aber bitte, bleibe gerecht! Nicht nur gegen andere, auch gegen dich selbst!«

So gehorchte er ihnen denn. Hatte doch auch die Jugend, die er erzog und unterrichtete, immer wieder gefragt: wie war es bei Ihnen?, und seine eigenen Söhne, die er durch ihre eigene einzige Jugend führen sollte: wie war es, wie du klein warst? Ja, er mußte den Fuß aus das heilige Land der Kindheit setzen. – –

Er schrieb aber nicht daheim, wo die Rücken ungelesener Bücher ihn störten. Er schrieb auf der Wanderschaft. Er nahm Stab und Stift und machte sich auf, zu sehen, was ihm angesichts des Heimatdorfes, der Wälder und Wasser und Straßen und Stuben und Gräber der Jugendzeit einfiele.



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