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Der endlose, tief einöde Wald dämmerte die Menschen an, die den steinigen, von harten Wurzeln überzogenen, zerschrundeten und zuweilen von Regengüssen ausgeschwemmten oder schlammigen Weg wanderten.
»Mutter, wann sind wir daheim?« fragte bang der Knabe die Frau, die ihn keuchend schleppte, und er lauschte ihr in das Gesicht, das verfallen und hager war von Sorge und Schicksal und der Not tagelanger ungewisser Wanderschaft.
Sie presste die dürstenden, erschöpften Lippen in sein lichtgelbes, welliges Haar. »Brechtel«, stöhnte sie, »bald, bald sind wir daheim. Die Welt – ist weit.«
»Daheim?!« höhnte der Mann hinter ihr auf. Er heulte das sanfte Wort, dass es all seinen Trost verlor. Einen Karren voll armseligen, flüchtig zusammengerafften Hausplunders zerrte er hinter sich her. Er taumelte in dem Gespann wie ein halbverschmachteter Hund.
»In Amberg wird alles wieder gut, Ulrich!« rief das Weib.
»In Amberg?« Er lachte bitter auf. »In Nirgendwo sind wir daheim, und der Tag, da es uns besser geht, heißt Nimmerwieder. Verjagt, verwiesen sind wir, mit leerer Hand hab ich das Land verlassen. Gott verfolgt midi. Ihr alle werdet mit mir verhungern.«
Frau Uda Altdorferin zuckte straff empor. »Keines soll verhungern«, sagte sie fest. Und sie streckte die Hand suchend aus nach dem Mädchen, das, wenig älter als das Brüderlein, das schmale Elfengesicht von seidenem, hellem Haar umschmeichelt und die Augen blauer als die Blume im Korn, hinter ihr her trippelte. »Komm, Imilda!« sagte die Mutter.
Der Name haftete wie ein zartes Blümlein an dem Kind.
Imilda flüsterte verzagt: »Ich hab müde Schuh an.«
Der trockene, höhnisch meckernde Ruf einer Elster scholl.
Mit jähem Ruck hielt der Vater den Karren an. »Was wird aus euch Kindern?« kreischte er. »Was kann aus euch werden? Bettler! Diebe! Mörder!« Er kreischte es in den dumpfen, drohend nachhallenden Wald, zerworfen mit der Welt, das wirrhaarige Haupt voller Schweiß, die unsteten Augen ohne Rat; er teilte sein Schicksal der Wildnis mit. »Bei Nacht und Nebel hab ich davon müssen! Sie haben mich in den Turm schmeißen wollen! Oh, ich steh unter einem untreuen Stern!«
Unbekümmert aber wirbelten und sangen die Tannenvögel, eine Hohlkrähe klopfte, in einem düsterklaren Waldweiher spiegelte sich eine weiße, fromme Wolke, Moos hing ohne Regung von dem schweren, verworrenen Geäst nieder, und Schatten geisterten.
Der kleine Albrecht hatte mit einmal sein Heimweh vergessen. Er schaute mit träumerisch betrachtsamen, glänzenden Augen um sich, und sein Mund öffnete sich ein wenig. Der rätselhafte Weiher, der raue Fels, die steile Tanne, das struppige Dornicht und der grellgelbe Falter und der zarte, glitzernde Nachsommerfaden in der Luft waren ihm neu und wunderbar.
Die Mutter presste das Büblein in sorgender Liebe an sich. »Aus meinem Brechtel wird kein Bettelmann und kein Dieb«, lächelte sie. »Er ist ein Pfingstsonntagskind.« Sie schrieb ihm mit der Daumenspitze das segensreiche Zeichen des Kreuzes auf die klare Stirn, auf das sanfte Kinn, auf die Brust, darunter das Herz lebendig schlug. Und dann kehrte sie die dunkeln Augen streitbar dem Manne zu.
»Aber ein Maler darf er mir nit werden, lieber schlag ich ihn tot!« murrte Ulrich Altdorfer. »Hält ich hundert Buben, kein einziger dürfte malen.«
»Lass Gott walten, du ungefüger Mann!« schalt sie. »Lass uns erst in Amberg sein! Dort helfen uns die Verwandten. In Amberg wird das Eisen aus dem Berg gehoben, das starke Landgut, und die Hämmer hauen drauf. Wo Eisen ist, lebt es sich hoch auf.«
»Ungern geh ich hin«, trotzte er. »Nach Straubing hätten wir sollen ziehen, dort sind die Bauern rechte Schmalzgrafen. In der Steinpfalz, da ist nichts zu schauen wie Wildnis. Ein kaltes Land. Die Mühlen frieren im Sommer ein. Nit einmal ein Acker ist vorhanden, dass unsereiner sich eine Rübe daraus rupfen könnt! Nur grober Wald und selten genug ein jämmerliches Dorf mit strüppigen Egärten und kargen Viehweiden.«
Unberührt von dem Unmut des Vaters, starrte der Knabe glücklich in das beschimpfte Land. Aus fernen Wipfeln stieg geheimnisblauer, schöner Rauch. Dort köhlerte wohl der Fuchs. Und unsichtbare Geschöpfe sangen glitzernd in den unmerklich im Blau sich lösenden freundlichen Wolken, und ihr Lied war wie von feinem Silber durchschimmert.
»Deutschland ist ein Dornschlehland, es nährt seine Künstler nit«, nörgelte der Mann weiter, in seinen Trotz verbissen. »Und gar die Steinpfalz! Da hat der Teufel mit seiner Rotte geschwärmt und Gras und Grün vom Erdreich weggetanzt und nur den öden Felsen lassen.«
Stumpf zog er den knarrenden Karren weiter.
Da wurde auch Frau Uda verzagt. »In dem Tausendmeilenwald, da gehen wir irr«, raunte sie, und die Augen schmerzten sie, weil sie darin die Tränen zurückhalten musste.
Albrecht war aus seiner entrückenden Schau wieder erwacht. »Mutter, mich hungert!«
»Lass nur! In Amberg kriegst du Zuckerbrot«, tröstete sie. »Aber mich hungert jetzt.«
»Lass nur! Wir rasten am Brünnel, da zeigt der Vater dir das buntscheckige Buch.«
»Aber mich hungert sehr!«
»Still, Brechtel! Schau, wie der Dorn dort grün ist! und das Himmelreich ist blau und der Kienbaum rot. Und die Sonne ist gülden.« Sie nannte ihm die Farben der Welt und stillte ihn damit.
»Die Sonne ist gülden«, stammelte er ihr nach und senkte geblendet die Augen. »Was gülden ist, tut weh.«
Nun hub auch Imilda an zu klagen und krampfte sich in den Kittel der schreitenden Frau. »Mich hungert, mich hungert!«
»Ihr lästigen Quälgeister«, polterte der Vater, »meint ihr, euern Eltern brodelt nit auch der Hunger im Bauch? Fastet nur! Zehnmal gefastet ist einmal gefressen.«
Frau Uda begann hastig vom funkelnden Schlangenkönig zu erzählen und vom finstern Nachtschrätel, um die Kinder über den Hunger hinwegzutäuschen, und dem Knaben beseelte sich die Einöde mit wunderlichen Gestalten, er legte den Finger an den Mund und lauschte, und das Schwesterlein fraß an ihrem Zopf, und einmal flüsterte sie, verstört um sich blickend: »O wären wir nimmer im Wald!«
Da fühlte die Mutter, sie müsse traulicher erzählen, um die Kinder nicht zu verängstigen, und sie redete: »Einmal hat sich zur Nacht ein Pilgrim da im Tausendmeilenwald verirrt. Die Wölfe haben gebellt und die wilden Vögel geschrellt, und nit Weg noch Steg ist vorhanden gewest, den irrsamen Mann zu leiten, und die Sterne sind verschollen in den finstern Wipfeln. Da hat er gemeint, er muss in der Wildnis verloren sein, und zu allem Unstern ist noch ein arger Regen eingefallen. Da hat der Wandersmann das Herz zu Gott gekehrt und ingründig gebetet um eine Herberg, und wenn sie auch noch so gering sei. Und alsbald sieht er ein Lichtlein schimmern, und er findet eine graue Hütte, und da er an die Tür klopft, tut ihm ein schneeweißer alter Mann auf, und in der Stube drin sitzt ein junges, feines Weib und tritt die Wiege, und ein lichtes Kind schläft drin. Und der Alte wäscht dem Wandersmann die Füße, die hart und wund sind vom Weg, und trocknet ihm den Mantel am Feuer und tut ihm alles Liebe; die Frau aber kocht ihm eine Suppe, und hernach zeigen sie ihm in der Kammer ein weiches, weißes Bett, und er legt sich nieder und schläft wunderselig ein. Und da er am andern Tag erwacht, liegt er im Moos gar nit weit weg von der rechten Straße, und daneben ist eine Kapelle, und wie er hineinlugt, sieht er auf einem Brett drin gemalt dieselbe Hütte, drin er gestern eingekehrt, und im Licht eines großen, feurigen Sternes zwei Heilige und ein Kind in der Krippe, und jetzt hat er gewusst, wer ihn in der Nacht beherbergt hat.«
»Mutter, ich will auch in dem weißen, weichen Bett schlafen!« begehrte Imilda. Und der Knabe schrie: »Gehn wir gleich zu den guten Leuten! Ich will eine Suppe. Mich hungert. Mich hungert sehr!«
Nun zürnte die arme Frau über den Ungestüm der Kinder und zürnte sich selber, die nicht helfen konnte. »Was wollt ihr?« ächzte sie. »Ich hab selber kein Sterbensbrösel Brot. Ich kann nit zaubern.« In ihrer Verzweiflung schüttelte sie den Knaben, die blanken Zähren sprangen ihr die Wangen herunter, und sie schrie: »Da nimm! Ich kann dir nichts anderes geben.«
Und Albrecht, von dunkelm Mitleid ergriffen, fing eine der Zähren mit den Lippen auf und trank sie. Er sagte leise: »Es schmeckt gut. Ich bin satt.«
Das Weib erstaunte über ihr seltsames Kind und über die Größe seines einfältigen Herzens, und sie setzte es auf einen Stein, als sei sein Leib zu heilig, als dass er von ihr, der Zornmütigen, getragen werden dürfte, und ihr war, sie müsse niedersinken vor ihm.
Ulrich Altdorfer, in sein schwarzes Elend versunken, hatte dieses Geschehnis kaum beachtet; was der Mutter ans Herz geht, das reicht dem Vater nur an die Knie. Und so stieß er den Karren ins Moor, riss den Zwerchsack vom Nacken und sagte: »Da rasten wir!«
Es war fürwahr ein hübscher moosiger Fleck, den das Auge des Malers gewählt hatte: ein schieres, kühles Brünnlein fiel vom Fels und rauschte als klarer Bach davon, auf dessen Grund die weißen Steine blinkten und hastige Fische spielten. Es war ein quellenreiches Jahr. Auf dem Stein droben grünte ein verkrüppelter Wildapfelbaum, und hohe Bäume trugen ihr stummes, glänzendes Laub. Von einem holden, die Wipfel durchstoßenden Strahl berührt, war eine Königskerze zu schauen, in ihrer geraden Schlankheit einer Lanze ähnlich, die ein Zauberer in die Erde gerammt hatte, und die nun golden zu blühen begann. Und ein Reh lugte aus dem Dickicht und zog den klugen Kopf sogleich wieder zurück; es hatte wohl von der kühlen Waldflut nippen wollen.
»Trinkt! Gott ist unser Wirt«, sagte Ulrich Altdorfer, sich und seine Not und Gott zugleich verspottend.
In den Sack tappend, fand er unverhofft ein letztes Stück Brot. Elendbrot, aus Kleie und Brennnesseln gebacken.
Er tauchte es in den Brunnen, zerbrach es und bot es den Kindern. »Da, füllt euch den Balg!«
Die Frau brach vor dem Fels erschöpft in die Knie, die Arme hingen ihr eine Weile wie gelähmt. Von dem Jammer der bitteren Wanderschaft durchdrungen, verlassen von ihrem Glauben, klagte sie auf: »Stein, erbarm du dich unser! Gott will von uns nichts wissen.«
»Der-Stein ist taub. Sing deinen Kummer den wilden Gänsen!« rief der Mann, und sein ratloses Herz entlud sich in einem ungestümen Fluch.
Während Imilda betrübt und wie schuldbewusst dem Treiben der Eltern zuschaute, ging der Bruder, das feuchte Brot in der Hand vergessend, um die kerzenhohe Blume herum und betrachtete lächelnd die leuchtenden Blüten und die furchtbar gedornte Raupe, die auf den Blättern äste.
Die wuchtigen, strengen Brauen hart zusammengezogen, stierte Ulrich Altdorfer dumpf vor sich hin. Dann riss er sich die zerfetzten Schuhe von den blutigen Füßen.
Frau Uda hatte sich in ihrem Schmerz wieder erlangen, sie sammelte eine Bürde dürres, windbrüchiges Holz und schürte damit ein Feuer auf. In einem irdenen Topf sott sie einige Kräuter. »Das ist unser Mittag«, sagte sie traurig.
Imilda, angesteckt von der Geschäftigkeit der Mutter, lief aus und brachte alsbald ein paar braunkappige Pilze im Schürz-lein daher.
Albrecht aber wandte sich ganz dem lebendigen Feuer zu, das bald krumm in der leise strömenden Luft sich neigte, bald starr und steil stand, und er redete die Flamme an: »Du roter Wind!« Er erinnerte sich, wie einst das Feuer mit goldenen Flügeln auf dem Dach des väterlichen Hauses geweilt hatte. So schön wie damals war das Haus noch nie gewesen.
Auf den Ellbogen gestützt, lümmelte der Vater im Moos, ihn fröstelte leise. »Da lieg ich wie der heilige Gotterbarm! Der Wind weht vom böhmischen Wald her. Wie bald herbstet es!«
Die Mutter kauerte wie die eingefleischte Sorge neben dem Topf und schaute in den wirbelnden Sud. »Wir haben mitsammen von allem Anfang an nur Jammer genossen, Ulrich«, sprach sie.
»Ja, schon bei der Hochzeit ist es so arm hergegangen, dass die Katze am Herd nichts davon inne worden ist«, spottete er.
Imilda wusste, die Eltern würden jetzt streiten. Den Vater zu versöhnen, setzte sie sich zu ihm und flocht ihm Blumen in den leise angegrauten Bart. »Vater, sei still! Mutter, sei still!« bat sie.
Es half nichts, der finstere Mann da und die verbitterte Frau dort hassten einander, hassten einander aus der Armut und Not ihres Lebens heraus.
»Hättest du die Welt besser verstanden, säßen wir nit da in der Wildnis!« warf sie ihm vor.
»Willst du mich wieder beschimpfen?« fuhr er auf. »Weib, was hab ich an dir? Dürr und hässlich bist du worden wie eine Zehentgans.«
»Vater!« bettelte Imilda leise.
»Die Kinder machst du mir fremd!« rief die Frau gereizt. »Was habt ihr dort zu raunen? Imilda, her zu mir!«
Das Kind zögerte unschlüssig. Seine armen Augen wurden feucht.
»Wart nur!« drohte die Mutter. »Die Rute ist schon im Wasser eingeweicht. Die wird ziehen. Hui!«
»Der Vater tut mir leid«, stammelte das Mädchen ängstlich.
Da bemeisterte sich Frau Uda nimmer. Sie sprang auf, und weil sie keine Gerte zur Hand hatte, riss sie ein hochwucherndes Kümmelkraut aus dem Grund und schlug mit der ganzen Staude blind auf das Kind ein. Dabei duftete es seltsam würzig, und über den Wipfeln huben die Krähen zu greinen an, als ergriffen sie Partei.
»Lass das Kind!« brüllte Ulrich Altdorfer. »Lass es! Verzürn mich nit, sonst hau ich dich nieder!«
»Du! Du!« keifte sie in ihrem Jähzorn. »Ich wollt, du würdest zum Wolf und liefest ins wilde Holz!«
Da erhob sich der Mann und ging stumm davon.
Mit weiten Schreckensaugen blickte ihm Albrecht nach, er fürchtete, der Verwünschte müsse sich nun in ein reißendes, zottiges Tier verwandeln und heulend in der Wildnis vertauchen und nimmer, nimmer wieder heimkommen. Der Vater, der wunderbare Mann, der mit dem spitzen Pinsel die holden Bilder ins Buch zauberte, seine kunstfertigen Finger sollten zu wüsten Wolfskrallen werden?!
Traurig setzte sich der Knabe an den Bach, wo dieser einen tiefen, ruhenden Tümpel bildete, und dort beschwichtigte sich sein fürchtendes Herz, und er spähte in das Halbdämmer des Wassers hinunter. Lichter kringelten drunten, Kiesel glommen lebhaft. Eine starke Quelle drang aus dem Grund und wirbelte feinen Sand auf, und es war so still rings, dass man sie fast gurgeln und fast das Land zittern hörte an den Zweigen. Das Wasser wallte geheimnisvoll von unten herauf, und es war, als schauten die drei Nornen aus der Tiefe, und ihr dunkler Blick ruhe in dem des Knaben, und ihr flutender Geist schlage in ihn herüber.
»Trink nit! Du kriegst den blauen Husten«, warnte die Mutter von fern.
»Ich trink nit, ich schau«, erwiderte er.
Sie kam heran, ließ sich bei ihrem Liebling nieder und scherzte, indem sie in den kühlen Bach griff: »Brechtel, soll ich dich taufen?«
»Bin schon getauft, Mutter.«
»Ja, du bist nach einem Zauberer getauft, nach Albertus, dem Predigermönch und Bischof zu Regensburg.«
»Sag, wie hat er gezaubert?«
»Fürwahr, aus kahlem Winterschnee hat er dem Kaiser Blumen blühen lassen und Bäume wachsen und Äpfel reifen.« Und plötzlich neigte sich die Frau mit einer an ihr befremdenden priesterlichen Gebärde nieder und wusch mit der klaren, jungfräulichen Flut des Waldes die staunenden Augen ihres Kindes und sagte: »Was da aus tiefster Erde springt, das Wasser, daraus noch kein Mund getrunken hat, es wirkt mit geheimer Kraft.« Und sie murmelte: »Wilde Welle! Wilde Welle! Wilde Welle! Waldwasser! Waldwasser! Waldwasser! Schauen soll dies Auge, was noch keiner je geschaut!«
Albrecht schauderte auf unter dem segnenden Zauber der langsam und feierlich gesprochenen Worte, er hielt die Mutter für allmächtig und allen Wissens und aller Hilfe kundig, und für eine lange, dunkle Weile schloss er die benetzten Lider, und als er sie ahnungsvoll wieder öffnete, glühte ihn die Welt in einer unerhörten Verzauberung an, die Lüfte schimmerten, alle Farben rings brannten heller, alle Formen trugen einen verschleierten wundervollen Sinn, und ihm war, sein Blick greife weiter hinaus in die harrende Ferne und stoße tiefer hinein in das Getümmel der nahen Dinge und ordne ihre fast unabsehbare Wirrnis.
Mittlerweile kam der Vater zurück. Er hatte im Bach einen Krebs gefangen und in einem hohlen Baum eine Bienenburg entdeckt. Er trug eine volle goldene Wabe in der Hand. Die groben Falten an seiner Stirn waren geebnet.
Während sie aßen, begann Frau Uda auf einmal mit ihrer reinen, rührenden Stimme zu singen, die ihr die Not und der kreischende Zank ihrer Ehe nicht verdorben hatten.
»Maria, Maria, das vielfromme Weib,
sie tragt den Herrn Jesum verschlossen im Leib.
Maria, und sie geht durch den schwarzgrünen Wald,
da neigen sich die Bäume so jung und so alt,
der rötliche Kienbaum, der Birkenbaum licht,
bis auf die hohe Espe, die neiget sich nicht.
›Was neigst du dich nicht, du hoffärtig Holz?‹
›Ich bin hoch und bin schön und überaus stolz!‹
Drum muss sie flattern bis zum Jüngsten Tag,
weil sie sich vor Maria nicht geneiget hat.«
Diese klingende, warnende, fromme Sage ließ den Schmerz der Müdheit vergessen und den Kummer der Flucht und brachte die Herzen versöhnlich wieder einander nahe. Der Vater neigte nachdenklich die beruhigte Stirn, das Dirnlein schmiegte sich an die singende Frau, und Albrecht kniete auf einem funkelnden Rasenfleck, der kam ihm mit seinen Haimen vor wie ein weiter, tiefer Wald, und ein erzblinkender Käfer tastete ihn mit seinem Gehörn unsäglich gelind an. Und als das Lied verhallt war und nur noch das Wasser silbrig vom Stein fiel, ein singender Schlangenleib, da riss das Büblein eine Blume aus dem feinen Dickicht des Rasens und zupfte fragend daran. »Kaiser? Ritter? Goldschmied?«
»Alles magst du werden«, brummte Ulrich Altdorfer, »alles, Bauer, Schinder und Schelm. Meinetwegen. Nur nit Maler wie dein Vater!«
Frohlockend schwenkte der Knabe die entblätterte Blüte. »Kaiser! Ich werde Kaiser!«
»Träum nit allzu üppig!« fuhr ihn der Vater verdrießlich an. »Ich bin ein großer Meister. Was nutzt es mir? Ich sterb einst so arm, dass ihr mir nit einmal einen Stein werdet setzen können. Ach, warum bin ich nit der reiche Herzog von Baiern worden?«
»Du hast immer zu viel begehrt«, sagte Frau Uda trüb. »Weh dem, der ohne Wünsche ist!« rief der Maler.
Frau Uda zog nun den Kleinen die Hemdlein aus, wusch sie und hängte die Wäsche an einen besonnten Ast.
Hernach führte sie die Kinder, die nur mit Kittelchen und Höslein bekleidet waren, in den Wald und zeigte ihnen Wolfstrapp und Allermannsharnisch, Donnerkraut, Wurmtod, Herzklopfkraut, Gottesgnadenkraut, Salomonssiegel und Pfaffenhut, und Albrecht lugte haarscharf jede Pflanze an, sah sie in ihrer sonderbaren Art, in ihrem Liebreiz und der feinen Bewegung im Wind und berührte manchmal zart einen der bunten und grünen Scheitel.
»Mutter, ich möcht schauen, wie es tief drin im Wald ist!« sagte er
»Ja, Mutter, lass uns nur eine kleine Weil hinein!« bettelte nun auch das Mädchen. »Ich will die andern Blumen grüßen und sie hüten. Gleich kommen wir wieder heim zum Rehbrünndel.«
»Geht!« sagte die beglückte Mutter. Wer hatte so hübsche und artige Kinder wie sie?! »Geht! Und bringt mir eine Schüssel Hasenmilch! Und hütet euch vor dem Waldschrätlein! Und reißt mir keine Wolfsbeere ab! Und steckt kein Giftblümlein in den Mund! «
Schon huschten die Kinder den Bach entlang. Da waren verranktes Astwerk, laubbekleidet, nadelgerüstet, trinkende Wurzeln, riesige, wimmelnde Ameishaufen, Felsblöcke. Der graue Kopf eines schwimmenden Bibers tauchte auf. Ein Fuchs verscholl in einer Kluft. Ein Reh äugte die Kinder an, im Blick den milden, braunen Schatten des Waldes. Solch geheimnisvolle Dinge hatte es in dem engen Regensburg nie gegeben.
Eichhorn, Buntkröpflein und Federschöpflein schaukelten im Gezweig, das dünne Klopfen des Spechtes hallte, ein Hirschvogel spann seine liebliche Weise. Eilige Amseln huschten mit ihren gelben Schuhen schnell wie dunkle Mäuse durchs Gras. Ein Frosch quappelte in einem grünschlammigen Tümpel.
Imilda setzte sich einen goldglimmenden Käfer auf den Finger und beschwor ihn: »Flieg aus; Flieg zur Mutter! Die gibt dir Milch und Brocken und ein silbern Löfflein dazu.«
Auf einmal aber wurden sich die beiden Geschwister der fremden Stille bewusst, und sie schauten sich erschrocken an. Regt sich nicht der Bilwiz dort in dem zerfallenden Baum, der den gelblichen Moder aus dem Leib schüttet? Lauert nicht hinter jenem Dornenhurst die Kindsräuberin, die eisennasige, langzahnige, struppige Perchtenfrau? Die Spinnerin unterm Eichelbaum? Ringelt sich dort nicht der Wurmkönig silbern durchs Gras, am bösen Kopf die Perlenkrone? Zunderstämme, Moderholz düsterten. Alles war auf einmal sagenhaft worden. Die Bäume besprachen sich böse, und es war zu merken, sie redeten von den zwei Kindern, und eine wilde Taube mochte dieses verstehen, denn sie lachte mit argem Sinn: »Gurruh, gurruh!« Eine dürre Fichte setzte die grauen, entrindeten Krallen auf einen bleichen Stein.
Imilda tat einen grellen Schrei und flüchtete.
Nun weilte Albrecht totenallein in dem wundersamen Zwielicht. Das Herz stand ihm schier still vor Staunen, dass solches Licht auf Erden war. Dämmer und Helle klangen farbig zusammen, und funkelnd und düsternd sprach diese Welt mit dem verworrenen Reichtum ihrer Wesen den Knaben an.
Zaghaft trat er aus dem Dickicht auf eine Blöße hinaus, und ein urbemooster Fels bot ihm einen Ausblick in die menschenleere Weite. Wälder wanderten dunkelvergrünt das Gebirge hinauf und in die Schluchten hinein. Albrecht war noch nie so einsam gewesen, schaudernd stand er der Welt gegenüber und sah sie flimmern und glimmen und ahnte darin etwas Endeloses.
Wie wunderbar war hier alles! Der mächtige Baum mit den schwermütig hangenden, bärtigen Ästen! Der leuchtende Himmel, darüber ruderte ein Reiher einem entfernten Berg zu, einem bläulichen Klumpen! Die sanften und die wilden Schatten! Das ganze grüngoldene Dämmerwesen des Waldes!
Himmlisch beklommen kehrte er um, furchtlos und jäh vertraut mit dieser unbegangenen Welt. Der Engel des Waldes hütete ihn. Und die Stille der Einsamkeit wurde Gesang. Ein Fels sang mit süßer, hoher Orgelstimme. Es sang der Vogel Widewol. Und auch Albrecht hub leise an und suchte in der Weise des Vogels zu reden. »Die Luft ist blau, und der Brunn ist braun. Der Tann ist grün, und das Moos ist grün. Das Feuer tanzt und ist rot und gelb. Der Stein ist weiß, und die Wolke ist weiß.« Also sang er immer lauter und hallender.
Und wieder fühlte er, dass er neue Augen hatte, die Welt zu durchleuchten, und er schrie vor tiefster Lust auf.
Er fand den Vater in ein Buch versunken, dessen Deckel aus afrikanischem Elfenbein kostbar geschnitzt waren, und dessen pergamentene Blätter in zarten, kleinen Bildern blühten. Die einzige Kostbarkeit, die Ulrich Altdorfer bei seiner Flucht sich gerettet hatte, ein vererbtes Stück.
Scheu lugte Albrecht dem Vater über die Schulter. Ob dies das Messbuch war, das der Teufel dem Bischof Wolfgang hatte halten müssen? In einem mächtigen Buchstaben, den Albrecht noch nicht nennen konnte, war ein Gärtlein gar künstlich wie mit Regenbogenfunken gemalt, und das gefiel ihm über die Maßen, und er träumte sich so winzig, dass er in die Landschaft des Bildleins hineinschreiten und die strahlenden Blumen drin streicheln und mit dem farbenreichen, langhalsigen Vogel sprechen konnte, der droben an dem Buchstaben klammerte. Sonderlich war ihm eine schmale, lange Wolke lieb, die wie ein Gottesdächlein über dem gemalten Garten schwebte. Und plötzlich dachte er der Wolken, die leibhaft droben über den wirklichen Himmel flossen, und er schaute in frommer Neugier aufwärts und sah, wie das Gewölk in der Goldglut des Abends badete, unvergleichlich über die Farben des Buches hinausblühend, und seine Seele war in dunkler Empfindung überwältigt und wortlos. Alles Wunderbare zwischen Himmel und Erde wurde ihm inne, und sein Auge wurde sehr fern.
Den Vater aber ärgerte es, dass der Blick des Sohnes sich einem anderen Bereich zugekehrt hatte, und er schnob ihn an: »Was gaffst du hinauf? Gradaus musst du glurren mitten ins Leben hinein, sonst bringst du es auch auf den Hund wie ich!«
Verschüchtert senkte Albrecht die Augen zur Erde und setzte sich abseits.
Erst als die Sonne längst gestorben war und alles sich in den blaugrauen Abend hüllte, wagte er sich wieder zu den Füßen des Vaters, des mächtigen Menschen, in dessen Nähe alle Angst vor der Finsternis und ihren Geschöpfen nicht stattfand.
Das Flämmlein des ersten Sternes zuckte auf, und bald war der volle Garten der Gestirne geöffnet.
Er sah heute zum ersten Mal die verwirrende Pracht des Nachthimmels in seiner Fülle frei über sich ausgespannt. In der Enge der Gassen war ihm die strahlende Höhe versperrt gewesen, und während der Flucht hatten die Eltern mit ihnen bisher immer unter den Dächern dumpfer Scheuern genächtigt. Heute aber war der Wald als Schattenungeheuer in wuchtigem Schwarz vor ihm aufgetürmt und darüber die gestirnte Wildnis der Nacht.
Der Vater regte sich und deutete, von Andacht übermannt, aufwärts. »Brechtel, das alles hat Gott erschaffen.«
»Was heißt ›erschaffen‹, Vater?«
»Wer nit selber erschaffen kann, dem lässt sich das Wort nit deuten«, sagte Ulrich Altdorf er kurz.
Da träumte sich der Knabe den schaffenden Gott wie einen mächtigen Waldquell, darin die Sterne wie ungeheuere Blasen emporwirbeln, tauig funkeln und zerplatzen. Und er meinte halblaut, Gott müsse ein Riesenmann sein.
»Gott ist groß und ist klein«, lehrte ihn der Vater und deutete auf das elfenbeinerne Buch auf seinen Knien, darin die winzigen Bilder gemalt waren. »Sonne und Mond sind in Gottes Gürtel gewirkt.«
Er schob langsam einen Prügel in das ermattete Feuer, und es wurde bald reger und widerglänzte in seinem goldenen Bart, und der Geruch des brennenden Holzes wob und machte die Ode heimlicher, so dass sie etwas von der trauten Enge einer Stube gewann.
Die Mutter hatte Moos und Binsen aus dem Boden gerauft, die Kleinen darauf zu betten. »Im rauen Ried müsst ihr schlafen, meine Kummerwürmlein!« trauerte sie. »Und ich hab keine Tuchent, euch darunter zu wärmen. Nit einmal ein Fläumlein!« Sie erinnerte sich, dass sie die hübsche Wiege hatte daheim lassen müssen, in deren Fußbrett der heitere Engelskopf geschnitzt war, und sie dachte traurig des werdenden Kindes in sich. »Wir sind um alles kommen«, flüsterte sie.
Sie deckte Imilda und Albrecht mit einem Mantel und griff nach einem Rosenkranz aus Elsbeerenholz und betete.
Der Knabe aber sah unverwandt in den Weltraum empor, der ihm wie ein silbergedecktes Haus erschien, und plötzlich begannen die Sterne in den Ästen der Tanne über ihm sich zu rühren und zu zittern.
»Vater«, staunte er, »an dem Baum wachsen Sterne!« »Ach, sie sind nit so nahe, Bub!«
»Vater, darf man die Sterne malen? Sind sie nit zu heilig? Vater, und hast du schon einmal einen Stern in der Hand gehalten?«
Der Mann lachte rau auf. Er legte seinen Faustdolch neben sich hin. »Red nit so dumm!«
Aber die Mutter griff gerührt nach den Händen des wunderlichen Fragers. »Oh, ihr lieben zehn Fingerlein!« schmeichelte sie. »Was werdet ihr einmal beginnen? Saiten schlagen und Rosen brechen? Seid gesegnet! Und jetzt schlaf, Brechtel! Das ewige Lichtlein in dir soll sich ducken bis zum andern Tag.«
Nun waren alle still. Imilda atmete bald im Schlaf. Doch Albrecht lag weit offenen Auges und lauschte ohne Unterlass hinauf zu dem Wirbelstern.
In später Nacht huben die Eulen grässlich an.
»Horch, Ulrich! Die Wehklage heult«, raunte das Weib.
Er seufzte schwer. »Sie weint um uns, für die es keine Schwelle gibt und kein Dach.«
»Morgen ist ein neuer Tag«, tröstete sie. »Da kommen wir nach Amberg. Wir dürfen nit verzagen. Wirb, das Glück ist mürb!«
»Du hast leicht schwätzen«, sagte er mürrisch. »Was heb ich zu Amberg mit meinen paar Bettelgroschen an? Das Unheil ist hinter mir her seit je. Als die Pest meine Mutter erwürgt hat, hat mir der Vater eine Stiefmutter geschenkt. Und wer eine Stiefmutter hat, hat auch einen - Stiefvater. Ich hab es erfahren. Mein Bruder ist besser daran gewesen, als Kind ist er verschollen auf der Wallfahrt nach Sankt Michel. Er ist gewiss schon lange tot. Die Toten schlafen gut. Oh, wenn wir alle vier nur schon gestorben wären!«
»Du versündigst dich mit solcher Rede, Ulrich.«
»Weib, mit frommem Fleiß und großer Kunst hab ich dem Meister Berthold Furthmayr geholfen, dem Erzbischof von Salzburg hab ich das Messbuch aasgeziert, die Bücher des alten Gesetzes hab ich mit Farben und Blumen geschmückt, hab den Erdenweg des Heilands gemalt. Wie hat der Himmel mein andächtiges Schaffen gelohnt? Das Haus ist mir verbronnen.
In der Armut Regensburgs bin ich verarmt. Ich häng voller Schulden.«
»Ulrich, in Amberg werden wir geruhlich hausen!«
»Regensburg ist der Brunn meines Unglücks. Die heiligen vierzehn Nothelfer dort haben trotz meinen Bitten keinen Finger für mich gerührt. O Jahr der Trübsal! Der Mosche Jud und der Uberto, der noch schlimmer ist als ein Jud, sie haben mich wollen eintürmen lassen!«
»Die Bösewichte! Gott soll es ihnen vergelten!«
»In jungen Jahren hätt ich nach Welschland reisen sollen. Deinetwegen, Frau, bin ich in Regensburg geblieben. Im kargen Donauland. Deinetwegen! In Venedig hätt ich große Kirchwände bemalt. Daheim hat man mir kaum einen Fetzen Pergament vergönnt. In Welschland wär ich Baumeister worden. Wer baut, wird ewig. Sein Denkmal ist sichtbar der Gasse und der Welt. O Herr Gott! O verflucht die Kunst, die mich und euch jetzt hungern lässt!«
»Fluch nit, Ulrich! Der Teufel hört zu. Der Teufel will seine Höll' mit verlorenen Seelen füllen. Auch mit der deinen.«
»Die Welt hat mich nit auf den Platz gestellt, den die Sterne für mich bestimmt haben. Blind ist sie an mir vorbeigegangen. Und kann doch keiner auf Erden so zierlich malen wie ich! Auf dem Altar zu Tiefenbronn ist der Reim zu lesen: ›Schrei, Kunst, schrei und klag dich sehr! Dein begehrt jetzt niemand mehr,‹ Weib! Fünfundvierzig Jahre bin ich gewandert auf Gottes Erdreich, bin sparsam gewesen, ein sorglicher Hausvater, wenig in Trinkstuben zu sehen, ein züchtiger Mann. Was hat es gefrommt?«
»Glück lässt sich nit erzwingen«, sagte sie schmerzlich. »Glück kommt von Gott allein.«
»Nein! Raufen soll man um das Glück!« widersprach er heftig. »Raufen mit dem Messer! Das Glück muss man Gott aus der Faust ringen. Dann lacht er und gewährt.«
»Nun denn, Ulrich, dann klag nit und rauf! Und geduld dich! Zeit trägt Rosen.«
»Und auch Disteln. Und die stechen sehr.«
Albrecht lag wach. Er sah die Leuchtmänner auf fernem Moor hüpfen und die Sternbutzen über den Himmel wischen, er hörte den Bach sausen. Er hörte tief in der Nacht den Vater stöhnen.
Das mitternächtige Gestirn dünkte ihn ein wirres Dickicht von Lichtern. Wer findet sich da zurecht? Wer findet sich in dieser Welt zurecht? Gott allein?
Das nüchterne Licht des Morgens und die Kühle weckten den Knaben. Die Brauen voller Tau, trat er in den glitzernden Sand des Baches und wusch sich und hörte die Eltern ihre Träume erzählen.
Während der Vater meinte, ihm träume nur noch Arges, sagte die Mutter, sie sei im Traum an einem verfallenen Brunn geweilt, da sei eine weiße Otter aus den Trümmern herfür gekrochen und habe mit wonniger Menschenstimme ein seliges Lied gesungen.
Meister Ulrich gähnte laut. »Traum ist Faum«, sagte er.
Hernach betrachtete er lange die Stätte, wo sie die Nacht verbracht hatten. »Es ist ein hübscher Ort, und ich möcht ihn wohl in ein Buch malen mit säuberlichen Farben. Vielleicht kehr ich einmal hieher zurück, dann meißle ich dem Sturzbach da einen Steinbrunnen nach welscher Art.«
Ulrich Altdorfer war ein sehnsüchtiger Mann, und die Steinkunst ihm im Blut, sein Vater war Steinmetz gewesen, und auch er, der Sohn, beherrschte die herbe Kunst.
Nun zog er den Karren kräftig durch die Furt, die Wellen hüpften durch die Räder, und Albrecht wendete sich noch einmal um nach der hohen, schlanken Blumenkerze und nach dem schwermütig grauen, verglosenden Aschenhaufen.
Kraniche schrien, die Tannen tropften tauig, der Himmel leuchtete, Grün prallte gegen Blau.
»Fort, fort und nirgends bleiben, dazu ist der Mensch bestimmt«, sagte Ulrich Altdorfer.
Frau Uda begann ein Märlein. »Wer sich den Wunschhut aufsetzt, der ist stracks und ohne Mühsal dort, wohin er sich wünscht, auf ferner Insel, auf hohem Meer, auf entlegenem Berg.«
»Glaub es nit, Brechtel!« warnte der Vater. »Alles will hart erwandert sein.«
Als sie wieder auf bessere Wege stießen und erkannten, dass hier das Land besiedelt war, wurde Ulrich Altdorfer heiterer und zugänglicher, und er zeigte dem Söhnlein, wie der Hirsch mit seinen Hufen durch den Tau gestrichen und mit dem Geweih droben an dem Laub gerührt hatte, Burgstall und Himmelszeichen hieß er diese Fährten, und er lehrte ihn die Tanne von der Föhre, den Eschelbaum von der Espe zu scheiden und nannte ihm Eiche und Ulme und Irle, Eibe und Erle.
Sie klopften an eine Mühle, die in einem finstern Tobel ging. Niemand meldete sich.
Im Rahmen eines Hohlweges wartete ein breitschultriger Mann, ein Landfahrer. In den Griff seines Steckens war ein Totenkopf geschnitzt. Ulrich Altdorfer lockerte argwöhnisch den Faustdolch. Deutschland ist ein unsicherer Boden.
»Woher?« fragte der Fremde und riss einen struppigen Petersbart aus dem Dorn.
Der Maler entgegnete bitter: »Von Wermutshausen. Kennst du das uns nit an?«
»Und ihr wollt gen Nürnberg in die Knoblochei?« forschte der Landstreuner weiter. Sein Waldschratsbart war pechig und voll dürrer Tannennadeln, im Hut flatterte ihm ein frischer Farnwedel.
»Bettel uns nit an! Und tu uns nichts!« rief Frau Uda voll Angst um ihre Kinder. »Vor lauter Armut haben wir Regensburg verlassen müssen.«
Der Fremde nickte. »O weh, da seid ihr schlimm genug dran. In Regensburg hat nur der Jud Geld. Das ist landkundig. Den Regensburgern wird noch einmal der Dom vergantet werden.« Und er zerrte aus dem Sack einen blanken Gulden herfür und reichte ihn dem Maler. »Gib das der Stadt Regensburg! Sie erbarmt mich.«
Lachend verrauschte er im Gebüsch.
Der Maler starrte das Geldstück in seiner zitternden Hand an und sagte: »Ich will es redlich übermitteln. Ach, wir sind arg verrufen!«
Gegen Mittag hielten die Flüchtlinge an einer verlassenen Meilerstätte. Noch lagen dort verkohlte Holzstücke. Vor dem Wald in einer dornigen Gegend grünten neben einer Hütte ein Krautacker und ein spätes Haferfeld, darin ein Hirsch fraß.
»Ich will Beeren brocken!« sagte Imilda. Sie schwenkte ein strohernes Körblein und schlüpfte in die Brombeerstauden, deren schwarze Früchte verlockend blinkten. Da folgte ihr die Mutter mit einem irdenen Hafen nach.
Ulrich Altdorfer lehnte müßig an dem Karren. Es wurmte ihn noch gewaltig, dass der armselige Landfahrer dem stolzen Regensburg einen Notgulden geschenkt hatte. Aber es war einmal so: die Reichsstadt hatte abgewirtschaftet, der Bayernherzog hatte sich ihrer bemächtigt und den Adler gelöscht über ihren Toren und seinen Löwen neben die bischöflichen Schlüssel gesetzt. Die Reichsfreiheit war dahin.
Verärgert pfiff der Maler einen Reim, der jüngst in den Gassen aufgekommen war.
»Der bayrisch Löwe bleckt den Zahn
und dräut Sankt Petri Schlüssel an,
er hat des Reiches Aar zerrupft,
dass er da nimmer unterschlupft.
O Aar, rüst dein Gefieder,
komm an die Donau wieder!«
Mit einem falschen, scharfen Pfiff endete Meister Ulrich. Und nun sah er, wie Albrecht mit einem Bröcklein Kohle auf einem weißen Stein zeichnete. Er zeichnete offenbar einen Mann, denn man sah zwei klumpige Beine, darüber einen Rumpf, der einer verkrüppelten Möhre glich, und oben einen Kopf, rund und zottig wie ein Petersapfel; und aus dem Rumpf kroch nun ein Arm heraus, daran bildeten sich einige Finger, und an den Fingern hing schließlich eine große, runde Scheibe. Verdammt, das war gewiss der Strolch, der den Gulden vergeudet hatte für ein so hoffnungsloses Unternehmen, wie es Regensburg war!
Die Stirn tiefrot vor Wut, schlug Ulrich Altdorfer dem Kind die Kohle aus der Hand und spie auf die Zeichnung. »Lass dein Gesudel!« schalt er.
Albrecht staunte dem unbeherrschten Vater ins Gesicht, dann drehte er betrübt den Stein mit der bemalten Fläche zur Erde.
Mittlerweile brachen die Mutter und Imilda mit den Gebärden eines heftigen Schreckens aus den Stauden.
»Nein, nein!« rief Frau Uda. »Du hast dir nur einen Dorn eingetreten. «
Das Mädchen deutete auf eine Stelle oberhalb des Knöchels ihres linken Fußes. »Da hat es mich gestochen.«
»Ein Giftwurm hat dich gestochen!« schrie die Mutter.
Das Gesicht Imildas war weiß und schmal vor Angst. Sie lächelte bang: »Ja, eine schöne Schlange.«
Ulrich Altdorfer bettete hastig sein Kind ins Gras und sog an der Wunde. Die Frau aber kehrte sich mit hassverhässlichtem, eingestürztem Gesicht gegen das Dickicht und schrie einen schrillen Unsegen. »Lieg, lieg, lieg lang, du teuflische Schlang, lieg gleich für tot!«
Dann raufte sie eilends am Waldrand Schöllwurz und Giftwende und andere helfende Kräuter aus der Erde, rannte zurück, legte sie auf die winzige Wunde und verband das bläulich anschwellende Füßlein.
Sie legten die Kranke auf den Karren und fuhren dahin, um bald zu klugen Leuten zu kommen, die weiter helfen sollten. Vielleicht war eine Ortschaft nahe, darin ein Arzt oder ein Giftbeschwörer zu erfragen war.
Sie hielten vor einer Bauernhütte. Dort trank eine hagere Kuh mit tiefem Schlurf gierig aus dem Einbaum, und ein zerlumpter Mann schälte die Rinde von einer gefällten Tanne. Hohe, riesige Brennnesseln wucherten an dem windmüden Zaun.
Sie baten den Mann um Hilfe. Er stierte sie an und verstand sie nicht. Er war taub.
Sie traten in die finstere, niedere Stube, sie war dunstig und roch übel nach gekochten Rüben. Im Winkel hing der sterbende Herrgott.
Frau Uda rief der Bäuerin zu: »Helft! Der Giftwurm hat mein Kind gestochen!«
Die Bäuerin schaute sie argwöhnisch mit ihren harten Augen an, eine Einöderin, abgestumpft von der Plage und Freudlosigkeit ihres Lebens. Sie zuckte die Achsel. Aus einem schmutzigen Kübel schöpfte sie sauere, gärende Milch, mit Schimmel überzogen, und bot sie Albrecht, der sich in scheuer Neugier herzugedrängt hatte. Wie in einem Zwang tat er einen Schluck, würgte dann und erbrach.
Die Bäuerin deutete auf Imilda und sagte: »Die wird hin!«
»Kommt, kommt! Da ist keine Hilfe«, rief Frau Uda. »Sie vergiftet auch mein zweites Kind. O weh, die Liebe ist erfroren, und die Barmherzigkeit hat sich aus der Welt verloren!«
Der Karren rollte weiter. Endlos zog sich der Wald.
An einer Quelle gaben sie der durstig flehenden Imilda Wasser. Das Land war menschenleer.
Eine Felswand trat an den Weg heran und schaute mit dunkeln Löchern auf die kleine Schar nieder.
»Wer haust dort drin?« fragte Albrecht.
»Wichtel haben drin gewohnt«, sagte der Vater.
»Ich will einen Wichtel sehen.«
»Sie sind nimmer da. Die Hammerschmiede haben sie mit ihren lärmenden Hämmern vertrieben, als sie in den Wald eingedrungen sind und das Erz gestreckt haben. Die Zwerge sind ausgestorben.«
Frau Uda begann: »Wisset, Kinder, ehe ein Zwerg stirbt, baut er sich eine gläserne Truhe, er bekränzt sich die Stirn mit grünem Laub und legt sich hinein. Die andern geben dem Sterbenden einen silbernen Hammer mit, und das gläserne Schifflein schwimmt mit ihm ins Himmelreich. Das ist eine blumige Insel, und dort wacht er wieder auf und zerschlägt das Gehäuse mit dem Hammer und steigt heraus zur ewigen Freude.«
»Eine gläserne Truhe!« stammelte die Kranke. »Mutter, wie schön!«
Wald reihte sich an Wald, gleichgültig ragten die Föhren. Beängstigende Träume suchten Imilda heim, Träume, wie von bösen Geistern gesandt. Das Fieber holte wilde Fratzen aus dem Walddunkel. Der kleine Leib wand sich in Krämpfen. Als die Mutter den Verband lüpfte, fand sie das Bein unförmlich verschwollen.
Meister Ulrich, das Unheil witternd, knirschte: »Dem Mann, dem kein Ackerlein zu eigen ist, schlägt der Blitz in die Tischlade!«
»Es wird ja nit gar so arg kommen«, hoffte das Weib und glaubte sich selber nicht.
Doch der Tod stieß aus dem blauen Himmel auf das Kind herunter wie der Habicht auf das Hennlein. Imilda lag plötzlich ohne Atemstoß, ohne Blutschlag: ihre liebliche Seele hatte sich entfernt.
Die Mutter hatte das Gesicht welk wie fahles Laub. Der Schmerz bannte ihr das Blut aus den Lippen. Mit dem schweren gesegneten Leib warf sie sich über die Verlorene.
»Was ist geschehen?« flüsterte Albrecht.
Der Vater brauste ihn an. »Was schaust du so blöd darein? Deiner Schwester – das Herzbändlein ist ihr gerissen!« Und dann kauerte der Mann wie ein tolles Tier auf der Erde, und das Faustmesser stieß er in den Grund und brüllte: »Gott, das soll dich einmal reuen!«
Er stierte gegen den Himmel und hörte sein empörtes Herz droben im Rabenschrei widerhallen.
Die Frau weinte so laut, dass das Föhricht davon erklang. In ihrer Verzagnis klagte sie: »Sterben hat es müssen, mein Kind, sterben, eh es noch lachen und weinen gelernt!«
Albrecht berührte sanft ihre im Schluchzen stoßenden Schultern. »Nit weinen, Mutter! Nit so sehr weinen!«
Der Mann schnellte empor. »Heul nit, Weib! Tot ist tot. Du wirst bald genug wieder ein Kind in diese verfluchte Welt stoßen, in diese Wolfshöhle!«
Noch einmal versuchte der Knabe zu trösten: »Mutter, im Himmel haben sie einen neuen Engel gebraucht. Imilda soll der Muttergottes den güldenen Schemel nachtragen.«
Da sah die Frau den Buben verwundert an und wurde still.
Der leidenschaftliche Mann aber trotzte: »Mit einem Fluch bin ich von Regensburg fort, mit einem Fluch fahr ich in Amberg ein!«
Er kehrte sich schroff ab und ging und ließ Mutter und Sohn bei der zarten Leiche allein zurück.
Die Sonne ging wunderbar über den Himmel, es war ein klarer Tag, und alle Fernen öffneten sich und drangen nahe heran. Wehmütig friedlich zirlten die Vögel. Die Hügel des Gewölkes wölbten sich wie ein sanftes, sehnsüchtiges Wanderland.
Albrecht holte Blumen, und die bleiche Frau flocht daraus ein buntes Krönlein und tat es um die stille Stirn der Verblichenen. »Meine kleine Blumenhirtin!« flüsterte sie.
Und wiederum fand Albrecht eine Feder, ein zartestes Farbenwunder, noch warm vom Leib des Vogels, der sie verloren. Er drückte sie in die Hand des Schwesterleins, dass sie drüben spielen könne und daran sich der Erde erinnere.
»Wohin ist der Vater?« fragte er einmal. »Kommt er nimmer wieder? Warum ist er fort?«
Die Mutter schüttelte trüb den Kopf.
Einmal raschelte es im dürren Gras.
»Die Schlange?« raunte Frau Uda. »Kommt sie nachschauen, ob mein Kind wirklich tot ist?«
Es dunkelte. Die Raben kehrten mit müden Flügeln heim, sie schienen von weither zu kommen. »Schabab, schabab!« krähten sie.
Müde mündete der Tag in die Nacht. Die Berge atmeten kühl. Die Sterne droben schienen einander zu fragen. Fern, fern schrellte ein Hund.
Ulrich Altdorfer kam mit Krampe und Schaufel.
Wortlos schaufelte er eine Grube.
Sie legten dem toten Kind eine Blume auf den Mund und senkten den Leib hinab und deckten ihn mit dichtem Tannenreis.
Der Mann schaufelte das Grab in Finsternis und Sternenlicht wieder zu. Er schleppte Steine herbei und legte sie auf das Hüglein. Und dann brach er noch einmal verzweifelt aus und tobte, Sonne und Mond sollten zusammenschießen, und verfluchte Himmel und Hölle, beschuldigte die Gestirne droben und wünschte schreiend den Weltuntergang herbei.
Frau Uda hemmte ihn nicht. Sie presste Albrecht an sich, und ihr Mund zuckte: »Gott, nicht wie wir wählen, nein, wie du es willst!«
»Weiter, weiter!« schrie der Mann.
Die drei trabten den schwarzen Weg.
Sie kamen an einem Hochgericht vorüber, einem wüsten Winkel voller Schelmenkraut und dürren Disteln. Ulrich Altdorfer hob die Laterne. Ein Gehenkter baumelte, grauenhaft gespiegelt in seinem Schatten.
Der Vater packte Albrecht grimmig bei der Schulter. »Da schau hin! Du bringst es auch einmal so weit, du Rabenbalg! Was bleibt uns armen Leuten anderes übrig?!«
Albrecht sah trostsuchend zum Himmel hinauf. Und Engel wandelten, die weißen Hände gefaltet, schwermütig über die Brücke der Sterne.
In Amberg ging es den Eltern kaum besser als in Regensburg, das Elend saß mit ihnen zu Tisch, seit sie durch das Nabburger Tor eingezogen waren. Die begüterte, angesehene Sippe verleugnete sie. »Mit reichen Leuten will ein jeder verwandt sein«, hieß es.
Sie wohnten in einem Gässlein dicht an der Stadtmauer, wo die Häuser wie bucklige Altmuhmen dicht beieinander kauerten. Ihr Hausrat war hässliches, verbrauchtes Gerümpel, das ihnen die Verwandten in verächtlicher Gnade überlassen hatten. Wenig Licht fiel in die enge Stube, und wenig gute Worte wurden darin gewechselt. Ein Kind nach dem andern rückte an. Drei davon blieben am Leben. Erhard, Magdalena, Aurelia.
In seiner Not musste Meister Ulrich mancher Arbeit sich unterziehen, die seines feinen Könnens unwürdig schien. Er erneute die Schilder vor den Werkstätten, Krämereien und Herbergen, er half bei einem Steinmetz aus, Kanonenkugeln zuzuhauen und zu runden, er musste einem Arzt das Harnglas auf den Grabstein meißeln. Er plagte sich ehrlich und wurde spärlich gelohnt. Seinem Weib warf er immer wieder den Hochmut ihrer Verwandten vor und bedauerte, dass er nicht zu seinen Vettern nach Landshut oder Abensberg übergesiedelt sei. Und wenn die Mutter vor der kargen Schüssel die Hände faltete und betete: »Das heilige Kreuz sei unser Tisch, die heiligen drei Nägel seien unser Fisch!« da weissagte er höhnisch, sie alle würden noch einmal bei den Barfüßern um einen Löffel Suppe betteln.
Albrecht freute es nicht in dem streiterfüllten Heim und auch bei den Schulmönchen nicht, wo er von den Lehrern oft geschlagen und als grober Baier verhöhnt wurde, weil er sich lieber des deutschen Wortes bediente als der Rede der Römer. Er streifte in einer unerklärlichen Unruhe durch die Gassen Ambergs und sah den Häusern in die grauen Steingesichter. Und da gab es Türme mit runden, roten, lustigen Spitzhüten und ernsten, wetterdunkeln, vierkantigen Ziegelhelmen, verwitterte Holzhäuser, wehrlich vornehme Gebäude mit Katzenstaffelgiebeln, Kapellenerker, aus Pestgelöbnis erwachsen, Pfalzgrafenschloss und Rathaus, die Schmiede an. der Vils, Zwinger und Ringmauer und Torburg. Ein Drachenspeier fuhr aus der Mauer, in seinem Rachen haftete, schon halb ausgespien, der jämmerlichste aller Propheten, Jonas.
Die langsame Vils durchschnitt die Stadt und führte ein dunkles Grün, das sie den Wäldern abgelauscht zu haben schien, daraus ihre Quellen sprangen. Von ihren Ufern stießen eisenbefrachtete Nachen ab, geschwätzige Wäscherinnen rangen auf schmalen Stegen die Wäsche aus, Mühlen murrten. Die Felle der Gerber schwammen, an feuchtschwarze Pfähle gebunden, und auf der mit Läden gesäumten Krambrücke feilschten Bauern und Bergleute, und der Martinstürmer meldete, dass vilsaufwärts ein Zug Salzkähne sich nähere.
Und Albrecht staunte, wie in der Georgenkirche die Rippen aus den steinernen Bäumen mit wunderbarer Freiheit ins Gewölb hinaufschossen, und große Bilder verzauberten und drängten ihn, hineinzutreten in ihre schimmernden Flächen und ihrer
Gestaltenwelt sich schweigend als Gleicher zu gesellen. Das Altarblatt erzählte plump die ungestüme Mär, wie Ritter Jörg mit dem Drachen raufte: der Wurm trug ein scheußliches giftblaues Euter und sprühte gelben Rauch gegen den Speer des Reiters.
Über der Pforte der Frauenkirche grüßte ein edler Engelsjüngling über die Breite des Tores hinüber ehrfürchtig die Jungfrau, und es war ein innigholdes, fast bräutliches Paar unter dem zierlichen Steinhimmel: der Bote, die vom steilen Niederschwung nun ruhenden Flügel hinter sich, ließ die der Irdischkeit ungewohnten Hände in sanfter, die Erschrockene beschwörender Gebärde aus dem Faltenmantel dringen. Die Menschen drunten wussten kaum von diesen in ihrer Höhe verborgenen Steinbildern, doch Albrecht war ihnen mit dem Gefühl schwärmerischen Entzückens nahe.
Einmal wagte er sich auf den Berg hinauf, der die Stadt überragte. Droben drängte er sich durch das Buschwerk eines Grabens, fand uraltes mürbes Gemäuer und kletterte auf den Wartturm. Er erschauderte, da er zum ersten Mal wie ein Falke die Erde von oben schaute.
Die alte Eisenstadt graute drunten mit ihren festen, finsteren Mauern, mit der Löffelbrunngasse, mit der Walfischgasse, der Schiffbruckgasse, der Fronfestgasse, und selbst das Fliegenbrücklein war zu sehen und der Zwinger, von einem Bach durchronnen, und dort das Häuslein, darin – ach! –Vater und Mutter miteinander zankten. Und der Knabe zählte die klobigen Türme, die den Ort umschützten, und die Tore, die Kirchen und Klöster und gewahrte weiter die Wiesen an der Vils, die glitzernd durch den Gau glitt und in der Ferne verlorenging. Menschen ackerten und wanderten, Kähne schwammen sanft dahin, Wagen reisten den Weg nach Sulzbach. Über den Erzöfen wölkte düsterer Rauch, ein schon ermüdetes Gewitter zog ab, Wolken mit dräuenden Rachen, in glühenden Farben baute sich ein Regenbogen auf, große Wälder und unbekannte Berge schlossen. das Bild ab, und dahinter lauerte ungeschaut, was die Menschen die Ferne nannten.
In späterer Zeit kam Albrecht oft in den Wald Wagrein, der hinter dem alten Wartturm sich in seinem Eichengrün verschloss, oder in den weithingreifenden Hirschwald, dahin er die Mutter begleitete, wenn sie gleich den armen Weibern der Schiffsleute abgefallenes Dürrholz klaubte, dass ihre Kinder nicht frören im künftigen Winter.
Dabei erzählte sie einmal, auf einem Stein rastend, dem Knaben: »Meine Vorväter sind in den Wäldern gesessen, darin der Regenfluss wurzelt. Da hat der starke Ahn der Ahnin ein ganz winziges Wölflein heimgebracht, dessen Eltern hat er mit der Axt erschlagen. Die Frau hat das hilflose Tier besehen und hernach gesagt: ›Es tut mir leid!‹ Ihr ist kürzlich erst das Saugkind gestorben, und so hat sie aus einer Liebe, die nit gewusst hat, wohin, das Wölflein an die Brust gelegt und getränkt.« Und als die sonderbare Frau solches erzählt hatte, kniete sie ins Moos und rief: »Wenn alle Blätter an den Bäumen da lauter Zungen wären, sie könnten doch nit sagen, wie leid mir heut noch ist um mein Kind Imilda!« Und dabei sang ein Distelvöglein gar trauerlieblich, die Sonne glitt still durch die Wipfel, eintönig grillte es im Gras, und die wilden Bäume standen voller Betrübnis.
Albrecht liebt den Wald, weil seine Mutter ihn liebte.
Sein Leib erdehnte sich wie ein still wachsender Halm. Ungern sprechend und grüblerisch veranlagt, gewann er unter den Buben Ambergs keinen Freund. Er blieb einsam, ob er sich auch legendenhungrig an die Welt herandrängte und vieles erfahren und alles schauen wollte.
Er schlich sich selbst zur Angststätte, besah dort ängstlich die Zeichen des Hochgerichtes, Rad und Galgen, daran der Rossdieb hing, auf dessen Fuß der Rabe schaukelte.
Und er sah die Bilder des Todesganges Christi an den Kirchwänden und sah, wie die Knechte den edelsten Mann ans Kreuz warfen.
Einst erging sich Albrecht vor dem Wingertshofer Tor entlang einem ummauerten Garten, er stieß dabei an ein festes schmiedeisernes Tor und gewahrte durch dessen Gitter die blumenbrennenden Beete und das vorher nie erlebte Wunder eines hochspringenden Wassers. Im Garten drin aber hüpfte ein Mägdlein ungefähr seines Alters daher, sie sah so hübsch aus, als wäre sie das Töchterlein der steinernen Maria an der Liebfrauenkirche, und sie schien die Sehnsucht in den Augen Albrechts wohl zu verstehen, denn sie löste seine hart klammernden Fäuste vom Gitter und zog den Widerstrebenden mit sich in den Lustgarten.
Sie führte ihn sogleich zum Springbrunn, der, eine schlanke Säule, aufstieg und in stäubendem Regenbogensturz zurück in die steinerne Schale kehrte.
Albrecht war lange schweigend in das Spiel des lebendigen Wassers versunken, dann flüsterte er: »Immer könnt ich schauen, und Zeit und Weil wär mir nit lang.«
Am Brunnen sitzend; hold betaut von dem fallenden Wasser und umschwebt von dem seligen Ruch der Beete, darin alle Farben der Welt Hochzeit hielten, tauschten die beiden Kinder die Namen aus, und Albrecht erfuhr, dass Eisenhild die Enkelin des reichen Silberschmiedes Valentin Hittenkofler war, und sie berichtete ihm von den silbernen Gebilden in der Werkstatt des Großvaters, und er hörte ihr aufmerksam zu.
Sie fragte ihn: »Habt ihr auch daheim auf dem Brett silberne Becher und Schüsseln?«
»Wir sind ganz arm«, erwiderte Albrecht. Und dann redete er von den Wäldern, von den lauernden und scheuen Tieren darin, von wunderlich gebogenen Bäumen, feuchtem Moos und triefendem Gestein, von seiner Mutter, die aus der schweren Wildnis im Osten stammte und alle Stimmen der Einsamkeit kannte und die geheimnisvollen Kräfte der wilden Kräuter.
»Ich hab keine Mutter nimmer«, sagte sie darauf. »Darum bin ich noch nie im Wald gewesen. Du musst mich mitnehmen.«
Sie geleitete ihn an der Hand zu den Blumen und wies ihm die lieblichen Geschöpfe und nannte ihm die Namen Eisenhut und Löwenmaul, Liebstöckel und Lavendel und Akelei, und der Falter Feuerling landete an den Rosen, und der Perlmutterling irrlichtelte durch das Dämmer der Bäume, darin sich das Obst schon leise formte, und der Bläuling spürte nach der feinen Kost der Kelche und rüsselte und schlemmte. Und in einer Ecke kauerte eine Wermutstaude, und irgendwo flötete eine Goldamsel.
»Wildblümlein kenn ich viel«, sagte Albrecht zu Eisenhild.
Aus dem grünverwachsenen Lusthaus trat ein alter Mann mit bartlosem, faltigem Gesicht und hangenden, müden Backen, er hatte das rechte Auge mit einem großen, schwarzen Pflaster gräulich verklebt und blitzte mit dem einen gesunden Auge die Kinder an und lachte: »Schau, schau! Eisenhild hat ein Brüderlein gewonnen.«
»Das wär mir lieb«, meinte sie.
Albrecht strich sich heftig die hellen Strähne aus der Stirn, nahm sich ein Herz und redete den Alten an: »Seid Ihr der Meister Silberschmied?«
»Aus welchem dummen Land bist du, dass du den Martin Mertz nit kennst?« schalt der Alte lustig. »Nein, Bub, Kelch und Becherlein, solch friedlich Zeug, hab ich nie gehämmert.« Und mit sanfter Stimme setzte er fort: »Hab all mein Lebtag nichts anderes getan als Kanonen gegossen und stolze Schlösser zerschossen. Gelt, heut sieht mir das keiner mehr an?!«
Er ließ sich wohlig ächzend auf eine Bank nieder und zog Albrecht zwischen seine Knie. »Hast du nichts von der Basteinerin gehört? Damit hab ich die Mauern von Boxberg und von Schupf niedergelegt. Hast du nie vernommen von meinen Geschützen, dem Baldauf, dem Neidhart? Von der Baslerin? Von dem Löwen? Von dem Narren? Von meinen eisernen Schlangen? Die Welt wackelt in ihren Grundfesten, wenn sie knallen. Pech und Schwefel und Saliter weiß ich künstlich zu mischen, dass die Teiche und Flüsse davon erbrennen. He, Büblein, möchtest du auch die teuere Kunst lernen, wie man aus Büchsen schießt?«
Albrecht sah den prahlenden Mann an wie einen gefährlichen Zauberer. »Nein«, sagte er zaghaft.
»Ich würde dich auch nit alles lehren«, kicherte der Greis kindisch. »Der Meister soll verschwiegen sein, und rechte Kunst soll geheim bleiben. Und was willst du junger Springinsfeld werden?«
»Ein Buchmaler wie der Vater«, sagte Albrecht.
»Recht so!« krähte der Büchsenmeister. »Der Maler übt das glücklichste Handwerk. Er kann nichts verderben: missrät ihm der Engel, so macht er einen Teufel draus.«
»Komm, Brechtel, wir lassen uns vom Meister Mertz nit narren!« sagte Eisenhild. »Lass uns Himmelringschüsseln aus der Erde graben! Gestern ist der Regenbogen in unserm Garten gestanden.«
Singend ging sie mit ihm zu der Wasserkunst zurück.
Erst als sich die Glimmervöglein aus den Stauden erhoben, begab sich Albrecht heim. Es war ein schöner Tag voll unschuldiger Lust gewesen, und die Welt der Armut war vergessen.
Wie mit einem bösen Gewissen, dass es ihm heute zu gut ergangen, trat er in die niedre Balkenstube, darüber die Decke wie ein dunkles, tiefgehendes Gewitter hing. Erhard und Magdalena waren schon in der Kammer zu Bett gebracht. Die Eltern saßen einander feindselig gegenüber, sie hatten wohl wieder gestritten. Der Vater malte bei Kerzenlicht in einem Messbuch, die Mutter an der anderen Seite des rilligen Tisches gantete das jüngste Kind und schoppte ihm den Brei in das noch ungeschickte Mäulchen. Umtanzt von einem plumpen, verstaubten, aschfarbenen Falter brannte die dürftige Lampe in dieser schattenreichen Ode.
»Wo bist du gewesen, Brecht?« fragte der Maler.
»Beim Meister Hittenkofler im Garten.«
»So? Bei dem Stolzbart? Jüngst hat er von mir eine Zeichnung für ein Silberkästlein begehrt, das dem Pfalzgrafen geschenkt werden soll. Er hat meine Zeichnung kurz angeschaut und mit wenig Achtung wieder weggelegt. Dann hat er mir Geld wie einem Bettelmann zugesteckt. In meiner Not hab ich es annehmen müssen. Wie anders soll ich eure hungrigen Mäuler stopfen?!«
Frau Uda fühlte den Vorwurf. »Wir können nichts dafür, dass wir auf Erden sind«, sagte sie herb.
»Das Legendenbuch da soll ich den Franziskanern ausmalen. Sündig geringen Lidlohn reichen sie mir dafür«, polterte er. »Bald gibt es für unsereinen nichts mehr zu schaffen. Die Buchmalerei nährt ihren Mann nimmer, der Buchdruck ist unser Verderben. Ach, diese Zeit! Das eigene Herz könnt man aus dem Leib speien und darauf trampeln.«
»Wärst du nur emsiger!« tadelte sie. »Den ganzen Abend hockst du vor dem Blatt und hebst nit an. An dir muss man zerren wie der Teufel an dem reichen Mann. Befleiß dich besser!«
Er schielte böse zu ihr hinüber und neigte sich über das Buch.
Albrecht war schüchtern hinter den Vater getreten. Eine kleine. Zeichnung war begonnen: der Brautlauf zu Kanaan.
Ulrich Altdorfer litt es ungern, dass man ihm beim Schaffen auf die Finger sah. »Geh weg!« sagte er unfreundlich. »Da, nimm den Pinsel und wasch ihn säuberlich! Zu anderem Werk bist du nit nütz.«
Albrecht gehorchte. Er war froh, wenn der Vater ihm zuweilen kleine Handreichungen befahl, Leim kochen oder Farben reiben.
Meister Ulrich schob das Buch alsbald wieder weit von sich, stemmte das Kinn auf die Tischplatte und lauerte den Sohn an. »Du willst, obschon ich allweil warne, dennoch Maler werden?« rügte er. Er wollte seine Kinder mit scheltenden Predigten zu tauglichen Menschen erziehen, gab aber in seiner Ungeduld und seinen einander widersprechenden Launen kein gutes Beispiel zu einer steten Lebensführung. »Du sollst ein anderes Handwerk üben!« fuhr er fort und sah schmerzlich darein wie Sankt Sebastian unter den Pfeilen. »Es ist genug, dass ich enttäuscht bin.«
Da erhob sich die Frau mit empörter Bewegung. »Brecht, geh schlafen!« sagte sie und zog ihn mit sich in die Kammer.
Ulrich Altdorfer war in den letzten Wochen ganz unleidlich geworden. Er trank und schlug sich mit Leuten dunkler Herkunft in den Schenken herum, er verkam und tat nichts, sich emporzurichten. Er schien sich selber aufzugeben.
Eisenhild hatte frühzeitig ihre Eltern verloren, die Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, der Vater kurz darnach bei einem Kaufmannszug umgekommen, da er seine Ware ritterlichen Räubern verwehrte. Sie schaltete nun in dem großväterlichen Haus als unbeschränkte Herrin über das Herz des Silberschmiedes.
Als die Altdorferin wieder einmal mit Albrecht in den Hirschwald gehen wollte und eben das kühle Nabburger Tor durchschritt, fühlte sie plötzlich ein weiches Händlein in ihre raue, abgearbeitete Hand schlüpfen. »Nehmt mich mit! Ich bin Eisenhild.«
Frau Uda betrachtete das zierliche Kind und musste Imildens gedenken, die sie in der Wildnis verloren.
»Werden dich die Deinen nit vermissen, Eisenhild?«
»Der Großvater schmiedet bei Blasbalg und Esse das Silber«, lächelte das Kind. »Da hat er nit Zeit für mich.«
»Du musst aber im Wald immer um mich bleiben, Kind! Die Frau Percht geht dort um und sticht dich mit der eisernen Nase.«
Eisenhild kam nicht aus dem Wunder heraus, als sie den Wald durchwanderten und die Stämme immer höher und knorriger wurden. Mit entzückten Schreien beugte sie sich zu den köstlichen Beeren nieder und naschte und füllte damit ein gläsernes Krüglein, das sie von Hause mitgenommen. Und sie begegnete seltenen Tieren, dem distelspitzen Igel, dem Hasen Ragenohr, dem Eichhorn, sie hörte ein Reh schmälen. Ein Hirsch schränkte mit seiner Herde über eine Lichtung. Und die Kinder lugten in ein halbverfallenes Rabenkirchlein, drin finsterte in einer Mauerblende ein bärtiger, zorniger Wetterheiliger, das faltige Gewand blutrot bemalt.
Inzwischen suchte die waldkundige Frau seltene Heilkräuter, die in feuchten Schattengründen grünten, und die sie hernach in einem Wurzlerladen feilbieten wollte. Sie pflegte beim Sammeln zu achten, ob der halbe oder der volle oder der neue Mond scheine, ob der Abendstern grün oder bläulich schillere, ob die Sonne Wasser ziehe, ob sie senge oder kühler leuchte.
Auch wusste sie schöne Kränzlein zu flechten und in den anmutigsten Farben zu ordnen und erwarb sich und den Ihren mit dieser erfreulichen Kunst manchen Pfennig.
Und die beiden Kinder halfen spielerisch der Frau und lauschten dann wieder den lockenden Vögeln, und einmal rief die Altdorferin ihnen ängstlich zu: »Duckt euch! Duckt euch!« und sie verkrochen sich schnell unter einem Felberstrauch und verdeckten sich die Augen, und eine wonneselige Musik wehte leise in den Lüften heran, umspülte die Wipfel und verklang.
»Der ewige Jäger ist vorbeigefahren«, sagte die Mutter feierlich.
Als Frau Uda später in sich vertieft dürre, krachende Äste von den Bäumen brach und sie im Korb aufschichtete, sagte Albrecht: »Eisenhild, wir suchen jetzt die Drei Sesseln.« Die Mutter hatte ihm einst von den sagenhaften Sesseln erzählt, und er dachte sich diese als Wolkenstühle, mit rätselhafter Steinmetzkunst geziert, und ganz nahe dabei einen See, darin die Sonnenfrau sich die gelben Zöpfe bade.
Und so drangen die beiden ostwärts in eine andere, weit ödere Wildnis ein, und die Amberger Glocken schollen sehr fern, der Steig wurde immer dünner, verdornter, undeutlicher, die dunkelblauen Beeren wurden immer größer und süßer. Die Eichen standen ungeheuerlich verästet und zerrissen, und als sie in einen der zerklüfteten Stämme lugten, schlief darin eine schlohweiße Eule.
Lachend spiegelten sie sich Haupt an Haupt in einem schwarzklaren Waldbrunn. Sie fingen einen Käfer, der war so winzig und so schillernd wie ein Stern am Himmel, und sie legten ihn in einer fremden Blüte zu Bett und freuten sich, dass er ein so seliges Herberglein gefunden habe. Der Kuckuck tat seine gespenstischen Schreie und verschluckte sich und verstummte. Und auf einmal erhob der Wald seine dunkle, ernste Stimme, und die Kinder erschraken davor.
»Ist es noch weit zu den Sesseln?« flüsterte Eisenhild.
»Ich weiß nit. Aber auf dem einen sitzt die Sonne und auf dem andern der Mond, sie streiten, wer schöner sei. Und wir sitzen auf dem dritten Stein und schauen uns die Lichte ganz aus der Nähe an. Die Sonne trägt lange güldene Stacheln, der Mond atmet kühl. Und jetzt müssen wir noch durch eine Schlucht, drin wächst das Silber wie Moos.« Also fabelte der Knabe.
Der Enkelin des Edelschmieds glänzten die Augen, sie gab sich zufrieden. »Mein Krügel schöpf ich voller Silber. Der Ähnel gießt uns zwei Ringe daraus.«
Eine gewaltige Wurzel kroch über den Steig. »Das ist eine Irrwurz«, sagte Albrecht, und um der Gespielin zu zeigen, dass er sich vor den Mächten der Ode nicht fürchte, trat er herausfordernd darauf.
Eine fleckige Otter schwamm durch einen Bach. Albrecht ließ sie landen und steinigte sie dann vor den erschrockenen Augen des Mädchens zu Tode. »Ich erschlage jede Schlange«, sagte er. »Die Schlange ist vom Teufel erdacht. Mit ihrem schwarzen Giftblut hat sie meine Schwester umgebracht.«
Fichten senkten ihr steifes Geäst bis zum Boden herab und bildeten nächtliche Zelte. Modergraue, moosigfeuchte Strünke geisterten im Halbdunkel, die Windsbraut raunte, der Windsbräutigam wispelte. Warnend, drohend regten sich zuweilen die schwarzen Bäume.
»Gehen wir heim!« bat Eisenhild.
»Wir wollen zur Mutter zurück«, nickte der Knabe. »Sie hat gewiss den Korb schon voll.«
Die Gefahren des großen Waldes ahnend, kehrten sie um. Das Mädchen legte einmal den Finger vor die Lippen und flüsterte: »Horch! Der Donnermann.«
»Es ist nur ein Honigvöglein, das da summt«, tröstete er.
Der Steig verzweigte sich, und sie wussten nimmer, wohin sie gehen sollten. Unschlüssig hielten sie inne, von Raben belauscht, von der unbändigen Wildnis belauert. Felsen ragten urgrau und sagten immer nur: »Wir sind schon alt.« Eine Kröte kauerte vor dem feuchten Farn an der Wegscheide und glühte die Kinder mit perlengleichen, verzauberten Augen an.
Albrecht kletterte in einen der struppig wirren Wipfel und hielt Ausschau. »Ich sehe nichts als Wald«, rief er und stieg wieder herunter.
Sie irrten lange dahin.
Das Mädchen wurde gewahr, dass sie irgendwo ihr Krüglein hatte stehen lassen. Es war gehäuft voll der blauen Beeren gewesen.
Müde lagerten sie im Moos. Eisenhild legte ihr Köpflein auf die schmalen Knie des Knaben, die Augen sanken ihr, sie schlief. Er neigte sich über die sorglose Kinderstirn, er betrachtete die fein atmenden Lippen, das lieblich gerundete Kinn, die leicht geschwungenen Brauen, die fromm geschlossenen Wimpern, die zarten Nasenflügel, die leuchtenden Wangen. So also schaut das Gesicht eines Menschen aus.
Sein waches Herz begann freudig zu träumen.
Aus fernem Garten wallfahrteten die Blumen zu der schlafenden Freundin: zuerst die Glöcklein auf trippelnden Füßen und mit zierlichem Geläut; der Wildmohn mit seiner roten Flamme war der Fackelknecht und leuchtete den andern durch das Dämmer; der ritterliche Eisenhut, der verwegene Rittersporn bildeten die schützende Vorhut; leuchtend und duftend näherten sich nun all die tausend andern blühenden Schwestern, die edle Purpurdistel, die Gräfin Rose, die Äbtissin Lilie, und der Himmelbrand trug die gelblodernde Fahne. Allerlei glitzernde Flügelwesen umfabelten den Zug, blaue Vögel, flimmernde Falter, schleiernde Wasserjungfern, Engel. Und die Engel warfen silberne Schatten und sangen sauseninne. Und das Gesicht der Schläferin wurde immer holder, sie lächelte selber wie eine Blume und träumte wohl denselben Traum.
Sie erwachte aber bald wieder und schaute fröstelnd um sich. Da waren gebrochene, verzerrte, grässlich gegliederte Bäume, die im Dämmer bösen Tieren glichen und Pranken und Krallen von sich streckten und kahle, wüste Schädel hatten mit klaffenden Rachen. Oh, wenn sie sich jäh belebten, die jetzt noch gebannt verharrten! Wenn diese toten, wetterbleichen, von Blitzen umgebrachten Bäume jetzt umstürzten!
Sie rafften sich auf und flüchteten, von gleicher Angst gescheucht.
Ein Bach hemmte sie, er hatte sich in die Felsen eingefressen. Die stummen Schmerlen huschten gespenstisch darin, ein schillernder, purpurgefleckter großer Fisch schwebte regungslos unter einer vortastenden Wurzel.
Der Gurgelbach zischte kalt um die watenden Füße. »Wir haben den Steig verloren«, gestand Albrecht.
Eisenhild schmiegte sich an ihn und lächelte weinerlich: »Was geschieht jetzt mit uns?«
»Furcht dich nit!« sagte er, und mit all seiner Bubenkraft brach er einen Knüppel von einer Eiche und drohte damit gegen die unbestimmte Gefahr.
In den Felsenritzen glomm es in smaragdenem Goldglanz. Ein schwerer, mächtiger Vogel stürzte dunkel aus dem Laub. Sie liefen bergan.
»Wir kommen in die Wolken hinein und finden nimmer heim«, warnte Eisenhild.
Da rief er hallend: »Mutter! Mutter!«
Der Kobold, der in der Steinwand haust und dessen Leib nur letztes nachäffendes Wort ist, erwiderte. Dann war eine furchtbare, unselige Leere, als sei jeder Laut in den Fels hinein verwunschen worden.
Sie stießen auf eine Lichtung. Es war Abend. Der Mond schien über das traurige Gras, die Sterne hingen kleinlaut über dem geballten Schwarz der Forste. Auf Erden aber tröstete kein Lichtlein die Verirrten.
»Schau, dort!« rief sie. »Ein Stern ist heruntergefallen.« »Fallen die Sterne auch? Es ist nit möglich.«
»Ich habe es deutlich gesehen«, beteuerte sie.
»Dann muss es so sein«, meinte er und wurde sehr traurig. Das Dunkel gewann ein schlimmes Gesicht und schreckte. Wilder verschwor sich der Wind.
»Mutter!« klagte Albrecht über die Heide.
Er wähnte, ein fernes Licht zu sehen. War es das nächtliche Geloder eines Rennofens, daraus das lautere Eisen floss? War es Amberg, die Stadt? Wie weit und ungewiss war die Erde! Wie fremd und hoch hingen die Sterne! Die namenlosen Sterne!
Von Müdheit übermannt, legten sich die Kinder unter einen breiten Strauch. Sie hielten einander bei den Händen, ihre Furcht war groß. Aber bald nahm der Schlaf sie auf in seine gute Vergessenheit.
Albrecht träumte: Engel tanzten um den Wipfel einer Tanne, sie schwebten im Kringel; es war eine Kette, ein weiter Kranz von lachenden, nackten Kindern mit schimmernden Flügeln.
Den Traum zerreißend und den Engeltanz verjagend, rauschte es mächtig heran. Stapfte ein Baum daher? Es war ein riesiger Mann, das rußige Gesicht verbartet, eine grobe Stange unter der Achsel, in der Hand ein Krüglein voller Beeren.
»Da seid ihr ja, ihr Zwerge!« dröhnte er. »Kommt! Das Krügel ist auf einem Strunk gestanden, im Sand sind euere Füße abgedrückt gewesen. Kommt!«
Der Riese trug treue Augen. Er hob Albrecht auf seinen Nacken. »Halt dich an meinem Haar, Reiterlein!« Er nahm das Mägdlein, so lind es die rauen Hände vermochten, an seine Brust. »Leicht bist du wie ein Zimmetstern!«
Durch Nacht und Mond trottete er, an traumredenden Bäumen vorüber. Auf seine Stange gestützt, watete er, die mächtigen nackten Knie hebend, durch die mondsilberne Vils. Das Mädchen schlief an seiner Brust wie eine zarte Katze, das Reiterlein im Nacken staunte ins Gestirn.
Albrecht weilte gern im Hause Valentin Hittenkoflers, über dessen Tor Sankt Leu, der Schirmer aller Edelschmiede, mit der feinfühligen Goldwaage abgeschildert war. Zwar meinte Frau Uda, der Silberschmied pflege die neue welsche Art, er bilde und ehre die alten, besiegten Heidengötter, und das sei wohl sündig. Doch Albrecht war froh, wenn er in der Werkstatt des freundlichen, vollrüstigen Greises dessen blendende Schimmerwelt betrachten durfte, die auf Fichtenbrettern aufgereihten silbernen und vergoldeten und kristallenen Becher, Deckelpokale, Kannen, Ringe, Gemmen aus Magnetstein, Perlenketten und Korallen, Zierat für das Ohr, und vor allem kirchliches Gerät: Kreuze und Leuchter, Weihrauchfässer, Gießgefäße, Erzbilder der Sendboden des Heilands, Gebeinskasten für die Knöchlein der Martersleute, Brustbilder der Engel. Blumen und Blättergerank freuten ihn, die unwirkliche, unirdische Zierkunst, die besonders an weltlichem Gerät angebracht wurde, und er fragte oft, was die Geschehnisse bedeuteten, die da vom Meister in das köstliche Erz getrieben wurden.
Als Albrecht von seiner Freundin zum ersten Mal in die Silberschmiede geführt worden war, hatte Meister Hittenkofler lachend gedroht: »Dass du sie mir nimmer in den Wald lockst! Ganz rußig hat der Köhler Klaus sie mir heimgebracht.« Dem Alten gefiel der versonnene, glühende und wissensgierige Knabe.
Entzückt betrachtete Albrecht die edeln Gläser, aus Strahlenstein geformt, und er achtete, wie die Kristalle das einströmende Licht der Sonne tranken und es in einem feuerigen Punkt oder in einem geheimnisvollen Blutfleck festbannten oder es banden zu Kronen und Kränzen und es leidenschaftlich wieder zurückstrahlten.
»Wie der Kristall lebt! Er atmet das Lid t ein und aus«, wunderte sich Albrecht.
Der Meister nickte wohlgefällig. »Alles ist Leben und Seele. Ich wage das ketzerische Wort. Merk dir es und sprich es nit laut aus! Die Kristalle werden geboren, wachsen, starren und sterben.«
Er forschte den Knaben scharf an. »Dreizehn Jahre zählst du nun, Latinulus. Du siehst deinem Vater wenig ähnlich. Ja, ich kenn Ulrich Altdorfer von Regensburg her. Seinem alten Meister, dem Furthmayr, geht es jetzt herzlich schlecht.«
»Ich will aber doch ein Buchmaler werden«, sagte Albrecht trotzig.
»Du wirst noch allerlei versuchen müssen. Füchslein, du wirst noch oft rauen. Da, nimm die Kohle und reiß mir auf dem Papier da einen hübschen Becher auf!«
Zaghaft griff Albrecht nach dem Stift. Seit ihm der Vater die Kohle aus der Hand geschlagen, hatte er nur selten und ganz heimlich gezeichnet. Jetzt schloss er eine winzige Weile lang die Augen, dann zeichnete er mit gepresstem Mund und in sich verlorenem Blick.
Als der Meister hernach das kleine Werk betrachtete, wiegte er den weißen Kopf. »Es ist ganz hübsch. Nur ein wenig altväterisch. Du hast dir, was du an Gepräng in meinem Laden erschaut hast, schnell und klüglich zum Vorbild gewählt und hast dazu etwas Fremdes, Neues gefügt, wohl den Hauch deines eigenen Wesens. Es ist für ein junges Blut genug. Was ein Dorn wird, spitzt sich zeitig.«
Nun ließ er Albrecht noch den Urvater Noah zeichnen, wie er eine Traube pflückt. Das sei ein sinnvoller Zierat für einen Weinbecher.
Wieder zeichnete der junge Altdorfer.
An diesem Entwurf tadelte der Silberschmied das Missverhältnis der Glieder des Winzers und die völlig verzeichnete Gebärde. »Eine Menschengestalt recht zu formieren, dazu fehlt es dir an Geschick, Brecht. Der Weinstock ist gelungen, noch mehr die baierische Wolke da. Am besten der Felsen Ararat. Den hast du wohl hinter dem Hirschenwald gesehen?«
Albrecht stand mit glühenden Ohren. »Bei mir geht alles recht langsam vonstatten.«
»Sonderlich muss der Maler den Menschenleib darstellen können! Der Mensch ist am wichtigsten in der Welt und in der Kunst.«
»So will ich nur malen, was ich kann, Berge und Bäume, Wasser und Wolken, Sonne und Mond.«
Darauf sagte der Meister betroffen: »Schlag dir das aus dem Hirn voreiliges Kind! Ein Bild ohne Menschen ist nit berechtigt. Aber vielleicht taugst du zum Steinmetzen? Dein Fels Ararat erscheint ganz geschickt behauen. Geh in die Bauhütte nach Regensburg und lern dort von dem Dommeister Roritzer! Ich will dir bei ihm der Fürsprech sein.«
Die Stirn Albrechts flammte. Wahrhaftig! Bauen! Türme und Tore bauen, Städte befestigen, Burgen und Kirchen türmen ins Gewölk, himmelhoch und erdenfest! Nicht wesenlose Schatten in die Bücher klittern, nein, greifbar etwas hinstellen an die offene Gasse, wie Gott Berg und Hügel hingesetzt hat! Behauene Steine zu ordnen, welch ein mächtig Handwerk!
Albrecht verschluckte sich vor Aufregung. »Ja, Meister Hittenkofler, ich möcht wohl ein Steinmetz sein!«
Er besuchte fortan oft den Alten und sah ihm scharf auf die kunstreichen Finger, wenn sie gossen, trieben, stanzten, finit dem Grabstichel in das Kupfer gruben oder auf Silberplatten zeichneten und sie mit durchsichtigem Schmelz bedeckten, oder wenn sie kostbare Steine fassten, ein ehrfürchtiges Amt. Und der Meister zeigte dem drängenden Knaben Holzschnitte und Kupfer, die er gesammelt in einer Lade aufbewahrte, und darunter auch einige des wunderkunstreichen Nürnbergers Albrecht Dürer. Auch unterwies er ihn, wie man mit Silberstift und Rötel edle Vorbilder abzeichnet.
Bei der Betrachtung eines Blattes Dürers seufzte einmal Albrecht aus tiefster Seele heraus? »Könnt ich dem Nürnberger nur sein Handwerk ablauschen! Er hat die beste Kunst.«
Darauf erwiderte Valentin Hittenkofler: »Würmlein, du sollst dich durch dein eigenes Holz bohren! Was du schaffst und zirkelst, darf nimmer verwechselt werden mit den Gebilden eines andern, und sei der andere noch so meisterlich hoch. Jeder muss die eigene Weise pfeifen!«
Am selben Tag noch zeichnete der junge Altdorfer die Gottesmutter, eine bäuerlich kräftige Frau, und hinter ihr ein rosenbekränztes Mägdlein, das ihr eilenden Schrittes einen Schemel nachtrug. Er zeichnete dies mit Tusche auf ein Pergamentblatt, das im Betbuch der Mutter leergeblieben war, nachdem er den Grund mit Pinsel und Wasserfarbe rötlich angelegt hatte, und erhöhte die Zeichnung mit geschlämmter Kreide.
»Jetzt wagst du dich doch wieder an die Gestalt des Menschen«, lächelte Meister Hittenkofler. »Ein wenig grob gemacht! Deine Hand fürchtet sich noch. Doch kein Meister fällt aus den Wolken. Kunst ist Kampf und Mühsal. Üb dich!«
Und Albrecht ging zu seinem Vater. »Vater, ich will nach Nürnberg. In dem Dürer seiner Werkstatt will ich lernen, wie man Kupferstiche und Holzschnitte bereitet. Oder gib mich zu Wolf Roritzer!«
Ulrich Altdorfer fühlte aus der Rede des Sohnes den fertigen Entschluss, das war er von ihm bisher nicht gewohnt. Er glotzte ihn an. »Zum Dürer?« murmelte er überrumpelt. »Zum Dürer?« Dann steifte sich seine Gestalt. »Wer ist der Dürer? Ich kann mehr als dieser junge Laffe!«
»Aber du lehrst mich nichts«, sagte Albrecht.
»Der Dürer wird dich davonjagen, wenn du bei ihm eintreten willst. Wie kannst du dich bei ihm ausweisen?«
Albrecht holte das Gebetbuch, das er heimlich bemalt hatte, aus der Truhe, schlug es auf und bot es zuerst der Mutter.
Sie trocknete sich die rauen Hände in der Schürze, sie sott eben am Herd den Hirsebrei. Als sie das Mägdlein mit dem Schemel sah und Sinn und Trost dieser Zeichnung erkannte, weinte sie auf. Früh war diese Frau gealtert, manches Kind war ihr in der Wiege gestorben, aber um keines trauerte sie so heftig wie um das Dirnlein, dem die Otter den teuflischen Zahn ins Blut gegraben hatte.
»Willst du dir die Augen totweinen, Mutter?« flüsterte der Sohn vorwurfsvoll. »Darum hab ich das Bild nit gezeichnet.«
Der Vater riss das Buch an sich und warf einen flüchtigen Blick darein. »Du Donnersnarr!« brauste er. »Jetzt hast du mit deinem Gekritzel das ganze Buch verdorben.«
»Das Bild ist gut«, suchte ihn die Frau zu beschwichtigen. »Sieh unser armes Kind Imilda! Als ob es lebte!«
»Ist aus mir nichts worden, soll aus ihm auch nichts werden!« brach der Vater los. »Er kann nichts. Er soll Nachtmeister werden und die heimlichen Gemächer fegen!«
Albrecht stand niedergeschmettert vor dem feindlichen Ungestüm des Mannes. Doch die Mutter kam ihm als Anwalt zu Hilfe. »Ulrich, Gott wird meine Zähren einmal auf einer sehr feinen Waage wägen. Er wird dir, du Wolfsmann, deine zuchtlose Rede vergelten, die deinem Kind und mir das Herz zerschneidet. Ach, meine Imilda!« schluchzte sie. »Das Gras des Waldes wächst über ihr. Alles Glück, das ihr zugemessen gewesen, wenn sie nit so bald vergangen wär, all ihr Glück soll Gott doppelt und dreifach auf dich wenden, Albrecht!«
Der Vater aber ließ sich nicht stillen. »Spring nur in die Welt, Brecht!« grollte er. »Mit demselben Trotz hab ich angefangen. Und was ist aus mir worden? Du wirst auch einmal vor dem Sautrog knien und die Hände ringen wie der verlorene Sohn. Aber es wird zu spät sein, dein Vater hört dich nimmer, er liegt längst verscharrt.«
Die Frau fuhr hoch. »Was hat er dir getan, dass du ihn mit so stechenden Reden verwirrst und betrübst? Wie kannst du ihm allen Mut nehmen und alle Hoffnungen absprechen und ihm das Leben so finster zeigen? Ich glaub an ihn. Seine Augen werden bald allen Wesen auf den Grund schauen. Seine Hände sind geschickt. Sieh seine feinen, langen Finger an!«
Ulrich Altdorfers Miene verschloss sich hochmütig. »Niemals wird er das leisten, was ich kann. Er kann ja kaum noch sehen, der blinde Six!«
Da höhnte das Weib den prahlenden Mann: »O du unmächtige Pracht! Du ganz Besonderer! Wenn du einmal stirbst, wird ein Zeichen am Himmel brennen.«
Sie sah den stillen, in sich selbst zurückglühenden Blick des Sohnes, und er schien ihr auf einmal tausendmal reifer als der scheltende Mann da, der sich bald in kindischer Hoffart überschlug und Gott und das Schicksal mit hochtrabender Rede herausforderte und bald wieder kopfhängerisch und bis zum Tod zerknirscht an allem verzweifelte und alles unterließ, was sein Elend hätte wenden können. Wie er sich jetzt in geheimem Neid, in hemmungslosem Misstrauen, in grundlosen Wutausbrüchen gegen sein eigenes Blut kehrte! Wie hasste sie ihn darum mit allem Hass ihres verbitterten, enttäuschten Herzens! Wie graute ihr vor dem Gatten! Am liebsten wäre sie in die Vils gesprungen, wenn nicht die Kinder gewesen wären.
»Ich bin nit sein Feind«, murrte Ulrich Altdorfer. »Aber ich meine es gut. Die ganze Welt feindet den Künstler an. Das tut der Neid.«
»Er wird den Neid ertragen lernen«, sagte sie.
»Und der Maler muss in der Stube hocken und versäumt das Glück, das draußen auf Straßen und Gassen wartet«, fuhr der Vater fort. »Ich Unseliger hab es erlebt. Meine Buben sollen keine brotlose Kunst treiben, sie sollen einmal die Mutter ernähren, wenn ich zum Teufel gefahren bin!« In auffahrendem Grimm gegen den Sohn, gegen sich selber, gegen die ganze spröde, sich versagende Welt riss er das Bild aus dem Betbuch, zerknüllte und zerballte es, schleuderte es zu Boden und trat heftig darauf, als zertrete und verstoße er damit sein ganzes Leben.
In grenzenlosem Schmerz schrie das Weib: »Hör auf, du Unhold!« Da schlug er sie mit der Faust auf den Mund.
Die Kinder Ehrhard und Magdalena stürzten, von dem Geschrei wild angelockt, in die Stube und sahen die Mutter bluten und taumeln, und sie weinten.
»Stier nur den Vater an, Brecht, als wolltest du ihn fressen!« brüllte Ulrich Altdorfer. »Du jäher Kerl, du wirst noch in einer Messerstecherei enden!«
Mit dieser furchtbaren, einer Verfluchung nahen Weissage verließ er das Haus.
Albrecht wischte gelind der Mutter das quillende Blut von Lippe und Kinn. »Lass gut sein!« tröstete er. »Ich will dennoch meinen Willen haben. Der Vater wird es einsehen. Ich muss bilden. In mir ist es.«
Spät nachts kam Ulrich Altdorfer betrunken heim. Er trat lärmend an das Bett, darin Albrecht neben seinem Bruder schlief, und küsste ihn. Albrecht erwachte entsetzt, ihn ekelte vor dem feuchten Bart, vor dem weinriechenden Hauch. »O nichts ist abscheulicher als der Atem des Menschen!« dachte er.
»Ich hab dich lieb, Brecht!« gröhlte der Trunkene. »Ich will dein Glück. Du sollst Landsknecht werden, du sollst Kanonen gießen. Du . sollst römischer König werden, du Höllenflämmlein! Nur nit Maler!«
Bettelnd berührte Frau Uda seine Schulter. »Sei still! Die Kinder erwachen. Die Nachbarn hören dich. Es ist Nacht.«
Er begann stürmisch über den Rat der Stadt zu schelten, der ihn, den berühmten Buchmaler, ohne Auftrag in seiner Not verkommen ließ; er schmähte die reichen Leute, die Pfaffen und die Klöster und drohte, als die Frau ihn beruhigen wollte, er werde das Fenster aufreißen und allen Schimpf in die Gasse hinausschreien.
»Du bringst es noch so weit, dass sie uns aus Amberg vertreiben!« jammerte sie.
Darauf sagte er, mit großartiger Gebärde die endlose Welt umschreibend: »Der Mensch ist an keiner Stätte bleibhaft.«
Sie kehrte sich beschwörend zu den aufgestörten, schlaftrunkenen Kindern. »O Kinder, wenn ihr einmal eine gute Heimstatt findet, so bleibt und haltet sie fest und ehret sie!«
Meister Ulrich setzte sich zu der trüben, qualmenden Lampe, vor sich eine steile Spottinfel, die für den Scheitel eines Hexers bestimmt war, der in den nächsten Tagen den Scheiterhaufen besteigen sollte. Er tupfte mit unsicherer Hand grelle Farben darauf, und die Entehrung in dieser düsteren Arbeit fühlend, murmelte er: »Ich tu es nur um des täglichen Brotes willen. «
Aber das schändende Werk ging heute durchaus nicht vonstatten. Da rief er herrisch und höhnisch: »Brecht, hilf mir den Satan malen! Du verstehst ja alles besser als ich.«
Gehorsam erhob sich der Sohn vom Lager, er rieb sich den Schlaf aus den Augen, nahm die papierene Mütze und malte schweigend den Teufel darauf. Er malte ihn hager mit Gehörn und Stirn eines Bockes, mit Judennase und zwiefacher Schlangenzunge und lechzend, rau wie einen Wolf, mit Geißfuß und Klauen, verrenkt in hämischem Tanz. Und dabei stürzten dem gequälten Knaben die Tränen auf das Bild, und die Farben zerrannen daran.
Der Vater sah ihm mit dem glotzenden Blick eines Rauschboldes zu. »Flenn nit, Brecht! Unsere Armut ist schuld, dass wir solch ehrloses Werk tun müssen.«
»Wer lässt uns arm sein?!« kreischte die Frau auf, sie konnte sich nimmer bändigen. »Du! Nur du! Ich knausere mich ab, und du vergeudest und versäufst mit lotterbübischen Leuten unser bisslein Geld. Dir sollt man den Schandhut in die Stirn drücken und dich und deine Zusel dreimal um den Galgen stäupen!«
»Was schert dich die Frau Zusel?« schnob er.
»Du bist wieder bei ihr gewesen«, rief Frau Uda. »Ist sie dir nit unheimlich? Als sie ausgeritten ist, die Hex, hat sie ihr Kind mitgenommen und es aus den Lüften in die Schlucht hinuntergeworfen!«
»Die Zusel hat niemals ein Kind gehabt«, brummte der Mann.
»Und wenn? Ist es nit sündig, kein Kind haben? Ist das nit eine Strafe Gottes?« Das Gesicht der Eifersüchtigen verzerrte sich. »Baden soll man die Zusel in der Vils! Brennen soll man das brünstige Luder! Zerbrechen soll man sie in der Folter!«
Ulrich Altdorfer überhörte diese Verwünschung. Seine Gedanken folgten einem anderen Geleis. »Wär ich nur reich«, schwärmte er, »ich würde riesige Tafeln bemalen. Eine riesige Werkstatt müsst ich haben. In den Sälen der Fürsten müssten meine Heiligen hängen. Und ich werde reich! Im Berg zu Predewind heb ich den schweren Schatz.«
Frau Uda lachte auf. »Was phantasterst du?«
»Es ist eitel Wahrheit, der Schatz liegt dort in der Höhle. Ich hol ihn, und sei es mit dem Teufel seiner Hilfe, den der Brecht jetzt so hastig an die Infel kleckst. Ich geh nach Predewind. Der eine Berg führt Eisen, der andere Gold. Die Kluft zu Predewind ist mit Gold überkrustet. Die alten Schriften wissen es.«
Und wie man im Elend auch der lächerlichsten Hoffnung Raum gibt, sagte Frau Uda in jähem Umschwung der Gefühle: »Ja, Ulrich, versuch es und hol uns von dort das Glück! Und tu dort das Rechte in Gottes Namen! Aber wenn die Geister in der finstern Klamm nach dir greifen? Was soll ich Verlassene dann tun mit den vier Kindern?«
»Mutter«, sagte Albrecht, und er tupfte dabei in das Auge des tanzenden Satans ein verruchtes Rot, »Mutter, ich geh mit dem Vater. Ich la ihn nit allein.«
In überschwenglicher Liebe riss Meister Ulrich seinen Sohn an sich. »Wir werden reich! Und du wirst Maler. Nach Venedig schick ich dich zur Schule!«
Seit jener Nacht war Ulrich Altdorfer fröhlicher und zugänglicher. Er leitete Albrecht mit kluger Lehre in der Kunst der Kleinmalerei an, er ließ ihn sogar die Bilder des Legendenbuches grundieren und vergolden und unterwies ihn, wie man Gestalten auf eine Fläche zeichnet, die in die Ferne hin-ausweicht, und wie man das Nahe, das Fernere und das Fernste im Verhältnis zueinander darstellt. Und er antwortete seinem Sohn, wenn dieser auch die seltsamsten Fragen an ihn richtete, etwa: »Vater, was ist der Schatten? Gestorbenes Licht?«
Doch konnte der Vater sein launisches Wesen nicht lange in Zucht halten, er trank wieder nächtelang und lag hernach eine volle Woche käsebleich und zitternd und mit unwirschem Wesen im Bett und arbeitete nichts.
Und als Albrecht einmal unvermutet in die Kammer trat, fand er den Vater, tiefste Reue in dem kranken, verwüsteten, gealterten Gesicht, vor der Mutter knien.
Eine bunte Schar kam vom Ufer der Vils her, übles Volk, das, abenteuernd und lüstern nach geheimnisvollem Gut, gelockt durch Gerücht und Sage, sich zu törichter Tat verschworen hatte, bübische, vermessene Gesellen und ein lockeres Weib, doch mit ihnen auch ein Mann mit edlerem, schicksalzerrissenem Gesicht und ein Knabe, im offenen Auge die Unschuld und den sanften Wind in den rollenden Locken.
Diese beiden wanderten abgesondert von der wunderlich verwahrlosten Rotte und freuten sich des tauverzückten Landes und des Wellenspieles der sommerlichen Felder. Die Luft war voll der lieblichsten Seifenblasenfarben, das Grün der Wälder verschattete sich in den Fernen zu ernstem Schwarz und verblaute in Duft.
Albrecht haschte einen Falter, der in leichtsinnig sorglosem Flug über den rotbrennenden Näglein schwankte, und er betrachtete die Farben der blumenhaften Flügel. Wie zierlich hat Gott mit seiner Schere diese kleinen, sanften Schwingen zugeschnitten! Und der Knabe gab das glimmende Tierlein wieder frei, und es schwebte wie ein winziges Lächeln der Natur.
»Vater«, fragte Albrecht plötzlich, »wer ist der, dem wir die Teufelsmütze gemalt haben?«
»Ein alter Hirt aus dem Moorwald hinter Irrenlohe. Ein Wolfsbanner. Ein Hexerich.«
»Und wie bannt man Wölfe?«
»Möchtest du es auch lernen, du Höllenflämmlein? Hüt dich! Der Hans Stem!, der Folterer, hat dem Hirten die Zunge gelüpft. Und der Hirt hat bekannt, dass er an der Krambrücke drei rote Riemen gekauft hat. Und in der Christnacht, wo jedes Geschöpf fromm in sich selber einkehren soll, hat er auf einer verschneiten Wegscheide Laub und Gras verflucht und Fleisch und Blut seines Vaters und seiner Mutter, die Sterne am Himmel und Sonne und Mond und die heilige Dreifaltigkeit und alles Gesetz der Welt. Im Schnee ist er gelegen und hat gegen den Himmel gespien.«
»Ist ihm das Gespei nit zurück in die Augen gefallen?« zürnte Albrecht. »Vater, die Leut, die mit uns gegen Predewind fahren, speien auch gegen Gott. Gehen. wir lieber heim!«
Der Vater tat, als höre er die Warnung nicht. »Neunmal hat der Hirt Orant Gott und der Welt abgesagt«, erzählte er weiter. »Und dann steht jäh der blanke Teufel vor ihm mit haariger Wolfsschnauze und schnofelt durch die Nase, der Hirt möge getrost also fortfahren, und Gott sei nichts als leerer Name und hohler Wind, und im Himmelreich sei es neblig und kalt vor lauter Gewölk, und keine Lust weile drin. Hernach begehrt er zu wissen, ob der Hirt ihm willig dienen wolle. ›Wohl‹, sagt der Hirt, und der Teufel kratzt ihn in die Stirn, dass das Blut heraustropft, und hält ihm ein Pergamentlein hin, der Orant soll ihm mit dem Blut den Namen darauf schreiben. Weil aber der Hirt nit schreiben kann, muss er eilends drei Pfeile hinzeichnen mit den Spitzen nach oben.«
Schaudernd hob Albrecht die Hand und schrieb drei Pfeile vor sich in die Luft.
»Und wie jetzt der Teufel fragt, was der Orant sich als Lohn ausbedinge, sagt der: ›Drei wilde, starke Hunde!‹ Stracks fahren aus dem Busch drei .blutäugige Wölfe und knurren und sträuben das Haar am Buckel. Der Orant legt ihnen die roten Gürtel um den Hals, und den Wolf heißt er ›Brand‹, den schwarzen ›Ruß‹, den grauen ›Rauch‹. Und fortan hetzt er die drei in die Dörfer hinein: ›Huss, Brand! Huss, Ruß! Huss, Rauch!‹ Und sie reißen den Bauern Kalb und Lamm und Hund. Und gar oft ist der Hirt selber auf den Bannwölfen mitgeritten.«
»Warum, Vater, hat er das getan?«
»Aus der Bosheit seines Gemütes heraus. Er ist ein arglistiger Zauberer gewesen, kaum dass er die Schmerzen gespürt hat, die ihm der Folterer bereitet hat. Er hat erst bekannt, als der Richter ihn ernstlich seines Lebens versichert und ihm versprochen hat, dass er ihn verschone.«
»Und doch wird er jetzt gerichtet?«
»Ja, zum schreckenden Beispiel für alle geheimen Böswichte wird er morgen zu Staub und Asche verbrannt.«
»Schauen wir uns das nit an?«
»Nein. Bei Gott, es ist nit gut, solch peinlich Geschehnis zu schauen.«
»Der Mensch soll alles sehen«, sagte Albrecht, und eine strenge Falte grub sich senkrecht in seine Stirn. »Aber der Richter bricht, was er gelobt hat, und das ist schlimmer, als wenn einer auf dem Wolf reitet.«
»Das verstehst du noch nit, Bub. Wer untreu gegen Gott ist, wie kann er Treue von den Menschen verlangen?!«
Unter solchen Reden waren sie mitten in den tiefen Wald geraten. Feucht funkelte der breite Farn, die Bäume ragten waldrebenumrankt, Schatten umspülten das Dickicht. In den Wipfeln war ein hohles, warnendes Rauschen. In innigem Er schrecken wurde sich Albrecht dieser Einsamkeit bewusst, und ihm war, er wäre mit ihr verwandt.
»Vater, wie malt man den Wald?« fragte er.
Meister Ulrich, dessen Sinn eben um den Schatz im Berg zu Predewind zu kreisen begonnen hatte, erwiderte verdrießlich: »Wie man einen Wald malt? Du malst einen Baum und hernach einen andern dazu, einen dritten, einen hundertsten, wenn du besonders fleißig sein willst!«
»Ist denn der Wald eine Zahl?« meinte Albrecht betroffen. Er fühlte, wenn er es auch nicht mit Worten sagen konnte, dass der Wald auch dunkle Stimme und Schatten und Kühle war, Zauber, Geheimnis, Angst und Schauder, Reich der Geister, Traulichkeit und Ode, goldgrünes Moos und Gesang der Bäche.
Er horchte in das webende Dämmer. Er schaute in die Sonne, die brennend durch die Wipfel stieß. Geblendet ging er eine Weile und trauerte, dass sein Auge das mächtige Licht nicht ertrug.
Zwischen den Stämmen auf dem krumm geführten Steig sah Albrecht hin und wieder die fragwürdigen Gestalten auftauen, die die Gier nach dem Schatz vereinte-, und er hörte sie murmeln und lachen und fluchen.
Am Ausgang des abseitigen Waldes warteten sie auf Ulrich den Maler.
»Auf meinen Eid!« rief der Schenzel in einem lichten Augenblick der Erkenntnis. »Wenn man uns alle, die wir da beinander sind, flugs an den Eichenzweig dort knüpfte, man tät Gott und der Welt einen guten Dienst.«
Der Wolf Wunschhütel nickte: »Der Teufel hat uns gezeichnet, auf dass jedermann gleich über uns Bescheid weiß.« Sie sahen einander an und grinsten.
Nur Ulrich Altdorfer wahrte seinen Ernst und wehrte sich: »Wir sind allsamt Leut, denen der Mond in ein leeres Säckel scheint. Wer verdenkt mir es, wenn ich es besser haben will?«
Von Wind und Wetter des Schicksals weidlich hergenommen waren sie, die da gewillt waren, den Schatz zu erwühlen in den Klüften bei Predewind.
Da stand grätschbeinig der Schenzel mit seinem safrangelben Bart, der krummen Ziegennase, der derben, überhangenden Oberlippe, die mit Eiter bedeckt war; ein Stoßmesser haftete ihm im Gurt. Er schielte böse wie der linke Schächer, der noch am Kreuz die Zunge gegen den erlöschenden Heiland gebleckt hatte.
An einer Esche lümmelte der Wolf Wunschhütel, rotbärtig und hager, am Hut allerlei Schaumünzen. Sein Stecken lief in eine bedrohliche eiserne Spitze aus. Ein Mönch einst, hatte er die Kutte an den Zaun gehängt und war weltlich geworden. Das Klosterbrot hatte ihm wenig geschmeckt. Nun pflegte er sich für einen Pilger auszugeben und von allerlei Wunderstätten zu berichten, um die Gebelust frommer Menschen zu fördern. Seinen Gefährten galt er als kräftiger Beschwörer, der den Satan zu zähmen und zu zwingen verstand, dass er die Schnauze willig auf ein Messbuch legte.
Der krumme Jakob hatte eine hohe räudige Turmstirn und wie Geierkrallen gebogene Finger und hinkte. Er trug einen Mantel aus Hirschkalbfell und einen leeren Sack und einen verwahrlosten, überlangen Schnauzbart wie ein Türke. Vormals soll er Goldmacher gewesen sein, und sein vornehmer Brotgeber soll ihn wegen seiner diebischen Handgriffe verjagt haben.
Der Berthold Buchner glich einem redlichen Mann, sein Gesicht war müde und schmerzlich verzogen, in den Falten seiner rissigen Stirn haftete es wie der Schmutz eines Bergwerkes. Er war mit einem gelben Kittel und einigem Bergzeug versehen und führte an einer Schnur einen niederen, bissigen, kampfzüngelnden Erdhund mit. Einst hatte er in den Erzgängen bei Amberg geschürft und Stollen in den Stein getrieben nach der eisernen Ader. Blass von der lichtlosen, erzernen Unterwelt und vom Atmen des ehernen Staubes und hässlich von der gebückten Mühsal vieler Jahre, schien er seines schönen Weibes, die aufrecht neben ihm daher schritt, nicht würdig. Der Buchner hatte des Öfteren gegreint, er wolle nicht immer wie ein Wurm wühlen im finstern Berg und nicht ewig kauern in der engen, schwülen Grube und pochen, pochen, pochen. Und so hatte er seinen Willen auf ein glückliches Abenteuer gestellt, und von ihm war der Plan ausgegangen, die Höhle bei Predewind zu plündern.
Sein rothaarig gleißendes Weib, die Zusel, hielt sich lieber zu anderen Männern als zu ihrem Gatten. Albrecht sah sie jetzt sehr genau an. Sie also war es, von der die Mutter behauptete, dass sie nachts ausfahre durch Licht und Lüfte zu höllischem Tanz und zuvor einen Schürhaken neben ihren schlafenden Mann ins Bett lege. Der Schenzel erzählte ihr eben eine hässliche Mär, und sie ließ sich damit kitzeln und kicherte dabei und äugelte bald den, bald jenen verheißend und süß vergiftend an. Mitten auf der Wiese vor dem Wald begann sie zu tanzen, sie warf den Leib hoch wie ein schnellender Fisch und sang ein verwildertes Lied dazu, bis der Buchner sie grob am Arm mit sich zerrte.
Alle schleppten Stricke und Pechfackeln mit, Erdhauen, Schaufeln und Spieße, den Grund aufzuwühlen.
Eiliger wanderten sie nun weiter und redeten von verborgenen Reichtümern und wohl auch von bedenklichen Taten, die sie jeweils verübt hatten. Der Bergmann, der am meisten von Predewind wusste, erzählte er von einem Metzger, der mit seinem Hund dort in die Kluft eingedrungen und darin umgekommen sei; der Treibhund sei nach Wochen allein wieder heimgekommen.
»Wir werden den Bergschatz teilen müssen. Aber nach welchem Schlüssel?« murrte der Schenzel.
Meister Ulrich antwortete: »Jeder kriegt gleich viel.«
»Wer ärmer ist, soll mehr kriegen, auf dass es sich ausgleicht«, widersprach der Schenzel mit scheelem Blick. »Alle Leut sollen gleich arm oder gleich reich sein.«
Der Maler lächelte bitter. »Weißt du, ob ich besser daran bin als du?«
Der Schenzel kratzte sich höhnisch hinterm linken Ohr. Es war ein faunisch spitzes Diebsöhrlein. Er hatte nur das eine, von dem andern hieß es, es sei ihm in einem Raufhandel abgebissen worden. Heute aber öffnete er freimütig sein Herz:
»Mich juckt mein verlorenes Ohr. Zu Moosburg ist es an den Galgen genagelt.«
»Du lebst wohl nur vom krummen Griff?« sagte der Maler verächtlich.
Der Dieb nickte fröhlich. »Und du?«
»Ich lebe von meinen Augen.«
»Gib acht, dass du sie nit verlierst. Du heftest sie gar oft an die Zusel Buchnerin.«
»Schweig, du Hund!« sagte der Maler.
Hinter der Einschicht Predewind wuchsen auf einer Anhöhe drei moosige Buchen aus einer einzigen Wurzel, und darunter lag ein verwachsenes, blödsichtiges Hirtlein, dunkel, wie von einem dunkeln, höhlenbehausenden Urvolk herstammend, und achtete wenig seiner hageren Herde. Es war eine öde Gegend, eine braune wulstige Wolke schwebte träg darüber, und Albrecht dachte, hier könne wohl der Drachenkampf des heiligen Jörg sich ereignet haben.
Aus dem zottigen Bauch einer Ziege strotzte das kahle Euter, und der Schenzel packte es und soff daraus, indes der Wolf Wunschhütel dem Hirten sogleich den Spieß auf den Bauch setzte. »Wo führt das Loch in den Berg? Zeig es uns, Homunkel, oder ich bohr dich tot!«
Der Bucklige quiekte wie ein Schwein unter dem Stechmesser und deutete hurtig mit seiner grünen Gerte gegen ein Kranwittgestrüpp.
Wahrhaftig, dahinter gähnte ein schmaler Erdspalt.
Der Bergmann neigte sich vorsichtig darüber und schnupperte. Vor dem Wagnis wollte er erst prüfen, ob der Höhle nicht ein verderblicher schwefliger Stank entweiche und feurige Schwaden drunten schwebten.
»Lassen wir erst den Zänker hinein!« riet der krumme Jakob und tätschelte dem Dachshündlein den klugen, lauschenden Kopf. Es wehte wie aus einem Eiskeller heraus.
»Ich fürcht, drin ist nichts zu holen wie Finsternis«, meinte der Maler.
»Wer sich ängstigt, mag dahin fahren«, greinte der Wolf Wunschhütel, der Höllenzwinger.
Der Schenzel nickte. »Mag der und jener davonlaufen, wir sind unser noch allweil viel zu viel, die das einstecken, was drunten karfunkelt.« Und er stieß die Zusel heimlich an. »In den Frauvenusberg kriechen wir!«
Der Berthold Buchner leuchtete mit einer Fackel hinunter. »Wer steigt zuerst ein?« zögerte er.
»Wer will zuerst in dem Teufel seinen Heimgarten? Ich nit«, sagte der krumme Jakob.
Alter Aberglaube nahm überhand, grauenhafte Sagen schreckten. Und als alle säumten, in die klaffende Ungewissheit einzufahren, rief Ulrich Altdorfer: »Ich wag es!«
»Liebster Vater, tu es nit!« meldete sich bang die Stimme seine Sohnes.
»Schämt euch, ihr Mannsleut!« lachte die Zusel. Sie griff in den Fels und rutschte hinab in die Tiefe.
»Sie hat es leicht«, seufzte der Wunschhütel, und alle erinnerten sich, dass das Weib als heimliche Hexe galt, die mit der Gewalt ihrer Schönheit den Teufel zu sich laden konnte, die giftige Nebel kochte und den Wind drehte, wie es sie beliebte, und im Hagelschauer übers pfälzische Land fuhr, dass die liebe Frucht in den Erdboden geschlagen und verderbt wurde.
Doch der Maler zauderte nimmer, er schloff dem verwegenen Weib nach, und ihm folgten sogleich Albrecht und der Hund und hernach mit rauchenden Fackeln zögernd die andern.
Der enge Felsenhals war überwunden, der feuchtkühle, schattige Atem der unterirdischen Welt hauchte sie an.
Einer stieß an ein klapperndes Ding, und als sie hinleuchteten, fanden sie ein geborstenes Fass. War hier ein Weinkeller verwunschner Seelen gewesen? Oder das Zunfthaus verfemter Räuber?
»Es mag einmal ein Bergwerk gewesen sein«, meinte der Buchner und spähte nach den Spuren einer vermorschten Zimmerung.
Der Schenzel drängte jetzt wie ein Dürstender. »Weiter! Weiter!«
Langsam schoben sie sich durch eine schmale Kluft. Sie fühlten die Flügel aufgestörter Höhlenvögel über sich, Fledermäuse prallten an ihre Köpfe, dem Wunschhütel wurde der münzen-blinkende Hut von unsichtbaren Schwingen heruntergestoßen.
Der letzte spärliche Schimmer des Tages war hinter ihnen versiegt, und sie zwängten sich durch eine schauerliche Klunse, ihre Füße planschten in Pfützen, stolperten in Geröll. Sie mussten sich ducken und auf den Knien durch einen feuchten Felsenschlauch schlüpfen, gerieten in Querklüfte und Sackgassen und kehrten um und suchten neue Gänge.
»Hätten wir doch in die Sakristei des Satans da eine geweihte Monstranz mitgenommen!« klagte der Wunschhütel.
Es sickerte, troff, brünnelte, quoll. Tropfen verzischten in den Fackeln. Der Hund war schon weit voraus, fern scholl sein Gebell. Verbellte er schon den- Schatz? Oder stellte er den Höllischen?
Dem Bergmann bebte das Windlicht in ler Faust. Er war die untergebirgische Finsternis gewohnt, doch nur in Gruben, die der Mensch angelegt hatte und die darum den Menschen vertraut waren. Hier aber war ein felsiger Irrgarten aus der Hand der schreckenden, geheimnisreichen Natur entsprungen, hier hatte der höllische Schadenfroh Macht, dessen Gebäude die Finsternis ist.
Auf einmal standen die Glücksritter dicht aneinandergedrängt mit hochgehobenen Fackeln in einem ungeheueren Felsendom, den die Lichter nur spärlich zu durchstrahlen und aufzuhellen vermochten. Oben, unten, vor ihnen, alles verlief in ungestaltetes, verworrenes Dämmer. Sie waren jetzt wie Verstorbene unter der Erde verloren.
Albrecht sah das zuckende, wesenlos spiegelnde Spiel der Leuchtflammen im feuchten Fels, sah Schatten von der Wölbe stürzen und verwehen, sein Herz schlug auf, und er wähnte, nun müsse dröhnend der Berg über die frevelnd eingedrungene Horde niederrollen und alle verschütten.
Trümmerwerk starrte. Ferne Wasser brausten. Der Fluss des Charon? Von der unsichtbaren Decke hingen lange alabasterhafte Zapfen nieder, Strünke und bleiche Kegel wuchsen ihnen aus dem Boden entgegen, launenhaft gefaltete steinerne Vorhänge, schmale und derbe Säulen grellten, blendend angestrahlt neben der tiefverhüllten Schattenwelt. Gefrorene gelbliche Wasserfälle schwebten, Wasserbecken blitzten irr auf im unfassbaren Spuk der Fackeln. Hier mochten die Steige stundenlang untergebirgisch weiterführen. Und dort hinten im abernden Dämmer vielleicht lag das Aas des Drachen, der sich am Gold den Tod gefressen hatte, und das rote Erz schimmerte durch den verwesenden Leib.
Dem Wunschhütel plisperten die Lippen. »Keinen Schritt weiter bringt ihr mich in die stockdicke Finsternis. Das ist der Schlauch zur Hölle.«
»Und wenn uns auch der Teufel gängelt, weiter!« keuchte der Schenzel. »Schaut hin! Der Schatz! Dort irrlichteriert er schon!«
Doch war es nur ein vorbeischießender Bach, und als sie ihn anleuchteten, glühten silberne, fremdartige Echsen drin. Hier war alles Schrecken: die Nähe geisterhaft überhuscht und belebt vom ruhlosen Licht der qualmenden Fackeln, die Ferne schwarz und tot. Und Wasser wanderten und rauschten trüb.
Die Zusel schrie plötzlich schrill auf. In der blassen Felswand vor ihr war eine riesige Götzenfratze gehauen, und davor häufte sich ein Wust von Knochen, Rippenwerk und Schädeln übermenschlichen Ausmaßes, als ob sich hier verschollenes Riesen-turn vor den Glocken der Christen zurückgezogen hätte, der Erde abzusterben. Oder waren es die grausigen Reste einer Fleischbank, dazu ein Drache seine Beute geschleift hatte, Menschen, Stiere und Hirsche? Und dort das hockende Geripp, dem der entrollte Schädel zwischen den Schenkelknochen grinste, gehörte es vielleicht einst dem Metzger an, der voralters sich hier herein verirrt hatte?
Die Finsternis nahm ein furchtbares Gesicht an. Unter ihrem Mantel waltete Unbezwingliches.
»Ich hab nur ein einziges Leben, und das ist mir um keinen Preis feil«, sagte der Bergmann.
Der Wolf Wunschhütel witterte verbannisierte Geister. »Der Teufel macht mich schlottern«, raunte er und leuchtete hinterrücks, als wolle er sich des Weges zur Flucht vergewissern.
Der Schenzel allein blieb unverzagt. Er schwang das Windlicht im Kreis, dass die Luft davon rauschte. »Wie habt ihr gestern noch geprahlt! Wer wagt sich mit mir weiter? Juchhe!«
»Ich!« sagte Meister Ulrich, von Wunderwitz, Habgier und Verzweiflung aufgeschürt.
Rauflustig blinzelte der Schenzel. »Gut. Wir zwei teilen, was wir finden.«
»Steht ab!« warnte der Bergmann.
»Ich trag eine Sprengwurz mit«, sagte der Schenzel, und er pfiff dem Hündlein, doch das sperrte sich mit gesträubtem Haar und wich zurück.
»Steht ab!« warnte der Buchner abermals. »Das Vieh sieht mehr als ein Mensch.« Er packte den Maler beim Arm. »Ist dir nit leid um dich? Der höllische Leu schleicht uns nach. Wir wollen schnell ans Licht heimkehren!«
Meister Ulrich streifte rauh die Hand des Warners von sich. Er zog ein metallenes Kreuz aus dem Gewand und hob es hoch. »Gott zur Ehre, den bösen Geistern zum Widerstand!« sagte er feierlich.
Da warf sich Albrecht gegen ihn, umschlang ihn und weinte verzweifelt: »Vater, bleib!«
Der Vater stieß ihn zurück.
»Schenzel! Altdorfer! Geht!« drängte das Weib mit ihrer tiefen Wohllautstimme. »Holt mir Ringe und Ketten! Ihr tut es nit umsonst!«
Die zwei Männer starrten sie an. Sie stand in dem fahlen, wankenden Licht, sündige Lockung und schöner als je in der Sonne. Dann trotteten die beiden in die unwegsame Höhlennacht hinein.
Ferner, immer ferner klang ihr tastender Schritt, die Windlichter verschollen hinter Säulen, zeigten sich wieder und weh ten rot in der Zugluft. Die Stimmen der Sucher vermurrten sich. Drohender sauste der Sturzbach, und oft war es, er setze aus und lauere, und die stumme Finsternis der Höhle wurde beredt.
Auf einmal ächzte einer auf: »Ich glaub, der höllische Werwolf ist mitten unter uns!«
Da peitschte der Schrecken in die Rotte, und schreiend jagten sie den Weg zurück, den Ausgang in die vertraute Lichtwelt wiederzugewinnen. Sie fetzten sich die Stirrien an den Felsen wund, stürzten und krochen betend dahin und rafften sich wieder auf mit zerschürften Knien und blutnassen Händen.
Keuchend drangen sie aus der Kluft. Die Drillingsbuche warf einen langen friedlichen Schatten, die ruhigen Augen der Rinder forschten die Verstörten an.
Albrecht atmete tief auf. O gesegnete, helle Welt! Was ist gnädiger, was ist heiliger als dein Licht?! Es ist das Allerheiligste.
Beglückt sah er den Rasen funkeln, das junge Buchenlaub glänzen, er sah die Farben der abendnahen Wolken.
Die Rotte aber hatte sich wieder eines anderen besonnen, sie begriffen nicht, dass sie geflohen waren, und einer beschuldigte den andern, den Anstoß zur Flucht gegeben zu haben. »Der Teufel hat uns geneckt!« schalt der krumme Jakob. »Jetzt schaufeln die zwei drunten sich den Sack voller Gold.«
»Der Teufel mag breite Schuh haben, weil man ihm alles darein schiebt«, lachte der Wolf Wunschhütel verdrießlich.
»Auch der Zänker ist nit da«, sagte die Zusel. Und dann fuhr sie mit verzerrtem Mund hexenhaft auf ihren Mann los. »Warum bist du nit im Berg geblieben?«
Der Berthold Buchner packte sie mit den narbigen Fäusten und rüttelte sie. »Schweig! Ich weiß, was du denkst. Du Ohne-lieb, du Ohnetreu!«
Sie riefen die Namen der Männer und des Hundes in die Kluft hinab und warteten noch lange.
Als es dämmerte und das Hirtlein schon längst heimgetrieben hatte, trabten sie mürrisch davon.
Albrecht blieb allein zurück. Er schaute lange einer Wolke. zu, die wie eine erdentrückte, schöne Rose brannte.
Dann saß er vor dem unheimlichen Einschlupf, bittere Tränen an der Wange und in der Hand einen mächtigen Tierknochen, den er verwirrt aus der Tiefe mitgenommen hatte. Manchmal rief er in die Schlucht hinunter, und es summte drunten wie eine heisere Glocke, das mochte indes nur der Nachhall gewesen sein.
Einmal aber klang es doch wie scharrendes Geräusch, lechzend näherte es sich, und ehe sich Albrecht zur Flucht rüstete, hüpfte der Zänker aus dem Loch heraus und schaute den Knaben mit seinen ernsten, braunen Augen geheimniswissend an.
»Was ist drunten geschehen?« fragte Albrecht das Tier. »Du allein weißt es. Vertrau mir es an! Ach, was wird die Mutter sagen, wenn ich ohne den Vater heimkomme?!«
Tröstlich leckte der Zänker mit seiner warmen, triefenden Zunge Albrecht die Hand, murrte tief, warf hernach, wie in jäher Besinnung, den Kopf herum, dass die schwarzsamtenen Ohren flogen, und rannte waldeinwärts.
Es wurde kühl und finster. Huschend spielte ein Ferngewitter. Vielleicht war der Vater schon tot. Dann war es nichts mit dem Schatz, und Albrecht und die Seinen waren noch ärmer als früher. Dann gute Nacht, Venedig und Malerschule! Und so gern hätte Albrecht in Farben geschildert, was die Mutter erzählte von den teuern Heiligen oder von den wilden Waldmännern, was in Spielmannsbüchern und Heldenmären zu lesen war. Den ganzen frommen Himmel hätte er malen wollen und Gott, den er sich gestalthaft dachte, und die Jungfrau im Lilienkranz, und die Engel sollten wie Schmetterlinge in der goldenen Luft taumeln. In unklaren Träumen ahnte er künftiges Gebilde.
Wo war er jetzt? Der Mond hing knapp über einen nahen Bergkamm, und das war unheimlich. Aus dem Wald traten die Gestalten der Tiere, sie blickten stumm zu dem Knaben herüber. Die Nacht glühte ihm ihre Sterne in die Seele.
Er breitete die Arme weit aus und rief vom Schmerz des Verlustes übermannt: »Wo ist mein Vater?!«
Er entdeckte plötzlich, dass er den harten, rätselhaften Mann sehr liebte.
Da hörte er es im Berg drin stöhnen. Das Herz bidmete ihm. Einer kehrte zurück, einer von den beiden Männern. Der Vater? Der wüste Schenzel? O Gott, lass jetzt das Rechte geschehen!
Zwei Hände tappten aus dem Felsendunkel ins weiße Mondlicht, zwei blutig zerschrundene, schmutzige Hände. Dann tauchte langsam ein zerraufter Scheitel auf, dann grau, wie mit Asche geschminkt, das Gesicht eines Menschen. Ein hässliches Gesicht.
Es war der Vater. Sein Gesicht, das edel gewesen auch in der Verzerrung seines Zornes, jetzt war es grausam entstellt. Das Barett hatte er verloren, das Wams war zerfetzt.
»Wo ist – der andere?« stammelte Albrecht.
Meister Ulrich brach im Gras zusammen. »Der kommt nimmer«, sagte er.
Er tastete zitternd nach dem linken Auge. »Ich seh nichts, ich hab den Nachtnebel im Blick.« Das Auge war mit rotem Schmutz verschmiert. »Es schmerzt sehr«, sagte Ulrich Altdorfer mit unsäglich trauriger Gebärde.
»Vater ich will Euch die Blutrunst wegwaschen.«
»Ein Stein ist in der Finsternis gegen das Auge geworfen worden, Bub. Es ist – ausgeronnen.« Und die Beherrschung verlierend, gellte der Verstümmelte: »Den Schatz hab ich nit gefunden. Wir bleiben elend!«
Albrecht führte ihn fort.
Vor dem Wald reckte ein vom Blitz versehrter Baum den letzten Ast schmerzlich ins düstere Mondlicht.
Als an einem sommerlichen Sonnabend die vier Zillen abländeten, nach Regensburg um Salz zu fahren, sprang ein junger Mensch hurtig in den letzten Kahn. Die Knechte wollten ihn sogleich ins Wasser stoßen, aber der Schimeister nahm ihn ins Gebet und sagte dann: »Wir lassen ihn mitreisen. Er will seinen Göden heimsuchen. Bei der Bergfahrt hilft er uns.«
Der Jüngling sah schweigend, wie das Wasser den Kahn trieb und der steinerne Leib der Stadt langsam zurückwich. Welch stolzer Ort! Amberger Kaufmannsschiff rinnt nach des Staufers Rotbart Freibrief zollfrei auf der Donau, ambergisch Eisen geht ins Schweizerland und nach Frankreich, auf den entlegenen Inseln der Türken liest man das Amberger Wappen am verzinnten Blech.
Sie glitten an Hammermühlen vorüber, deren Wasserräder triefend schaufelten, und die Stempel polterten wütend nieder, dass die Luft zitterte; die Bälge fauchten in das Rennfeuer und jagten es hoch aus der Glut. Auf den Halden glomm die Schlacke. Blech und Schieneisen entstanden und Waffen des Kampfes und des Ackerwerkes. Seit König Max über deutsches Land gebot, brauchte man allzeit Schwerter und Harnische.
Die Schiffer waren derbe Gesellen, die Feder steil und rauflustig am Hut, Hals, Nacken und Schultern bloß und verbrannt von der rauen pfälzischen Sonne. Heute war gutes Fahrwetter, die Vils führte nach einem ergiebigen Regen beträchtlich viel Wasser, und die Zillen waren diesmal nur leicht mit Eisen befrachtet.
Die schwarzen Hammerknechte am Ufer, besorgt um ihre angestaute Flut, riefen dem Fergen, der mit der Stange steuernd den Kahn in der Fahrtrinne des zuweilen seichter über den gerölligen Grund rollenden Flusses hielt, und auch den Ruderern manchen Schimpf zu, der doppelt saftig wieder zurückprallte.
In den Eichenforsten rauchten träg die Meiler. Dörfer mit struppigen Schaubdächern lagerten friedsam, auf den Weiden grasten Herden mit leuchtenden Fellen, bleich blinkten die Weiden, die Rinde der Grauerle schimmerte silbern. Selten legte sich eine hochgeführte Balkenbrücke über die Vils.
Der Tag ging leise heim, die Büsche wurden braun, und sanfter Wiesennebel sammelte sich. Da berührte eine Hand den in die vorübergleitende Welt versunkenen jungen Gesellen. Der Silberschmied Valentin Hittenkofler stand vor ihm. »Wohin, Albrecht?«
»Zum Maler Furthmayr.«
»Wissen Vater und Mutter davon?« »Nein.«
»Albrecht, du steigst in Ensdorf aus, wo die Zillen nächtigen, und gehst wieder heim. Deine Mutter sorgt sich zu Tod.«
»Ich will nach Regensburg«, beharrte Albrecht.
Die Fergen huben an, von dem hübschen Elslein zu singen, und die auf den anderen Kähnen nahmen die Weise auf, und sie hallte weithin durch den stillen Abend.
»Zwischen Berg und tiefem Tal,
da liegt ein freie Straßen,
und wer sein Buhlen nimmer mag, nimmer mag,
der soll ihn gehen lassen.
Fahr hin, fahr hin, du hast die Wahl,
ich kann mich dein wohl maßen!
Im Jahr sind noch viel lange Tag, lange Tag,
Glück ist auf allen Straßen.«
»Wenn Ihr mich aus dem Schiff weisen lasset, renn ich zu Fuß gegen Regensburg«, trotzte Albrecht.
»Furthmayr ist arm und verzweifelt. Er wird dich gleich heimschicken.«
»So will ich vom Meister Roritzer lernen, wie man einen Dom baut.«
Hittenkofler sagte ärgerlich: »So tu, was du willst, und renn dir den Schädel ein!« Und er begab sich zurück an das Vorderende der Zille.
Der Abend deckte den Himmel mit Kupfer, di é Glocken des Klosters Ensdorf läuteten schläfrig. Da banden die Knechte die Schifflein fest und gingen in eine Uferschenke, davor auf hölzerner Tafel ein mächtiger, fremder Fisch abgeschildert war, der sich vom Meer her einst tief herein ins Pfälzer Land verirrt hatte und hier gestrandet war. Auf der Zille blieben nur die beiden Fahrgäste und ein Wächter zurück.
Meister Hittenkofler gesellte sich in lichterer Laune wieder zu Albrecht. Er bot ihm Brot und Braten.
»Die Nacht kühlt aus, die Vils ist ein kaltes Wasser. Deck dich mit meinem Mantel zu!« sagte er gütig.
Sie legten sich ins Stroh, das der Wächter ihnen aufgeschüttet hatte.
Es herrschte eine gebietende Ruhe. Droben schimmerte in milder Gewalt der große Himmel und glühte-aus seiner Tiefe. Über dem Dunkel hingen die hellen, ewigen Lichter, über dem Ungewissen war die Klarheit.
Der Wachtknecht schritt über ein schwankes Brett ans Gestade und fischte mit dem zweizackigen Spieß. Seine Laterne ließ die Welle wunderbar funkeln.
Wenn zuweilen das Tor der Schenke aufging, hörte man die Schiffsleute lärmen.
Der Edelschmied nickte. »Sind ein wildes Volk, die Schiffer, raufen, saufen, würfeln, tragen die Kranichfeder vorn, wie ich es bei den Donaufergen gesehen. Morgen fahren sie mit trübem Hirn weiter, fänden allein nit nach Regensburg, wenn die alten Wasser den Weg hin nit wüssten.«
Am Nordhimmel hellte es sich zart, die bläulichschwarze Düsternis wandelte sich in ein heimliches Rot, und das schwoll, und plötzlich schossen Strahlen auf bis zum Scheitelpunkt der Welt, zuckten und schwanden und zuckten wieder. Hernach wanderte ein grellweißer Bogen nordher bis über die Hälfte des himmlischen Raumes und verlor sich wieder, und dann glühte der volle Norden in einem überaus lichten Rot, und das floss wunderbar über in ein tiefes, sattes Karmin und war ein so starkes Geleucht, dass es sichtbare Schatten hervorrief und das nächtliche Gebüsch klar und zauberisch überhuscht hervortrat. Und es wurde zum wallenden Vorhang, wie aus scharlachenem Stoff gewirkt und durchscheinend, dahinter weißlichgrelle Strahlen züngelten und Sternschnuppen stürzten. Bald war es, als wehten Fahnen im Wind und war flammige Regung, darin die Sternbilder, in blauen und veilchenhaften Farben wechselnd, wie in Blut schwammen. Es war ein unsäglich prunkvolles Schauspiel, ehe der Vorhang sich spaltete und in verblassender Röte nordwärts schwand. Dann schwieg die uralte, einsame Sternenwölbe wieder.
Der Mann und der Jüngling hatten wortlos in das ungeheuerliche Luftfeuerwerk gestaunt. Erst als es längst beendet war, redete der Greis: »Was geht droben vor? Ist der Himmel toll worden, das Heer der Engel aufrührerisch? Ist ein Heiliger droben empfangen oder ausgestoßen worden? Kündet das Geschehnis wilde Zeit auf Erden an, Krieg und Pest?«
Das Licht der Schiffslaterne fand den ruhlosen Fluß drunten und zerbrach an den treibenden Wellen. Dumpf lagerten und schaukelten die Leiber der Zillen. Die bleiche, dünne Sichel des erschöpften Mondes zeigte sich.
»Was ist zwischen den Sternen? Nichts?« schauderte Albrecht.
»Zwischen den Gestirnen schwingt der Äther«, sagte der Meister. »Der Äther ist geschwängert mit dem geheimnisvollen Stoff der Schöpfung, der darin aufs äußerste und letzte aufgelöst ist. Und daraus ballt sich ewig wieder Neues, Anderes, werden immer wieder Sterne und Welten. Ewig schafft der ruh-lose Schöpfer im endlosen Raum.«
»Wie könnt Ihr das wissen, Meister?«
»Das ist die neue Lehre.«
»Unsere Erde, ist sie nit das größte in der Welt?«
»Sie ist nur ein verglimmendes, abgesprengtes Fünklein des Alls. Sie tanzt wie ein gehorsam Hündlein neben der Sonne einher. «
»Sie sitzt also nit am Grund der Welt fest?« staunte Albrecht. »Und das All? Hört es irgendwo auf in Zeit und Raum?«
»Der Weltraum bleibt ewig, und mögen auch die Welten drin vergehen.«
Sie streckten sich wieder auf das knisternde Lager hin, und Albrecht wachte noch lange, sinnend und angeschaudert von der Größe der Sternennacht. Und dann schlief er, und zuweilen schwankte das Schiff, und er fühlte es in seinen Traum herein. –
Als sie bei angrauendem Tag weiterfuhren, nahm Albrecht das Gespräch des Vorabends wieder auf.
»Ich hab die halbe Nacht nicht schlafen können über Euere Rede gestern, Meister. Ihr habt ungefähr gesagt, die Sonne stehe in der Mitte und gängle die Gestirne. Sind denn die Sterne nit im Ring um die Erde gelagert?«
Hittenkofler lachte. »Ja, und um dich!« Er verernstete sich sogleich wieder. »Martin Behaim hat jüngst zu Nürnberg eine hölzerne Kugel drehen lassen und Land und Meer und Winde darauf gemalt. Und eine Nadel hat man erfunden, die hartnäckig gegen den Pol sich richtet und den Seefahrer sicher macht, sie weist unbeirrbar durch die Öde des weglosen Meeres und ersetzt die weisenden Sterne, wenn sie hinter Wolken und Nebel erblinden. Und somit hat ein Genueser Hauptmann den neuen Weg nach India gefunden. Und der schwarze Mönch zu Breisgau hat den hitzigen Schwefel mit dem kalten Saliter verheiratet. Hat dir der Martin Mertz nichts von seinen ungestümen Mörsern erzählt? Ja, die drei dunkeln Künste, Pulver, Alchemia und Buchdruck greifen hart in unsere Zeit. Aber was verstehst du einfältiger Gesell von solcher Wandlung?«
»Ich will alles verstehen und alles wissen.«
»Ei, warum, Herr Springinsfeld?«
»Dass ich Gott besser dienen kann.«
»Du nimmst dir gar viel vor«, sagte der Silberschmied und sah das sonst zarte und schüchterne Gesicht Albrechts nun unkindlich streng und eifernd gespannt.
Schweigend sahen die beiden nun in die sich entfaltende Landschaft hinaus. Der leichte Flussnebel über den Wiesen hatte sich zerstreut, der kühle Geruch des Wassers stieg, der Duft der vollen Äcker schlug herüber. Über dem farbenerfüllten Land feierte der Sonntag, und die Erde schien es zu wissen, und sie ruhte in der Buntheit einer Perle.
Meister Hittenkofler sagte auf einmal, väterlich die Schulter des jungen Freundes umarmend: »Sieh das freundliche Dickicht dort! Das Blutblümlein neben dem Stein! Könnte man die Welt da, wie sie ist, in einem Bildlein einschließen! Sonne und Gras und Kranich droben, Schiff und Welle,. Wolke und Menschen! Brecht, schau dir die Natur genau an, lern von ihr und bilde betrachtsam ihr einfaches Gesicht nach! Unwissend baut die Natur das Schöne.«
Stauwerke öffneten sich, die Zillen sanken die Wehren hinab, Segel wurden aufgezogen, und der Wind knatterte fröhlich darin. Sie fuhren durch menschenlose Talgründe, aus dem Gipfeltann des Hügels hob sich eine zerstörte Burg. Wolken drangen auf und verwehten. Die Flut kreiselte und schimmerte. Sie fuhren durch belebtes Land. Bauern wallfahrteten, bekränzte Kinder tanzten am Anger, ein ritterlicher Jäger warf den Falken nach den Wildgänsen aus. Steinkrähen flogen schreiend. Vor den feiernden Mühlen lümmelten die Knappen. Das warme Grün der Viehtriften, das krause Dorngestäude, die Leiber der Uferbäume, die im Mittag schlummernde Ferne, die ganze Welt widerglänzte in den Augen Albrechts, und seine Seele füllte sich mit Bildern und Farben.
Einer der Salzknechte stieß Albrecht derb in die Rippen. »Morgen wird in Regensburg ein Honigdieb gehangen!«
»Was geht es mich an?!« sagte der Jüngling, aus seiner träumerischen Schau aufgestört.
»Dir graust wohl vor der Gerechtigkeit?« grinste der Knecht. »Aber Galgen müssen sein. Und Leut, die daran baumeln. Was nutzt der schönste Galgen, wenn keiner daran hängt?«
»Es schadet nit, wenn man dem Meister Fix bei seinem Werk zuschaut«, nickte der Silberschmied. »Die Welt soll gewarnt sein. Hüt dich auch du, Knechtlein!«
Der Knecht, Hundundkatz ließ er sich schelten, zog das Maul schief. »Wenn mir der Henker den Schädel vom Hals haut, wohin soll ich hernach mein grünes Hütel setzen?«
Bei Kallmünz fuhren sie aus der Vils in die geräumigere Nab, tauschten sie schießendes Wasser gegen behaglichere Flut ein, und die Reise ging rascher vonstatten.
Breit und herrisch rollte die Donau heran und verschlang die Nab. Der Strom trug die Wucht der glanzschleudernden Sonne und widerfunkelte sie in greller Kraft. Albrecht presste die unwillkürlich ineinander sich verkrampfenden Hände hart an die Brust. In tiefer Erregung grüßte er den Strom, als ahne er in ihm sein Schicksal.
Wo das in milden Hügeln anhebende Donaugebirge seine Flanke breit gegen den Mittag hält, nordseits säumten Weingärten das blanke, schiffbelebte Wasser.
Sie überholten ein paar träge, mit Fässern beladene flache Kähne.
»Elsässer Wein!« heulte der Hundundkatz. »Lasst uns die Plätten überfallen!«
Schemenhaft stiegen die Türme Regensburgs auf und näherten sich. Die dreitürmige Steinbrücke sperrte den Strom.
Die Zillen hielten oberhalb der Brücke beim Amberger Salzstadel, in dessen Umgriff die Güter unter den Kranen umgeschlagen wurden, die Weinschiffe ländeten und Fische zum Verkauf ausgelegt wurden.
»Glück an!« jauchzte der Hundundkatz und schleuderte das Fangseil ans Gestade.
Nach zehn Jahren fühlte Albrecht Altdorfer wieder den Boden der Heimat unter seiner Ferse, und er gab sich staunend wieder der graudüsteren, gewaltigen Stadt hin, die in seiner Erinnerung nur noch schattenhaft gelebt hatte.
»Ich bring dich zum Furthmayr«, sagte der Silberschmied.
Mit benommener Stirn schritt Albrecht durch die winkligen Gassen, deren hochgeschossige Hausburgen mit Türmen bewehrt waren, daran die Fenster in rundbogigen Gruppen auslugten. Aus Kirchen und Klöstern drängte sonntägliches Bürgervolk und füllte Plätze und Tore, darüber steinerne Löwen gähnten, steinernes Laubwerk rankte, die Bilder von Affen und Schlangen ergötzten oder schreckten, Hirsche und Steinböcke kämpfend gegeneinander gekehrt waren. Bärtige Steinköpfe und hässliche Drachenspeier drohten herunter. Ein jedes Haus, ein jeder Erker, ein jeder Sims schier war voll Sonderlichkeit und Zier, unter verkräuselten Dachhimmeln weilten hochstirnige, gekrönte Gottesmütter in faltigen, goldlilienbedeckten Rotmänteln, Kragsteine trugen Engel und springende Hasen, Eulen und fremde Ungetüme. Altrömisches Gemäuer mit buckligen Quadern, Säulen mit anmutigen Häuptern, löwengetragene Wappen waren zu schauen, und Hittenkofler erklärte, was aus Granit, was aus Rotmarmor oder aus Solenhofener Stein war, und entzückt und beklommen folgte ihm Albrecht durch das Irrgewinde der Gassen.
»Du musst morgen mit dem Salzzug wieder heimfahren!« mahnte der Edelschmied. »Mit deinem Vater steht es übel.«
Albrecht gedachte des Vaters und dessen getöteten Auges, und auch die Kraft des anderen Auges ließ beängstigend nach, so dass Meister Ulrich die anstrengende Kleinmalerei nimmer üben konnte und oft stumm in sich hinabbrütete, gleichgültig gegen das Schicksal der Seinen. Und schlimm wäre es ergangen, wenn die Mutter nicht männlich gegen das Unglück ihres Hauses gerungen hätte.
»Ich bin daheim notwendig«, bekannte Albrecht, und er sah das blinde Auge des Vaters flehend auf sich gerichtet.
Der Miniator Berthold Furthmayr lebte in einem düsteren, engfängigen Gebäude, seine Stube barg verbrauchten, sehr ärmlichen Hausrat.
Das graue Männlein mit dem bedächtigen, etwas träumerischen Blick begrüßte sein Taufkind mit wunderlichem Gruß. »Was willst du da? Unglück blüht vor meiner Tür!« Und dann forschte er es neugierig an. »Du ähnelst dem Ulrich. Doch bist du gewiss nicht so jäh wie er. Wie Stroh ist er gewesen, das im Feuer hastig verfladert. Ein widerhaariges Herz, ein Querkopf! Und meist faul wie ein Stör. Wir haben oft uns gestritten um der Kunst willen. Als das Salzburger Messbuch fertiggewesen, ist er fort. Er hat recht getan. Seither ist bei mir nichts Beachtliches mehr bestellt worden. Es geht ihm in Amberg gewiss besser als mir.«
»Nein«, flüsterte Albrecht.
»Ist es, bei euch auch so? Vor dreißig Jahren hab ich Haus und Stadel besessen und dreizehn Rösser und Geldes genug. Jetzt fressen mich die Schulden. Ich kann mir nimmer helfen.«
»Und doch seid Ihr besser daran als mein Vater. Dem ist das eine Auge ausgeronnen. Im anderen sieht er immer eine grelle Schlange. Das ängstigt ihn.«
Entsetzt bog sich der Maler zurück, als könne schon mit diesen Worten die Blindheit übertragen werden. »Ich esse ein trauriges Brot. Aber nur nit erblinden!«
Der Gesell und Eidam Furthmayrs, Hennesperg, drängte sich misstrauisch herzu. Er hatte gelbliche, unstete Augen und war von magerem, dürftigem Wuchs. »Wenn ihr in Amberg hungert, wollt ihr wohl wieder nach Regensburg zurück. O weh, da ist kaum Platz für uns!«
Furthmayr nickte. »Seit dem hussitischen Unwesen ist es mit Regensburg langsam bergab gegangen. Die Hussen haben mit ihren böhmischen Drischeln gewirtschaftet und unsere Stadt in Unkosten gestürzt. Und noch vor fünfzig Jahren sind aus Regensburg ganze Schiffe voller Saliter bestellt worden und vom Pfeilschmied Hebrant allein hunderttausend Pfeile. Da hat die Stadt kaum klecken können. Aber heute? Der sorglose Gewinn der feisten Jahre ist dahin, Handel und Wandel stocken.«
»Da tät ein neuer Krieg not«, meinte Albrecht.
»Nein, um Gottes willen, nein!« wehrte Furthmayr ab. Dann fügte er bitter hinzu: »Also führt Ulrich auch ein leides Leben? Ja, mit der Buchmalerei ist es aus, seit der Zauberer Faust zu Mainz die Lettern aus Holz schneidet. O weh meiner Kunst, die einst so hoch geehrt ist worden! Im Kloster Metten hat ein Mönch mich die selige Kunst gelehrt. Er hat mir Bücher gezeigt, mit den köstlichsten Perlen unserer Waldflüsse versehen, in Goldplatten gekleidet, die Buckeln mit brennenden Edelsteinen besetzt. Und ich hab gelernt, wie die teueren Altmeister die gelben Heiligenscheine gemalt haben, die lichtblauen Rüstungen der Ritter, die roten, grünen und veilchenfarbenen Gewänder der edeln Frauen. Ich hab die ehrwürdige Kunst treu in mir aufgenommen und bewahrt und vermehrt, wie mich mein Herz gedrängt hat.«
»Ihr seid der Lehrmeister meines Vaters gewesen«, sagte Albrecht dankbar und ehrfürchtig.
»Alles wird überliefert, der güldene Faden darf nit abreißen. Dein Vater hat die alte Art gepflegt. Allein er hat seine Zeit verschleudert. Ein Miniator muss emsiger schaffen als jeder andere Künstler. Wie ein Scherg hab ich ihn antreiben und hinter ihm her sein müssen. Auch ist seine Hand nit gar geschickt gewesen. Verzeih, Albrecht, dass ich solches vor dir bemängle. Du bist sein Sohn. Du sollst ihn ehren!«
Der Hennesperg mengte sich wieder mit seinem Argwohn ins Gespräch. »Der Ulrich sollt lieber nit an Regensburg denken. Hier verdirbt alle Kunst. Dem Nachbar Brotbäck und Leineweber geht es leidiger. Der Ulrich hat dich vorausgeschickt, Albrecht, dass du uns und alles ausforscht. Er will nachkommen.«
»Nein«, lächelte Albrecht.
»In den letzten Jahren male ich nur noch für mich selber«, trauerte der Alte. »Trotz der Fugger, der Weiser, der Tucher haben wir in Deutschland keinen Mäzenas, der die Kunst begönnert. Der Kaiser, ach, der möcht wohl, aber er ist ein armer Mann, und es tät not, ich schenkte ihm einen Pfenning.«
Mit seinen welken Fingern kramte er ein pergamentenes Buch aus der Lade. »Das hab ich mir selbst zur Lust gemalt, hab keinen Fleiß daran gespart, sind Regensburger Legendlein drin: vom Bischof Wolfgang am Arbersee, von Albertus dem Großen, von Berthold dem Minderbruder.« Er schlug den Band auf.
Das war ein einziges blumiges, kränzeleuchtendes Fest. In den geräumig hohlen goldenen Buchstaben des Anfangs teilten sich Adam und Eva unter dem Urbaum den Apfel, nackte, schöne Leiber, davor ein Strauch wuchs, welcher deren Blöße mit seinem vollen Laub züchtig verhüllte, und dahinter wob eine milde, reine Landschaft, wie mit den zarten Farben eines Falterflügels bestäubt, wie ein Traumgesicht gemalt, und Albrecht erinnerte sich, dass er dasselbe Land heut an der Nab hatte an sich vorbeigleiten sehen. Um den ruhigen, gleichmäßigen Fluss der Schrift rankten Blätter und Blumen in lieblichen Gebärden, gezähmte Blumen des Gartens, Blumen der Wiese und der Wildnis, doch auch Kräuter und Blüten, die unheimisch aus äußerst fernen und schwüleren Breiten zu stammen schienen oder gar nur in Träumen wurzelten.
Furthmayr blätterte selber, er ließ niemand anderen das Buch berühren aus Angst, leichtsinnige oder feuchte Finger verderbten etwas an den fleckenlosen Blättern, die geziert waren mit den Abenteuern der Regensburger Heiligen. Doch war auch die Heilandträgerin mit ihrem Herzkind zu schauen und die Sternenwanderschaft der drei Könige und dann, wie Christus die Kindlein zu sich berief und wie Judas, der falsche Schaffner, das Geld aus dem Beutel schüttelte, und ein Henker schlug einem Heiligen die gefalteten Beterhände ab, blinde Heiden töteten spielerisch grausam bewährte Gotteslieblinge, und manche von diesen schwangen flatternde, gewundene Bänder voll andächtiger Sprüche, die ihnen die Engel eingeflüstert hatten.
»Gefallen dir diese Blumen, Albrecht?« lauerte Furthmayr sein Taufkind an. »Ich hab mich in der flandrischen Art versucht. «
»Es ist alles säuberlich genau, aber zu klein«, urteilte Albrecht.
Zornig tappte der Alte in sein dichtes, helles Haar und zauste es. »Du Gäuchlein, was verstehst denn du?«
Sein Tochtermann Hennesperg zupfte trübselig an seiner überhangenden Nase und murmelte: »Ob der Kaiser uns das Buch abkauft?«
Es war eine unwirkliche, holde Kleinkunst, darüber eine sanfte, schwermütige Ruhe schwebte: an den Gestalten der Menschen hafteten milde Gebärden, und selbst die Henker schienen hier minder schmerzlich zuzuhauen. In stiller Ausgewogenheit atmeten die Farben selig nebeneinander: aus dem keuschen Geleucht des Blaues flammte das erregte Karmin, gelbgrüne, veilchendunkle, mausgraue und orangene Töne mischten sich kampflos. Der Zierat floss in edelm Schwung dahin und gipfelte oft in herrlichen Blumen, die berstend goldene Funken oder himmlische Strahlen versprühten.
Am meisten aber zogen Albrecht die ir i klarer Frische hingehauchten Hintergründe der frommen Handlungen an, die duftblauenden Gebirge der Ferne und das nahe, von Gebüsch zottig gekrönte Hügelwerk, die zerfressenen, schiefen, schwindlig steilen Felsen mit den tapferen, unglaublich verwinkelten Burgen, die turmfreudigen, kriegerisch ummauerten Städte, zart gespiegelt in Flüssen, die in eigenwilligen Windungen glänzten. Und Wolken glommen durch das Gitter dünnbelaubter Bäume, Blumen brannten freundlich auf haarfein gezogenen Halmen. Aber ein Bild voll Trauer schloss das Buch: ödes Grau des Himmels, leere, karge Erde, kahler Lindenbaum, abendliche Armut, daraus die ganze Weltabsage des verarmten Meisters redete; und darunter im Rabenschnabel ein sprechendes Band mit dem trostlosen Wort: FINIS!
Albrecht betrachtete scheu die durchäderte, alte, ermüdete Hand des Meisters, der diese winzige Wunderwelt mit erhabenem Fleiß hervorgebracht hatte, und spähte dann heimlich hin zu der bekümmerten Stirn, der Quelle all dieser farbigen Gesichte.
»Ihr habt der Natur scharf ins Herz geschaut«, lobte er innig. »Ich wollte, Ihr lehrtet mich Euern Blick.«
»Gebrauch ist mehr als aller Meister Lehr«, erwiderte Furthmayr.
Hennesperg aber fuhr Albrecht feindlich an: »Und du? Willst du dich in unsere Nachbarschaft setzen und uns um das letzte Krustlein Brot bringen? Die verdammte Kunst lernen, die einen verschmachten lässt? Deine Augen fragen gar gierig.«
»Seid unbesorgt!« sagte Albrecht.
»Nun iß, und dann schau dir deine Vaterstadt an!« sagte Furthmayr freundlich. »Judith soll dich geleiten. Als dummes Büblein bist du einst fort von hier, und mit scharfem Blick, der einen anforscht wie der Jäger den dämmervollen Wald, kehrst du zurück. Sieh dir alles genau an! Wenn du ein Maler werden willst, musst du dich an jegliches Ding erinnern können.«
Judith, des Meisters jüngere Tochter, mit ihrem zarten Leib und der sinnenden Stirn dem Vater ähnlich, führte den Gast durch die Gassen, und er hörte wieder die schweren Glocken, die seine Kindheit erschüttert und geängstigt hatten, und sah wieder die von uraltem Geschehnis wissenden Mauern, die wehrhaft getürmten, trotzig in sich verschlossenen Häuser der edlen Geschlechter, aus dem Granit des Böhmerwaldes gebaut.
Da graute die Emmeramkirche, die so heilig war, dass vormals der König sie nur barfuß hatte betreten dürfen. Albrecht trank dort aus dem Brunnen, in dessen gehöhlten Stein der Riese Samson mit seinen sieben dicken Haarsträhnen gehauen war. Dann weilte er rätselnd vor den chimärischen Geschöpfen am Tor der Schottenkirche, halb Tier, halb Fabel, mörderische Greife.
Die abendnahe Sonne widerglühte in der Donau. Von Pfeiler zu Pfeiler schnellte sich die schmale Steinbrücke über den stolzen, hastig schießenden Strom. Drunten hingen die Schiffsmühlen und polterten. Auf dem Wörth senkten Fischer ihr Garn in die Flut. Nordwärts an den Höhen grünten die Weingärten. Taubenflügel schimmerten über der Stadt, die Domstümpfe ragten.
Albrecht schaute dem Flugspiel der Schwalben zu, die über der blaugrünen Stromschnelle hinjagten, mit den Brüstlein flüchtig die Flut berührten und schreiend sich wieder hochschleuderten. »Wie fliegen die Engel?« fragte er plötzlich das Mädchen. Er fragte mit einem ernsten Ton, als müsse sie es wissen und ihm Bescheid geben können.
Sie erwiderte in gleichem Ernst: »Ich bin noch nit im Himmel gewesen. Doch Sankt Michel hat gewiss ein eisernes Gefieder.«
Wie sie also redeten, kam der Silberschmied Hittenkofler des Weges daher. »Brecht, dich trifft man wie den heiligen Stoffel auf allen Stegen«, rief er. »Die Brücke da, gelt, ein Wunderbau! Der Teufel hat dazu geholfen. Wo Witz und Kraft der Menschen nimmer langt, muss der dumme Teufel heran. Über die weitläufige Donau springt keine zweite Brücke von diesem Ausmaß und diesem Widerstand. Der Mörtel dazu ist mit Baierwein angerührt worden, der zieht zusammen.« Und der Meister schnitt ein saueres Gesicht und ging vorbei.
»Wie geschwätzig er heut ist! Hat er bairischen Wein getrunken?« lachte Albrecht.
»Gewiss hat ihn einer beauftragt, einen kostbaren Becher zu hämmern. Er ist glücklicher als mein Vater.« Ein leiser Zug des Neides verschmälerte Judiths Wangen, und Albrecht sah schnell weg.
Viele Leute gingen an ihm vorüber, Menschen mit blauen, braunen und schwarzen Augen, mit glatten, klaren und mit verschlossenen, zwitternden, zerrissenen Gesichtern. Pilger wallten aus der steinigen, föhrenfinsteren Pfalz her zu den vierzehn Nothelfern; der geckische Landsknecht mit gepluderten Ärmeln, gebauschten Hosen, bunt, als habe er den Regenbogen geplündert, rauschte daher; der Ritter kam geritten, aufrecht und hochmütig, wallende Straußfedern auf Helm und Rosskopf. Ohne Schwert, ohne Pferd keine Ehre! Der demütige Barfüßer in der Kutte, der Bettler mit dem Sack, die fremden Gesichter der Juden und ihre Weiber in grellem Putz, so fuhr das Leben vorüber.
Ein enges Gässlein verlassend, blieb Albrecht mit einem Schrei des Staunens stehen. Auf dem breiten Platz vor ihm lagerte der ehrwürdige Leib des Domes, strudelndes, brandendes, schäumendes Steinwerk, das mit seinen Streben, Türmlein, Zacken, Kreuzblumen und unvollendeten Türmen gegen den Himmel wirbelte und sich öffnete mit. einer von Heiligen bewachten, baldachinüberkrönten Pforte, einem steinernen, wunderbaren Bilderbuch. O wie war dieses Weihtum tausendmal schöner als die Martinskirche zu Amberg!
Am Nordturm war ein Gerüst angebracht, darauf mochten wohl am Werktag die Steinmetzen meißeln, die Taglöhner mit Tretrad und Kran die behauenen Steine in die Lüfte fördern, mochte es wimmeln wie in einem Immenkorb, in gemeinsamem Werk den Dom zu Ehren Gottes und seines schlüsselgewaltigen Boten zu vollenden.
Albrecht zog seine Führerin an der Hand mit sich.
Er schrak plötzlich zusammen. Ihm war gewesen, als hätte sich einer der steinernen Heiligen auf seinem Tragstein an der Torsäule vorgeneigt und auf ihn heruntergedeutet.
Und nun befand er sich in einem in unendliche Tiefe und Höhe sich dehnenden Raum, wie von einem schweren Schicksalszwang hereingestoßen, und unsägliche Gefühle bebten ihm im entzückten Blut und machten seine Hände zittern und nahmen dem erstarrten Mund den Atem. Niegeschautes Licht waltete hier und verzauberte ahnungsvoll alles Leben.
Von jäher Sehnsucht wie von einem Blitz erfasst und schier daran verbrennend, lehnte er an einem grauen Pfeiler und wurde sich bewusst, was ihn in diese Stadt hergezogen hatte, und sein Blick wurde in dieser Erkenntnis grell.
Ihn störte nicht, was hier noch unfertig stockte, Baugerüst mit Bohlen und Brettern, mit Leitern, zu der mancherorten noch geöffnet klaffenden Wölbung und zu dem Wipfel des Sakramentshäuschens zu gelangen. Er fühlte nur, wie durch die hohen, verglasten Löcher in den Mauern farbige Wunder rauschend hereinstürzten, und er legte das Haupt in den Nacken zurück und starrte empor, und ihn schwindelte, als müsse er nach einem irrsinnigen Gesetz hinauffallen in die Netze der schwingenden Rippen, in das seelenhaft belebte Kreuzgewölbe, das zu ihm niedersprach wie der Sternhimmel.
Wunderbar wob das Licht um Altar und Säulenbündel, es rann in der Pracht eines himmlischen Abenteuers aus den farbigen Scheiben, rot, blaubrünstig, gelbfeuerig, und vermählte sich in den Hallen zu einem träumerisch heiligen Dämmer.
Eine sagenhafte Erinnerung klang durch Albrecht Altdorfers Seele, die begeistert zur Wölbe emporflog und um die tragenden Pfeiler flatterte: es mochte in seiner Urkindheit gewesen sein oder gar in einer Zeit, da er vor diesem seienden Leben jetzt gelebt hatte, da hatte er irgendwo steinerne Bäume ohne Laub ragen und tragen sehen, vermessene Bogen hatten sich in die höchsten Höhen geschwungen, und glühende Nebel waren durchzückt gewesen von einem blendenden, unvergesslich starken Strahl.
Er hörte nicht, dass das schwesterliche Mädchen ihm die Seltsamkeiten dieses Raumes mitteilen wollte, die Reiter Jörg und Martin und des Teufels Großmutter im Loch und den blauen Esel der ägyptischen Flucht im Fenster: in ein abgründiges Gefühl entrückt, schien ihm der Leib von der Seele ge fallen zu sein, und diese hing gleich einer flammenden Ampel zwischen Himmel und Erde.
Er fand sich erst wieder, als er draußen im Freien war.
Auf einem der Blöcke, die auf dem Domplatz verstreut lagen, rastete ein Mann, vornehm und fast prunkvoll gekleidet in einen mit Feh unterlegten roten Scharlachmantel, das kantige Herrenkinn stolz gehoben, den Blick unwillig verstarrt in die Stümpfe des Getürms.
»Der ist der Wolf Roritzer«, raunte Judith.
Seines scheuen Wesens vergessen, in nachwogender Begeisterung sich nicht bemeisternd und zum ersten Mal in seinem Leben die Gunst des Zufalls versuchend, trat Albrecht vor den Dommeister hin. »Meister, nehmt mich in Euere Bauhütte! Lasst mich mitschaffen an dem Dom!«
Roritzers Blick kehrte wie aus weiter Ferne zurück. Er funkelte den Störer an, der mit glühendem, vom gewellten Lichthaar edel gerahmten Gesicht vor ihm stand.
»Wer bist du?«
»Albrecht, des Buchmalers Altdorfer Sohn.«
»Was weiß ich von ihm?« sagte der Dommeister rau. »Dich aber zerrt der Teufel. Am Dom willst du mitbauen? Schlag dir die Narretei aus dem Kopf!«
Schroff erhob er sich und ging.
Über die heftige Absage erschrocken, streckte Albrecht ihm die Arme nach, als wolle er mit dieser leidvollen, sehnenden Gebärde etwas für immerdar Entrinnendes festhalten.
Der herrische Mann sah es und sagte mit freundlicher, beruhigter Stimme: »Du tätest mir herzlich leid!«
Wilde Tränen brachen aus den Augen Albrechts, und der Dom schien sich vor dem verschleierten Blick in Rauch aufzulösen.
»Was meinst du?« wunderte sich Judith. »Komm, ich zeig dir den Turm, wo sich das Dommännlein herunterstürzt!«
Albrecht zwang beschämt sein stürmendes Herz wieder zu gelassenem Schlag. Wortlos und willenlos folgte er ihr durch das Gewirr der abendlichen Stadt.
In einem Spukgässlein huschte aus altertümlichem Tor ein kleiner, buckliger und dennoch zierlicher Mensch. Sein Gesicht war meeralt, auf seine Eulennase stützte sich eine gewaltige Hornbrille, dahinter ein böser Blick lauerte. Er war so bitter hässlich, dass Albrecht stehenblieb und sich nach ihm umsehen musste.
»Das ist der Uberto Vistosi, ein Venezianer«, sagte Judith. »Er verlässt nur in der Dämmerung sein Haus. Und wenn er meinen Vater besucht, fürcht ich mich sehr.«
»Was will er von deinem Vater?«
»Er versteht viel von der Malerei, und er und mein Vater streiten oft darüber. Er handelt mit Bildern, doch auch mit Alraunen, die er mitternachts aus der Galgentenne scharrt, und auch mit anderer befremdlicher Ware, die weither aus dem Morgenland kommt. Sieh sein finsteres Haus an! Nachts zucken blaue Feuervögel aus dem Rauchfang.«
Fremd düsterte das Gebäude, und in seiner Verfallenheit schien es um tausend Jahre älter zu sein als seine Umgebung. Und Albrecht erinnerte sich, dass sein Vater oft einen Venezianer Uberto verflucht hatte, der ihn mit seinem Wucher aus Regensburg vertrieben hatte.
»Dort aus dem Kellerloch«, fuhr Judith fort, »dort lauscht manchmal ein Kobold und quiekt: ›Greif mir mein rotes Mützlein nit an! Es brennt.‹«
Plötzlich, wie aus dem Erdgrund geschossen, stand der furchtbare Welschmann vor ihnen und krächzte: »Was habt ihr von mir zu reden?!«
Judith floh.
Albrecht suchte sie nicht. Er verbrachte die Nacht in den fremden Gassen, er redete niemand an und fragte nicht nach dem Haus Furthmayrs. Er wich den Nachtwachen aus, die mit funkelnden Spießen durch die still gewordene Stadt streiften und deren Laternen die finsteren Gesichter der Häuser belebten.
An der Säule der Prunkpforte des Domes lehnend, schlief er schließlich todmüde ein. Er träumte mühelose Wunder träume. Er reckte die Hand, und aus den Stümpfen der Türme wuchs der Stein aufwärts und vollendete sich bis zur Kreuzblume. O Seligkeit, solch hochstrebendes Werk zu schaffen!
Er erwachte. Ein Fackelwächter leuchtete ihm ins Gesicht.
Albrecht rannte davon. Er hörte den Verfolger hinter sich. Und der dünne Mond sprang aus dem Gegiebel, grellte und verschlüpfte sich wieder.
In einem verwahrlosten Gässlein stand ein Tor spaltbreit offen. Spezereien dufteten heraus. Es war das Haus des Venezianers. Albrecht schlüpfte hinein, sich zu verbergen.
Auf einem Schrank im geräumigen Flur brannten weiße, hohe Kerzen an einem bronzenen Siebenarmleuditer, der mit edelsteinernen Knäufen und Pantherkrallen versehen _und so edel wie eine Tanne gebaut war. Es war wie ein Andachtslicht vor dem Leib eines marmorenen Weibes, der in großer Schönheit und in einer fremden Kunst geformt war. Seine Schönheit stieß wie ein herrlicher, schmerzlicher Strahl in die Seele des Jünglings. Er legte die Hand auf die hochatmende Brust wie auf eine Wunde. Dann küsste er dem Stein die kühle Zehe und jagte davon mit dem Gewissen eines Menschen, der zum ersten Mal gestohlen hat.
Der Schiffmeister der Amberger Zillen neigte einen Plutzer Wein gegen seinen Becher, füllte ihn und schwenkte ihn seinen Leuten zu: »So bring ich euch den Johannissegen!« Er trank und goss den Rest hinter sich in die grünliche Donau. Hernach tranken die Knechte und wischten sich die feuchten Bärte und schrien: »Wir fahren in Gottes Namen!« Und auch Albrecht trank und legte sich mit den andern ins Ruder.
Sein Hirn war trüb nach der durchwachten, obdachlosen Nacht, sein Wille verschüchtert nach der Absage des Dommeisters. Hoffnungslos sah er in den wandernden Strom.
Die salzbeladenen Zillen gingen tief, fast schlugen die Wellen herein.
Langsam wich die getürmte Stadt zurück.
Am Uferpfad der Nab zogen Rösser die Kähne flussaufwärts.
Drei heiße Tage währt die beschwerliche Bergfahrt, und viele Stauwerke müssen überwunden werden.
Die Rösser trabten mühsam zu zwei und zwei auf dem Treidelpfad dahin, schief vom Wasser abgewandt, die Leiber in Bügel geschirrt, daran die Seile geknüpft waren, die, schließlich zu einem einzigen Zugtau vereinigt, die Zille schleppten. Die Reiter waren feste Bauernburschen. Vorn am Kranz des Fahrzeuges schaltete der Sessthalter, die wachsame Seele der Bergfahrt, er hob mit der langen Starzstange die Leine, wenn sie sich etwa an Strupp und Gefels des Ufers verfangen hatte, und lenkte mit leidenschaftlichen Schreien die Bemannung des Kahnes und das Rossvolk am Gestade, und es mangelte ihm nicht an Flüchen und Verwünschungen. Hinter ihm schaffte der Panitzer mit seinen Gehilfen, das Seilwerk besorgend, die Leinen klug verlängernd oder kürzend, je nachdem es die Fahrt notwendig machte. Ganz hinten hantierte der Steuermann.
Als nach gleißendem Wolkenbrand die Nacht sich entfaltete, banden sie bei Pielenhofen die Zillen an die Uferbäume und landeten und zündeten ein Feuer an. Es war ein störrischer Haufe, der sich da aus den vier Kähnen zusammenfand. Sie rannten in die Acker und rissen Rüben heraus, sie schlichen ins Dorf, Brennholz zu stehlen, sie fischten und leuchteten die seichteren Stellen des Ufers ab, um zu krebsen.
Im Dorf drin wurden die Hunde laut, Bauern grölten. Mit blutigen Schädeln kehrten die Knechte zurück. Der Klaus Holtzbock hatte ein Zauntürlein ergattert, und der Hundundkatz zertrampelte es kurz und klein und speiste damit das Feuer.
Der hagere Schiffsmeister nagte an einer rohen Rübe, kauend erzählte er: »Da der heilige Wolfgang donauhin gereist, hat ihn arg gehungert, und wie er die Hände verschränkt und betet, Gott möge ihm heut sein täglich Brot geben, springt ihm alsbald ein Wels in den Kahn zum feisten Imbiss. Eia, die Heiligen tun sich leichter als unsereiner.«
Hierauf berichtete Klaus Holtzbock, er sei bei der Hinrichtung des Honigdiebes zugegen gewesen, und dessen Weib und Kinder hätten auch zuschauen dürfen und ein gräuliches Geheul dabei verbracht. »Ist ein gar armer Mann gewesen und ist reumütig gestorben. Eh er von der Leiter in den Wind gestoßen worden, hat er den Henker geküsst, ihn seinen lieben Freund geheißen und ihm verziehen.«
Da rügten die anderen die irdische Gerechtigkeit. »Wegen ein paar Tropfen Honig hat er den Hals hinrecken müssen, und hat doch nur aus bitterm Hunger für sich und seine Kindlein gestohlen! Raubt aber ein Ritter oder ein König, so wird ihm das hoch zu Ehren gerechnet. Auf der Welt ist alles ein schreiend Unrecht!«
Am andern Ufer der feuerbeschimmerten Nab zeigten sich Bauern, die mit ihren Prügeln schattenhaft herüber drohten. »Ihr Unfläter! Gott vergelt euch den Mutwillen!« brüllten sie.
Die Schiffsleute lachten und ließen sie schelten. Nur der Klaus Holtzbock tastete nach seinem Stichmesser und schrie zurück: »Wenn ich nit einen von euch kaltmache, ihr Lackeln, soll mich der Teufel schleunig hindann führen!«
Sogleich klopften ihm dürre Spinnenfinger auf die Schulter, und eine fremde, meckernde Stimme sprach ihm zu: »Geduld dich, Bruder! Du kommst dran. Gut Ding braucht Weil.«
Von dem auffahrenden Geloder des freien Feuers beleuchtet, stand ein Fremder im Gewand eines vornehmen Reisenden mitten in der Rotte. Seine Miene war höhnisch überlegen, sein Gesicht war fremd und wie unter einem schwüleren, fiebernden Himmel geprägt.
Der Klaus Holtzbock sprang zurück, so dass die Flamme zwischen ihm und dem Unheimlichen waberte. Der kalte Grusel rann ihm über die Haut. »Ha, willst du mich jetzt schon haben?« stammelte er.
»Ich hol dich nit, du kommst von selber!« lachte der Fremde.
Zwei schwarze Gäule soffen abseits aus der Nab, von einem Diener gewartet. Der Fremde schwang sich in den Sattel, und sie ritten nordwärts.
Regungslos lauschten die Männer, wie der Hufschlag verscholl. Mancher schlug abergläubisch ein Kreuz. Der Hundundkatz aber spuckte aus und sagte: »Ein toller Vogel hat uns geneckt.
Bei Feuerschein zapften sie nun ein Fässlein Amberger Bier an, redeten vom Teufel, an den sie mehr glaubten als an Gott, und huben dann zu singen an, unablässig begleitet von dem zornigen Gekläff der Dorfhunde.
Albrecht sah dem unruhigen Nachtbild zu, dem webenden Feuer und seinem Widerschein in den erregten Gesichtern der Schiffer, auf deren Händen, Kleidern, Ring und Messer. Er sah die Zweige der nachtwilden Weiden im Schein der Flamme niederhangen, bis sie müde wurde und endlich neben den schnarchenden Männern erstarb.
Auf der Vils hub die Schinderei an.
Als die Zille unversehens an ein Riff stieß, stürzte der Klaus Holtzbock in den Fluss. Er konnte nicht schwimmen und bettelte hündisch, man möge ihm ein Seil zuwerfen, dass er sich daran rette. Die Gesellen zu Schiff und zu Ross schauten ihm mit neugierigem Grausen zu und rührten keine Hand. Dem ersten im Jahr, der ins Wasser fällt, darf nicht geholfen werden. So begehrt es ein überliefertes Zunftgebot. Die Vils will ihren Zoll haben. Dann dient sie umso williger.
»Ergib dich, Klaus!« schrie der Hundundkatz. »Es muss so sein. Und kommst du in die Höll, so drossle mir den Teufel!« Der Ertrinkende schlug toll um sich und versank.
»Schaut zu, dass ihr seinen Hut greift!« befahl der Steuermann. »Den Schelmen lasst rinnen!«
Da fischten die Leute der nachfolgenden. Zille mit Gefahr des Lebens einen zerlumpten Hut heraus.
Die belasteten Kähne hatten nur wenig Bord, und die Vils war stellenweise seicht und von manchem Felsbarren gestört, und gewaltige Blöcke lagen in ihrem gefährlichen Bett. Die Kiele rieben und schürften sich an dem Grund. Da hieß es peinlich die launische Fahrtrinne einhalten.
»Hui Strahl!« fluchten die Reiter, geißelten in die Gäule hinein und verwünschten sich und ihre Tiere in den Tod. »Höhö, links aus! Links aus!« schrie der Sessthalter. Schweiß stürzte über die vor Mühsal fratzig verkrampften Gesichter der Männer, Rock und Hemd rissen sie sich vom Leib und schafften mit nacktem, braunem Oberleib, dessen Haut mit wilden Narben an Rauferei und Messerstich erinnerte, mit geballten Muskeln, mit fauchendem Mund, daran sich Stoßgebet und Vermaledeiung vermählten, mit irren Augen, mit blutigen Handballen. »Wie selig schläft der Holtzbock am Wassersgrund!« neidete einer.
Albrecht, in das kämpfende Getriebe hineingerissen, biss die Zähne zusammen und ließ nicht nach, ob ihm auch die müden Arme vom Leib zu fallen drohten.
Bei Rohrbach trafen sie allzu seichtes Wasser an. Sie mussten, den Betrieb der anliegenden Mühle störend, ein Wehr aufreißen, um genug tragende Flut unter die Schiffsleiber zu erlangen. Getriftetes Scheitholz schwamm davon, und sie ernteten das arge Gezeter der Mühlknappen. Trotz des anströmenden Wassers und des steigenden Spiegels erzogen die Rösser die Lasten nicht, und man musste die letzten drei Zillen ganz nahe an die erste, schwerste, heranführen, dass sie, mit den Breitseiten gegen die Vils gestemmt, diese stauten. Da hob sich die Vorderzille und überwand die schwierige Stelle. Umso schlimmer hatte es dann der letzte Salzkahn, alle sechzehn Rösser mussten vorgespannt werden, und die Schiffer liefen zur Schleuse des nächstobenliegenden Hammerwerkes, öffneten sie und ließen zum Groll der Hammerknechte Balken und Bretter des zerstörten Stauwerkes unbekümmert davon rinnen. Es kam zu einem wüsten Scharmützel zwischen Hämmern und Ruderstangen. Endlich knirschte der Kahn über das Geröll. »Das Schiff ist hin!« rief der Sessthalter.
Alle schnauften auf, als sie abends bei Dietldorf die Kähne wieder an die Landpflöcke banden.
Am dritten Tag lief der Kahn, darin Albrecht an seinem blutbefleckten Ruder saß, an einer Krümmung der Vils auf einer Kiesbank auf und rührte sich nimmer. Vergebens drohten die Knechte dem Wasserheiligen Nikolaus, ihn aus dem Himmel herunterzuholen und in der tückischen Vils zu ersäufen, vergebens rollten sie die Salzfässer ans Land, das Fahrzeug wieder flottzumachen. Sie mussten schließlich das Schiff aus dem Sand schaufeln, und dann wurden die Gäule in den Fluß getrieben, es loszureißen. Und Albrecht stemmte seine junge Schulter an das gelähmte Schiff.
»Ich hab die Rackerei satt«, ächzte der Hundundkatz. »Wenn wir das Schiff auf der steinigen Straße zögen, es wär auch nit ärger. Heut fahr ich zum letzten Mal. Ich will Landsknecht werden. «
»Ja, fressen, saufen, in Samt und Seiden schreiten und ein ehrbar Leben missachten!« rügte der Sessthalter, ein bejahrter, weißbärtiger Mann.
»Und selig sterben auf grüner Heide!« lachte der Knecht.
Und beim nächsten Schaufelstich förderte er ein uraltes Ding aus dem Kies, ein Ritterschwert, das hier verschüttet gelegen, wer weiß wie lange, ein Schwert mit unförmlich großem Knopf, und er nahm es an sich, schwang es fröhlich und ließ die Schaufel im Sand versinken.
Albrecht fand daheim alles in dumpfer Trauer. Die Mutter lehnte an der Tür und weinte, die jüngeren Geschwister taten ganz verschreckt, als wäre der Tod ins Haus eingebrochen. Hatte der Vater in seiner unberechenbaren Laune wieder einmal die Frau geschlagen?
Aber Meister Ulrich saß am Tisch und streckte dem Sohn hilflos die Hände entgegen. »Bist du es, Albrecht? Warum bist du fort gewesen? Ich brauche dich jetzt mehr als früher. Gott hat das Licht in meinen Augen ausgeblasen. Ich bin ganz blind. «
Ulrich Altdorfer ergreiste rasch. Das Unglück veränderte ihn.
Er verlor seinen tückischen Jähzorn, seine Launen. Er bereute sein ungeschickt angefasstes, versäumtes Leben. »Seit ich blind bin«, sagte er einmal, »sind mir die Augen über mich aufgegangen.«
Niemals redete er darüber, was im Berg zu Predewind geschehen war. Albrecht glaubte, der Vater habe den Schenzel im Raufkampf dort in eine Abkluft gestoßen.
Zuweilen tastete sich Meister Ulrich in eine Schupfe, die an der Stadtmauer klebte, und sperrte sich darin ein. Man hörte seinen Meißel klingen, aber niemand wusste, woran er arbeitete. Er hielt diese Werkstatt immer sorgfältig verschlossen. Nach der geheimen Arbeit war er meist sehr erschöpft, und er rief die Kinder zu sich, streichelte sie mit den zitternden, unfähigen Händen und tat, als nähme er Abschied.
Trotz allem Unglück wurde das Leben im Haus erträglicher. Eine reiche, verwittibte Base Frau Udas besann sich der armen Verwandten und unterstützte sie fortan in würdiger und nicht beschämender Art. Magdalena und Aurelia gingen nun hübsch gekleidet, und Erhard wurde zu den Mönchen in die Schule geschickt. Die ärgste Not war vorüber.
Während Aurelia anmutig und spielerisch wie ein junges Tier und sicher in sich selbst war, war Magdalena ein wunderliches, schwieriges Kind. Sie prahlte gern mit der Rosenkranzschnur, was der Mutter anfangs wohl gefiel, und im Kirchstuhl schaute sie immer hübsch ehrbar und sittig vor sich hin, indes Erhard und Aurelia die Köpfe neugierig nach den strahlenden Gemälden, nach der Orgel, dem steigenden Weihrauch und den anderen Leuten drehten. Als man in Amberg zu fürchten begann, im Jahr 1500 gehe die Welt unter, vertiefte sich der fromme Zug in ihrem Wesen. Sie weilte am liebsten allein, und wenn sie mit der Mutter im Wald war, versteckte sie sich gern in einem Gebüsch und rief glücklich: »Jetzt bin ich eine Einsiedelin, eine Waldschwester!« Einmal hielt sie den Kopf in einen blühenden Dornstrauch und sagte schmerzlich und unkindlich: »Mein Heiland, kröne mich!« Abends vor dem Einschlafen kreuzte sie die Arme über der Brust, schloss die Augen vor Grauen und flüsterte: »Ich weiß, dass ich sterben muss. Ich weiß nit wann, nit wo, nit wie. Aber ich weiß, wenn ich in einer Todsünd sterbe, bin ich ewig verloren.«
So oft es ihre Zeit gestattete, lief sie zu den Klosterfrauen, und sie kam immer dunkelglühend heim und begehrte von der Mutter, die Brüder sollten Mönche werden und sie und Aurelia Nonnen. Das glaubenswillige Kind wurde beängstigend seltsam: sie unterdrückte ihre natürliche Neugier, sah nie zum Fenster hinaus und schlug auf der Gasse die Augen zur Erde nieder und kannte keine Leute. Eifrig beichtete sie ihre belanglosen Kindersünden, und als sie zum ersten Mal den Leib des Herrn nahm, wurde sie ohnmächtig und starb fast daran: es war ihr ein schrecklich süßer und tödlich erhabener Augenblick, da Gott in sie eintrat und sich mit ihrem Blut vereinigte. Das alles bekümmerte die Mutter sehr.
Albrecht zeichnete indes emsig auf Holzklötzen und schnitt die Zeichnungen mit dem Messer aus und druckte sie ab. Die Gestalten misslangen meist, und es war nur gut, dass der Vater blind war, sonst hätte er ihm scheltend das Schnitzmesser weggenommen. Dennoch fanden sich Leute, die diese Bildlein ehrten und erwarben, weil sie biblische Vorgänge darstellten. Wie konnte es auch besser mit Albrechts Kunst stehen, da ihn ein blinder und gebrochener Meister unterwies!
»Ich hätte dir helfen sollen, als ich noch hell in die Welt geschaut habe«, sagte der Vater wehmütig. »Aber das Beste, was ein Meister braucht, muss aus seinem Seelenbrunn quillen.«
Albrecht übernahm die Arbeiten, die der Stadtrat gnadenweise seinem Vater zugedacht hatte. Er malte Sterne und Wappen in den Gewölben der Hausfluren. Er malte auf dem Martinsturm die Ziffern des Stundenkreises mit weithin schimmernden Farben neu. Da stieg er die steilen Leitern hinauf und saß auf dem Gerüst hoch über der Stadt und grüßte beglückt die Fernen. Er liebte diesen ungeheueren Ausblick von oben und neidete es den Lerchen, dass sie von ihrer Himmelseinsamkeit aus die Welt noch weiter genießen konnten als er.
Er schraubte die Uhrzeiger ab, die an Luft und Regen dunkel und schmutzig geworden waren, und trug die beiden Speere wie Kriegswaffen auf den Schultern heim und vergoldete sie und versah sie mit rankendem Zierat. Der Vater beriet ihn dabei.
Der Blinde tastete forschend die Form ab und flüsterte. »Zeit ist langsamer Tod.«
Meister Ulrich ging jetzt immer vornüber gebeugt, als suche er mit den verdorbenen Augen etwas Verlorenes auf dem Boden. Selten hob er das Gesicht, es war blassgrau und kränklich.
Die Mutter sagte einmal zu Albrecht: »Die Zusel ist an allem schuld. Sie hat den Vater um die Augen gebracht. Sie hat sein Herz irr gesungen, dass es gleichgültig worden ist gegen mich und euch Kinder. Wer weiß, was das abgewitzte Weib ihm eingeflößt hat! Die Dörrsucht hat sie ihm angewunschen, und alle Kraft und allen Willen hat sie ihm entzogen. Seine Seele hat sie fest in den Krallen.«
»Mutter, wie kann das sein?« zweifelte Albrecht.
Die Altdorferin ließ sich hemmungslos von ihrer Eifersucht treiben. »Die Stadt Amberg soll ihr versagt werden!« rief sie. »Ins wilde Grummet soll man sie bannen! Der Henker soll die. Unholdin in den Rauch stoßen!«
Heimlich beschloss Albrecht, die Susanne Buchnerin zu bitten, dass sie den Geist des Vaters aus ihrem Zaubernetz freigebe. Aber er scheute sich, ihr verrufenes Haus zu besuchen.
Einmal feierabends führte Albrecht den Blinden durchs Wingertstor hinaus und an den Gärten vorüber. Gerührt nannte der Vater die Blumen und Stauden mit Namen, deren wonnevolle Düfte ihm schwelgerisch begegneten, und er fühlte die Größe seines Verlustes und murmelte: »Alles ist schwarz!«
Der Sohn drückte die Augen zu, um zu erfahren, was ein Blinder sehe, und er schaute purpurnes Dämmer, von unruhigen, wunderlichen Formen durchwebt.
»Die Nacht lebt überall, und kein Licht kann sie verhindern«, klagte der Verstümmelte. »Albrecht, hüte deine Augen! Sie sind das Edelste, was Gott dem Menschenleib gegeben hat.«
Nach einer Weile sagte er wieder: »Ich rieche das Grün. Albrecht, gib mir einen Stein! Wie trocken, wie hart ist er! Gib mir ein Stück Erde! Wie zerbröckelt sie unter meinen Fingern! So löse auch ich mich bald. O weh, ich steh im Dunkel wie in einer tiefen Höhle! Mir schweigt das Licht.«
Eisenhild trat aus dem Garten des Silberschmiedes. Seiner Arbeit verpflichtet, hatte Albrecht sie schon lange nimmer gesehen. Sie war gewachsen und ihr Gesicht jungfräulich geworden.
»Kommt in unsern Garten, Meister Ulrich!«
Sie schritten durch das Törlein.
Der Blinde hob sein entstelltes Gesicht zum Himmel auf und griff über sich, als wolle er das geahnte Licht berühren. »Der Sommer mag wohl schön sein«, sagte er. »Es riecht sehr nach Sonne.«
Albrecht sah das farbige Getümmel auf den Beeten, zur freudigen Augenweide gepflanzt, den laubigen Sitz droben in der Linde, den bitteren Nussbaum, den süßen Birnbaum, die rauschende Wasserkunst.
»Wo ist der alte Mertz?« fragte er. »Ich habe ihm oft in seiner Gußhütte zugeschaut.«
»Weißt du es noch nit, Brecht? Er ist jäh gestorben. Gestern ist er umgefallen, wie von einer Kugel getroffen.«
»Die Toten haben es gut«, sann Meister Ulrich. »Albrecht, magst du seliger sein als ich! Gott hat sich gegen mich gekehrt. Er weiß warum.« Er sagte dies sanft und ohne Vorwurf, er war nimmer der harte, brausende Mann von einst.
»Gebt mir eine Blume!« bat er.
Eisenhild brach ihm eine stolze, blutrote Tulpe.
»Sie ist blau, ich fühle es«, sagte er. »Und jetzt gebt mir ein Lindenblatt! Ich hör den Baum über mir säuseln. Gebt mir einen Grashalm!«
Er fühlte die Umrisse ab, er streichelte die Flächen. »Jedes Läublein ist ein Meisterstück. Am meisten aber hat sich Gott gefreut, als er zu Ende der Schöpfungswoche die Blumen, die Blätter, die Falter und die Finken hat bunt bemalt.«
Er hielt plötzlich lauschend inne. »Es ist Böses in der Nähe. Ein Luchs? Eine Wölfin? Kinder, helft mir davor!«
Die Frau Susanne Buchnerin lachte zur Gartentür herein mit ihrem tiefen, wohllautenden Lachen. »Gebt mir eine Rose! Die schönste Rose!«
Ängstlich brach Eisenhild eine Blüte von einem edeln Dornbäumlein und reichte sie dem Weib, und diese steckte sie vor die Brust und ging ohne Dank weiter.
»Warum hast du der Argen die Blume geschenkt?« fragte Albrecht. »Sie verdient sie nit.«
»Die Leute fürchten sie, und ich auch«, erwiderte das Mädchen.
Eine Lerche sang wie aus dem seligen Himmelreich hernieder. Aus ihrer kleinen Kehle klang ein ganzer Frühling.
Der Blinde ließ sich auf einer Bank nieder, fasste die Hände der zwei jungen Menschen und erzählte: »Ich hab einen Ahnen gehabt, einen frommen Mann, viel frommer als wir, seine Nachfahren. Er ist in ein Kloster im Gebirg verschollen. Eine Schrift hat er hinterlassen, drin ist gestanden: ›Ich bin nit mehr denn jenes graue Vöglein, das am Zaun flüchtig den Schnabel wetzt und mich eine kurze Weil mit den schwarzen Augen anschaut. Ich bin nit mehr denn jene graue Spinne, die in meiner Kammer ihr Netz flicht, das mit einem Hauch zerstört werden kann. Ich bin nit mehr denn der winzige Tropfen, der dort am Halm die Sonne in sich spiegelt, bis er sich löst in der Luft. Und nit wesentlicher bin ich denn das Sandkorn, das unterm Schuh des flüchtigen Wanderers knirscht. Wir alle, Vogel, Halm, Tau und Wolke, das Stäublein, das ohne Schwere in der Sonne kringelt, Baum und Tier und Mensch, wir alle sind gleiche Ringe in. der Kette der Schöpfung.«
»Vater, wo ist die Schrift des Ahnen?« fragte Albrecht sehnsüchtig.
»Verstoben und verloren, weg, wie all mein Hausrat. Ich hab viel wandern müssen mein Lebtag, unruhig bin ich gewesen allezeit, Stimmen haben mich gerufen aus allen Winden. Vor lauter Unruh hab ich nichts vollbracht.«
Eisenhild, die Enkelin des selbstzufriedenen Kunstschmiedes, hörte betreten dem Jammer eines von sich selbst enttäuschten Lebens zu.
»Kommt heim, Vater!« bat Albrecht. –
»Mutter, ich geh zur Buchnerin, sie soll das verzauberte Herz des Vaters frei lassen«, sagte Albrecht.
»Nein!« rief Frau Uda. »Du darfst nit zu ihr. Du bist schon fast wie ein Mann. Sie verzaubert dich auch, die Ausfahrerin!« »Sie tut mir nichts. Sie liebt doch nur den Vater.«
»Oh, mit vieren zugleich hält sie es. Den einen tritt sie unterm Tisch mit dem Fuß, dem zweiten drückt sie heimlich die Hand, den dritten äugelt sie an, und den vierten Narren verbrennt sie mit ihrem seidenen Wort das Hirn. Alles im selben Augenblick. Geh nit zu ihr! Sie verderbt dich, und du wirst hin sein wie ihr Mann, von dem niemand weiß, ob er noch lebt oder nit.«
Dennoch pochte Albrecht zur Nacht an das Fenster der Verrufenen.
Mit einem Span leuchtend, öffnete sie die Tür.
»Du bist der Sohn des blinden Altdorfer. Was willst du?«
Er fürchtete, in die schwarz aufgetanen Schlünde dieser heißen Augen hineinzustürzen. »Zuerst sagt mir, wo Euer Mann ist, Buchnerin!«
»Ich bin allein daheim«, lächelte sie. »Bist du so feig?«
»Ihr versteht mich falsch. Ich meine, die Leut fragen, wohin der Berthold Buchner ist. Sie reden schlimm von Euch.«
»Deine Mutter mag immerhin reden, dass ich ihn vergiftet und im Keller verscharrt hab«, spöttelte sie. »Doch du sollst die Wahrheit wissen. Ich hab meinen Mann ins Tal, ins Erzgebirg geschickt, dort werden die Bergleut reich. Das glaub! Das ist lauter und wahr.«
Sie zog ihn hastig in die Stube.
Während er im Licht einer Kerze an der Wand ein schwüles Bild der badenden Susanne, der Schirmfrau wohl dieses Weibes hier, gewahrte und schnell davor die beschämten Augen senkte, verhüllte sie das Fenster mit einem dicken Teppich, darein Frau Hoffart mit ihrer gefiederten Dreimalkrone sinnbildlich gewirkt war.
Auf dem Tisch lagen ein aufgeschlagenes Lautenbuch und eine dreisaitige Fiedel. So also war eine Hexenstube eingerichtet.
»Seit Predewind bist du groß geworden und viel schöner als der, der dich gemacht hat«, begann sie. »Was willst du jetzt in der Nacht bei einem Weib, das allein ist?«
Er saß verwirrt vor ihr. Übte sie schon ihre verruchte Macht an ihm? »Meine Gedanken folgen mir nit«, stammelte er. »Ich hab vergessen, warum ich kommen bin. Ich glaub, ich fiebere.«
»Soll ich dir das Fieber absprechen?«
»Könnt Ihr das? Seid Ihr wahrhaftig eine Zauberin?«
»Spürst du das nit? Bläst es dir nit täglich deine tolle Mutter ins Ohr, dass mich der Buchner auf dem Hexenmarkt zu Kötzting gekauft hat?«
»Könnt Ihr – auch fliegen?«
»Du fragst wie ein Hexenrichter. Willst du mich den Schürgen verraten? Ich weiß, ich bin immer gefährdet.«
»Susanne Buchnerin, ich will nur, Ihr sollt auf meinen Vater verzichten. Er leidet durch Euch. Ihr habt ihn entseelt. Heilet ihn wieder! Heilet seine Augen, wenn Ihr mit Euerer Kunst es vermöget! Tut sein Herz aus Euern Händen!«
»Ich kann nur verhexen«, erwiderte sie, in unheimlichem Scherz auf seine Rede eingehend. »Den Zauber zurückzunehmen, das liegt nit bei mir. Ich kann ein lebendig Herz ausschneiden, doch nimmer einfügen. Aber eins will ich tun, dich, den jungen Altdorfer, besessen machen.«
»Mir könnt Ihr nit an«, sagte er, und er stellte sich hinter dieses Wort wie hinter einen geweihten Schild.
Ihr dunkles Auge richtete sich starr auf ihn. Drohte es? Verhieß es?
Dann lachte sie laut. »Dich hat schon Eisenhild verzaubert.« »Wie wisst Ihr das?« fuhr er abwehrend auf. Und er schwieg und erkannte plötzlich sein eigenes Herz.
»Ich weiß das Verborgene, Altdorfer. Und ich kann zwingen. Wisse, ich bin eine Drud und ich will dich drücken in mancher Nacht, dass dir Atem und Herzschlag schweigt.«
»Wagt es!« drohte Albrecht. »Ein scharfes Messer leg ich mir auf die Brust, die Schneide nach oben. So will ich auf Euch warten in mancher Nacht!«
Ihre blühenden, vollen Lippen zuckten schmerzlich. »Bist du so grausam? Meinst du, es ist keine Qual für mich, wenn ich jemand drücke? Drücken muss?«
»Ihr lügt mich an, Frau Zusel, weil ich unerfahren bin. Wie könnt das Wunderliche sein?«
»So zeig ich dir, wie ich hexe«, sagte sie. Sie verschwand in ihrer Kammer.
In banger Neugier wartete er. Nun wird sie kommen mit Sud und Spruch und wallendem Rauch, die Verruchte, von der das Gerücht weiß, dass sie im Burghof zu Steffling zur Sonnenwendnacht im ersten Ring der Hexen vortanze, dass sie auf sieben Staffeln in die Lüfte steigen könne. O ihr Mann hat sie verlassen, ist gegen Böhmen ins Silbergebirg gezogen, weil er um sich selber fürchtet in der Nähe dieses Weibes!
Da trat sie aus der Kammer. Wie ein Blendbild glänzte sie im Rahmen der düsteren Tür, das Düster der Kammer hinter sich. Nackt stand sie, und es wob Göttliches und Höllisches um diesen unverhüllten Leib.
Albrecht war, er müsse vor Scham über die Schamlose meilentief in den Grund versinken. Er atmete schwer, als laste schon die Unholde auf seiner vergehenden, versagenden Brust.
Aber er, der Unerfahrene, fühlte mit befremdlicher Klarheit, dieser Leib war vollendet schön, diese Glieder waren voll edelsten Ebenmaßes. Und an der Haut, darin die Farben der Rose und der Lilie sich lieblich bekämpften, war kein wüstes Mal der Hölle gezeichnet, an dieser schlanken Hüfte glomm keine rote Beere, dem geilen Kuss des Satans entwuchert. Es war ein makelloses Bild.
Zum ersten Mal in seinem der Schau der Welt geweihten Leben sah Albrecht Altdorfer das enthüllte Weib, sah es in einer hinreißenden Vollendung. Ach, welch unförmliche, plumpe dumpfe Frauenbilder hatte er ins Holz geschnitten, tölpelhafte Gestalten, in unwissendem Wachtraum ausgeklügelt! Hier war das Weib, wie es Gott gewollt und geformt und damit das Land des ersten Mannes zum Paradies gemacht hatte.
Und doch atmete sie wie die verfleischte Sünde und erinnerte an die schöpferische Macht der Hölle.
In weichgleitender, gleißender Gebärde weitete sie die Arme. »Ihr seid schön«, flüsterte er.
Aber ihn wehte ein Grauen an, ihm war, als flimmere und wanke alles um ihn, als sänke er in flackerndes Licht und es fresse ihm, wie seinem Vater einst, den lebendigen, den heiligen Blick aus dem Auge.
Und dann stieg eine reine, keusche Kühle, eine schöpferische Nüchternheit in seiner Seele auf: dieser lebenblühende Leib verfloss vor ihm mit dem Marmorleib, den er einst in kerzendämmerndem Flur zu Regensburg gesehen hatte. Er stand in der reinen Schau des Künstlers, begeistert nur von dem Geheimnis der Form, und seine Sinne begehrten in dieser Weile nicht das sich ihm darbietende Fleisch.
Erkennend bedeckte sie ihr Gesicht. »Deine Mutter rächt sich in dir«, stöhnte sie und flüchtete.
Ehe er sich des traumrasch verflackernden Erlebnisses besinnen konnte, stand sie schon wieder bekleidet und entzaubert vor ihm, das Weib eines Bergmanns aus Amberg und nicht mehr.
Sie sagte: »Geh! Auf dem Totenbett sollst du es bereuen, dass du in dieser Nacht fromm gewesen bist!«
Ulrich Altdorfer überlebte das Licht seiner Augen nur wenige Jahre. Er brachte es nimmer zu einem eigenen Haus, wie er es so sehnlich gewünscht hatte. Er betrat nimmer den mütterlichen Boden Regensburgs. Er war nur noch Erinnerung und versöhnte sich mit dem Gedanken, dass sein ältester Sohn Maler werden wollte. Er war mild und still geworden.
»Albrecht«, sagte er, »du lässest nimmer aus in deinem Willen. Du willst bilden, und das muss wohl so sein, denn du stehst unter dem Zwang des sehnsüchtigen Blutes, das du von mir ererbt hast. Ach, ruhlos bin ich immerdar gewesen wie eine Seele, deren Leib in ungeweihter Erde begraben ist! Ich werde mit meinem geringen Werk ganz und gar vergessen sein, wie denn auch während meines Lebens fast niemand von mir gewusst hat.«
Ein anderes Mal sagte er: »Wer sich der Kunst ergibt, muss das Herz fester haben als ambergisch Erz. Er darf sich nit an die Welt verlieren, ob er auch, wie kein zweiter Mensch, der Welt voll gehört. Er muss treu in sich selber stehen. Kunst ist Honig, den man aus den Dörnern lecken muss.«
Immer wieder lehrte der Blinde den Sohn das Geheimnis seiner Farbenkunst, soweit er darein eingedrungen war. »Du wirst einmal malen. Male mit dem besten Zeug, dass deine Bilder dauern! Es währt lange, ehe die langsame Welt das Gute erkennt. Nimm stets Nürnberger Farben, nimm festes Landshuter Papier, nimm die beste Leinwand! Doch male lieber auf Tafeln! Nimm Lindenholz!«
Albrecht hörte mit dem Gehorsam eines frommen Sohnes zu; er wusste längst, was ihn der Vater hier kümmerlich lehrte.
Einmal, es war just an dem Tag seines Namensheiligen, sagte Meister Ulrich plötzlich zu Albrecht, der allein an seinem Siechbett weilte: »Die Sanduhr, die Gott neben mich hingestellt hat, rinnt ab. Der Herr lohne mich drüben! Das irdische Leben ist mir alles schuldig geblieben.«
»Ihr sollt uns Kindern noch lange leben!« tröstete der Sohn.
Mit einer wehmütigen Gebärde wischte der Alte diesen Trost weg. »Ich will dir von drüben mit anderen, mit tieferen Augen folgen, Albrecht, mit einem Licht in den Augen, das unmittelbar aus Gott stammt. Sohn«, sagte er und richtete sich müde auf, »wahre deine Augen besser als ich!« Er tastete in die erstorbenen Höhlen seines Gesichtes. »Selige Schwelle du, durch dich blüht das Licht in die Seele hinein!«
Er sank zurück. »Das Fieber stößt mich an. Das arme Irrlichtlein – erlischt. Ich – sterbe – zu früh. Ich hab nit beginnen, nit vollenden können. Ein Sternbild hat mich dazu gezwungen. Kunst – braucht – ein friedlich Herz. Ich habe es nie gehabt.«
Seine Stirn war bleichgrün, sein hageres Kinn schlotterte.
»Ich hol die Mutter!« rief Albrecht bestürzt.
»Die Mutter? Viel Herzleid hab ich ihr getan«, flüsterte der Meister. »Lass sie!« Er rang röchelnd nach Atem. »Und vergiss nit, gib der Stadt Regensburg den Gulden! Ich hab ihn nimmer – übermitteln können.«
»Seid des unbesorgt!« sagte der Sohn. Er wunderte sich, er hatte nicht gewusst, dass sein Vater ein so genauer Mann war.
Der Sterbende suchte die Hände seines Kindes, er verflocht die welken Finger darein und sprach laut: »O Gott, du Licht sonder Nacht! Du Sonne ohne Untergang!«
Mit diesem Preis auf den Lippen verschied er.
Albrecht löste sich sanft von dem Toten. Er trocknete ihm die erkaltende Stirn, die fahl und voller Schweiß war.
Da ruhten kraftlos die Hände, sie hatten ihrer Kunst vergessen, ihrem Handwerk entsagt, der feinen Buchmalerei, dem groben Steinwerk. Die Augen waren geschlossen, die schon bei Lebzeiten getöteten, armen Augen. Jetzt war ihnen das ungestüme, ungeduldige Herz in die Nacht nachgefolgt.
Ein fremder Mensch schien hier zu liegen, geheimnisvoll verschlossen, endgültig, vollendet. Die Wangen waren jäh verfallen, die schlechten Zähne gilbten zwischen den schmal klaffenden Lippen, das Kinn war gesunken. Ein Irrweg war hier ausgewandert bis zum letzten verzagten Schritt.
Albrecht, ist dieser stille Mann da, dieser unendlich stille Mann, dein Vater gewesen?
Surrendes Geräusch weckte Albrecht aus seiner Trauer. Ein pelzig düsterer Falter kämpfte mit seinen lächerlichen Kräften einen aussichtslosen Kampf gegen die kleinen Scheiben de š Fensters; mit seinem plumpen Kopf und den stäubenden Flüglein stieß er an die Butzen. Da riegelte Albrecht das Guckfenster auf, und der Schmetterling taumelte aus dem Schatten der Stube hinaus in die grelle Sonne, und die unzulänglichen Augen des Dämmergeschöpfes mochten von dem prallen Licht entsetzt und verletzt sein, denn es sank wie zu Boden gestoßen nieder. War es die Seele des Vaters?
Albrecht holte die Seinen herein.
Die Mutter strich dem Toten wie einem ungebärdigen Kind das Haar zurecht. Sie nagte an den alternden Lippen, seufzte und sagte mit grauer Stimme: »Ich will nit weinen. Ich könnt meine Kinder damit betrüben.« Dennoch brach sie in ein schütterndes Schluchzen aus.
Die Geschwister betrachteten staunend den wie versteinert ruhenden Mann.
»Mutter, was weinst du?« fragte Magdalena.
»Und du lächelst?« zürnte die Frau.
Frühklug sagte die Tochter: »Die Seele ist unvollkommen, solang der Leib sie gefangen hält. Was soll ich trauern? Der Vater ist entronnen.«
Albrecht sperrte die Schupfe auf, darin der Vater noch in der letzten Woche gearbeitet hatte, und fand im Zwielicht dort einen einfachen Grabstein, darein die Inschrift gemeißelt war:
ULRICH ALTDORFER EIN GROSSER SÜNDER.
Nichts anderes stand dabei zu lesen, kein Wappen, keine Jahrzahl, keine Bitte, dass Gott ihm genade.
Als Vater Ulrich unterm Rasen lag, nahmen sich alle die wohlhäbigen Verwandten, die den Maler nicht geliebt hatten, der Waisen an und erboten sich, für sie würdig zu sorgen.
Aber in die Träume Albrecht Altdorfers glühten Dom und Donau. Und als er das Schicksal der Seinen gesichert wusste, wollte er sich zu Regensburg in seinem Handwerk vervollkommnen oder, wenn das Glück es wollte, versuchen, in der Bauhütte Wolfgang Roritzers aufgenommen zu werden.
Noch einmal bestieg er den Martinsturm und blickte lange in die Landschaft, die hälftig im Schatten einer braunen Wolke und hälftig besonnt in einem bunten freundlichen Licht wie außerirdisch entrückt lag.
Im Garten nahm er Abschied von Eisenhild. »Wie lieblich sie ist! Was wäre die Welt ohne sie!« dachte er. Ein Vogel flog vorbei, ein Rosenblatt im Schnabel.
Im Auge des Mädchens war es wie der milde, flehende, braune Blick der Hinde. Sie sagte: »Bleib und werde ein Edelsteinmetz!«
»Ich will dem Dom nahe sein«, erwiderte er. »Ich will leuchtende Tafeln für die Kirchen malen.«
Es war eine scheue, kaum bewusste Liebe ohne Wort, ohne Berührung gewesen. Jetzt aber, da er sie verließ und da ein dunkler Vogel im Laub bedrängend sang, sprach Altdorfer: »Ich kann dir nit sagen, wie ich dich gern hab. Lass die Amsel für mich reden!« Schüchtern legte er die Hand auf ihren Arm, und so weilten sie regungslos und lauschten.
Endlich sprach sie: »Es lebt kein Mensch auf Erden, der um dich so traurig ist wie ich.«
»Ich komme wieder, lebendig oder tot!« schwur er.
Am andern Tag verließ er die Seinen.
Er küsste Magdalena. Sie bereitete ihm Sorge mit ihrem weltabgekehrten Wesen, mit ihren Träumen, darin sie sterben wollte und daraus sie dann mit wilden Zähren erwachte. Auf ihr lastete das Erbe des Vatersbruders, der als Kind aus Leidenslust in die Fremde gewallt und nimmer heimgekehrt war. Sie benahm sich wie eine Büßerin: im Wald steckte sie an jedes fromme Bild am Weg mit bloßen Händen einen Strauß Brennnesseln, und dann freute sie sich des leiblichen Schmerzes und lächelte: »Mich brennen die Finger, als habe ich sie ins Fegfeuer getaucht.«
Nun, da der Bruder sich zum Scheiden wandte, besprengte sie ihn mit geweihtem Wasser und sagte: »Suche Gott, und alles andere wird dir dann zugeworfen! Aber es ist besser, du nimmst nicht an, was der Welt Lust ist. Ade! Durch seine blutigen Nägel drei Christ mach dich von der Hölle frei!«
Erhard bot ihm mit tapferem Lachen die Hand. »Geh voraus! Ich komme dir bald nach.«
Aurelia fand er verweint unter der Bodenstiege kauern. »Alles Glück grüß dich!« sprach sie. »Wie wird es dir gehen?« »Ich traue meinem Schicksal, Schwester.«
Die fromme Mutter entließ ihn mit dem Wort: »Ich setz dich unserer Frau Maria auf den Schoß.«
Dieser Spruch aber war ihm nicht lieb, er schämte sich, dass er also dem Schutz eines Weibes empfohlen wurde, wo er sich voll junger Manneskraft wusste und der Bart ihm schon leise zu sprießen begann.
Durch das Nabburger Tor zog er aus, sich sein Leben zu erobern.
Ehe er zu Regensburg einstand, wollte er die großen Wälder besuchen, die gegen Aufgang vor dem böhmischen Land dunkelten, von deren Wildheit die Sagen flüsterten und darin die Ahnen der Mutter sich einen Acker aus dem düstern Tann gehackt und geköhlert hatten. Das Waldland zog ihn an wie mit einem Bann, dem man folgen muss.
Er wanderte über Schwandorf, Bruck und Roding durch die Dörfer, die mit Weidenruten verzäunt waren, hörte die pfälzischen Hähne krähen, kehrte in jedem Kirchlein ein und betrachtete Bauart, Bildwerk und Orgel und nächtigte in Zunftstuben und Scheuern. Über holperige Prügelbrücken trabte er und durch rötlichen Föhrenforst. Zuweilen steckte Gott den wundersamen Regenbogen aus. Es war eine überschwängliche Vielfalt der Farben in diesem Land. Und er wanderte in gedankenlosem Glück.
Nahe dem alten Weg von Cham nach Straubing erreichte Altdorfer ein Dorf, das wenig gepflegt mit schlechten Hütten und Stadeln inmitten kärglicher Krautfelder und von magerem, mattem Vieh begangener Triften kümmerte. Auf steiniger Weide grasten ein paar geschorene, dürre Schafe um einen zerlumpten Hirten. Ein Teil der Äcker war voll wüsten Unkrautes, die Hagzäune gegen das Wild waren zerrissen, die Fallgatter geborsten. Nur ein Rapsfeld leuchtete in goldener Pracht.
Auf einer Anhöhe graute die Fronburg, mit Dorn, Sumpf und Graben umfestigt, gebieterisch, unerbittlich.
Der Herrgott des Dorfes war sehr arm, das sah man seinem Kirchlein und dessen dürftigem Hausrat an. Der Kruzifixus darin war ein rippendürres, grellverkrümmtes, blutfleckiges Männlein, seine Marterkrone war aus echtem Dorn, der wohl zur Karzeit immer wieder erneut wurde. Ein billiges graubleiernes Taufbecken, ein dem Umsturz nahes, mulmiges Altärlein, in der Sakristei ein ledernes Messkleid, im Turm eine misstönige Glocke, und ganz droben ein rostiger Hahn.
Eben trafen vor der Kirche die Bauern in ihren hänfenen Kitteln zusammen, abgerackert und verschwitzt wie Pesttotengräber, und redeten aufgeregt. Eine schmutzige Kuh mit stumpfen, schwermütigen Augen und eine zerzauste Henne gesellten sich ihnen und schienen zuzuhorchen.
Ein Alter, der vor seiner feuchten Hütte Eibenzweige zu Streu zerhackte, fragte Altdorfer: »Was suchst du bei uns? Es wird ein notvoller Herbst. Die Hungerbrunnen rinnen, die Würmer schrefeln das Korn ab.« Und er zog den grauen Filzhut. »Vater unser, gib uns das tägliche Brot!«
»Ihr seid wohl selber schuld daran, dass es bei euch so übel ausschaut«, tadelte Altdorfer. »Anderswo ist es besser.«
»Das sagst du leichthin, Fremder. Wir können nichts dafür, dass an unserm Tisch der Hunger und die Angst sitzen.«
»Wen fürchtet ihr?«
Der Weißhaarige deutete auf den Hügel hinauf, dessen Gipfel in der harten Burg über sich hinausstrebte. Mit rußigen Schießlöchern lauerte sie tückisch hernieder.
»Wir haben einen argen Herrn da droben. Den Sattelpogner fürchten wir mehr als die drei Eisheiligen. Unser Herzleid ist ihm Lust. Ein wildes Geschlecht! Sein Vorfahr Erasmus hat seinem Ross geweihte Hostien an den Huf genagelt, wenn er auf Raub ausgeritten ist. Alles nimmt der Sattelpogner uns, Korn und Käs, Fleisch, Schmalz, Milch müssen wir ihm zinsen, und das Salz dazu nimmt er dem Säumer auf der Straße weg.«
»Ich versteh Euch nit«, wunderte sich Altdorfer. »Es ist doch das Recht im Land.«
Die andern Bauern hatten sich inzwischen genähert, es tat ihnen wohl, ihre verbitterten Gemüter in Klagen zu erleichtern.
»Recht?!« lachte einer auf. »Kein Erbarmen gibt es für uns. Was wir leiden, ist für ein Ross zuviel. Der Sattelpogner raubt der Wittib das letzte Hennlein. Wie die wütigen Teufel sind seine Knechte gegen uns.«
»Die Welt hat uns Bauern hart ins Krummholz gejocht«, begann der Alte am Hackstock wieder. »Wohl: gleiche Bürde bricht niemand den Rücken. Uns aber ist alles aufgelastet. Die adeligen Herren treiben uns aus den Schuhen, die Pfaffen schnappen nach dem Zehent, dem König müssen wir steuern, der Bettelmann rennt uns ins Haus, der Landsknecht frisst uns das bisslein Speck aus dem Rauchfang; der Fuchs im Geröll, der Marder auf dem Dach, die Maus im Stadel, jedes begehrt und zehrt von uns Bauern, und zuletzt schreit uns noch der Tod an: ›Bauer, zins!‹«
Einer, dem ein blaues Tröpflein Milch im Bart haftete, sagte: »Warum hassen uns die Herren? Weil wir nit Ihresgleichen sind? Wenn lauter Ritter und Grafen wären, wer wollte da die Kuh melken und die Sau hüten?!«
Eine gebückte Greisin mit einer ströhernen Schürze lockte die Henne. »Komm, komm! Du bist das einzige Vieh, das sie mir lassen haben. Den großen Herren ihre Hühner legen Eier mit zwei Dottern. Du bist dem armen Weib ihre Henne. Schleun dich und verlier kein Federlein!«
Der Bauer mit dem Milchtröpflein sann: »Warum verfolgt uns der Ritter? Ist er mehr als ein Mensch? Er geht auch nur barfuß in den Schuhen.«
Da murrte es von der Drohburg gräulich heiser hernieder übers Bauernland und widerhallte in den Wäldern. Es war, als melde sich ein hungerndes Raubtier.
»Was ist das?« fragte Altdorfer.
»Das ist das Zinnenhorn. Die Ritterin Rachild selber tritt den Blasbalg dazu. Es sagt uns, dass der Sattelpogner herunter-reitet. Ein Fallgatter in unserm Dorf hat ihm ein Ross erschlagen, jetzt will er sich an uns schadlos halten. Und wir brauchen doch die Gatter. Wie können wir uns sonst das Wild vom Leib halten?«
Einer höhnte: »Wenn der arme Mann das Wild mit den geschlitzten Füßen in seinem Hafer trifft, soll er das Hütlein davor ziehen und damit seinen gnädigen Herrn ehren! Oh, es ist ein Jammer! Knoblauch sollen wir fressen und fronen!«
Die dürre Kuh plärrte erbärmlich auf, als habe sie alles begriffen.
»Klag es Gott an der Wand, so wird es keinem bekannt!« rief ein gelbhaariger stattlicher Bursch, der eine Sense hielt. »Mit der Mistpritsche sollten wir den Sattelpogner erschlagen!«
Der Greis am Hackstock sagte: »Das alte Recht sollt wieder aufkommen. Wir Bauern sind auch Christenmenschen. Die Bannhölzer sollten uns wieder freigegeben werden, das Holz drin, das Harz drin, der Hirsch drin. Der Fisch im Bach sollt wieder unser sein! Wir wollen nichts als die Gerechtigkeit!«
Einer, ganz arm und blass, klagte: »Im härtesten Winter hat der Sattelpogner meinen Vater in den Stock spannen lassen, da sind ihm die Füße und die Schenkel erfroren. Jetzt kann er nimmer weben. Wir hungern.«
»O das Drachenherz!« heulte der hellhaarige Bursch und schüttelte die Sense. »Ritter, hüt dich droben! Nach der Ernte kommen wir! Es muss anders werden.«
Ein Dornstreicher kreischte im Busch. Da verstummten die Bauern.
Vom Burgforst herab sprengte der Sattelpogner mit seinen Leuten. Er ritt ein derbes Feldroß, sein Blechharnisch klapperte, seine riesigen gelben Brauen und die stahlblauen, harten Augen darunter drohten.
»Das Ross müsst ihr mir ersetzen!« herrschte er die Bauern schon von weitem an. »Und heut hättet ihr mir eine Wanne Fische zollen sollen. Wo sind sie?«
»Herr«, sagte einer, »Ihr habt uns versprochen, dass Ihr uns den Fischzins erlasset!«
»Versprechen ist herrisch, halten soll bäurisch sein!« lachte der faustgerechte Mann und hieb mit dem Schwert ins reifende Korn.
Auf der Schwelle seiner Hütte stand der Dorfälteste. Er konnte sein beleidigtes Herz nimmer zähmen. »Herr Ritter«, begehrte er auf, »Getreid mäht man mit der Sichel!«
Da ritt der Sattelpogner quer über den Misthaufen auf ihn los. »Du alberner Bauernstrunz, mach noch einmal das Maul auf!«
Den Alten warf die Erregung wie ein Fieber. Aber er gehorchte.
»Ihr haltet es heimlich mit dem bayrischen Herzog«, wetterte er, »ich weiß es. Arnschwang hat er mir eingeäschert, jetzt will sein Volk daher rennen und mir Sattelpogen anzünden. Ich kenn euer widersässiges Hirn. Aber ich will euch Bauern reiten! Meinen Sporn hau ich euch in den Hintern! Kalabrisch will ich euch plagen und euern Hochmut dämpfen! Euer Kuhdreckdorf zerstampf ich!«
Aus der Kirchtür quoll ein grauer Schwarm Bauern und kam mit dem Kreuz daher. Der hagére, geschundene, gedornte Heiland hob sich steil aus ihrer Mitte.
»Verschont uns, Ritter! Wir bitten Euch bei dem Herrgott seinen schreienden Wunden!«
Eisig hob der Sattelpogner das Schwert gegen das Bild. Da war das Haupt Christi zerspaltet, der Dornkranz fiel nieder in die Menge.
»Ihr bestecht mich nit mit Gott!« rief er. »Gott ist nur Pfaffenkurzweil.«
Altdorfer schaute mit großen Augen diesem wilden Spiel der Welt zu, und während er bedachte, wie traurig es auf Erden zugehe und er das frevle Ereignis nicht begriff, ritt mit wehendem Haar und flatternden Federn im Barett ein junges Weib daher. Aus blankem Übermut trieb sie den Zelter mitten in das goldblühende Rapsfeld hinein.
Mit der Peitsche deutete sie auf Altdorfer, der unter einem moosigen Wildbirnbaum weilte. Er trug die langen, lichten Locken bis zu den Schultern, aus dem noch bartlosen, gesunden Gesicht fuhr der Blick herzhaft und gerade.
»Wer bist du?«
»Ich bin aus Amberg. Ich – will ein Maler werden.«
»Halloh, ein Maler!« schrie der Straßenplacker. »Dich brauch ich!«
Schon sah sich Altdorfer von den groben Knechten umringt. Es bedurfte keiner Gewalt, denn er folgte ihnen nicht ungern. Er war noch nie in einer Burg gewesen.
Auf zerrissenem Fahrweg zogen sie zu dem winkligen Gebäude hinauf.
Die Schlagbrücke erbebte über dem Zwingel, und durch das schwarze Tor gelangten sie in den engen, hochummauerten Hof. Dort erhoben sich der fast fensterlose Wohnturm und schindelgedeckt daneben Rossstall und Kuhstall, überfüllt mit brüllendem Vieh, Waldvieh, den Bauern auf der Straße abgenommen, die es nach Straubing zu Markte hatten treiben wollen. Man schien hier eine Belagerung zu erwarten. Es blökte und wieherte wüst durcheinander, die Knechte rannten mit Futter daher, Bullenbeiíler knurrten, sie hatten böse, blutunterlaufene Augen. Neben dem mächtigen Backofen waren halblichte Schupfen, drin häuften sich Vorräte von Pech und Schwefel, Pulverfässer, steinerne Kugeln, und auch drei Geschütze waren dort, »Gnadgott«, »Erdbidem« und »Hummel«.
Als Altdorfer den Zierat der Kanonen besichtigte, trat er unversehens in den Kot der Hunde und glitschte aus.
»Brich dir nit den Hals!« lachte der Ritter. »Es wär kein edel Sterben um eines Hundsdrecks willen!«
Altdorfer tastete die feuchten, aus Feldstein gefügten Mauern ab, er suchte einen ordnenden Gedanken in das wirre Winkelwerk des Gebäudes zu bringen und erwog dessen Fähigkeit, den Angreifern standzuhalten. »Man wird bald anders bauen müssen«, sann er, »jetzt stoßen die Kugeln der Mörser an die Mauern.«
»Mein Haus hält fest«, prahlte der Sattelpogner. »Der Herzog Albrecht mag sich die Zähne daran schartig beißen!« »Was hat er mit Euch zu tun?«
»Strafen will er mich, weil ich mich im Löwlerbund gegen ihn verschworen hab.«
Sie kletterten die knarrenden, klagenden Holzstiegen hinauf und traten in eine geräumige Stube, deren Wände von Helmen, Spießen, Schilden und anderem Rüstzeug zu Jagd, Fehdegang und räuberischer Reise starrten, indes droben die berußte Wölbung stumpf schwebte. Der Wind schnob zur offenen Esse herein. Auf dem vierschrötigen Tisch stand ein kostbarer Silberleuchter.
Der Burgpfaff begrüßte sie, ein sauer blickender Kahlkopf, und Rachild hatte sich flugs in ein blaues, perlenverbrämtes Festkleid geworfen, dessen Ärmel reich mit Goldzendel unterlegt waren, und auch ihr Haarband war aus lauterem Gold. Sie funkelte wie ein Stern in dem räucherigen Gelass. »Ich hab mich geziert, weil du ein Maler bist«, sagte sie zu dem Gast.
»Sie ist mein viertes Gemahl«, sagte der Ritter.
Altdorfer sah durch das Fenster über das verwaldete Gebirge hin. Kühl wehte die Abendluft herein.
Indes Rachild den löwenfüßigen Leuchter entzündete, saß der Burgherr auf einem Weinfass und begann, aus Eschenholz Pfeile zu schnitzen. »Amberger, du malst mir jetzt den Teufel an die Wand!« verlangte er und deutete auf die Mauer neben dem Kamin.
»Wie kann ich das?« meinte Altdorfer befangen. »Hab ich doch mein Lebtag den Teufel nit geschaut.«
Rachild sagte: »Mag der Pater Calvus dich beraten, wie der höllische Tatzelwurm bleckt!«
»Treibt nit euere Possen mit solch finsterm Ding!« wehrte der Burgpfaff sich. »Fürchtet den Satan! Ihr verfahret zu arg mit den Bauern!«
»Ich räche mich nur«, erwiderte Siegmund der Sattelpogner. »Wer sich rächt, sichert sich. Ich zahl nur mit gleicher Münz zurück, so den Bauern, so dem Herzog! Predige getrost weiter, du altes Essigfass!«
»Straubing will es nimmer leiden, dass Ihr seine Kaufleut niederwerfet. «
»Die Heringskrämer werden reich, derweil adlig Blut verarmt auf windiger Burg«, grollte der Ritter.
»Warum aber zwackt Ihr das Notvolk der Dörfer? Was zerbrecht Ihr ihnen die Zäune, plündert ihre Scheuern? Euer Wild zerwühlt ihnen das karge Feld, und sie dürfen sich des nit erwehren. Gott mag das nit.« »Ich bin die Obrigkeit, und just Gott hat mich bestellt.«
»Nennt den Namen des Herrn nit eitel! Hört die Geschichte von Euerm Ahnen Erasmus! Der reitet einmal von Arnschwang aus, und im tiefen Wald gesellt sich ihm ein fürnehmer Reiter, und sie werden bald miteinander vertraut und beichten sich fröhlich ihre Schelmentaten. Doch wie Erasmus von ungefähr den andern betrachtet, merkt er, dass der Fremde zwei kurze Bockshörner an der Stirn hat und eine lange zackige Nase und ein Maul, spitz und hürnen wie ein Sperberschnabel, und dass er mit einem Geißfuß im Stegreif steht, und dass er in den Augenhöhlen statt der Sterne eherne Würfel führt. Da erkennt der Sattelpogner, dass der übermenschliche Teufel sich an ihn herangemacht hat. Aber er zwingt sein Herz und lacht zu den bösen Possen, die der Höllische ihm meldet. Und wie sie an einem Weiler vorbeitraben, rauft ein Bauer mit seiner Sau und kann sie nit überwältigen und nit in den Koben hineinzwingen, und da verwünscht er das widerborstige Vieh und schreit: ›So führ dich stracks der Teufel hin!‹ Jetzt vermeint Herr Erasmus, er könne sich den Unheimel vom Hals schaffen, und er sagt zu ihm: ›Vernimm, guter Freund, da schenkt dir einer eine Sau! Hol sie dir!‹ Der Teufel aber grinst: ›Nein, nein! Es ist ihm nit ernst. Er schreit so, nur weil er es von altersher nit anders gewohnt ist.‹ Und wie sie dann selbander vor einem Garten reiten, will ein Kind drin die zarten Blüten von den Bäumen schlagen, und weil es die Mutter ihm verweist, brüllt es, als stecke es am Spieß, wirft sich in den Staub und stößt mit den Beinen um sich. Das Weib ruft darauf in ihrer Mühsal: ›So wollt ich, du Balg, der Teufel finge dich!‹ Redet der Ritter abermals: ›Wohlan, Gesell, da schenkt man dir ein Kind! Menschenfleisch ist köstlicher denn Saufleisch. Schlägst du es wiederum aus?‹ Doch der Teufel kichert: ›Die Mutter redet nit von Herzen.‹ Wie sie hernach aber durch das Dorf Sattelpeilstein reisen, das dem Herrn Erasmus untertan ist, springen die Bauern vor die Türen und schelten: ›Da schaut den Sattelpogner, den Dieb, den Mörder! Der Teufel reiße ihn mit Leib und Seel vom Ross!‹ Alsbald dreht sich der höllische Gespan mit den feurigen Augen nach dem Ritter um. ›Bruder‹, sagt er, und der Ruß stäubt ihm aus dem Rachen, ›Bruder, der Bauern Wunsch steigt aus. Herzensgrund!‹ Und er packt ihn samt dem Ross und führt ihn ins Gewölk. Das Ross ist hernach wieder heruntergefallen, von dem Ritter aber weiß keine Seel, wohin er geraten ist.«
»Du Fabelspinner, du Lügenschmied!« lachte der Burgherr. »Mein Ahne Erasmus schläft selig in seiner Gruft zu Oberaltaich.«
»Einen hübschen Schwank habt Ihr erzählt«, lobte Rachild ergötzt.
»Wer fürchtet noch die Höllenfahrt?« rühmte der Ritter. »Römische Gnad und Ablass laufen durchs Land, ich zahl, und stracks hupft mein sündig Seel ins Paradeis. Und dem Erasmus seine verdammte Seel kauf ich aus der Höllen los.« Dann schillerte er den geistlichen Warner an. »Dass dich die Pestilenz anblase, du unbarmherziger Pfaff! Du tätst mich freudig dem Satan zum Fraß hinschmeißen!«
»Bei Gott, Ritter! Retten will ich Euch!«
»Und weil ich nun einmal dem Teufel verfallen bin, will ich mich bei Lebzeiten fröhlich an ihn gewöhnen, auf dass mich sein Anblick nit schrecke, wenn er einmal bei mir zuspricht«, rief der Ritter. »Amberger, wirf mir flugs den höllischen Troll an die Wand! Aug in Aug will ich ihm täglich gegenübersitzen und ihm zutrinken!«
»Herr«, verwahrte sich Altdorfer noch einmal, »hab ich doch kein Bröslein Farbe zuhanden!«
Der Sattelpogner langte in den Kamin und holte eine Kohle herfür. »Da, mal mir ihn mit allen seinen Tücken!«
Altdorfer bekreuzte sich und hub an, auf der kahlen Mauer zu zeichnen. Mit vorsichtigen Strichen umriss er zuerst die unmenschliche Gestalt, der Spottinfel sich erinnernd, die er einst dem Hirten Orant hatte malen müssen, und führte hernach haargenau aus, was der Pater Calvus geschildert hatte: Bockshörner, zackige Nase, Sperberschnabel, Geißfuß und lechzende Zunge und falsche, enge Augen.
Und während er zeichnete, trug eine Magd Schinken und Bratwurst auf, Grünfisch und Sulze und Gemüse, alles in einem tollen Überfluss wie in der Schlaraffei.
»Ein Strauchhahn wie ich fastet nit«, sagte der Ritter. »Halt dich dazu, Maler!«
Albrecht war sehr hungrig. Aber die Speisen da verbrannten ihm Zunge und Gaumen, sie waren höllisch gewürzt. Die Mutter daheim kochte milder.
Hernach färbte er mit roter Kreide die Augen des Satans und die bleckende Zunge feurig und versah den zottigen Scheitel mit einem düstere Strahlen schießenden Heiligenschein, und das Bild wurde im ruhelosen Licht der Kerzen so schauerlich lebendig, als wolle es aus der Mauer schnellen und mitschmausen und den Ritter samt dem Pfaffen packen.
»Lasst es nun gut sein, Maler! Es ist wild genug«, bat der Pater Calvus.
»Nur zu, nur zu, Amberger! Du kannst mir ihn nit gräulich genug malen!« hetzte der Ritter. »Schreib noch einen Kuhschwanz hin!«
»Mir graut!« rief Rachild. Und sie schleuderte sich dem Gatten an den Hals.. »Fährst du in die Höll, Siegmund, fahr ich mit dir!«
Altdorfer warf Kohle und Kreide in den Kamin. Er war fertig.
Die Nachtluft spülte dicke, finstere Schmetterlinge mit sich in das Gelass herein, und dünne, langbeinige, nie geschaute Kerfe kamen wie aus dem fremden Mond daher und tanzten irrsinnig um die Leuchte und sanken mit verglimmenden Flügeln.
»Mir ist kalt«, flüsterte Rachild.
Der Sattelpogner riss einen Eichenkasten auf, holte einen Bärenpelz heraus und hüllte sein fröstelndes Weib darein.
»Maler«, fragte sie nach einer Weile, »kannst du eine schöne Frau ebenso schön malen, wie du den Satan hässlich an die Wand geschleudert hast?«
Altdorfer betrachtete sie aufmerksam. Ihr feines Haupt ragte aus dem struppigen Pelz, die Nase war edel geformt, die Augen glühten falsch, über dem üppigen, prangenden Mund, der oft zur unrechten Zeit lachte, war ein leiser Zug von Grausamkeit.
Er sagte: »Oft hab ich die Muttergottes ins Birnholz geschnitten. Aber ein irdisch Gesicht zu zeichnen, fällt mir schwer.«
»Versuch es an mir! Du hast dich doch auch an den Urian gewagt. Da funkelt er, als ob er lebe.«
»Löscht das Wunder von der Mauer!« krächzte der Pater. Mit einem scheuen Blick zum Fenster, als fürchte er, ein nächtliches Schicksal könne herein greifen, fügte er hinzu: »In die Stube da hat einmal der Blitz geschlagen!«
Der Ritter schenkte sich den Wein so ungestüm in den Becher, dass er überfloß. »Vater und Mutter sind just wie wir da beim Trunk an dem Tisch gesessen, da ist der zündelblaue Blitz zwischen die zwei gefahren, hat ihnen aber nit weh getan, hat ihnen nur die silbernen Schnäbel von den Schuhen gerissen.«
Pater Calvus hob feierlich den Finger. »Gott hat gewarnt.«
»Trink, Maler, dass du einen Geist kriegst!« Der Sattelpogner rückte ihm den Becher hin. »Der Wein ist von der Donau her, ist kein Hundsblut. Güldenseel heißt er. Vergüld dir damit die Seei!«
»Baiernwein, Wolfswein!« murmelte der Pater traurig und nippte. »Das schmeckt wie saurer Landshuter Krätzer. Bene mihi, bene tibi Es gerat uns allen wohl!«
Frau Rachild warf den Pelz zurück. »Mir ist heiß. Ich hol mir etwas Liebes!« rief sie und eilte davon.
Ritter Siegmund legte dem Gast eine scharfe Pfefferwurst vor. »Da iss! Das schafft Durst. Und trink ihr zu Ehren, die dir am liebsten ist!«
»Ich bin des Weines nit gewohnt«, zögerte Altdorfer. Als er nun trank, schmeckte der herbe Wein auf einmal süß und schien unmittelbar ins Blut zu münden und es röter und rollender zu machen.
»Sind schöne Kinder in Amberg?« lachte der Burgherr. »Eine«, sagte Altdorfer und errötete. Dann dachte er an die Susanne Buchnerin und fügte hinzu: »Zwei.«
»Werden wohl ihrer mehr dort sein. Nit wie in einem Städtlein, will es nit nennen, dort haben zwanzig Jungfern einen Rossdieb wollen retten, hat sich jede mit ihm unterm Galgen wollen trauen lassen, dass er Gnad finde und frei hingehe. Der Rossdieb schaut alle zwanzig fein genau der Reihe nach an, hernach winkt er dem Henker: ›Vetter, flugs an den Galgen mit mir!‹« Der Ritter brüllte vor Lachen über seinen groben Schwank und belohnte sich mit einem gewaltigen Trunk.
Dann meinte er: »Wird dir auch der Herrgott so fein gelingen, Teufelsmaler? Ei, jüngst hab ich einem Nürnberger Frächter einen Ballen Bilder abgenommen!«
Hastig bat Altdorfer: »Zeigt sie mir!«
Der Sattelpogner holte aus dem unerschöpflichen Kasten einen verknitterten Bilddruck und streifte ihn glatt. Ein Meerwunder war darauf zu schauen, halb bärtiger Mann, halb Fisch, der mit einem schönen Weib auf dem Rücken träumerisch an einer burghaften Uferstadt und unberührt von dem Treiben dort vorüberschwamm. Darunter stand das Doppelzeichen Albrecht Dürers.
»Und die andern Blätter?« fragte Altdorfer.
»Rachild hat damit gespielt. Ihr ist es auf der Burg oft langweilig. Sie hat im Wind die Blätter vom Turm wehen lassen und sich daran gefreut.«
»Herr, Ihr habt wundersam Gut vergeudet!«
»Ei was! Ist ein Blatt schier wie das andere gewesen, meist pfäffisch Zeug und wenig, was ein tapferes Herz erquickt!«
Rachild brachte ein kleines schlafendes Kind am Arm daher. Sie zeigte es dem Gast. »So schön wie mein Büblein kannst du keines malen.« Und sie reichte es dem Ritter, und der harte Mann beugte sich zärtlich über es und wiegte es.
»Um des Kindes willen solltet Ihr Euer Leben weniger gefährden und Euch mit dem Herzog aussöhnen!« predigte der Pater.
Stolz erwiderte der Sattelpogner: »Solang Luft ist überm Wald für den fliegenden Geier, häng ich frei in mir selber, schaff ich mir ohne Richter und Schreiberling mein Recht und tu auch Unrecht, wenn es mich gelüstet!«
»In der Bauernschaft schwelt es«, sagte der Burgpfaff. »Sie werden Euch auflauern. Seid milder zu ihnen!«
»Mögen erst Pfaff und Mönch demütiger werden! Es ist wahr, die hinterhältigen Bauern tragen die Schnauzen gar zu hoch. Begegne ich jüngst einem, der reitet einen Schimmel wie ein Herr. Und wie ich seinem Ross in die Mähne greife, sagt er dreist: ›Lasst mir den Gaul! Ich bin auch ein Dieb wie Ihr!‹«
»Ihr werdet übel enden, Ritter!«
»Ei denn! Es soll mich heut noch nit bekümmern. Zuviel Sorge bricht das Glas. Und das Käuzel mag sich grämen! Ich stell das Glück auf meine Faust. Und sollt mein Schädel unter dem Schwung des Henkers hinrollen, den letzten Fluch zwischen den Zähnen, – jetzt will ich saufen!«
Auch die Ritterin war schon leise trunken, sie lehnte sich an den jungen Altdorfer und streichelte dem sich erschrocken Sträubenden das glatte, noch frauenhafte Gesicht. »Wohin reisest du, Maler?«
»Nach Regensburg, edle Frau.«
Jäh schossen ihr die Tränen die Wangen nieder. »Wie verlassen ist es da auf der Einöd! Nichts wie dummes Bauernvolk, nichts wie rauer Wald, Berge, Bären, Geier! Ich will auch nach Regensburg. In ein Tanzhaus will ich! Mit dem König Max will ich tanzen!«
»Der Wein wildert in dir«, lachte der Ritter. »Lieber allein da heroben und der Herr sein! Mich widern die Gassen an. Die Städte stinken.«
»Wozu trag ich meine seidnen Kleider? Warum bin ich schön, wenn mich niemand sieht? Soll ich meine junge Zeit da vertrauern in dem Ratzenloch?« klagte sie. »Wir haben doch in Regensburg ein edles Haus!«
»Du bleibst bei mir!« herrschte der Ritter sie an. »Du hast mir doch wollen in die Höll nachhupfen?!«
Eine tiefe Röte drohte auf ihrer Stirn. Sie zerrte das Kind ihm aus dem Arm, rannte damit zum Fenster und hielt es weit hinaus über den Abgrund. »Lässt du mich in die Stadt? Oder soll ich dein Bübel fallen lassen?!«
Die drei Männer rührten sich nicht, die Wahnwitzige nicht zu reizen. Das Kind war draußen in der Kühle erwacht und winselte wie ein frierendes Hündlein.
Blass wie der Tod bettelte der Sattelpogner: »Alles tu ich, was du willst. Gib das Kindlein her! Bist du eine Werwölfin? Alles bewillig ich dir! Bei meinem Wort!«
Sie nahm das Kind wieder herein und zeigte es ihrem Mann, und der streichelte zitternd das schreiende Weslein. Und sie drückte es mütterlich lächelnd an sich und trug es fort.
»Gute Nacht!« grüßte sie, und die Tür polterte hinter ihr ins Schloss.
»Die erste Frau gibt einem Gott«, murmelte Pater Calvus, »und die andere kriegt man, wie man es an der ersten verdient hat.«
Der Sattelpogner schwenkte den Becher gegen das starrende Bild des Teufels. Er war jäh betrunken. »Was kalmäuserst du, Satan? Da, sauf Baiernwein! Deinen Leibwein! Er schmeckt grimmig, aber ich krieg ihn nie genug. Sauf, dass du mit mir speiest wie ein Reiher. Ach, drei Weiber hab ich ins Grab gebracht, und jetzt die vierte gesegnet es mir!»
Schnaufend lehnte er sich ins Fenster und brüllte sein Lied zu Tal:
»Erwisch ihn flugs beim Kragen,
erfreu das Herze dein!
Es mag ihm kaum behagen,
spann aus das Rössel sein!
Sei frisch und unverzagt,
und wenn kein Geld er hat,
reiß ihm die Gurgel ab!«
Mit dem Stechheber holte er immer wieder Wein aus dem Faß und grüßte lallend das Bild. »,Schlimm schlem, ich schwarz, du schwarz, sind wir all zwei rußig!‹ hat der Teufel zumKohlenbrenner gesagt, da hat er ihn geholt.«
Altdorfer, der trunkenen Mette müde, betäubt vom Wein, bat nun: »Herr, wollt mich entlassen! Die Augen fallen mir zu.«
Der Sattelpogner gab ihm eine kleine Hornlaterne und wies ihm eine schmale Treppe. »Droben in der Storchenkammer ist das Bett für dich geschirrt.«
Altdorfer taumelte die Schneckenstiege hinauf. Gar ungefüg blies der Wind zu den Schlitzlöchern herein. Die Staffeln nahmen kein Aufhör, und seine Knie waren müde.
Auf einmal hielt er vor einer Mauer.
Es war eine Sackstiege. Er war da herauf geneckt worden. Drunten hörte er die Trunkenen lachen.
Er setzte sich trotzig hin. Er wollte nicht zurück und sich verspotten lassen. Neben ihm öffnete sich ein enges Fenster. Die Luft rührte wohlig an seiner Stirn. Er lugte in die Finsternis hinaus.
Sterne und schwarzer Wald. Im Tal glommen Lichter. Wachten die Bauern noch so spät? Spannen ihre Weiber noch? Die Lichter wanderten.
Ein vergrämtes Käuzlein schrie. Die Hunde drunten schlugen an, die Burghunde erwiderten grimmig. Es lauerte etwas Arges in der Luft.
»Ihr Wanderlichter in der Tiefe! Ihr Funken, seid ihr auch auf die Irrwurz getreten?« lächelte Altdorfer.
Er flüsterte entschlafend: »Eisenhild!«
Hörner lärmten hell und rauflustig.
Altdorfer fuhr auf. Der Ritter stand vor ihm, Stirn und Mund welk von der wüsten Nacht.
»Du hast ein schlimmes Bett gefunden, Maler, auf der Narrenstiege. Doch tröst dich! Hab auch nit geschlafen. Im Dorf steht dem Herzog sein Volk und will mich fangen.«
Im Hof drunten tummelte sich alles in wilder Erregung. Die Knechte ordneten hastig das Kriegszeug zur Abwehr und wappneten sich, sie schoben die Geschütze zu den Schießlöchern hin, schütteten Pulver darein und luden sie mit Kugeln. Getretene Hunde heulten, sie waren überall im Weg. Ein leuchtender Pfau ging ahnungslos und feierlich in dem Getümmel auf und ab.
Rachild fasste Altdorfer beim Ärmel. »Es gibt eine versteckte Pforte, ich lass dich heimlich fort. Ein einzelner schlägt sich leicht durch den Zaun der Feinde. Du musst mir einen Brief besorgen. Die Freunde sollen uns helfen.«
Krachend schlug ein Geschoß ein. Ein Erker bröckelte nieder. Die feindliche Kugel kollerte über ein Schupfendach herunter in den Hof. Mit flammender Tatze hatte der bayrische Leu dareingeschlagen.
Pater Calvus trat eben mit verdutzter Miene aus dem Turm. Er merkte die Bescherung und hob die Hände, als wolle er beschwörend ein weiteres Unheil zurückstoßen.
»Du kommst eben recht!« rief ihm der Ritter zu. »Tauf mir schnell die Kugel da!«
»Seid Ihr noch voll vom Wein, Sattelpogner?« fragte der Geistliche verwundert.
»Wenn die erste Kugel, die einfällt, getauft wird, ist die Feste vom Feind nit zu nehmen. Drum schnell!«
»Wie könnt Ihr mir solch abergläubischen Frevel zumuten? Ich bin ein Knecht des Herrn. Ich taufe keinen Stein. Ich will Gott nit ärgern.«
»Du stinkst wie ein alter Weintrichter. Schnell! Tauf mir die Kugel mit dem Namen des heiligen Erasmus!«
»Nimmer!«
»So taufe sie im Namen des Teufels!«
»Nequaquam, nequaquam!« quakte der Pater. »Keineswegs!«
»Steckt ihn in die Hummel!« befahl Herr Siegmund wütend seinen Leuten.
Sie stürzten über den hageren Mann her, und ob er sie auch bei den Eingeweiden Christi beschwor und mit den Armen irrsinnig flügelte, sie lachten: »Spreiz dich nit!« und schoben ihn köpflings in das Maul des Geschützes.
»Gelt, das riecht dir sauer in die Nase, Pfaff?« schrie der Ritter. »Wir schießen dich jetzt gegen den Herzog.«
»Was treibt Ihr, Herr?« rief Altdorfer bestürzt.
Aber schon glomm der Zündstrick. Und alles wich zurück.
Der Pater zappelte in seiner Todesangst wild mit den Beinen und zeterte dumpf im Mörser drin.
Das Zündkraut blitzte auf, aber es fasste nicht.
Darauf ließ der Sattelpogner seinen geistlichen Berater wieder aus dem Geschütz herausziehen.
Berußt und schmutzig kreischte Pater Calvus den Ritter an: »Maledicat te Diabolus in saecula saeculorum!«
Rachild führte, einen brennenden Kien tragend, Altdorfer eine Treppe hinab. In einem feuchten, dreieckigen Keller hing ein Menschengeripp an die Wand gekettet. Ratten huschten.
Sie stieß ein Pförtlein auf, das wies durch Dickicht in den frischen, rauchenden Morgen hinaus. Dann reichte sie ihm einen Spieß als Waffe und den Brief. »Leb wohl!«. sagte sie. »Und sorg dich, dass der Wolf Roritzer den Brief kriegt! Er wird sich um mich kümmern.«
»Der Dommeister?« staunte Altdorf er.
»In Regensburg sind lauter Hühner«, erwiderte sie, »und nur ein einziger Falk, der haust auf dem Turm und ist der Roritzer.«
»Und Ihr?« fragte Altdorfer. »Was flieht Ihr nit mit Euerm Kindlein? Es steht nur den Männern zu, dass sie die Burg halten. «
Sie fasste lachend sein Kinn. »Glatt bist du wie eine Jungfer. Aber ich bleibe. Ich muss der Hündin Hejla beistehen, sie welpt just heut.«
Damit zog sie sich in das Gemäuer zurück.
Altdorfer stieg über betautes Geröll nieder, deckte sich hinter dem dichten Buschwerk, schritt über sumpfigen Grund und an einem schwarzen Weiher vorüber. Das Röhricht flüsterte, morgenwache Vögel frohlockten, der schmale, verblassende Mond droben öffnete seine Bucht. Die Welt lag in tiefem Frieden.
Die Stirn schmerzte ihn, die Nacht war arm an Schlaf gewesen. Er zupfte eine bläuliche Beere von einem Kranwitzweig. Die heile alles Kopfweh, so hatte er es von der Mutter erfahren.
Lange dachte der Wanderer an die schöne, grausame Ritterin, und des Landes, das sich vor ihm wie eine föhrenfinstere Sage aufschloss, achtete er anfangs wenig.
Ein Falke mit einem klingelnden Glöcklein am Hals stellte sich auf einen Ast und äugte herunter. Hatte Rachild ihrem Boten diesen edeln Vogel nachgeschickt?
An einer Brücke traf er einen reisigen Kaufmannszug, der von Eger her nach Regensburg strebte. Die Männer wünschten eine blutige Begegnung mit dem Sattelpogner, sie hassten den Adel und schalten ihn ehrlos, schamlos und faul. Stolz auf ihr festgegründetes Bürgertum, rühmten sie, der Städter allein halte Deutschland.
Altdorfer gab einem der Kaufherren das Schreiben an den Dommeister mit.
Ostwärts begannen die Wälder einsamer zu werden, Dörfer und Einschichten wurden selten. Hirten teilten mit Altdorfer den Trunk Wasser aus dem Horn des Waldstieres. Die Tanne, gleißend im Panzer ihres Harzes, der scheue Duft des Buchenlaubes, der leise Modergeruch der Walderde, das weiche Moos unter der Ferse: das alles war dem Wanderer vertraut.
Am Rand einer Wildnis, die sich breit gegen die Berge Otweich und Osser erstreckte, traf er in einer felsigen Gegend einen Einsiedel an, alt und silberbärtig wie der heilige Waldantonius. Er hauste in einer baumrindenen Klause, deren Dach mit Moos und Donnergrün bedeckt war. Der Greis ruhte eben in seiner Andacht aus, sein Haar war gesträubt wie ein Dornbusch, und Nadeln und Laub hafteten daran. Er zeigte sich nicht verwundert, als er den spießbewehrten Fremden hier fern der pflugbaren Erde gewahrte.
Ein klarer Lauterbrunn stieß dort auf, und Altdorfer ließ sich daran nieder und betrachtete die Einsamkeit. Er trank; die Kühle des Felsens, durch den der Quell geklommen, durchrieselte seinen Leib.
Neben der Zelle hatte sich der Einsiedel nach Art der alten Wüstenmönche ein Gärtlein angelegt, daraus seine leibliche Nahrung zu genießen. In einer hohlen, doch noch lebendig grünen Eiche war sein Geißstall, und die blitzgeöffnete Tanne dort mochte sein Sakramentstürmlein sein.
Nun hatte der Alte das letzte Gebet in den Silberbart gemurmelt und kam freundlich, doch ohne Neugier und ohne Frage näher und schöpfte mit dem Krug aus dem Brunnen.
»Fragt Ihr nit, Vater, was mich in die Ode hertreibt?« begann der Jüngling.
Der Klausner erwiderte sanft: »Fliehst du die Welt? Kannst du vor dir selber fliehen?«
»Und Ihr, Ehrwürdiger?«
»Ich? Mein Ziel ist nimmer da herunten wie das deine. Mir hat die Erde keinen Sinn mehr.«
»Und doch muss jeder Mensch etwas treiben. Der Heiland hat seinem Vater zimmern helfen, und die Muttergottes sitzt gewiss nit müßig im Himmelreich, sie schafft an der Spindel.«
Der Alte deutete bescheiden auf das Gärtlein, das von Gemüse und einigen traulichen Blumen belebt war und darum ein Zaun geflochten war, es zu wahren vor dem Tritt des Hirsches und dem Rüssel des Wildebers. »Ich bete«, sagte er. »Ich träume. Ich schlafe auf einem Stein. Den Verirrten leite ich zum Weg. Oft horche ich in der Nacht, ob niemand im Wald schreit. Aber ich höre nur das eigene Herz schweigen.«
»Wunderlicher, was alles möget Ihr erfahren haben?« sagte Altdorfer ehrfürchtig.
»Ich habe alle Vergangenheit verloren.«
»Bedrückt Euch nit die schwere Ode?«
»Bin ich allein? Sieh dort das Reh, das aus dem Schatten lugt! Vernimm das Wort der Vögel! Die Rede der Bäume! Hör dem Brunnen zu!«
Und Altdorfer sah die schönwüchsige Birke sich leise wiegen, er sah einen Hirsch, der wie ein Wäldergott weiß im Dämmer der Stämme weilte, den Grind gewaltig gezinkt; eine Tanne erwachte und rauschte.
»Aber der Mensch sucht den Menschen«, wandte er ein. »Du eitles, prahlerisches Geschöpf! Ist nicht alles, was dir gering und was dir gewaltig zu sein scheint, ist nicht alles aus Traum und Plan Gottes hervorgetreten und darum gleich wertvoll? Der schmale Halm zu deinen Füßen, bedeutet er weniger wie die riesige Eiche dort mit ihren tausend Ästen? Der winzige Kiesel im Brunn, ist er nicht eben so gottgeschenkt wie der himmelhohe Berg Otweich? Ist er nicht ebenso wunderbar und ehrwürdig wie die ganze Welt, in deren Schoß die Völker blühen? Wanderer, denk darüber nach! Neige dich vor dem Al! wie vor der Einzelheit!«
Altdorfer dachte bei diesen Worten an die Lehre des Ahnen, der in einem Kloster im Gebirg verschollen war, und seine vorbereitete Seele nahm alles, was der einsame Mann da sagte, begierig auf. Er berührte schaudernd einen grünen Halm. Auch dieser war eines Atems mit Gott. Und er erschien ihm plötzlich erhaben in seiner schlichten Gestalt und seinem rätselhaften Schweigen. Er betrachtete einen Tropfen Harz, ein abgefallenes Stück Baumrinde. Das Kleinste! Wie wunderbar war es! Und die Welt rückte auf einmal näher an ihn heran und wurde trotz ihrer Stummheit ihm verwandter und seelenhaft vertraut.
Unendlich gleich dem wie aus tiefblauem Glas sich wölbenden Himmel, unendlich in sich war auch dieses Kleine, wesentlich und wichtig. Altdorfer staunte jäh wie unter einer dröhnenden Offenbarung die Rinde einer Eiche an, wie sie sich borkig aufrollte, wie sie verletzt und verharscht war. Und dann sah er die wäldergekrönten Höhen in die Ferne hinauswellen. Und alles, das Mächtige wie das Winzige, trug den gleichen, geheimnisvollen Sinn des Seins, des Verharrens, des Wandels, des Geborgenseins im Al!, im großen, weisen Schicksal. Gott weiß von dem im Wind verlorenen Federlein der Ringelblume, von dem flüchtigen, im Blau spurlos zerrinnenden Wölklein genauso wie von der breit hinströmenden Donau, von dem fürstlichen Gestirn des Tages, von den ewigen Sternbildern. Das war Altdorfer auf einmal ganz klar.
Mit den lichten Augen, die ihm schon die Mutter verzaubert hatte am Waldwasser, die ihm aber jetzt noch wissender, durchdringender zu sein schienen, umfasste er die Tannenpracht des
Gebirges, die grau aus dunkelm Grün ansteigenden Felsen, das funkelnde, eichenbeschattete Moos. Was denken diese stillen Felsenstirnen? Was flüstert das Laub? Ist es geheimer Wissenschaft inne? Welche Träume wohnen in den Bäumen? Oh, wer erkennt das Wesen all dieser fremden Geschöpfe? Der Blume da, die so gestaltet ist, als wäre in ihr eine dunkle, bauende Vernunft?
Gott blickt in die tiefen Dinge hinein und aus ihnen wieder heraus.
Eine schöne, bunte Raupe rieselte Altdorfer über den Handrücken, ein zarter Vogel hüpfte ohne Scheu zu dem Waldbrunn und nippte. Und auf einmal, begab sich die Seele Altdorfers tönend aus ihm heraus und ruhte in der Landschaft und war die Landschaft und wünschte nichts.
Als er wieder seiner selbst bewusst wurde, war ihm, er sei aus einer holden Ohnmacht erwacht.
Er sah den Einsiedel mit dem weißen, verschwärmten Blick sich zu seinem Gärtlein neigen und musste an den heiligen Wolfgang denken, der einst aus der rauschenden Welt, aus der Pracht seiner bischöflichen Pfalz in die Aböde geflohen und die goldenen Gewänder und den Prunkstab zurückgelassen und nichts mitgenommen hatte als seinen elfenbeinernen Kamm, sich den schneeweißen Bart zu ordnen.
Der Wald ist Ruhe und Trost, nicht Schrecknis allein. Und das Rüstzeug des Klausners ist die weltferne Einsamkeit: in frommer Unwissenheit, teilnahmslos gegen die Geschehnisse der Menschenzeit, senkt er sein ganzes Wesen gelassen im Traum zu Gott hinab.
Doch Altdorfer raffte sich auf und wusste, dass ihm diese Waldesstille des Herzens nicht bestimmt war. Ihn drängte es, tätig teilzunehmen an dem, was in seiner Zeit die Menschheit bewegte, und er wollte bilden und bauen. Die Kunst ist für die Menschen da, nicht für die einfältigen Vögel der Wildnis und für die blinden Bäume, von denen man nicht weiß, ob sie denken können oder nicht.
»Ich muss Gott anders dienen«, sagt er laut.
Vollkommen werden in der eintönigen Ertötung aller stolzen und süßen Wünsche, nein, das wollte der Himmel von ihm nicht.
»Leb wohl, Einsiedel!«
Der weltscheue Alte entließ ihn mit dunkelm Spruch. »Lass absterben, was verweslich ist! Lass leben das Unsterbliche!«
Altdorfer drang ein in die nie durchdrungenen Wälder, die Reise war Mühsal und schauende Lust zugleich.
Schwermütige Sümpfe starrten, Steine wuchsen aus dem Grund. Die Nestlinge des Reihers knarrten im Horst, der Hirsch strich durchs Holz, die feuchten Schaufeln schimmerten ihm. Auf einem Fels lauerte regungslos ein Luchs. Tannen spreizten die zottigen Äste, Schlangenfichten ließen ihr Gezweig hangen, fahle Baumgerippe blendeten aus dem Dämmer. Schluchten waren vom Windbruch verrammelt, in dessen Wirrnis kaum ein Türlein für das schlanke Wild sich bot.
Altdorfer bettete sich in den klarbraunen, kühlen Bernstein eines Baches und ließ die Flut sich über die geschlossenen Augen fließen.
Dem Wasser beschaulich dann entgegen wandernd, fand er es mit vollem Quellstoß aus dem Stein springen und die Felsen hinabstürzen. Und in seinem bauenden Willen dachte er sich das Sturzwasser in einem kunstvoll behauenen Riesenbecher gefangen, ähnlich den Gebilden Meister Hittenkoflers, in einer granitenen Schale auf mächtigem Fuß, dazu steinerne Staffeln hinaufführten, und in der Schale müsste der volle Bach aufspringen und wie ein Glasbaum funkeln. Und in spielendem Traum dann sah Altdorfer einen müden alten Mann heranpilgern, ein dünnes Haarkränzlein um den kahlen, rosigen Scheitel, und neben ihm auf grauem Tier eine demütige Frau, das Kind an der Brust. Und Sankt Josef legt den langen Stecken an den Wildnisbrunn und schöpft mit einem fremdländischen Krug und bietet ihn Sankt Marien. In der nahen Haselstaude aber kauert Freund Geißfuß und schalmeit ein heidnisches Tanzlied, das Kind zu erfreuen. Und das Einhorn tritt aus dem dunkelbunten Dämmer des Waldes und trinkt aus dem Brunn.
Welche Entlegenheit hier! An dieser Stelle könnte sich wohl ereignet haben, was die Legende raunt. Ein finsterer Räuber springt hervor mit breitem Schwert und schlägt dem im Gebet versunkenen Einsiedel jäh das Haupt ab. Der Heilige aber hebt es aus dem Gras, hält es hoch gegen Gott, und der Mund des abgehauenen Hauptes betet gelassen weiter.
Altdorfer forschte scheu um sich. Da ragte der Jahrtausend-baum, in grüner Kraft unüberwindlich der Zeit trotzend; kühne Tannen, bis zur Wurzel hinab beästet, dräuten und zerrissene, willkürwilde Föhren; düstere Höhlen glotzten, Aufenthalt des Getiers. Der Bach rollte dunkel dahin und verlor sich in verworrenem Grün, wie eine wilde Märe scholl er, und der einsame Lauscher wusste auf einmal nicht, ob es außerhalb oder innerhalb seines Hauptes rausche.
Hier hausen die Elemente und ihre Geister, und alles Fabelwesen, das von den Menschen verscheucht worden ist, findet hier seine Zuflucht. Hier hasst der Wald mit Dorn und Morast und Unwegsamkeit den Menschen und hegt alles, was unheimlich und böse ist. Auf verdorrtem Ast reitet die Drud, das Schrätel meckert hämisch, verlorene Seelen klagen im Rabenschrei. Allerfinsterster Märchen, die die Mutter erzählt hatte, erinnerte sich Altdorfer, der Perchtfrau und des Semper, der dem Buben den Leib aufreißt und ihn mit Kieseln füllt. In dieser unbesuchten Ode mag aber auch die Wunderblume gedeihen, die, nur von Tau genährt und von der Feuchte des Windes und vom Blick der Sterne, auf dem Gipfel des unersteigbaren Vorzeitbaumes wächst. Hier in dem dämmerigen Licht war die Heimat alles Abenteuers.
Ferner wurden die fernen Höhen und abendblauer, eine klotzige, kupferne Wolke versank in den Wipfeln. Nur auf den höchsten Höhen haftete noch die Goldspur der vergangenen Sonne.
Altdorfer lag in tiefer Nacht auf einem Felsblock und sah lange einem Wetter zu, das ferne strahlt. Das Sternlicht war, als glänze die Klarheit des Himmelreiches hindurch. Hier über den Wäldern zeigten sich entlegenere Sterne, schloss sich der Weltabgrund tiefer auf. Der Himmel lauschte hernieder, die Erde hinauf, und beide berührten sich rätselhaft in diesem Lauschen. Lauscht in dieser Stille Gott?
Wie mochte Gottes Antlitz sein? Wie seine Form? Er sann nach. Er fragte wortlos die dunkle Welt. Der Stein setzte ihm sein weises Schweigen entgegen.
Ein schwerer, schwarzer Dämmervogel umflog ihn, als wolle er ihn überfallen. Ein Tier schrie. War es ein Luchs, der die Genossin suchte?
Da überkam ihn die Waldangst.
Wovor fürchtete er sich? Vor Nachtlauerern? Vor wüsten Wildnisgreisen? Er trug doch einen Spieß! Fürchtete er sich vor Überirdischen oder Unterirdischen? Vor dem bläulichen Heerwisch am Sumpf? Vor jenem befremdlich wankenden Strauch? Vor der Rohne, deren Gewurz mit Gespensterarmen in die Luft griff? Vor der Einsamkeit?
Befreiend drang der Morgen auf, hold umspülte ihn der Duft der grünen Ode, und die Gespenster zerflatterten.
Aber die dunkeln Augen der Wildnis blieben schwer und fordernd auf ihn gerichtet: das glimmende Laub, die bunte Dämmernis, das Rauschen der vergessenen Wipfel und die Einsamkeit nahm er in sich auf. Der Wald verwob sich mit seiner Seele.
Den jungen Menschen erfüllte Andacht, und sie war hier stärker als damals im Dom zu Regensburg. Heilig sind diese Schrecknisse von Fels und gestürztem Riesenholz! Hier begegnet man Gott unmittelbarer als im urbaren Bauernland oder in den Gassen umtürmter Städte. Was hier wuchs und wucherte und verdarb, alles dünkte Altdorfer schön. War es doch ohne Zutun der Menschen rein aus dem formenden Willen des Schöpfers geronnen: die leise begraste Bodenwelle, der moosig-nachdenkliche Block, das erhabene Ragen der Berge, das Licht, das durch die scheuen Wipfel zitterte.
Mitten im Wald stieß Altdorfer auf die Trümmer eines weitläufigen Gebäudes.
Mit ernster Miene starrte das Gemäuer nieder, in die eigene Vergangenheit träumerisch versunken. Ein Iltis hüpfte durch das verfallene Tor, ein Hirsch stieg langsam die Treppe herab. Aus einem Fenster flog ein Habicht auf. Unkrautwildnis, Stauden und Wurzeln hoher Bäume durchdrangen den Schutt.
Wer hat einst hier gehaust? Ist es ein Hussitenturm gewesen? Der Schlossgraben verwuchert, die gestürzte Vorburg vergrast, der Brunnen hat sich mit Erde verschlossen, kaum sieht man noch die Merkmale eines Kellers. Bald wird nur ein dürftiges Mäuerlein rätselhaft hier dauern, alles wird wieder Wald, und wer in der Chronik dieser Burg forscht, wird ihre Lage nimmer ermitteln können.
Noch einen vollen Tag wanderte Altdorfer kreuz und quer durch das Gebirge, er aß wenig und schien nur vom Schauen zu leben.
Abends fand er in Gras und Morast die Spur von Rädern und Rössern. Vielleicht waren hier Säumer gefahren, Böhmen mochte schon nahe sein.
Er stieß auf schwarzhaariges Ägyptervolk, das, wohl aus den Kornbreiten der Dörfer verjagt, um ein freies Feuer lagerte, umwimmelt von Kindern voll hunnischen Schmutzes. Dürre Pferde grasten nahe ihren Karren.
Sonnverbrannte Gesichter kehrten sich dem Wanderer zu. Eine verrunzelte Zigeunerin drängte sich durch die bettelnden Kinder und schmeichelte: »Schönster, gib mir die Hand! Ich lese drin.«
Altdorfer verabscheute dieses landstürzerische, diebische Volk, von dem das Gerücht meldete, sie seien von den Türken gedungene Späher, Weg und Steg des Abendlandes zu erkunden, und sie übten Zauber, brächen in einsamen Gehöften ein und beraubten die Kirchen.
»Weg, Gesindel! Oder ich steche!« warnte er und zückte den Spieß. »Mich widert vor euch!«
»Zigeuner hat gutes Herz«, kicherte die Alte. »Zigeuner keine Kinder stehlen. Zigeuner Christ, will heiliges Grab finden. «
Mit Ekel überließ er der Aufdringlichen die Handfläche, darein die Lebensfalten klar gekerbt waren, und sie beugte sich spürend darüber.
Als Altdorfer die glühäugige; zerlumpte Rotte betrachtete, gewahrte er überrascht unter ihnen einen ritterlich feingekleideten Mann mit bleichem, abschreckendem Gesicht sitzen, und sein erster Gedanke war, der Teufel selber wärme sich an: dem Feuer, und die Zigeuner merkten es nicht oder sie machten sich nichts daraus.
Indes hub die Hexe geschwätzig zu weissagen an: »Sieben Kinder! Eines schöner als das andere! Einer wird Bischof, einer Feldhauptmann, einer Ratsherr in Deggendorf. Deine Töchter heiraten reich, oh, reich, reich, reich!«
Wo hatte Altdorfer dieses vom Feuer dort langeflackert Gesicht schon geschaut? Dieses zuckende, bleiche, einmalige Gesicht? Solch ein fremd geladenes Gesicht zeitigte Deutschland nicht. Diese Teufelsnase; diese Augen, schmal und schief in, die Fratze geschlitzt, dieser höhnische, fast lippenlose Mund! Über der Braue war eine dichtbehaarte, schwarze Stelle, ein kleines Fell. Die Spinnenfinger tändelten in, einem spärlichen Kinnbart, ihr Spiel schien eine tiefe Unruhe verlarven zu wollen. Die Natur schien mit diesem Gesicht einen kühnen; ganz ungewöhnlichen Versuch gemacht zu haben, und der war ihr misslungen. Und doch, die Stirn war groß und edel und ganz anders. als die niedrigen, stumpfen, haarigen Zigeunerstirnen rings!
Während die Alte kunterbunt Angenehmes und Drohendes aus Altdorfers Hand weissagte: Reichtümer, dass er sein eigenes Fässlein Wein im Keller zapfen und seinem Weib einst güldene Kettlein um den Nacken legen werde, und; dass neidische. Feinde lauerten, trat plötzlich der fremdländische. Mann herzu, lugte flüchtig auf, das. Gefältelt: der Hand hin und sagte: »Die Hand ist noch unreif.«
Wo hatte Altdorfer diese helle, meckernde. Stimme schonvernommen? Er sah ihn betroffen an. War es ein Schrat der ;Wildnis, der sein Gehörn abgeworfen und sich in vornehmem Gewand launisch unter die Zigeuner gemischt hatte? :Oder war es – jener schreckliche Fremdling, der dem Klaus Holtzbock auf die Schulter geklopft hatte und ihm seinen unseligen Tod angedeutet hatte?
»Seid Ihr nit ein Jud?« fragte Altdorfer.
»Meine Mutter hat sich verschaut«, spöttelte der Fremde. »Aber du hältst mich wohl für den Leibhaften?«
Verlegen schwieg Altdorfer. Der Mann da wusste die ungesagten Gedanken der anderen. Da galt es bei der harten Wahrheit zu bleiben.
»Ja. Ihr kommt mir so vor«, gestand Altdorfer.
Mit herrischem Wink verscheuchte der Fremde die klappernde Schwätzerin und die lungernden Kinder. Dann fragte er langsam: »Ist der Teufel das Schlimmste auf Erden?«
»Ja. Man soll ihn hassen.«
»O du hitziger Christenmensch! Ist es christlich barmherzig, dass der Teufel ewig verdammt sich krümmen muss? Und wenn er wahrhaftig dem Herrgott feind ist, warum liebt der Vater im Himmel ihn nicht, wo doch der Sohn das Gesetz aufgestellt hat: ›Liebe den Feind und tu ihm Gutes!‹? Ihr alle schmähet und jaget den Teufel, und ist doch der größte Sünder dein Nebenmensch, dein Nächster, wie ihn die Bibel heißt, und du solltest ihn lieben wie dich selber!«
Altdorfer besann sich, was er gegen dieses vermessene, obwohl in des Heilands Lehre wurzelnde Wort einwenden solle, aber sein Gehirn war auf einmal seltsam gelähmt, und er konnte nichts vorbringen, was für Gott günstig gewesen wäre. Doch fühlte er, dass aller Hass gegen das Böse zurecht bestünde. Er sagte nur: »Ihr verteidigt das Arge, als wolltet Ihr damit Euch selber verteidigen. Fürchtet Ihr denn den Teufel nit?«
»Nein. Ich bin vor ihm gefeit.«
»Ihr schaut just nit danach aus«, meinte Altdorfer offen.
»Bin ich dir verdächtig, weil ich bei der klaubaufischen Horde da hocke? Ich verweile gern dort, wo ich fremde Art und fremdes Herz erkenne. Aber der Teufel kann mir nicht an, weil ich nicht an ihn glaube. Du erschrickst? Du kannst dir Gott ohne den Teufel nimmer denken?«
»Sprecht nit so vermessen! Gott könnt auf Euch aufmerksam werden!«
Mit kühlem Hochmut sah der Fremde über ihn hinweg. »Was kümmert der Alte sich um die Welt?!« Er deutete aufwärts. »Sieh droben das Eisgestirn des Bären! Sieh dort die Sternenstraße! Sieh dazwischen die schwarzen Räume des Nichts, die unendliche Leere! Und erzittere!«
Altdorfer wurde sich zum ersten Mal des weltlosen Dunkels im All bewusst. Sein Auge wurde lahm vor Schwindel.
»Es ist alles Streben vergeblich«, murmelte der Unheimliche. »Vor diesem Anblick besteht nichts.«
Er kehrte sich ab und schleuderte den Zigeunern Geld zu.
Einiges rollte ins Feuer, einiges ins Dunkel. Dann piff er schrill. Ein schwarzes Roß brach schnaubend aus dem Gebüsch. Er schwang sich mit federnder Kraft in den Sattel und entritt. Es war wie in einer unholden Sage.
Altdorfer fragte einen Zigeuner, woher der Rappe gekommen sei.
»Von der Schwemme. Wir haben dem Herrn das Ross waschen müssen.«
»Warum habt ihr es nit gestohlen?«
»Wir fürchten den Herrn.«
»Kennt ihr ihn?«
»Wir haben ihn noch nie gesehen. Vor einer Stunde erst ist er zu uns gekommen. Von Hispania kommt er, hat er gesagt. Nach Böhmen will er reiten. Nach Elbogen. Dort ist ein eiserner Stern vom Himmel gefallen. Daraus will er Gold machen.«
Altdorfer wanderte weiter.
Fremde Schreie erhoben sich. Die wilden Tiere mochten erwacht sein.
Er wusch sich in einem Bach die Hände, die die Zigeunerin betastet hatte.
In einem Gefühl der Sehnsucht berührte er sanft eine halbwüchsige Föhre, so sanft, als wolle er sie nicht aus dem Schlaf schrecken. Der Baum schauderte auf, schauderte wie von der Krone hernieder bis in die letzte Wurzelfaser.
Altdorfer warf sich ins: Gras. Die wilden Wipfel, über ihm zielten hoch und störten die Ordnung der Sterne.
Welch wunderliches Gespräch hatte er geführt unter dem dunkeln, Himmel am Feuer des fremden Volkes!
Er; lauschte bang vorbei an den Wipfeln in den anfanglosen endelosen Raum hinauf. Kein Laub regte sich, kein Zweig schwang.
Warum lebt der Mensch? Ist das Leben wert, dass man .wandert und wünscht?