Jakob Wassermann
Die Schwestern
Jakob Wassermann

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Sara Malcolm

Zu Ende des Jahres siebzehnhundertzweiunddreißig, unter der Regierung König Georgs des Zweiten geschah es, daß der Londoner Nachtwächter bei seinem vierten Rundgang in der Nähe von Templebar ein junges Mädchen leblos auf der Straße liegen sah. Er versuchte die Besinnungslose aufzurichten und zu erwecken, und als seine Bemühungen vergeblich blieben, begab er sich zum Tor des nächsten Hauses und klopfte die Bewohner wach. Bald erschienen einige Mägde der Mistreß Lydia Duncomb. Auch Master John Kerrel, der im zweiten Stock dieses Hauses sein Quartier hatte und zu der späten Stunde erst vom Wirtshaus heimkehrte, gesellte sich der Gruppe hinzu, die alsbald die Ohnmächtige umstand. Sie schien den Ärmsten der Armen anzugehören; abgerissene und schmutzige Gewänder hingen um den vermagerten Körper, der graue Wollrock bedeckte kaum noch die Kniee, das Haar, von jener kupfrigen Farbe, wie es viele Wanderinnen haben, war vom Straßenschmutz besudelt und hing aufgelöst um den Kopf und um die Schultern. Auch ein wenig Blut klebte daran, und man entdeckte beim Nachsehen eine Riß- oder Schlagwunde am Arm, etwas unterhalb der Schulter.

Master John Kerrel, ein Mann, der alle Schlupfwinkel der Stadt kannte und sich auf die Menschenarten Londons verstand, erklärte, das Mädchen gehöre wahrscheinlich zu den Wäscherinnen von Temple. Indessen trug man die Leblose ins Haus; der Nachtwächter leuchtete mit seiner Laterne voran. Mistreß Duncomb, eine Greisin von fünfundsiebzig Jahren, war von dem Tumult erwacht und kam in den Flur. Sie ließ die Verwundete in die Küche tragen und befahl, ihr ein Lager neben dem Herd zu bereiten; dann holte sie ein Stück Linnen und war behilflich, den verletzten Arm einzubinden.

Am Morgen war das unbekannte Mädchen noch immer nicht aus der Betäubung erwacht. Augen und Mund waren fest geschlossen, der Leib war ohne Merkmal des tätigen Atems. Es wurde über die Straße nach dem Doktor Rush geschickt; als er kam und sah, daß er seine Kunst an ein armseliges Dirnlein verschwenden sollte, zuckte er die Achseln und verordnete einen Aderlaß, ohne die Wunde am Arm zu bedenken, durch die schon genug Lebenssaft entflossen war. Das Rezept blieb wirkungslos; es verging der ganze Tag und die Fremde lag da wie in der ersten Stunde; man hatte nichts über sie erfahren können, nicht, woher sie kam, wie sie hieß und durch welche Umstände sie ums Leben gekommen war, – denn allmählich durfte man annehmen, daß es mit dem Kind vorüber sei und nichts mehr anderes zu geschehen habe, als für die geheimnisvoll Hingegangene ein Grab zu besorgen. Die Hausbewohner waren lebhaft erregt durch den Vorfall. John Kerrels Freund und Zimmerkamerad, Master John Gehagan, der in der vergangenen Nacht zu früher Zeit heimgekehrt war, wollte gegen ein Uhr ein heftiges Geschrei aus der Richtung von St. James gehört haben, aber dadurch war nichts erklärt. John Gehagan ging hinunter in Mistreß Duncombs Küche, besichtigte das regungslose Mädchen mit dem Mißtrauen eines Menschen, der alle Tücken und Schliche des Bettelvolks kennt und gab den Rat, man solle der Person einen Blasebalg unter die Nase führen oder ihre Fußsohlen mit glühendem Eisen kitzeln. Trotzdem betrachtete er nicht ohne Erbarmen die kindlich schmale Gestalt, aus der das Leben unmerkbar zu fließen schien wie Wasser aus der hohlen Hand.

Die Dunkelheit war schon angebrochen, da begann plötzlich die Ohnmächtige sichtbar zu atmen. Nur die Zofe und das Laufmädchen waren in der Küche, und jene rief sogleich ihre Herrin. Als Mistreß Duncomb an das Lager trat, blieb sie voll tiefen Staunens wie angewurzelt stehen. Sie blickte in ein Gesicht, das von aller irdischen Qual gelöst war. Ein sanftes Lächeln hatte sich über den Mund gebreitet und, gleichsam von innen heraus, die Lippen auseinandergedrängt. Zweifellos umfing ein Traum die gefesselten Sinne und erschloß ihnen das Tor zu einem Land der Wunder und des Glücks. Es war, als ob die Schläferin Engelstimmen höre, denn sie schien zu horchen; es war, als ob ein göttliches Wesen ihr nahe sei und die Last gefürchteter Leiden von ihrem Herzen hebe, denn sie schien zu sehen und auf ihrer Stirne lag es wie ein Schimmer von Dankbarkeit und Erleichterung. Die übrigen Mägde, die sich nach und nach einfanden, umgaben verwundert das Bett. Das Lächeln der Träumerin faßte jede einzelne tief an in ihrem Innern. Andächtig standen sie, die Hände über den weißen holländischen Schürzen gefaltet, und blickten in das Feuer dieses Traums, bis ihre Augen glänzten und sie etwas wie Unzufriedenheit mit den Zuständen dieser Welt und ihres eigenen Daseins verspürten. Schließlich begann eine der Letztgekommenen laut zu beten, und davon erwachte das Mädchen aus ihrem Todesschlaf und öffnete die Augen.

Da war es nun wieder ein Gesicht wie alle Gesichter oder wenigstens wie viele; die Fremdheit sank von ihm herunter, und die Weiber, die im Kreis standen, fühlten sich beschämt und geärgert. Man wollte den Namen einer so seltsam sich gebärdenden Person wissen, und sie gab bereitwillig Auskunft, daß sie Sara Malcolm heiße. Sonst war nichts aus ihr herauszubringen. Je mehr man in sie drängte, je verstockter wurde sie. Sie gab sich so scheu und verschlossen, daß selbst das Wohlwollen der gutmütigen Herrin daran Anstoß nahm, die ihr immer von neuem versicherte, daß sie in ihrem Hause bleiben könne, daß sie hier Arbeit und Brot finde und Gefahren nicht mehr zu fürchten brauche, deren Andenken ihr vielleicht das Herz beschwerten. Vergeblich; argwöhnisch und ängstlich flogen ihre Augen von Gesicht zu Gesicht, blieben auf keinem sanfter ruhen, und als sie mit der Musterung aller fertig war, seufzte sie bang und schaute verdrossen zu Boden. Die nachsichtige Mistreß Duncomb ließ ihr zu essen bringen, und mit Gier schlang Sara bis auf den letzten Bissen Brot alles hinunter. Darauf mußte sie ihre Lumpen ablegen und erhielt anständige Kleider, und ein Mädchen war ihr behilflich, das wunderbare rote Haar auszukämmen, das bis zu den Schenkeln reichte und so dicht war, daß es an Stelle eines Mantels hätte dienen können.

Sara Malcolm blieb im Hause. Sie mußte niedrige Arbeit verrichten und des letzten Dieners Dienerin sein. Sie mußte treppauf treppunter laufen, für die Mietsherren über die Straße rennen, das Schoßhündchen der Frau suchen, wenn es sich verloren hatte, und aus der Schenke das Bier für den Stallknecht holen. Sara! rief es früh und spät, Sara! hier und dort. Und nicht genug mit all dem Eilen, Hasten, Schaffen und Kommandiertwerden, hatte sie auch noch die frechen Zumutungen der Männer abzuwehren, vom noblen Gentleman, der um Mitternacht besoffen die Stiege hinaufstolperte, bis zum pockennarbigen Bäckerjungen, der nach Tagesanbruch ans Haustor pochte. Viel Arbeit hatte Sara und wenig Schlaf. Wenn die Stiefel geputzt und die Gewänder gebürstet waren, stand die Uhr schon weit in der Nacht, das Haus lag im Schlummer, und sie taumelte in einen Verschlag neben der Kellerluke, wo sie und das Laufmädchen auf Strohsäcken liegen mußten.

Doch war sie in ihrem Gemüte zufrieden, wenn man sie nur mit Worten in Ruhe ließ, nur nicht an ihr herumfragte und nach vergangenen Dingen forschte. Die Warums und Wanns schmeckten ihr bitterer als Hunger und Regenwetter. Das eine hatte sich bald herausgestellt, und John Kerrel hatte recht geraten; sie war im Tempelbar Wäscherin gewesen. Aber es war länger her denn ein Jahr; man wollte wissen, daß sie sich einem unehrbaren Wandel ergeben habe und der eine oder andere behauptete sie in verrufenen Kneipen gesehen zu haben mit Leuten, denen ein anständiger Mann nirgends begegnen möchte.

Bei solchem Gemunkle hatte es sein Bewenden, zum Schluß kümmerte man sich nicht mehr viel um Sara. Man ließ sie leben und atmen, das war alles, – für sie genug. Den Himmel zu sehen, hatte sie kein häufiges Verlangen, und wenn sie von der Sonne nur gerade gestreift wurde, ihr war es genug. Den auf sie gerichteten Blick erwiderte sie nicht, für ein Lächeln hatte sie kein Gegenlächeln, Scherze wußte sie nicht zu deuten oder sie schlüpften an ihren Ohren vorbei wie die Blicke an ihren Augen. Sie klagte nicht, somit schien sie mit ihrem Los einverstanden und jener Sorte von Geschöpfen anzugehören, die ohne den Anblick froher Dinge und ohne Freude mühselig-stumpf dahinweben.

Dennoch hatte sie eine Eigentümlichkeit, durch die ihr Wesen immer wieder als etwas Besonderes, ja Verdächtiges von den Hausleuten empfunden wurde. Am Sonntag, wenn andere Geselligkeit suchten, spazieren gingen und die besten Gewänder umhingen, blieb Sara einsam zu Hause sitzen und starrte vor sich nieder mit einem Ausdruck des Besinnens, einem Ausdruck des gewaltsamen Nachdenkens, der stundenlang ihrem Gesicht die Unbeweglichkeit einer Maske gab. Ihre indigoblauen Augen verloren den Blick nach außen; ihre um die Kniee geschlungenen Arme zogen Kopf und Schultern nach vorwärts, und so saß sie, der Spott aller Wachen und die Beängstigung aller Frommen, die der Meinung zuneigten, daß Sara Malcolm ein Hexlein sei, das mit dem Bösen Umgang habe und am Tage des Herrn dafür zur Erstarrung verurteilt wurde.

Es war der Traum, der Solches bewirkte, der vergessene Traum. Die einmal beglückt gewesene Seele wollte das verlorene Bild wiederhaben und fand es nicht. Sie erinnerte sich deutlich, wie etwas Herrliches aufgequollen war, damals aus der Finsternis des langen Schlafes; ein nie zuvor gespürtes Glück hatte ihr Herz zum Bersten voll gemacht und war emporgesproßt bis zum Munde und war als ein Lächeln um die Lippen erblüht. Dann war das Erwachen gekommen, – die Augen sahen nichts mehr, das Herz fühlte nichts mehr. Abergläubisch schaudernd dachte sie an diese Stunde, die ihr nichts zurückgelassen hatte als die Sehnsucht nach etwas rätselhaft Unbekanntem.

Einmal kam Master Gehagan nach Hause und trat in den Hof, um zu den Fenstern John Kerrels hinauf zu pfeifen, und ihm zuzurufen, daß Francis Rhymer, der junge Freund beider Männer, noch diesen Abend zu seiner Hochzeit aus Schottland in London ankomme; ein Eilbote habe die Nachricht gebracht. Kerrel freute sich und erwiderte, es sei wohl das beste, ihn für die nächsten Tage hier im Haus zu beherbergen. Master Gehagan wollte den Hof wieder verlassen, da fiel sein Blick durch die beginnende Dämmerung auf Sara, die vor der offenen Stalltüre eine frisch geschlachtete Gans rupfte. Obwohl er sich sagte, daß es kaum der Mühe verlohne, hatte er Lust, das unscheinbare, sommersprossige Mädchen zu küssen. Er ging auf sie zu, ergriff wortlos mit beiden Händen ihren Kopf und spitzte seine Lippen; aber was er für leicht gehalten, zeigte sich unausführbar. Wild aufgerissene Augen starrten ihn an, und zwei Arme stemmten sich stählern gegen seine Brust. Da wuchs die Begierde; er packte sie bei den Schultern, schleppte sie in den Stall, wo über den leeren Krippen ein Lämpchen düster flammte, und warf sie aufs Stroh. Als er sich nun zu ihr niederbeugen wollte, prallte er mit einem erschrockenen Aufschrei zurück. Das ganze Gesicht Saras war mit Blut wie bestrichen, so daß es einen grauenhaften Anblick darbot; wohl erkannte er den natürlichen Grund: aus dem Hals des toten Tieres, das Sara nicht aus den erhobenen Händen gelassen, war das Blut noch einmal entflossen und hatte das Antlitz des Mädchens bedeckt; aber mit seiner Liebesgier war's vorbei und er floh ängstlich und erregt.

Als Sara allein war, ging sie zum Brunnentrog und wusch Gesicht und Arme, dann setzte sie sich auf den Rand des Brunnens und grübelte. Indessen wurde es Nacht und zwischen zwei steilen Mauern stieg am bläulichen Himmel der Mond herauf. Sie wünschte, daß das Gestirn zur goldenen Schale werde und ihr vor die Füße fallen möchte; sie wünschte, daß aus der Dämmerung ein edler Geist hervortrete, um ihr das Gefühl der drückenden Gegenwart zu nehmen. Aber da rief es schon wieder: Sara! Sara! Mistreß Duncomb begrüßte im Flur einen eben angekommenen Fremdling, der vor der Stiege stand und langsam Schritt um Schritt hinaufging. Vor dem Haus hielt die Karosse, in der er gereist war. John Gehagan half auf der Straße dem Diener, das Gepäck abladen. »Gib acht, daß nichts vergessen wird, John!« rief die Stimme des jungen Mannes; es war eine wohllautende Stimme ohne Schwere, der man es anhörte, daß sie zu scherzen liebte. Er kehrte noch einmal zurück und nahm mit fürsorglichem Wesen dem Bedienten einen Gegenstand ab. »Was ist es?« fragte Gehagan, »am Ende gar das Brautgeschenk?« Der andere nickte, und in einer Wallung der Freude oder des Übermuts öffnete er die Hülle und zeigte John Gehagan einen Pokal aus purem Golde und mit Edelsteinen verziert, die einen feurigen Kreis unterhalb des Mundrandes bildeten. Master Gehagan griff erstaunt danach und rief lachend aus: »Ein Ehepfand der Art wird man in England nicht mehr auftreiben. Eines solchen Kleinods kann sich nicht einmal des Königs Schatzkammer rühmen«. Und er folgte dem Freund und trug den Pokal selbst hinterdrein.

Sara mußte Wein aus dem Keller holen. Ihre Ohren vernahmen den Befehl, aber in ihrem Sinn ging anderes vor. Während sie sich mit dem Wachslicht die Kellertreppe hinuntertastete, sah sie im Dunkel vor sich immerfort den schönen Becher. Ihr deuchte, daß alles Glück des Lebens mit seinem Besitz verbunden sein müsse, und wenn sie ihn auch nicht haben, nicht Eigentum nennen konnte, einmal wollte sie ihn in der Hand halten, ganz zwischen den Händen, ihn mit den Fingern umfangen wie etwas, das man mit aller Kraft des Herzens begehrt hat. Während ihr aus dem niedrigen Gewölbe die kühlfeuchte Luft in Wellen ins Gesicht schlug, nahm das unerklärliche Verlangen so überhand, daß eine glühende Bangigkeit ihr die Brust verschnürte. Was war es nur? Nicht das Gold, nicht das Edelgestein lockte so, nicht die Vorstellung vom hohen Wert des Bechers und daß etwas anderes, gleich Wertvolles dafür zu erkaufen sei; nein, es erschien ihr wie ein Talisman, begabt, das dunkle, enge Leben irgendwie in die Helle und Weite zu zaubern und mit einem Trank, den man aus ihm trinke, den dürftigen Leib zu stärken und zu beseligen. Nie hatte sie etwas mit gleicher Inbrunst begehrt. Wenn sie mit Mary Tracy und den beiden Brüdern Alexander nächtlicherweile, gehorsam durch Zwang, auf Diebstahl ausgezogen war, hatte sie das Erbeutete mit Verachtung und Leid angesehen und ihren Anteil nicht selten verschenkt.

Zitternd kam sie in die Küche, und von den Flaschen, die sie brachte, entfiel eine ihrer Hand und zerbrach auf den Steinfliesen. Die Köchin nahm ein brennendes Scheit vom Herdfeuer und wollte es im Zorn nach Sara schleudern, die mit blanken Füßen im fließenden roten Wein stand. Sie deckte die Hände über das Gesicht und lief stumm davon. Die Arbeit ging nicht mehr von statten, Arme und Beine schienen aus Blei, Lippen und Zunge brannten. Vom unwiderstehlichen Trieb geplagt, schlich sie die Stiegen hinauf bis vor das Zimmer, in das der junge Mann eingezogen war. Das Schlüsselloch war durch den Schlüsselbart verdeckt; unten aus der Spalte schimmerte Licht. Während sie ihr Ohr an das Holz legte, hörte sie ihn mit seiner leichten Stimme singen; sie verstand auch die Worte:

Mißraten Herz, was schreist du nach dem Golde,
Halt es nur fest, auf daß es nicht entgleite,
Die wilde Braut, die alles haben wollte,
Trägt ein Gewand aus himmelblauer Seide.
Und hast du nichts und kannst du ihr nichts geben,
So fordert sie dein junges Blut und Leben.

Im oberen Stock wurde John Kerrels Tür mit großem Lärm aufgemacht und seine Baßstimme dröhnte durch das Haus. Sara schlich wieder hinab, die wütende Unrast ihres Innern konnte sie nicht mehr dämpfen. Allmählich kam Nachtstille und die Stunde, wo selbst Saras Füße ruhen durften. Das Tor ward zugetan, der Wächter schrie seine Zeiten ab. Auf ihrem harten Lager warf sich Sara von einer Seite auf die andere. Kaum schloß sie die Augen, so erblickte sie den goldenen Pokal, und ihr wurde kalt und heiß. Nach Mitternacht erhob sie sich leise, zog Rock und Kittel an, ging unsicheren Schritts auf den Gang und schlich langsam, auf jeder Stufe innehaltend und lauschend, die Treppe zu Francis Rhymers Zimmer empor. Es war nicht völlig finster; durch das runde Fensterchen oberhalb des Haustors schien der Mond herein und bemalte das breite Stiegengeländer mit einem grünen Streifen. Bald stand sie wieder vor der Tür und horchte. Es war alles still, nur das eigene Herz schlug wild und laut. Sie legte die Hand auf die metallene Klinke, und spürte eisigen Schrecken, als die Tür sich wie von selber auftat und das Zimmer in wunderlicher Doppelbeleuchtung vor ihr lag. Durch die Fenster strahlte der helle Mond, und auf einer Konsole am Bett brannte die Öllampe. Der junge Fremde schlief, noch halb in seinen Kleidern, und ein Buch, in dem er gelesen, war der herabhängenden Hand entglitten und auf den Boden gefallen; dies, wie das unverriegelte Türschloß waren Anzeichen, daß er den Schlaf noch nicht gesucht hatte, sondern daß er von ihm überwältigt worden war. Wenn Sara in ihrem verblendeten Sinn eine günstige Schickung darin hätte erblicken wollen, so mußte der höhere Wille in ihren Augen unbezweifelbar werden, als sie das Ziel ihrer Begierde dicht vor sich auf dem Tisch stehen sah: den goldenen Becher, auf der einen Seite grün beglänzt vom Mondlicht, auf der andern rötlich vom Licht der Nachtlampe. Sie ging und griff danach, legte ihre Hände um das Kleinod und fühlte die Beseligung über den Besitz durch jeden Finger einzeln in den Körper strömen. Im Übermaß der unheimlichen Glut setzte sie den Bechersrand an den Mund, als ob sie trinken wollte; es entstand ein Rauschen und Brausen im Innern des leeren Pokals, und es war, als ob irgend etwas Laues, Wohliges den Schlund hinabflösse und den Leib bis zu den Zehen und Haarspitzen ausfüllte.

Da sie nun den Pokal hatte, gedachte sie fortzueilen und aus dem Haus zu fliehen. Aber eine flüchtige Lust wandelte sie an, das Gesicht des jungen Menschen zu sehen und sich auszumalen, wie seinen Zügen das Leid stehen möchte, das er morgen um das verlorene Brautgut tragen würde.

Sie trat hin. Sie beugte sich ein wenig und gewahrte die freundlichen Züge. Sie wollte einen Schrei ausstoßen, doch die Lippen hielten ihn noch rechtzeitig zurück. Ihre Augen erweiterten sich, und sie atmete schwer. Mein Traum, dachte sie innerlich schluchzend, mein Traum. Diesen Jüngling hatte sie im Traum gesehen, mit denselben schlummergefärbten Wangen. Erst in seinem Schlaf erkannte sie ihn. Lächelnd war er zu ihr gekommen, sie waren mitsammen in ein strahlendes Haus gegangen, und dort hatten sie sich vermählt. Um ihretwillen war er ins Haus getreten, ihr brachte er den Becher und dennoch: sie mußte fliehen. Zusammengeduckt wandte sich Sara um und eilte aus dem Zimmer, vergaß die Tür zu schließen, ging die Stiege hinunter, begab sich in die Kammer, wo die Schlafgenossin schnarchte, warf sich auf ihr Lager und stierte in die Luft. Den Pokal hatte sie noch immer im Arm. Er bekam an ihrem Körper eine lebendige Gewalt und redete zu ihr. Da packte sie die Furcht; sie wühlte an der Wandseite des Lagers das Stroh auf und versteckte ihn. Aber er war nicht genug verborgen, er redete noch lauter. Sara konnte es nicht ertragen. Sie stand auf, frierend lief sie in den Flur und wünschte, daß die Nacht vorüber wäre. Sie schob den Riegel vom Haustor, öffnete und lief auf die Straße. Ein herrenloser Hund eilte brummend auf sie zu. Das helle Mondlicht scheuend, flüchtete sie ins Dunkel, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollte. Es trieb sie zu einer Kirche, sie wollte beten, sie wollte vor Gottes Angesicht erscheinen. Die Liebe hatte sie ergriffen, und nun wußte sie, daß Liebe Mark und Bein verzehrt und das Blut so schnell antreibt, daß alle Adern brennen. Sie hatte den Herrgott nie gekannt, jetzt kannte sie ihn; hatte Christum verleugnet; jetzt glaubte sie ihn.

Indessen geschah es, daß sich vor Mistreß Duncombs Haus eine Gesellschaft von drei Personen zusammenfand, zwei Männer und eine Frau. Es waren die beiden Brüder Alexander und die gelbe Mary Tracy. Die beiden Alexander, berühmt in der Verbrecherzunft, waren Zwillingsbrüder und sahen einander so ähnlich, daß man einst in Whitechapel, als sie betrunken waren, dem einen das linke Ohr abgeschnitten hatte, damit man sie fürder unterscheiden könne. Sie waren es, die vor Wochen mit Sara Malcolm aus Aldermans Bierspelunke aufgebrochen waren, um einen wohl vorbereiteten Streich am Bullhead in Breadstreet auszuführen. Da verweigerte Sara plötzlich ihre Teilnahme, denn aus den Reden der zwei Kumpane hatte sie herausgehört, daß diesmal Blut fließen müsse. Es entstand ein kurzer Wortwechsel, Tom Alexander schlug das Mädchen nieder und Bill Alexander, der Ohneohr, tat ihr Gewalt an, während sie ohnmächtig dalag; dessen rühmte er sich später, denn Sara hatte ihren Spießgesellen alles zu Willen getan, nur ihren Leib hatte sie nicht gegeben. Es vergingen Wochen; Mary Tracy erfuhr zufällig, daß Sara bei Mistreß Duncomb in Diensten stehe. Sofort wurde beschlossen, diesen Umstand auszunützen, aber die Versuche, sich Sara zu nähern, waren erfolglos; bei Tag durfte man sich nicht blicken lassen, schon aus Furcht, daß Sara Verrat üben würde, und in der Nacht glich das Haus einer versperrten Festung. Doch als die Spionin Kunde brachte, ein reicher, schottischer Edelmann, Francis Rhymer, habe bei Mistreß Duncomb Quartier bezogen, wollten Tom und Bill um jeden Preis etwas unternehmen. Mit Strickleitern, Spreng- und Sägewerkzeugen machten sie sich auf den Weg und kamen genau zu der Zeit an, wo der Mond hinter die Dächer der Häuser sank. Zuerst wollten sie an das Tor pochen in einer Weise, die Sara kennen mußte und, weil sie nahbei schlief, auch hören konnte. Wenn dann ein anderer aufmachte, so war es eben um ihn geschehen, falls er unbewaffnet und ahnungslos war. Sehr überrascht waren nun die Elenden, als sie das Tor offen sahen; sie dachten an eine Falle. Vorsichtig warteten sie; nichts Verdächtiges zeigte sich. Mary Tracy blieb auf Wache, die beiden Alexander begaben sich hinein, krochen zur Treppe, ein Lichtschimmer von oben erleichterte den Weg, und sie fanden eine offenstehende Stubentüre. Mary Tracy, die in der Dunkelheit dabeigestanden, als der Schotte aus dem Wagen gestiegen, hatte ihnen seine Erscheinung beschrieben, und als sie den Schlafenden gewahrten, zweifelten sie nicht, daß sie ihr Opfer erreicht hatten. Sie waren kundige Köpfe und geschickte Arbeiter; sie wußten, wo Schätze verborgen sein konnten, der Zweck verlangte eine grauenvolle Tat von ihnen; und so geschah es, wie es geschehen mußte, weil es von Anfang an durch den Lauf der Dinge besiegelt war.

Als Sara zurückkam und im Finstern vor dem Duncombschen Hause eine Gestalt sah, erschrak sie, denn jetzt wurde ihr bewußt, wie sträflich sie gehandelt, daß sie das schlafende Haus unverwahrt gelassen. Sie kam näher, und Mary Tracy, forschend wer es sei, trat ihr entgegen. Da erkannten sich die beiden. »Du bist's, Sara«, sagte Mary vertraulich und legte den Arm um die Schulter des Mädchens. Saras Herz füllte sich mit düsteren Ahnungen. Sie war so bestürzt, daß sie außerstande war, sich auf den Beinen zu halten und sich auf die Steintreppe niederließ. Mary Tracy fragte mit verstellter Zärtlichkeit, wie es ihr gegangen sei, wo sie jetzt in tiefster Nacht herkomme und ob sie nicht wieder mit hinauskommen wolle in das freie Leben. Sara horchte geistesabwesend in die Luft hinein, sie spürte, daß im Haus etwas Böses vorging, dann schlug sie die Hände vors Gesicht und fing bitterlich an zu weinen. »Hör doch auf«, gebot Mary Tracy, schaute ängstlich straßauf straßab und zu den Fenstern. »Hör doch auf, wir geben dir Geld.« »Nun war ich bis unter dem Schwibbogen bei Fig-tree-Court«, wehklagte Sara in ihr Weinen hinein. »Ich wollte zu einer Kirche und wollte beten, und als ich eine fand, war alles verschlossen. Warum ist Gott in seinem eigenen Haus eingesperrt?« Noch fester hielt sie die Hände ans Gesicht gepreßt, noch stürmischer wurde ihr Weinen. Aus dem Tore huschten hastig die beiden Alexander; nacktfüßig huschten sie, horchten vorwärts, horchten verstört zurück, lauschten in die Straße hinein und rannten, die Hände zum Mund emporgehoben: »Fort! fort! fort!« Darauf sprangen sie davon, ohne Sara nur gesehen zu haben. Mary Tracy folgte ihnen mit einem Wutschrei; sie fürchtete um die Beute betrogen zu werden.

Das Frührot dämmerte. Sara ging ins Haus und sperrte den Riegel ab. Innen war alles still wie zuvor. Sie wankte in ihre Kammer und fiel aufs Stroh. Schlafen konnte sie nicht. Die Glieder ruhten, aber Augen und Brust brannten. Ich bin ein verloren Weib, dachte sie. Es wurde heller. Da gewahrte sie oben an der Decke einen roten Fleck. Gerade über dem Raum, wo Sara lag, war Francis Rhymers Zimmer. Was für ein Flecken mag das sein? fuhr es ihr durch den Kopf, und siehe, es tropfte etwas herab, und nach einem Weilchen wieder, es tropfte auf ihr Hemd. Bei dem klarer werdenden Licht erkannte sie, daß es Blut sein mußte. Nun wurde ihr Inneres so starr, als ob der Tod hineingegriffen hätte. Ich bin ein verloren Weib, wiederholte sie, als sie aufstand. Der Bäcker klopfte schon ans Haus. Eine halbe Stunde später wurde das Laufmädchen wach und sah das Blut und lief entsetzt auf die Diele. Sara war um die Milch für den Molkensekt gegangen; als sie wiederkam, stand eine Menge Volks vor dem Hause. »Einer ist umgebracht worden«, erzählten sie einander. Master Knight, der ebenfalls zu den Bewohnern des Logierhauses gehörte, schaute vom zweiten Stock im Nachthemd herab und schrie. Sara drängte sich schweigend durch die Leute und gelangte ins Tor. Eben wurde Mistreß Duncomb ohnmächtig von Anne Love und Miß Oliphant die Stiege herabgetragen; ihre Jungfer Elisabeth Harrison, ein kränkliches Geschöpf, hatte wie leblos den Pfosten umklammert. Darauf kam Master Kerrel die Stiege herab; er war schneeweiß im Gesicht, man sah es ihm an, daß er etwas sagen wollte und nicht konnte, vor Entsetzen blieb ihm die Sprache aus. Er war erst um fünf Uhr morgens nach Hause gekommen, so lange hatte er sich in den Kaffeehäusern von Coventgarden umgetrieben. Er hatte nichts Verdächtiges bemerkt, Francis Rhymers Zimmer war geschlossen gewesen. Oben hörte man John Gehagan brüllen vor Schmerz, denn er beklagte in dem Ermordeten den teuersten Freund. Der Pöbel drängte ins Haus. John Kerrel und der Stallbursche hatten Mühe, die Leute zu verhindern, daß sie die Stiege stürmten. Sara schaute eine Weile regungslos dem allen zu, plötzlich zuckte sie konvulsivisch zusammen und fuhr mit beiden Händen an die Schläfen. Sie sprang die Treppe empor, stürzte in das Zimmer des unglücklichen Jünglings und warf sich vor das Bett hin, ohne daß ein Laut von ihren Lippen kam. »Du Höllenhure, scher' dich fort« schrie John Gehagan, packte sie bei den Haaren und wollte sie vom Bett wegzerren, auf dem der bleiche Mensch mit durchschnittenem Hals lag. Da sah ihn Sara mit Augen an, vor denen er erstarrte. Jetzt erinnerte er sich an ihr blutbedecktes Gesicht von gestern, und ihm wurde unheimlich zumute. Einige Mädchen standen an der Schwelle und beobachteten, was vorging, unter ihnen die Köchin, und auch sie erinnerte sich, wie Sara am Abend im roten Wein gewatet wie in Blut. Der Konstabler erschien. Die Volksmenge draußen hatte sich vermehrt, doch es war gelungen, das Tor abzuriegeln. Wie vom Fieber getrieben, ging Sara aus dem Zimmer, taumelte hinunter, machte sich in der Küche zu schaffen, stellte sich mit gerunzelter Stirne zum Feuer und wärmte die Hände. Bald kam die eine bald die andere von den Mädchen. Sie flüsterten und tuschelten; Stunden mochten verflossen sein, da hieß es: »Sara, du sollst hinaus zu Master Gehagan.« Sara ging hinaus, floh an John Gehagan und John Kerrel, die beide im Flur warteten, mit gesenktem Haupt vorbei in ihre Kammer. Dort stand sie zitternd, horchend, schnell atmend, bis die Männer nachfolgten. »Hast du die Nacht über geschlafen?« fragte der mildere Master Kerrel. Keine Antwort. »Warum ist dein Rock vor den Knieen blutig?« fragte John Gehagan. »Ich habe oben gekniet, das wißt Ihr doch«, erwiderte sie mit kaum vernehmbarer Stimme. »Dein Benehmen ist sonderbar. Hast du Geld am Leibe versteckt, Mädchen?« forschte John Gehagan weiter. Zugleich trat er auf sie zu, steckte die Hand in ihr Busentuch, suchte die Brüste hinunter, und wie er ihr unter den Arm fühlte, erschrak sie und ihr Kopf flog zurück. Da wurde ein Stück Hemd mit dem Blutfleck sichtbar. »Und woher ist dies Blut?« fragte Master Gehagan rauh. Sara deutete in die Höhe; »dort ist es her«, entgegnete sie, ohne des Doppelsinns inne zu werden. Mittlerweile hatte sich John Kerrel an das Durchsuchen des Strohlagers gemacht, und auf einmal zog er mit einem heiseren Schrei den Pokal hervor. Das Gefäß schwankte in seiner Faust, John Gehagan drückte fassungslos die Hände gegen das Herz.

»Ich weiß, ich bin ein verloren Weib!« schrie Sara. »Ich will ja gern den Tod erleiden.« Sie fiel nieder und umklammerte die Beine John Gehagans so fest, daß er sich kaum losmachen konnte. Ihre Augen rollten und vergingen fast, und ein furchtbares Seufzen drang aus der Tiefe ihres bedrängten Innern. John Kerrel eilte hinauf, bald kamen zwei Konstabler und führten Sara ins Gefängnis nach Newgate, wie sie war, mit ihrem Arbeitsrock und der blauen Kappe.

Vor den Richter, Sir Roger Brocas gebracht, konnte sie nicht sprechen. Es war ein Jammer, sie anzusehen. Sir Roger fühlte Erbarmen, verschonte sie für diesen Tag und ließ sie in die Zelle zurückbringen. Sie legte sich nicht hin, sie ging nicht umher, sie stand regungslos am vergitterten Fenster und blickte hinaus auf den finstern Hof und sah zu, wie es zu regnen anfing und wie es Nacht wurde, und hörte den Wind heulen. Und als es nun so einsam und dunkel um sie geworden war, da spürte sie plötzlich ein wundersames Pochen in ihrem Leibe. Zuerst achtete sie kaum darauf, es schwieg auch eine Zeitlang, dann wiederholte es sich stärker. Verwundert dachte sie nach, was das Pochen zu bedeuten habe, und als es zum dritten Mal wiederkehrte, da verklärte dasselbe himmlisch selige Lächeln ihre Züge, wie damals im Traum bei Mistreß Duncomb. Sie hatte ein Kind im Schoß. Im Traum hatte sich der Geliebte ihr vermählt, im Traum war er gekommen, im Traum hatte er sie beglückt. Sie kroch in einer Ecke des kalten finstern Raums in sich zusammen, denn so eng ihn vorher ihre Bangigkeit und Trauer gefunden hatte, so weit wurde er jetzt ihrer Verzückung. Sie lauschte in das Innere ihres Leibes hinein, und abermals regte es sich, sie glaubte es zu spüren, glaubte jedes der kleinen Gliederchen zu fühlen, und nun war sie Gott dankbar für die auferlegte Prüfung und freute sich darauf zu sterben, das Geheimnis unter dem Herzen. Gewiß war es derselbe lustgekrönte Engel, der sie mit dem Geliebten zusammengeführt und der sie den Todesweg hinaufgeleiten würde bis an das Tor des Paradieses. »Armes kleines Wesen«, so redete sie lächelnd vor sich nieder und in ihren Schoß hinein, »bist jetzt noch in der Finsternis, bald aber wirst du flügge sein, mein Vögelchen, und wirst Flügel haben und wirst dich im Lichte baden«. So schlief sie allmählich ein. Kein leisester Zweifel regte sich gegen das Wunder, das sich an ihr ereignet.

Wie erstaunt war am andern Tag Sir Roger, als Sara Malcolm heiter und ruhig vor ihn hintrat, auf alle Fragen runde, klare Antwort gab und weder die Reue und Zerknirschung einer Schuldigen noch das Staunen und den Schmerz einer Unschuldigen zeigte. Die Frage, ob sie den Mord verübt habe, erwiderte sie mit nein. Sie erzählte, daß sie aus dem Haus gelaufen, daß sie vor dem Kirchlein bei Fig-tree-Court, wo die Lampe brennt, gewesen sei, daß sie sogar dort den Master Oaks aus der Themsestraße gesehen habe. Was sie denn dort gemacht? fragte der Richter. Sie habe gebetet, antwortete sie. Dann sei sie zurückgegangen und habe vor Mistreß Duncombs Haus Mary Tracy getroffen, und sie erzählte, was sich darnach zugetragen. Sie erzählte auch, wie sie ehemals die Diebsgenossin der beiden Alexander geworden sei, als sie elend und verhungernd durch die Straßen geirrt war. Elternlos, heimatlos, freundelos war sie stets gewesen. Sie erinnerte sich, als Kind einmal auf dem Meer gefahren zu sein, aber woher und wohin, das wußte sie nicht. Überhaupt besaß sie nur wenig Erinnerungsvermögen.

Als aber der Richter auf den Pokal zu sprechen kam, den man doch in ihrer Lagerstatt gefunden, da schwieg sie beharrlich, – nicht wie eine Verbrecherin, die sich zu verraten fürchtet, sondern wie ein Mensch, der ein Geheimnis bewahren will und muß. Das Rätsel, das ihr selbst unlösbar und ungelöst blieb, konnte sie nicht preisgeben, ihre Zunge fand keine Worte dafür, und eine innere Stimme befahl ihr zu schweigen. Darauf wurde sie wieder in die Zelle zurückgeführt und zwei Scharwächter kamen, vor denen sie sich völlig entkleiden mußte, und die ihre Gewänder untersuchten, die Haare aufbanden und sie fragten, ob sie irgend etwas vergraben habe, es sei auch Geld geraubt worden. Sara schüttelte den Kopf. »Da müßt ihr euch an die beiden Alexander wenden«, sagte sie, und trotz ihrer Nacktheit benahm sie sich so, daß sich die beiden Alten darüber wunderten.

Mary Tracy und die Brüder Alexander konnten nicht aufgefunden werden. Am andern Tage wurde Sara aus dem Gefängnis geholt und man brachte sie vor die Leiche des gemordeten Jünglings. Der Richter und die Unterrichter waren dabei, ferner John Gehagan und ein Konstabler. Sie blickte stumm auf das wächserne Antlitz, ihre Augen schimmerten naß und sie faltete innig bewegt die Hände. John Gehagan, außer sich vor Gram und Wut, ballte die Faust und schlug sie, ehe es jemand verhindern konnte, ins Gesicht. Sie taumelte, aber sie schrie nicht; bald stand sie wieder aufrecht und bedeckte nur mit dem Arm die Augen, vor denen es flammte. »Was tut ihr mir, Master Gehagan?« murmelte sie klagend.

Dann ging es wieder nach Newgate, und sie wurde den Zeugen gegenübergestellt. Es waren hauptsächlich die Frauenzimmer, die sich über Saras seltsames, verstecktes, hexenhaft scheues Wesen äußerten, auch die Geschichte mit dem vergossenen Wein kam zur Sprache. Andere stellten sich ein, die Sara in früherer Zeit gekannt, und sagten Böses aus; wenn ein Mensch im Unglück sitzt, wollen alle, denen er einmal mißfallen, ihr Mütchen auslassen. Sie zeigte sich würdig und fest. Kein überflüssiges Wort kam von ihren Lippen, aber keine leichtsinnige Verdächtigung ließ sie hingehen, ohne dem Urheber mit scharfer, ja scharfsinniger Frage und Weiterfrage an den Leib zu rücken, so daß sie die Betreffenden oft sehr in Verlegenheit brachte. Ihre Art und Weise erregte schließlich Aufsehen. Gebildete Leute kamen, sie zu sehen und ihr zuzuhören. Es war ein fremdes, stolzes Wesen in ihr aufgewacht, seit sie im Gefängnis saß. Die Wärter, die Konstabler, der Türenschließer, alle konnten ihre Sanftmut, ihre Gefälligkeit, ihr munteres und gesammeltes Wesen nicht genug rühmen, und sie genoß Freiheiten wie kein anderer Gefangener. Daß es um sie geschehen war, daran war nicht zu zweifeln; man wollte ihr die Tage leicht machen.

Ende März wurde sie zum Tode verurteilt, und der Wärter teilte ihr abends mit, daß sie in Fleetstreet mit sechs oder sieben andern gehängt werde. Sie antwortete nichts und blickte klaren Auges, klaren Ausdrucks in die Höhe. Das schmale Gesicht mit dem schmalen Kinn veränderte sich in dieser Minute zu einem Bild ergreifender Menschlichkeit. Hinter der Stirn wohnte der Wunderglaube und machte sie leuchtend, in den Augen dunkelte der Tod.

Es war ein greulicher Sturm an jenem Abend. Sara schritt in ihrer Zelle auf und ab. Sie hatte nur noch die einzige Sorge, daß niemand ihre Schwangerschaft merken möge, die jetzt schon ein wenig vorgeschritten war, denn eine Schwangere durfte nicht gerichtet werden. Während sie hin und her ging, kam der Geistliche in die Zelle, ein milder Mann, der die Sünder gnädig mit Worten bedachte und die Gnade nach dem Maß der Buße verteilte. Lange redete er in Sara hinein, sie möge ein offenes Bekenntnis ablegen, aber sie entzog sich allen Ermahnungen durch ein, wenn auch freundliches, doch starrsinniges Schweigen, und am Ende sagte sie mit Wärme: »Wenn ich eine Weile im Grabe gelegen, wird die Wahrheit auferstehen.«

Dann war sie wieder allein, streckte sich auf dem Lager aus und hörte beglückt zu, wie ungestüm sich das Kind in ihrem Innern bewegte, als könne es die Zeit nicht erwarten, um ans Licht zu gelangen. »Hab' nur Geduld, Traumseelchen,« flüsterte Sara, »bald werden wir auf die Reise gehen, und du wirst ein herrliches Bett bekommen bei deinem Vater, das ist der schönste Mann.« Sie schlief ein und schlief ruhig bis in den Tag, der so finster und stürmisch war, daß es sich hier in der Zelle nur um weniges von der Nacht unterschied. Am Nachmittag kamen einige Leute in ihre Zelle, der Lord Oberrichter und ein schottischer Edelmann, ein Vetter des Ermordeten. Er hatte in seinen Zügen eine Ähnlichkeit mit Francis Rhymer, aber besonders erregte er Saras Aufmerksamkeit durch einen Blick des Erbarmens, der anders als des Pfaffen Blick bis in die Nieren drang. Sara breitete die Arme aus, und ein schneller Krampf zuckte über ihr Gesicht. »Nur einmal laßt mich noch den Mund an meinen goldenen Becher drücken!« rief sie über und über schaudernd aus; aber niemand verstand sie, man glaubte, sie fasle oder rede irr.

Um sechs Uhr kam der Ausrufer nach Newgate, der im Hof die Namen derjenigen verlas, die am nächsten Morgen sterben sollten. Ein gewisser Chambers, der sich in der gegenüberliegenden Zelle befand, ein höchst grausamer Mörder, bat Sara, sie möge doch um Gottes willen acht geben, ob sein Name vorkomme. Sara stellte sich ans Fenster und hörte zu; gleich nach ihrem eigenen kam der Name Chambers. Sie beschloß, es dem Unglücklichen zu verheimlichen, damit er eine ruhige Nacht habe, aber er erfuhr es doch. Der Wärter kam auf seiner letzten Runde. Ohne Mühe erreichte es Sara, daß er sie hinübergehen ließ zu dem weinenden Mörder. Sie fragte ihn, ob sie mit ihm beten solle. »Ja, Sara!« rief er, »von ganzem Herzen.« Sie begann inbrünstig mit ihm zu beten, und tief in die Nacht hinein lagen sie auf den Knieen, bis alles Licht ausgebrannt war. Ohne daß sie es gewahr wurden, kamen die anderen Todgeweihten, denen der Wärter die Türen geöffnet hatte, und beteten mit. Wie auf eine Heilige blickten sie auf Sara, und je näher die bittere Stunde kam, je mehr fühlten sie ihre Seelen entlastet. Die Wärter vergaßen des Schlafes in dieser Nacht und dachten, nun seien auch einmal des Himmels Heerscharen eingezogen in die Hölle von Newgate.

Der Morgen graute und die Hellebardiere erschienen, um die Verurteilten nach Fleetstreet an den Galgen zu führen. Fünf Männer waren es: ein Mörder, zwei Brandstifter, ein Hochverräter und ein meuterischer Matrose. Sie zogen singend über den Hof des Gefängnisses und nahmen Sara in ihre Mitte. Damit sie durch den Regen nicht litte, zog Chambers seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Die beiden Brandstifter gingen ihr zur Seite und beteuerten, daß sie den Tod nicht fürchteten. So kamen sie vor dem Blutgerüste an. Sara durfte zuerst hinansteigen. Selbst der rohe Pöbel, der sich auf dem Schauplatz versammelt hatte, starrte in schweigender Ergriffenheit empor und keiner vergaß den jubelnd-totbereiten Ausdruck ihres Antlitzes. Als der Strick um ihren schlanken Hals gelegt wurde, glaubten viele zu sehen, daß sie einen Kuß in die Luft hauchte. Auch die Sonne befreite sich für einen Augenblick aus Wolkendunst und schaute zu.

Nicht im Wirklichen und Greifbaren spielt sich das entscheidende Leben der Menschen ab. Das Tiefste, woran der Sterbliche seine Seele bindet, ist Rauch, ist Traum. So werden Glück und Unglück zu bloßen Namen.


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