Jakob Wassermann
Die Schwestern
Jakob Wassermann

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Dieses Kind hatte sie mit dem Wissen einer Mutter im Schoß getragen. Die lange Trennung von Philipp hatte ihr Gefühl zur Tiefe gedrängt. Der höfisch gemessene Stil ihrer Briefe an ihn war die Schanze, hinter der sie die Zuckungen und Tränen ihrer einsamen Leidenschaft verbarg. Auf das unsichtbare, jedoch so nahe, ja mit ihr selbst verschmolzene Geschöpf bürdete sie die Schönheit und den Reichtum der Erde wie man das Bild der Muttergottes mit Rosen und Kostbarkeiten behängt. Sie hatte den Strahl seines Auges aus der Dämmerung des Nochnichtseins aufgefangen, sie hatte es schon im Besitz und es mit verzückten Armen über sich und über Philipp hinausgehoben, um es Gott näher zu bringen. Mit entzündeter Phantasie hatte sie seine Seele erschaffen. Sie hatte seinen Geist aus Träumen gemeißelt und ihre Liebe, bisher körperlos verschwebend, hatte ein Gefäß erhalten, atmende, zeugende Gegenwart.

Durch den neuerlichen Raub sah sie sich ausgestoßen aus der Welt und aus sich selbst. In frierender Blöße war sie schamloser Neugier preisgegeben. Sie erschien sich entkräftet und zweigeteilt. Sie verlor die seltsam umschleierte Sicherheit von Rede, Schritt und Haltung, bewahrte aber doch ihre Ruhe. Wie ehemals formte sich alles zur geduldigen Erwartung, doch war es nicht mehr die Erwartung vor dem Anbruch des Tages, sondern diejenige vor dem Kommen der Nacht.

Es träumte ihr, daß sie zwei Teller sah, die wie zwei gefallene Monde anzuschauen waren. Auf jedem der beiden Teller lag ein Herz, auf dem einen das ihre, auf dem andern Philipps Herz. Ihr Herz war scharlachfarben, von den Seiten rann Blut und quoll über die bläulich leuchtende Schale. Philipps Herz war blaß und schleimig; es erinnerte an jene Quallen, die das Meer bisweilen an den Strand spült. Da trat eine Gestalt heran, packte Johannas Herz und warf es empor. Es stieg aber kaum über Baumeshöhe und fiel schwer zurück. Dann schleuderte dieselbe Hand Philipps Herz empor, und dies flog leicht wie eine Rakete bis in die Wolken und kam nicht mehr zum Vorschein.

Fürchterlich zu denken, daß sie die unreife Frucht gepflückt haben sollte und daß Süßes plötzlich bitter geworden war. »Öffne deine Hände!« gebot sie Philipp nach einer Gewitternacht, die sie zusammen auf der Burg bei Illescas verbracht hatten. Er öffnete seine Hände und sie gewahrte, daß es die kleinen Hände eines Pagen waren. Der eine Daumenballen war von einer Falkenkralle zerrissen. »Warum lächelst du?« fragte sie verwundert; sie erkannte, daß dies Lächeln sein Schild war, hinter dem sich niedrige Geheimnisse versteckten.

Auf die Wand der Kapelle, in der sie zu beten pflegte, war eine Szene gemalt: ein schöner Jüngling, der vor der geisterhaften Erscheinung des heiligen Jago die Flucht ergreift. Wenn sie in Philipps dunkelgrüne Augen blickte, sah sie in unendlicher Verkleinerung das Bild des fliehenden Jünglings darin. Stets ergriff er die Flucht vor ihr. Sein geringstes Wort, seine zufälligste Bewegung ergriff die Flucht vor ihr. Wenn sie sprach, senkte er den Kopf und alles an ihm verstummte. Ging sie mit den Frauen über die Galerien und er stand mit seinen Freunden im Hofe, so hörte er auf zu scherzen und legte mit bekümmerter Miene den Arm über den Hals des Pferdes.

Fünfundzwanzig Tage des Monats war er fort vom Schlosse. Die Bringer von wichtigen Nachrichten mußten warten. Wo ist Don Philipp? fragten die Räte. Geantwortet wurde: er jagt mit dem Grafen Balduin; oder er zecht mit dem Ritter Kastilalt; oder er ist zum Winzerfest nach Saragossa geritten. Es gab auch Auskünfte, die man nur heimlich zu raunen wagte; denn nicht selten spielten die schönen Maurinnen eine Rolle bei den Zerstreuungen des Herrn.

Wenn Philipp, wie es selten geschah, zur Nachtzeit das Gemach Johannas betrat, war er fast jedesmal trunken. Seine Liebkosungen rochen nach Wein, seine Leidenschaft war geräuschvoll und prahlerisch. Sein Gemüt war im Rausch der Lüge wie sein Blut im Rausch des Weines. Er merkte nicht, wie dann alles an Johanna lautlos schluchzte und ihr Kuß ein Krampf der Reue wurde. Er hatte noch immer nicht gelernt, in Menschengesichtern zu lesen; er hatte den Geist eines Pagen. Wenn er auf dem Pferde saß und den Kopf stolz zur Seite drehte, dann mochte er als ein Wesen für sich erscheinen. Aber seine Zunge war von Gott versiegelt, und er wußte nichts von dem Schmerz um sich selbst.

Wie die Tage sich ausspannen zu Wochen und die Monate sich zu Jahren dehnten, empfand Johanna kaum. Sie brachte ein drittes Kind zur Welt, ein viertes, ein fünftes. Sie trug sie unter einem verödeten Herzen und gebar sie – hoffnungslos. Alle wurden ihr genommen wie jenes Kind der Liebe; ihr war, als setze sie Gespenster ins Leben, Dinge, die zu Luft verrannen, wenn ihr sehnsüchtiger Arm nach ihnen griff. In ihre tiefe Verlassenheit blickten aus weiter Ferne, von hyperboreischer Meeresküste her die lebendigen Augen ihres Sohnes Karl. Sie wußte nicht mehr von ihm, als man von den Sagenfiguren aus der Vorzeit erfährt.

Ihr vernichtetes und gescheuchtes Herz grub sich weiter in die Nacht. In fremdartiger Hitze rollte ihr Blut. Beim Anblick der Sterne konnte sie vor Ungeduld zittern und die Hand auf die zum Aufschrei geöffneten Lippen pressen. Des Schlafes bedurfte sie kaum. Was sie sprach, klang feindselig und verworren. Einmal nahm sie Petrarcas Sonette zur Hand und las; plötzlich schleuderte sie das Buch, von Wut, Gram und Haß überwältigt, weit weg, hob es wieder auf, riß es in Fetzen und zerstampfte, was davon übrig war, mit den Füßen. Ihre Ruhelosigkeit erregte den Schrecken aller Bewohner des Palastes; selbst ihr Beichtvater hatte Angst vor den lodernden Augen. Wenn alles schlief, ging sie mit der Kerze langsam durch ihr Zimmer, doch schritt sie nie durch die Mitte des Raumes, sondern an den Wänden entlang. Und ihr bloßer Hals leuchtete über dem dunklen Kleid wie der Stengel einer Blume, die sich vor dem Sturme senkt.

 

Es ereignete sich nun, daß eine schöne Portugiesin an den Hof zu Burgos kam, deren Name Benigna von Latiloe war. Sie wohnte im Hause Don Inigos de Stuniga, dort sah sie auch den Herzog zum ersten Mal und sie geriet in solche Liebe zu ihm, daß alle, die zugegen waren, es sogleich merkten. Philipp jedoch verhielt sich kühl, trotzdem die Dame von bezaubernder Anmut war und auch einigen Geist besaß. Bei späteren Begegnungen wich er um so weniger von seinem höflichen, aber gemessenen Betragen ab, als ihm der Eifer Donna Benignas lästig zu werden begann und ihre Nachstellung den Stoff des öffentlichen Geredes bildete. Wäre sie geschickt und kokett genug gewesen, seine Eroberungslust zu reizen, so wäre sie vielleicht Gunstfräulein geworden, denn andere, die sich nicht solcher Gaben rühmen konnten wie sie, wurden dieses Vorzugs leicht zuteil; ihr schlug es fehl. Die Aufrichtigkeit ihrer Leidenschaft war zu groß.

Das Unheil wollte es, daß der Ritter Franz von Kastilalt, der noch immer der unzertrennliche Begleiter Don Philipps war, sich mit ebensolcher Heftigkeit in die schöne Portugiesin verliebte, wie diese in den Herzog. Er fand aber kein Gehör, und seine ungestümen Bemühungen machten ihn bloß zum Gegenstand des Abscheus für das Fräulein. Als er sah, daß ein Glück, welches Philipp gleichgültig verschmähte, ihm verwehrt sein sollte, wurde er von tödlichem Haß erfüllt, nicht nur gegen Donna Benigna, sondern auch gegen seinen Herrn, und seiner tückischen Gemütsart entsprechend, sann er darauf, an beiden sich zu rächen. Häufig war er Helfer und Anstifter bei den Liebesabenteuern Philipps gewesen. Er wußte, daß dieser mit ängstlicher Sorgsamkeit darüber wachte, sein Treiben vor Donna Johanna geheim zu halten und nur auf Schleichwegen den leichtsinnigen Neigungen fröhnte. Wie alle war auch Ritter Kastilalt davon überzeugt, daß die Infantin mit unsichtbaren Mächten im Bündnis sei, und er beschloß, den Herzog und Donna Benigna bei Johanna zu verraten, als ob sie in verbotener Beziehung ständen. Zu diesem Zweck wußte er sich die Briefe anzueignen, welche die Portugiesin fast täglich an Philipp sandte, und wählte diejenigen aus, deren hingebender und zärtlicher Ton wohl darauf schließen lassen konnte, daß die Anklage des Ritters auf Wahrheit beruhe.

Er ließ sich bei der Infantin melden, gab sich ein demütig-ergebenes Ansehen, als ob ihm auf der Welt nichts im Sinn läge, als das Wohl der Herzogin und als ob ihn sein Gewissen der Ruhe beraubt und ihn endlich gezwungen habe, sich der Last des Verschweigens zu entledigen. Darnach brachte er das Gespinnst ans Licht, das er in seinem schwarzen Innern gewoben, gab die Briefe Donna Benignas zum Beleg und ging wieder, seiner Sache keineswegs versichert, denn die Infantin hatte ihn mit unbewegter Miene angehört und kein einziges Wort gesprochen. Ehe noch der Stein seinem Auge entschwunden war, den er so ränkevoll den Abhang hinunter gerollt, nisteten sich schon Angst und Reue bei ihm ein.

Als der Ritter fort war, preßte Donna Johanna ihre beiden Hände gegen die Brust, schritt zu dem hohen Spiegel, der zwischen zwei Halbsäulen aus gelbem Marmor hing, und betrachtete mit großer Aufmerksamkeit ihr Gesicht. Im Zimmer befand sich niemand als Donna Gregoria und diese verfolgte das Tun ihrer Herrin bang und lautlos.

Endlich rief Johanna, ohne sich zu rühren, mit klarer Stimme in den Spiegel hinein: »Gregoria!« – »Was befehlt Ihr, edle Dame?« antwortete diese zitternd. – »Er muß sterben, Gregoria«, sagte die Infantin. Donna Gregoria schwieg. »Hörst du, Gregoria, er muß sterben«, wiederholte Johanna, und das letzte Wort erstickte in einem schnelleren Atemzug, während die Hände, wie leblos geworden, von der Brust heruntersanken. Und Donna Gregoria hauchte kaum vernehmlich: »Ja, edle Donna«. Dann näherte sie sich der Infantin, fiel auf die Kniee und lehnte die eiskalte Stirn gegen Johannas starre Hand. Johanna beugte sich herab, weit, mit Anstrengung beugte sie sich nieder und flüsterte ins Ohr der Dienerin.

Es lebte ein Verwandter von Donna Gregoria am Hof, ein Edelknabe namens Morales, und dieser war Donna Gregoria mit Leib und Seele zugetan. Sie sprach mit ihm noch am selben Abend und sagte ihm, er könne an einem Bach bei Murcia gewisse Kräuter finden und fertigte ihm auch eine Liste von den Kräutern an. Morales reiste fort, sammelte die Kräuter und ritt damit nach Molina in Arragon zu einem Apotheker, den er kannte. In seiner Wohnung destillierte der Apotheker den Saft aus den Kräutern und zum Beweis, wie furchtbar das entstandene Gift sei, gab er einen Tropfen davon einem Hahn ein, der sogleich verendete.

Einige Tage darauf gab der Herzog in einem Haus bei Burgos, welches Cordon genannt wurde und damals dem Grafen Punon-Rostro gehörte, mehreren Granden des Landes ein Essen. Die Ordnung für die Mahlzeit war diese: sobald man von der Mittelhalle ins Haus trat, fand man im ersten Saal zwei Schenktische, einen für die Speisen und einen für den Wein. Links davon war der Speisesaal, dessen Fenster aufs freie Feld gingen. Zwischen beiden Räumen war ein enger Durchgang. Während getafelt wurde, verstand Morales es so einzurichten, daß, so oft Don Philipp zu trinken verlangte, kein anderer als er ihm den Wein brachte. Dreimal reichte er ihm den Becher; vor dem dritten Mal schüttete er in jenem dunklen Korridor heimlich und schnell das Gift hinein. Es war ungefähr soviel als eine Nußschale gefüllt hätte.

Wenige Minuten darauf fühlte sich der Herzog krank. Er ging hinaus, indes die Herren ahnungslos sitzen blieben um zu spielen. Eine halbe Stunde nachher rief sie der Haushofmeister in großem Schrecken, denn Philipp lag bereits im Fieber. Er wurde eilends nach der Stadt geschafft, es ward aber späte Nacht, ehe sie ankamen und die Ärzte erschienen. Gleich hernach verstarb er unter gräßlichen Schmerzen.

Don Gotor begab sich zur Infantin. Er glaubte sie noch schlafend und weckte die Diener und Kammerfrauen. Da erschien Donna Gregoria und führte ihn schweigend in einen Saal, wo Johanna vor einem Kohlenbecken saß. Mit einem Gesicht, starr und fahl wie Eisen, berichtete der Arzt in sonderbar gemessener Form den Tod seines Herrn. Das Auge der Infantin wandte sich langsam der regungslosen Gestalt des Greises zu, dessen Blick furchtlos und brennend dem ihren begegnete. Doch wie der Schwamm von einer Faust wurden Johannas Züge von Ekstase zusammengepreßt, es zog ein Freudenschimmer darüber hin, und die Beine, der ganze Leib streckten sich wie im Bade.

 

Der Leichnam war begraben. Böses Gerede schwirrte über der Gruft und erstickte wieder in abergläubischer Furcht. Als einst mehrere Edelleute auf dem Hauptplatze standen und ungescheut die Vermutung aussprachen, daß Philipp durch Mörderhand umgekommen sei, erschütterte ein Erdbeben die Stadt, die Fenster des Rathauses zerbrachen und die erschreckt Flüchtenden sahen die Türme der Kirchen wanken. Der Herr von Mingoval, hochbetrauter Oberstallmeister, wollte währenddem die Infantin mit fliegenden Haaren auf dem Dach des Palastes bemerkt haben, wo sie einen weißen Zauberstab schwang.

Es fiel auf, daß Donna Gregoria ihren Abschied nahm und sich auf einen Ruhesitz bei Barcelona begab. Der Ritter Franz von Kastilalt floh übers Gebirge und nahm Dienste beim König von Frankreich. Der Edelknabe Morales wurde nächtlicherweile von einem betrunkenen Söldner erstochen. Donna Benigna kehrte in ihre Heimat zurück und nahm den Schleier.

Die Infantin lebte in hohen Gemächern voll gläserner Luft. Ihre Frauen mieden sie, die Diener jeglicher Art fürchteten sie. Es war später Herbst, der Sturmwind rüttelte an den Mauern des Schlosses. Welche Unruhe in Johannas Herz! Trat jemand unerwartet vor sie hin, so erschrak sie und ihr angstvoll fragendes Auge zeigte den matten Glanz der Schlaflosen. Bisweilen war ihr Gesicht in rätselhafter Zärtlichkeit wie gegen eine unsichtbare Gestalt gerichtet und die Hand krümmte sich gleich einem dürren Blatt, das sich zusammenrollt, bevor es Winter wird.

Bei der Tafel saß sie still und in sich gekehrt und berührte selten eine Schüssel. Einmal lief ein Sonnenstrahl, durch eine Kristallvase zerteilt, als siebenfarbige Brücke durch den Raum, bis er ihre Hand erreichte und dem Flügel eines Insektes ähnlich geheimnisvoll auf- und abzitterte. Da sprang sie empor und schluchzte laut. Ihr war wie einem, der ein schönes Bild von der Wand gerissen hat; nun strömt Finsternis und Grauen von der Stelle aus, die vorher so freundlich geschmückt war.

In Philipps Zimmern konnte sie ein wenig Frieden finden, trotzdem alle Gegenstände zu fragen schienen: wo ist Philipp? Sie erwiderte in ihrem Innern, um sich und die Dinge zu besänftigen: er ist verreist, er kommt wieder. Und sie behängte sich manchmal für die Stunde seiner Wiederkunft mit Edelsteinen und schönen Kleidern. Als einst Frau von Dutselle fragte: »Warum schmückt Ihr Euch wie zum Balle, Fürstin, derweil Ihr doch Trauer um Don Philipp tragen solltet?« Da erwiderte sie mit dem Aufseufzen eines von Träumen gequälten Kindes: »Ich schmücke mich, weil ich auf Philipp warte.«

Sie schmückte auch sein Zimmer mit Blumen und legte einen Teppich über die Schwelle. Aus den Truhen holte sie seine Waffenkleider und küßte die goldenen Ketten, Armspangen und Fingerringe. In seinem Bett spürte sie mit ihrer flachen Hand die Wärme seines Körpers und an seinem Tisch saß sie an demselben Platz, wo er gesessen. Dabei erstaunte sie, daß alles so war, wie es war, daß die Sonne schien, daß es Abend werden konnte und wieder Morgen.

Es war an einem Novembertag, als sie einige von den Dienern rief und an ihrer Spitze durch das nördliche Tor gegen Millaflores ritt. In der Kartause zu Millaflores lag Herzog Philipp begraben. Die erschrockenen Mönche mußten das Tor aufsperren, sodann ließ sie den Stein vom Gruftgewölbe nehmen und den Sarg herausheben und öffnen. Alle waren gerührt beim Anblick der wohlerhaltenen Züge ihres Herrn. Das Gesicht schien länger, die Züge ernster.

Ein düsteres Lächeln bewegte den Mund der Infantin. Der Pater Guardian meinte später, sie habe gelächelt, weil der Teufel sie, wie er deutlich wahrgenommen, am Ohr gekitzelt habe. Johanna gebot allen, sich zu entfernen, – unwidersprechlicher als das Wort war ihr Blick – und als sie allein war, kniete sie hin, kreuzte die Hände hoch über der Brust, so daß die Daumen schier den Hals umschlossen und fing an zu beten. Doch unversehens. und während ihre Lippen noch mit Gott verkehrten, verlor sie die Demut aus der Brust, es war, wie wenn ein Opfer plötzlich von unheiligen Fingern entwendet würde, das Gebet verwandelte sich zur Forderung, und die Arme streckten sich aus, nicht um zu erflehen, sondern um zu empfangen und die Stirne leuchtete wie von Bereitschaft und der Leib zitterte und bebte gleichwie in den Wehen der Geburt, und Atem, Gebärde, Pulsschlag, alles schrie: Gib mir Philipp wieder!

Darauf schien ein Hauch durch die Luft der Kapelle zu gleiten und Johanna spürte, daß ein süßes Jasagen die Wölbung erfüllte. Sie sprang empor. Sie rief die Leute. Des Einspruchs der Mönche nicht achtend, ließ sie den balsamierten Leichnam auf eine Bahre heben. Sie wurde ganz Antrieb, peitschte die Träger förmlich vorwärts und blieb unbewegt und blickte nicht zurück, da jene schauderten, weil die Mönche unter dem Tor standen und wehklagten. Es wurde Nacht, der Boden war aufgeweicht, sie verloren den Weg; Johanna hieß die Männer rasten und schickte einen Diener voraus, um Fackeln zu holen. Im Regen ging sie ruhelos hin und her, das Kleid emporgerafft, den Schritt von qualvoller Ungeduld bald bekämpft, bald befeuert, und als endlich eine Fackelflamme in der sturmdurchwühlten Dunkelheit aufloderte, schrie sie jubelnd, so daß die am Gehölz lautlos wartenden Begleiter erbleichten.

Im Palast angelangt, bekleidete sie den Körper Philipps mit einem prachtvollen Gewand aus Silberschuppen, ließ ihn in einen gläsernen Sarg legen, der oben und an der Seite zu öffnen war, und ließ den Sarg in ihrem Schlafgemach neben dem Bett aufstellen. Unverwandten Auges betrachtete sie die edel hingegossene Gestalt, an der sich jede Form im geheimen von selbst vollendet zu haben schien. Es war kein Jüngling mehr, sondern ein Mann und ein König.

Kein weibliches Geschöpf durfte den Raum betreten, auf den Gängen und in den Nebengemächern durfte keine Stimme laut werden. Johanna war es, als sei vor allem die große Stille auch von außen erforderlich, die in Philipps Antlitz so tief innen wohnte, sei notwendig, damit sie in diese Stille eintauchen könne, wach und lauschend, um ihre Ursache und ihr Wesen zu ergründen, in einem begnadeten Augenblick das ungeheure Rätsel zu lösen, und dann den Funken in der triumphierenden Hand zu halten, der das Auge wieder mit Leben zu speisen vermochte. Und so beugte sie sich immer wieder über den Leichnam, wie sich der Habgierige über einen Schacht beugt, worin rote Klumpen Goldes funkeln, angeschmiedet und verwachsen an die gewaltige Erde.

Schon am zweiten Tag erschien der Bischof und befahl der Infantin, die Leiche wieder zu bestatten. Johanna weigerte sich dessen und wies endlich, rasend vor Angst, daß man sie des toten Gemahls berauben könne, den Kirchenherrn aus dem Palast. Die Folge war, daß die Dominikaner den Pöbel aufregten und verlauten ließen, der unbegrabene Leichnam mache das Glück vom Lande abspenstig, der Wein müsse verderben und die Ernte mißraten. Indes die Räte beratschlagten, wie man der Gefahr steuern könne, die das Land bedrohte, erschien vor der Infantin ein wunderlicher Mönch, der Bruder Alonso de Jesu Maria, der viele Jahre in einer Einöde der Estremadura nur seinen göttlichen Visionen gelebt hatte und für einen Propheten galt.

Eines Tages erschallte großer Lärm aus der Vorhalle, und als die Herzogin zornig und befremdet heraustrat, schwiegen alle bis auf einen halbnackten bleichen Fremdling, der sich in Anrufungen und Verwünschungen erging, weil Diener und Wachen ihm den Eintritt verwehrten. Dies war der Bruder Alonso, ein noch junger bartloser Mensch, verwüstet durch Askese, hager wie ein Pfahl, beredt wie ein Trunkener, feurig wie ein Verliebter. Diesem armseligsten der Geschöpfe lieh Johanna das Ohr, so vielleicht zum ersten Mal dem Zuspruch eines Andern untertan.

Er begann damit, daß er der Infantin von einem König erzählte, welcher nach der Zeit von sieben Jahren aus dem Tod wieder zum Leben aufgestanden sei. Auch mit Philipp werde ein gleiches geschehen, wenn die keusche Liebe Johannas und ihr unerschütterlicher Wille jeden eigenen Schmerz vergesse, keine selbstische Lust mehr begehre, sondern einzig dem Gedanken der Wiedererweckung hingegeben sei. Dies daure sieben Jahre; denn sieben sei die heilige Zahl der Bibel. In sieben Jahren erneure sich das Feuer der Sterne und des Mondes; nach sieben Jahren zerschelle immer wieder dieselbe Woge am Strand; nach sieben Jahren grüne der Baum des Lebens und siebenfach geteilt sei seine Wurzel.

Als sie solches vernahm, kniete die Infantin nieder, beugte das Haupt tief vor dem Bruder Alonso und berührte mit den Lippen den Saum seines Kleides. Sie bewirtete den Mönch und beschenkte ihn, aber sie redete nicht mit ihm und allmählich wurde dem Heiligen beklommen zumut in ihrer Nähe und er machte sich unter einem schicklichen Vorwand davon. Johanna sah ihn ohne Teilnahme scheiden. Sie empfand das Leben der Lebendigen nicht mehr; dem eigenen Körper entfremdet, begriff sie auch von den Menschen nichts als die Gestalt und ein schattenhaft-spielendes Hin und Her, alles Licht der Welt sammelte sich am Sarge Philipps und je weiter der Fuß sich davon entfernte, je finsterer wurde der Raum. Doch wenn sie an der Seite des Toten kauerte und wieder wie einst seinen Blick zu erhaschen, sein Auge aufzugraben suchte und ihn doch fester hielt als ehedem, wo er auf lautlosem Waller durch Nebel glitt, da sehnte sie sich nach einem Zeugnis seiner Gegenwart, nach irgend einem Laut aus dem Innern dieser starren Hülle und sie verfiel auf einen absonderlichen Einfall.

Es lebte in Burgos ein brabantischer Uhrmacher mit Namen Symon Longin, ein Mann von großer Geschicklichkeit in seinem Fach. Don Philipp, der viel Vergnügen an Uhren gehabt und manche müßige Stunde damit verkürzt hatte, ein feingefügtes Werk behutsam auseinanderzulegen, hatte den Meister in hoher Schätzung gehalten. Die Infantin ließ ihn kommen und erteilte ihm einen Auftrag, der Herrn Symon sehr in Verlegenheit setzte und ihm viel Kopfzerbrechen machte. Er sollte nämlich ein Werk anfertigen, das man in die Brust des Leichnams schließen könne und das den Schlag eines lebenden Herzens nachzuahmen vermöchte. Nach einigem Besinnen versprach Symon Longin, sein Bestes zu tun und die Infantin stellte ihm eine Belohnung von zweitausend Dublonen in Aussicht.

Nach Verlauf zweier Wochen brachte der Meister das kunstreiche Pendelwerk. Der Rücken der Leiche wurde aufgeschnitten und der Mechanismus in die linke Seite der Brust geschoben. Unter der Schulter war ein Stift mit einer Drehscheibe angebracht, vermittelst deren das Werk in Gang zu setzen war, wenn es nach vierundzwanzig Stunden ablief. Als Johanna zum ersten Mal ihr Ohr auf das Kleid des Toten legte und den wundersam dumpfen Schlag vernahm, schloß sie die Augen, als lausche sie der Musik von Engelchören. Die halbe Nacht lang lag sie und horchte; die linke Hand hielt sie ans eigne Herz gepreßt und hatte ein seliges Gefühl des Gleichklangs, wenn dessen natürliches Pochen mit jenem künstlichen in denselben Pausen erfolgte.

Die Sache sprach sich herum und steigerte das Entsetzen vor der Infantin immer mehr. Sie mußte darauf sinnen, dem allgemeinen Drängen zu entfliehen und sagte denen, die sie um Bestattung des Leichnams bestürmten, sie wolle den Körper des Herzogs nach seiner Heimat bringen und ihn im Dome von Sankt Stephan beisetzen. Damit waren Philipps Landsleute einverstanden, und sie schufen eine kleine Partei zugunsten der Herrin. Johanna hielt Auswahl unter den Dienern, und wenige, die treu, aber viele die habsüchtig waren, – denn sie achtete des Geldes nicht – boten sich aus freien Stücken an, mitzuziehen, wohin sie wolle. Auch warb sie an hundert Söldner zu hohem Lohn und ließ Pferde und Maultiere herbeischaffen.

So gerüstet, begab sie sich auf die Reise. Es war eine Wettfahrt mit der Zeit oder als wolle sie die Zeit zu größerer Eile reizen. Der Worte des Mönchs blieb sie eingedenk zu jeder Stunde.

 

Am Tag der heiligen Katharina, vor Anbruch der Nacht verließ die Infantin Burgos, zog bis in die arragonischen Berge, kam am Morgen bei heftigem Unwetter vor das Schloß Armedilla, und schon in der nächsten Nacht ging es weiter: nach Olmedo, nach Escalona und San Francisco, von Dorf zu Dorf über die unwirtlichen Hochtäler nach Norden.

Vier Maultiere trugen den Sarg, vierundzwanzig Männer mit Fackeln in den Händen ritten ihm zur Seite. Schrecklich war das Aussehen dieser Männer, ihre Gesichter waren kohlschwarz vom Flammenruß. An vielen Orten verkrochen sich die Menschen beim Anblick des schauerlichen Zuges. Auch unter Johannas eigenen Leuten verbreitete sich eine düster-ahnungsvolle Stimmung, und einige ergriffen heimlich die Flucht. Andere sagten, sie wollten eine Stadt beschauen, gingen und kehrten nicht wieder.

Vor dem Sarge ritt ein Fahnenträger mit einem schwarzen, für die Augen durchlöcherten Tuch vor dem Gesicht. Auf der Fahne brannte in goldenen Buchstaben das Wort Nondum, noch nicht.

Bei Tag gewährten die Hütten der Bauern, die Häuser der Herren Rast und Aufenthalt. Johanna bevorzugte die Orte in der Ebene, wo ihr Blick die Fernen fassen konnte, ehe sie sich zu kurzem Schlaf neben Philipp bettete. Sie liebte nicht Blumen in ihrer Nähe, aus Furcht, daß dann ein flüchtiges Vergessen ihre Sinne kraftloser machen könnte. Sie gab kein Ziel an, denn so erschien es ihr, als ob Philipp Richtung und Weg befehle. Nach Osten, Westen oder Norden zu ziehen galt ihr gleich, wenn nur die Tage hinabflossen zur Zukunft. Während die Welt an ihr verschlossenes Ohr vergebens pochte, sammelte sie in ihrer Brust Leben. Der Tote war gereinigt von aller Schuld, sie selbst hatte für ihn die Verantwortungen des Daseins übernommen. Im voraus schmückte sie sein Auge mit jener Glut, mit welcher er ihr danken würde für die Freiheit und Leichtigkeit seiner Seele. Einst hatte sie Ungeheures gewollt, ihr anmaßender Traum hatte von ihm verlangt, daß er einem Gott gleich sei; jetzt wollte sie nichts weiter als einen Menschen und sie schmachtete um den leersten seiner Blicke und die knabenhafteste seiner Gebärden, so wie er einmal um sie geschmachtet hatte auf dem Krankenlager der Sinnenliebe. Der blaue Himmel war ihr nichts, sie mußte erst die Bläue von Philipps Auge darin sehen, der süße Duft burgundischer Gärten nichts, außer er schien Hauch aus seinem Munde, kein Schmerz war außer dem seinen um das frühverlorene Leben, kein Ding war betrachtenswert außer dem erstarrten Leichenantlitz.

Unter ihren Begleitern war ein Mann, der ihr tief im Herzen ergeben war. Er hieß Jan Dalaunes und war ein ehemaliger Falkner, dem bei einer Jagd ein Auge ausgeschossen worden. Seitdem hatte er sich der Dichtkunst gewidmet, wobei ihn seine melancholische Gemütsart unterstützte, und er schrieb auch Stücke geistlichen Inhalts. Er wußte von Johannas ehern umschlossenen Mienen die Müdigkeit abzulesen, die sie sich selbst verhehlte, und er wurde zum kühnen Redner, wenn es galt, die immer rege Widerspenstigkeit der Söldner zu besänftigen. Das nächtlich lautlose Wandern mit einer Leiche, in deren Brust ein Räderwerk den Schlag des Lebens nachahmte, verdüsterte den Geist der Leute. Kam es doch vor, daß rauhe, kriegsgewohnte Burschen von Krämpfen befallen wurden, wenn mitternächtiger Sturm die Bäume bog, oder daß sie schrieen wie Besessene, wenn das Irrlicht übers Moor tanzte und der Mond grünliche Schleier auf den Felsen spann. Sie atmeten auf, sowie der erste Morgenschein den Osten färbte, und als sie nach Monaten ins flandrische Gebiet kamen, verließen sie den Dienst der Infantin.

Jan Dalaunes überredete die Herrin, in der Stadt Gent zu verweilen. Er trug dabei in seinem stillen Sinn die Hoffnung, daß sie nach ihrem Sohn Carlos Verlangen haben würde und durch seinen Anblick von der unergründlichen Schwermut geheilt zu werden vermöchte. Doch seine Rechnung ging fehl. Als der Graf von Croy, der ihr Wohnung in seinem Palast angeboten hatte, vor ihr erschien und sie fragte, ob sie den jungen Prinzen zu sehen begehre, da zuckte es auf in Johannas Gesicht, wie wenn eine Fackel durch einen finstern Raum fällt. Dann aber entgegnete sie kopfschüttelnd und mit kaltem Ausdruck, sie wolle Don Carlos nicht sehen. Die Worte des Mönchs erhoben sich wie Wächter in ihrem Innern, wenngleich sie ihrer nur als Formel gegen die feindlich andringende Welt bedurfte.

Sie schloß sich in ihre Gemächer ein, um nichts zu sehen, als ihren Toten, nichts zu hören als das täuschungsvolle Klopfen des Uhrwerks. Ja, zwischen Täuschung und Vision lag sie in einem Krampf, der halb Schmerz und halb Lust war. Sie mußte Weib sein, um Philipp zu lieben, Mann, um ihn noch einmal zu zeugen und Mutter, um ihn noch einmal zu gebären. Sie mußte in diesem fertigen Leib Kindheit und Jugend wiedererschaffen, das erwachende Auge mit allen Erinnerungen füllen, nichts von dem vergessen, was solch ein königliches Leben hält und trägt; daher mußte sie auch er selbst werden, damit Einheit entstehe zwischen dem Philipp von einst und dem der Zukunft und, wie alle Schuld, auch der grauenvolle Zustand des Nichtseins ausgelöscht werde aus seinem Geist. Dies zu vollbringen, still, allein, den Menschen unverständlich, ja scheinbar auch Gott zuwiderhandelnd, forderte übermenschliche Anspannung und mußte das Blut in unaufhörlichem Fieberlauf durch die Adern treiben.

Frühling, Sommer und Herbst verflossen zum zweiten Mal. In dieser Zeit war der junge König Karl sehr krank gewesen. Einst war er nämlich des Nachts aufgeweckt worden, um eine angekommene Depesche von geringer Wichtigkeit zu lesen. Sein Gouverneur, der ihn nach römischen Grundsätzen erzog, hielt unerbittlich darauf, daß er sich trotz seiner großen Jugend an die Geschäfte gewöhne. Als der Knabe durch einen dunklen Korridor in ein Zimmer gelangte, in welchem nur eine matte Ampel brannte, hielt er still, da er sich verirrt zu haben glaubte und belauschte ohne zu wollen das Gespräch zweier Diener, die in einer Nische kauerten.

»Wißt Ihr denn, daß die spanische Königin hier ist?« fragte der eine, schläfrig gähnend. Und der andere erwiderte: »So? ist die hier? ich wußt es nicht.« Darauf der erste: »Es ist die Mutter unsres jungen Herrn. Ein schlechtes Weib.« Und wieder der andere: »Warum lebt sie nicht beim Sohn?« – »Das böse Gewissen ist schuld,« flüsterte der erste, »hat sie doch ihren Herrn und Gemahl mit Gift vergeben.«

Ein leiser Schrei unterbrach die Erschreckenden. Der Knabe war zu Boden gestürzt. Er mußte fortgetragen werden und lag lange darnieder.

Viele Wochen später gab der Graf von Croy ein großes Maskenfest, welches drei Tage währte. Die Musik und das Lachen der Gäste tönte bis in die Zimmer der Infantin. Als Jan Dalaunes vor seiner Herrin erschien, entsetzte er sich, denn so durchwühlt und erregt hatte er sie niemals gesehen. Sie raste durch den Raum, immer querüber von Ecke zu Ecke und hielt die Hände gegen die Ohren gepreßt. Offenbar war das Spiel der Flöten und Geigen daran schuld. Der Falkner ging hinaus, beriet mit dem Kastilianer Antonio Vacca, was zu tun sei, dann kehrten beide zurück und Jan Dalaunes schlug der Infantin vor, ihm in den Luxemburger Palast zu folgen, der nur wenige Straßen entfernt lag. Johanna, qualvoll bedrängt, hatte nicht übel Lust, zu willfahren. Doch näherte sie sich zuerst der Leiche Philipps, beugte sich nieder, umschlang den Toten, wisperte in sein Ohr, küßte die wächserne Stirn, lächelte beschwichtigend wie eine Mutter, wenn sie den Säugling verlassen muß, wandte sich endlich mit fahl glänzenden Augen zu den beiden Männern und sagte heiteren Tones: »Er fängt schon an zu träumen.«

Dann ging sie, tief in sich gekehrt. Und so, nach innen webend, schritt sie im Luxemburger Palast über einen von Dämmerlicht erfüllten Flur, als plötzlich der Kastilianer vor der offenen Türe eines Saales stehen blieb und lächelnd den Arm ausstreckte. Vor einem länglichen Tisch stand ein feister Mann im Samthabit und mit weißer Halskrause und neben ihm, ein Buch in der Hand, saß ein Knabe von etwa zehn Jahren.

Donna Johanna hob langsam die schweren Augenlider und starrte hinein. Durch die Marienglasscheiben der schmalgebogenen Fenster fiel ein gelblicher Perlenschein in den stillen Raum. »Wer ist der Knabe?« fragte Johanna beklommen. Antonio Vacca antwortete mit demselben diensteifrigen Lächeln: »Es ist Euer Sohn Karl, edle Donna, und der würdige Herr Cernio ist mit ihm, der beste Grammatikus weit und breit. Ich selbst habe die Ehre, seine Hoheit in den Rechtswissenschaften zu belehren.«

Flüsternd trat der Kastilianer an den Tisch. Der Knabe erhob sich und schritt gravitätisch zur Schwelle. Dann stand er vor seiner Mutter: regungslos, schmalen Antlitzes, bleich, schweigend und schwermütig.

Ein Laut drängte sich auf Johannas Lippen. Ihr war, als seien Brust und Leib mit Feuer angefüllt. Schon wollte sie reden, da gedachte sie noch zu rechter Zeit der Worte des Mönchs: zu vergessen jeden eigenen Schmerz und jede eigene Lust.

Stumm und kühl nickte sie dem Knaben zu, wandte sich ab und ging weiter. Mit tief gesenktem Haupt folgte ihr der treue Falkner Jan Dalaunes.

 

Drei Tage später verließ Donna Johanna die flandrische Stadt und zog mit neugeworbenen Söldnern den Rhein hinauf gegen Köln und Mainz und über Franken an die Donau und weiter, wochen- und monatelang, Sommer und Winter hindurch, manchmal bei Tage und öfter bei Nacht. Da und dort nahm sie Aufenthalt; in Regensburg blieb sie acht Monate, in Landshut sechs, in Augsburg fünf. An den Hof des Kaisers zu gehen wagte sie nicht. Die Schlösser der Edelleute gaben ihr gute Unterkunft, denn es war bekannt, daß sie mit königlichen Geschenken lohnte. Zu Memmingen ließ sie eine Kapelle erbauen und in Ulm eine ganze Kirche. Es war ihr trostreich, in diesem Land der vielen Flüsse, der Berge und der schönen Seen zu weilen; oft schien ihr ein Stück von Philipps Seele in der milden Luft zu ruhen, und wenn der Frühling kam, mußte sie sich mit doppelter Kraft verschließen, um nicht teilzunehmen an dem holden Erwachen der Natur. Sie mied Plätze, wo das Volk in Freudigkeit zusammenströmte, und wenn sich ein Kindergesicht unschuldig-froh ihr zuwandte, schloß sie die Augen. Deswegen liebte sie auch am meisten des Nachts zu reisen, weil da Dinge und Menschen erstarben und die Flammen der Fackeln wie Opferfeuer hinausstrahlten über den Sarg ihres Herrn Liebsten. Empfindungslos gegen Sturm und Regen, weder Mühsal noch Entbehrung scheuend, so trieb sie die Zeit vor sich her wie einen lahmen Hund.

Jahr auf Jahr floß vorüber. Johanna zählte sie nicht im Kalender, sondern maß sie an ihrer Hoffnung. Doch mit der Zeit ist es wunderlich beschaffen: sie hat ein Zeugnis der Wahrheit in sich, das selbst den umschlossensten Sinnen nicht verborgen bleiben kann. Johanna zog einem Bild entgegen, und je mehr sie sich ihm zu nähern gedachte, je mehr schrumpfte es zusammen, und von all den vergeudeten Flammen des Herzens wurde sie nicht reicher, ja, ihr Herz glich endlich der blassen Qualle, die das Meer an den Strand spült, und frierend stand sie da als die letzten Fetzen ihrer Armut von der zuckenden Schulter sanken. Philipp! wer war Philipp? der bloße Name schien zu verfließen, und gab es noch einen Mann auf Erden, der so hieß, so war er sicherlich nur der Schatten seiner selbst. Und obwohl sie das leblose Abbild von Philipps Leib täglich vor sich ruhen sah, verlor sie die Erinnerung an ihn und wußte nicht mehr, wie er aussah und wie er sprach, wußte nicht mehr von der Farbe seiner Augen und der Form seiner Hände und es ward ihr bang und banger, als sie so seinen Namen durch die Länder schleppte, nichts weiter als seinen Namen. Die Finsternis in ihr verlor gleichsam ihre Grenzen, überdeckte Himmel, Erde und Wasser, erfüllte die Schöpfung mit eisiger, bodenloser Trauer.

In den rhätischen Gebirgen erkrankte Jan Dalaunes und blieb in einem Dorf zurück. Erst im Savoyischen holte der ergebene Mann die Herrin wieder ein und kam gerade recht, um die Söldner und Diener zu ermutigen und anzufeuern, als sie sich weigerten, am Abend über einen verschneiten Paß zu wandern.

Es war ein schauriges Unwetter, als sie die Höhen erreichten. Die Vordersten verloren den Weg und sanken tief in den Schnee. Einige blieben ermattet liegen, schliefen ein und erfroren. Die Fackeln verlöschten und zum Glück entdeckte der vorauseilende Jan Dalaunes die Hütte eines Hirten. Da fanden die Zuflucht, die sich noch retten konnten; der Sarg blieb draußen und wurde vom Schnee zugeweht.

Noch in der Nacht erwachte Jan Dalaunes, tastete sich zur Tür des vom schlechten Atem der Schläfer erfüllten Raums und trat hinaus. Angst um die Herrin hatte seinen Schlummer verscheucht.

Der Himmel war klar und die Sterne funkelten in erhabener Pracht und Ruhe. Über einem fernen Schneefeld herauf bog sich die Milchstraße über das dunkelblaue Gewölbe wie erstarrter Rauch. Zwischen zwei mächtigen Felszacken glitzerte grünlich das Eis, gähnten ungeheure Spalten. Bisweilen kam ein schneidend kalter Windstoß und wirbelte den Schnee zu dünnen leuchtenden Säulen empor. Es herrschte ein Schweigen, welches den Atem stocken ließ.

Im unsicheren Licht gewahrte Jan Dalaunes die Herrin. Sie saß auf einem niedrigen Holzblock, hatte die Arme um die Kniee geschlungen und starrte mit gefrorenem Blick in die gewaltige Stille. Sie schien die Kälte nicht zu spüren. Eine Pferdedecke umhüllte ihre Schultern.

»Ihr müsset krank werden, edle Donna,« sagte Jan Dalaunes, indem er sich näherte. Die Infantin antwortete nicht.

Der Falkner ging ins Haus zurück und klaubte Späne und Reisig zusammen. Dann kam er wieder und machte auf einer schneefreien Stelle Feuer an. Das Mitleiden mit der Herrin würgte ihm die Kehle und während er immer neues Holz in die aufprasselnden Flammen warf, war sein bärtiges Gesicht von Kummer förmlich verwüstet. Es drängten sich Worte auf seine Lippen: Verse, die er einmal gehört oder gelesen oder geträumt.

»Was sprecht Ihr da?« hörte er auf einmal die dunkle Stimme der Herrin. Ihr Gesicht hatte sich auf der schneebewehten Decke fremd und düster wie das Antlitz einer Sphinx ihm zugedreht. Er schüttelte befangen den Kopf und kniete vor dem Feuer hin. Nach einer Weile kehrten die seltsamen Worte traumhaft wallend wieder.

Wo des Nebels Silberbogen
über eine Gletscherwand
groß und feierlich gezogen,
dort liegt meiner Sehnsucht Land.

Sah ich eisige Gestalten,
schaudernd im gefrornen Strahl
grünkristallne Kerzen halten,
tanzen in dem weißen Saal.

Sah ich eine, die beklommen
nur des Mantels Saum bewegt,
und ihr Herz vom Tisch genommen,
der den ganzen Himmel trägt.

Wie im Schlaf hält sie die schwere
Purpurkugel sanft empor,
und es öffnet sich die Sphäre,
Gottes Arm streckt sich hervor.

Er empfängt des Lebens Schale,
jene aber steht beglückt,
schaut hinunter zu dem Tale,
wo ein Knabe Blumen pflückt.

Lautlos wälzte sich eine bläuliche Wolke von Schneestaub heran und entfernte sich wieder.

Da sank Johannas Haupt etwas vorneüber. Wie um es zu halten, schlug sie die Hände vors Gesicht und gleichzeitig brach sie in ein furchtbares Weinen aus. Es klang wie der dumpfe Schlag eines Hammers gegen eine hohle Wand. Unwiderstehlich hatte sie der Schmerz um das eigene Leben, um die eigene vernichtete Seele ergriffen. Es war als sei ihr Herz bis jetzt durch einen künstlichen Mechanismus in Gang erhalten worden, der nun zu versagen drohte.

Sie fühlte die Kraft der Erinnerung völlig aus ihrer Seele entschwinden, sie spürte nur sich selbst, nur den eigenen unermeßlichen Jammer, es ergriff sie wie Flammen eines Scheiterhaufens, sie schrie und schlug um sich und als eine Wahnsinnige wurde sie von ihren Leuten zu Tal gebracht.

Der zertrümmerte Sarg mit dem sehr entstellten Leichnam ward erst viele Wochen später in einem Schneeloch aufgefunden, wo er hinabgestürzt war. Der Herzog von Savoyen ließ die sterblichen Reste des Fürsten nach Burgos schaffen. In einer Gruft der Kirche San Andrea fand endlich Philipps Körper seine irdische Ruhe.

 

Zwischen den Städten Palencia und Valladolid lag in unfruchtbarer Ebene das öde Schloß Tordesillas. In einem Turm dieses Schlosses lebte die wahnsinnige Infantin. Der Turm war rings von Wasser umgeben; die Zugbrücke war stets emporgezogen. Auf dem Wasser schwammen Schwäne.

Längst war Johanna Königin von Spanien, freilich nur dem Namen nach. Doch wurden in ihrem Namen alle Regierungshandlungen ausgeübt und die Dekrete gesiegelt. Aber diese Königin herrschte in Wirklichkeit bloß über ein Reich von Katzen. Der treue Jan Dalaunes war Majordom von Tordesillas. Täglich fuhr er auf einem Boot hinüber und sah zu, wenn die Herrin mit den Katzen spielte, als ob es ihre Kinder wären. Jedes der Tiere trug ein buntes Bändchen um den Hals und jedes hatte seinen Namen und seine Würde.

Gleichmäßig flossen die Jahre an Donna Johanna vorüber wie Wasser an einer steinernen Mauer. Lange, viele Jahre. Sie alle fanden die edle Frau versunken in ein Spiel, ja, nur in den kargen Abglanz eines Spiels, in dumpfer Unwissenheit von sich selbst, in niemals erleuchtetem Frieden.

Draußen in der Welt hatte sich mancherlei begeben. Der Knabe Carlos war zum Mann geworden, und die Fürsten hatten ihn zum römischen Kaiser gewählt. Er führte Kriege gegen die Ketzer und warf sie zu Boden. Er war stark in der Tat und stark im Wort. Sein ganzes Leben war ein Krieg: voller Blut, voller List. Heißdrängender Ehrgeiz lockte ihn von Enttäuschung zu Enttäuschung. Sein wahres Gesicht trug er verborgen hinter vielen andern Gesichtern. Er hatte viele Gesichter gegen die Menschen, aber sein Gesicht vor Gott war immer dasselbe: schwermütig und krank.

Einst war er ausgezogen mit einem weißgeschliffenen Schild, auf welchem das Wort strahlte: Nondum, noch nicht. Nachdem die Jahre verflossen waren und er alle Macht in Händen hielt, die einem Menschen gewährt sein kann, da sagte sein müder Verzicht: nicht mehr. Er war ein so gewaltiger Fürst, daß er zwei Weltkugeln im Wappen führen durfte, und seine Leute nannten ihn bloß »den Herrn«. Nichtsdestoweniger schien ihm die Ruhe eines Klosters über alles begehrenswert.

Als er fünfzig Jahre alt war, reiste er nach Santander und zog über Burgos nach Tordesillas.

Eines Tages im Herbst rasselte die Brücke über den Wassergraben und ein ansehnlicher Zug glänzender Herren betrat den halbverfallenen Hof. Der Kaiser allein ging hinauf.

Ungeachtet des sonnigen Tages herrschte im Zimmer Dämmerung; die beklemmende Luft roch nach Weihrauch und Räucher-Essenzen. Inmitten des Raums stand Johannas Bett und auf der morschen Damastdecke lagen Katzen: weiß und schwarz, alt und jung; andere hockten auf dem Sims, andere in einem Winkel oder auf Stühlen.

Donna Johanna hatte sich erhoben. Ihr schmales, fast runzelloses Gesicht mit dem hochgeschwungenen Munde erschien wie aus Holz geschnitzt. Neugierig blickte sie auf die schmächtige Gestalt im schwarzen Barett und mit dem roten, bis auf die Knie reichenden Spaniermantel; verwundert sah sie dies totenblaße, kalte, müde Angesicht.

Mit gravitätischem Schritt näherte sich der Kaiser und indem er sich auf ein Knie niederließ, zitterte die Unterlippe ein wenig und er murmelte: »Euren Segen, Mutter.«

Donna Johanna duckte sich, und als sie die feindurchäderten Lider in krankhafter Erregung noch weiter öffnete, war es, als falle ihr Blick, als halte ihre Wimper noch einmal den ganzen Ernst und die Furchtbarkeit des längst verschwundenen Lebens fest.

Die Zugbrücke rasselte hinauf, und an der Spitze seiner Herren ritt der Kaiser schweigend der untergehenden Sonne zu.

Da verließ auch Donna Johanna ihr Gemach, zum ersten Mal seit langen Jahren. Wie schlafend stieg sie die Turmtreppe empor, bis sie zu einem runden Fensterchen gelangte, das freien Ausblick über die Ebene gab. Hier stand sie und verfolgte mit dem Blick den glänzenden Reiterzug. Als der Horizont, im goldnen Lila schwimmend, das farbige Bild einzufangen drohte, stieg sie eine Treppe höher. Sie gewahrte noch ein paar funkelnde Lanzenspitzen, und ihre dürren Lippen flüsterten: der Kaiser, der Kaiser.

Es dunkelte, und sie stieg herab. Ihr Herz verschnürte sich bang und mit dem letzten Funken des vergehenden Bewußtseins seufzte sie einem ungetrösteten Tod entgegen.


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