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Der Präsident traf erst am Dreikönigstag, nach fast vierwöchiger Abwesenheit, wieder in der Stadt ein. Die ihm nahestehenden Personen wollten eine bedeutende Veränderung seines Wesens an ihm bemerken; er erschien wortkarg und finster, und sein Anteil an den Amtsgeschäften hatte bisweilen etwas von Lauheit.
Es fiel auf, daß er mehrere Tage verstreichen ließ, ehe er sich nach Caspar erkundigte. Als ihn der Hofrat Hofmann während des gemeinsamen Nachhausewegs unbefangen fragte, ob er den Jüngling schon gesehen habe, gab Feuerbach keine Antwort. Tags darauf erschien der Polizeileutnant bei ihm. Hickel stellte sich um die Sicherheit des Hauser besorgt und meinte, man solle für eine Überwachung sorgen; der Präsident ging auf die Sache nicht weiter ein und sagte bloß, er werde sich's überlegen. Am selben Nachmittag ließ er den Lehrer rufen und stellte ihn über Befinden und Betragen seines Zöglings zur Rede. Quandt sagte dies und sagte das; es war nicht schwarz noch weiß; zum Schluß zog er einen Brief aus der Tasche, es war das Schreiben der Magistratsrätin Behold, welches dem Präsidenten zu überreichen er sich entschlossen hatte.
Feuerbach überlas das Schriftstück, und eine Wolke von Mißmut lagerte sich auf seine Stirn. »Sie müssen auf derlei Zeug kein Gewicht legen, lieber Quandt«, sagte er barsch, »wo kämen wir denn hin, wenn wir auf das Gewäsch jeder solchen Närrin hören wollten? Sie haben sich nicht mit der Vergangenheit des Hauser zu beschäftigen, das ist nicht Ihres Amts; ich habe Sie dazu bestellt, einen tüchtigen Menschen aus ihm zu machen, wenn Sie in der Hinsicht zu klagen haben, bin ich ganz Ohr, mit andern Dingen verschonen Sie mich.«
Es läßt sich denken, daß eine so grobe Abfertigung die Empfindlichkeit des Lehrers tief verletzte. Er ging erbittert heim, und obwohl ihm der Präsident den Auftrag gegeben hatte, Caspar am Sonntagfrüh zu ihm zu schicken, teilte er dies dem Jüngling erst zwei Tage später, am Samstagabend, mit.
Als Caspar zur bestimmten Stunde ins Feuerbachsche Haus kam, mußte er im Flur ziemlich lange warten, dann erschien erst Henriette, die Tochter des Präsidenten, und führte ihn ins Wohnzimmer. »Ich weiß nicht, ob der Vater Sie heute empfangen wird«, sagte sie und erzählte dann, in der vergangenen Nacht sei ein Einbruch in das Arbeitszimmer des Präsidenten verübt worden; die unbekannten Täter hätten alle Papiere auf dem Schreibtisch durchwühlt und mit Nachschlüsseln die Laden geöffnet; es sei anzunehmen, daß die Verbrecher irgend bestimmte Briefe oder Handschriften hätten an sich bringen wollen, denn es sei nichts geraubt worden, auch die gewünschte Beute hätten sie nicht machen können, da der Vater seine wichtigen Papiere gut verwahrt habe; nur die erbrochenen Fenster und eine gewaltige Unordnung habe von ihrem Treiben Zeugnis gegeben.
Das Fräulein schritt während dieses Berichts in männlicher Weise auf und ab, die Arme über der Brust verschränkt, Groll und Zorn in Stimme und Miene. Sie sagte, der Vater sei natürlich außer sich über den Vorfall; währenddessen öffnete sich die Tür, und der Präsident trat in Begleitung eines schlanken, etwa dreißigjährigen jungen Mannes auf die Schwelle. »Aha, da ist Caspar Hauser, Anselm«, sagte der Präsident. Der Angeredete stutzte und blickte Caspar gedankenvoll und zerstreut ins Gesicht. Caspar war betroffen von der außergewöhnlichen Schönheit dieses Menschen; wie er später erfuhr, war es der zweitälteste Sohn Feuerbachs, der, verfolgt von einem widrigen Geschick, für einige Tage ins Elternhaus geflüchtet war, um Rat und Hilfe seines Vaters in Anspruch zu nehmen. Caspar liebte schöne Gesichter, zumal wenn sie so voll Geist und Schwermut waren, bei Männern ganz besonders; aber es war dies nur eine kurze Erscheinung, er sah ihn nicht wieder.
Der Präsident ließ Caspar ins Staatsgemach treten und kam erst nach einer Weile. Sofort fiel Caspars Blick auf das Napoleonbildnis an der Wand. Wie wunderlich es war: solche Ähnlichkeit im Ausdruck der stolz-abweisenden Majestät und der finsteren Trauer um die anmutig geschwungenen Lippen mit jenem Mann, den er soeben gesehen! Dazu noch der prunkvolle Ornat, Krone, Halsschmuck und Purpurmantel. Caspar war bewegt; eine höhere Welt tat sich ihm auf; am liebsten wäre er hingegangen, um, was an dem Bild gestalthaft schien, mit Händen zu packen und, was ihn so hoheitsvoll daraus anredete, in laute Zwiesprach zu verwandeln. Unwillkürlich reckte er sich auf, als zwinge ihn die königliche Figur zur Nachahmung; er machte ein paar Schritte hin und her und war freudig erschrocken bei der Wahrnehmung, daß die Augen des Bildes ihn mit dunkler Glut verfolgten.
Also beschäftigt fand ihn der Präsident und blieb überrascht neben der Tür stehen. Mochte es Zufall genannt werden oder war es eine der unergründlichen Verkettungen, in denen dies nicht gewöhnliche Schicksal sich offenbarte, Feuerbach sah in dem zauberartigen Gegenüberstehen von Bild und Jüngling etwas wie ein Ordal, eine Beglaubigung von oben. War doch Caspars Mutter (seine Mutter, ja, sofern der ganze Bau der furchtbaren Annahmen und halben Gewißheiten im Licht der Wirklichkeit nur irgend bestehen konnte) durch verwandtschaftliche Bande an jenen Heros geknüpft.
»Wissen Sie denn auch, wer das ist, Caspar?« fragte Feuerbach mit lauter Stimme.
Caspar schüttelte den Kopf.
»So will ich's Ihnen sagen! Das ist ein Mann, der die Menschheit davon überzeugt hat, daß ein großer Wille alles vermag. Haben Sie denn noch nie was vom Kaiser Napoleon gehört? Ich kannte ihn, Caspar, ich habe ihn gesehen, ich habe mit ihm gesprochen, ich war Mittelsmann zwischen ihm und unserm König Max. Es war eine große Zeit, und nicht mehr viel ist von ihr übrig.«
Mit wehmütig-sinnendem Blick wandte sich Feuerbach ab. Er spürte die Last der Jahre; lange genug hatte er sich gegen ihre Pranken gewehrt; fast mit Angst streifte sein Auge den immer noch schweigend dastehenden Jüngling, als erwarte er von ihm das Richterwort, das seine nicht mehr zu verbergende Ohnmacht der Welt preisgeben mußte. Das zuletzt Erfahrene, dort bei den Mächtigen Erlittene überflutete sein Herz mit Scham; eine Flamme des Ingrimms und des Hasses gegen alles, was Menschen hieß, loderte plötzlich in ihm auf, zähneknirschend rannte er ein halbdutzendmal zwischen den Fenstern und der Tür hin und her, und erst der Anblick des vor Furcht erbleichten Caspar gab ihm die Besinnung einigermaßen zurück, und er stellte die mürrische Frage, ob Caspar bei Quandt genug zu essen bekomme.
»Darüber ist nicht zu klagen«, antwortete Caspar.
Den zweideutigen Ton, in welchem er dies vorbrachte; schien Feuerbach zu überhören. »Und was ist es mit dem Lord?« fragte er weiter mit einem starr-drohenden Blick, »haben Sie schon Nachricht von ihm? Haben Sie selbst ihm schon geschrieben?«
»Einmal jede Woche schreib ich ihm«, sagte Caspar.
»Er will jetzt nach Spanien.«
»Nach Spanien; soso; nach Spanien. Das ist sehr weit, mein Bester.«
»Ja, das soll weit sein.«
Diese einsilbige Unterhaltung wurde durch einen Polizeibeamten unterbrochen, der eine schriftliche Meldung wegen des nächtlichen Einbruchs brachte. Caspar verabschiedete sich.
»Wo bleiben Sie denn so lang?« empfing ihn Quandt ärgerlich.
»Ich war beim Präsidenten, das wissen Sie doch«, versetzte Caspar.
»Schön; aber es verrät wenig Lebensart, daß Sie einen Besuch nicht zu kürzen verstehen, wenn man zu Haus mit dem Abendessen auf Sie wartet.«
Das Essen war nämlich eine wichtige Angelegenheit bei Quandts. Der Lehrer setzte sich immer mit einer gewissen Rührung zu Tisch, und sein prüfender Blick schien alle Teilnehmer der Mahlzeit auf den Grad ihrer Andacht zu examinieren. Wenn Frau Quandt verkündigte, was man des Guten zu erwarten habe, begleitete der Lehrer ihre Aufzählungen entweder mit einem Kopfnicken oder bedenklichen Runzeln der Stirne; Schmeckte ihm ein Gericht, so wuchs seine gute Laune, und fand es nicht seinen Beifall, so aß er jeden Bissen mit einem Ausdruck weltüberlegener Ironie. Für manches hatte er eine besondere Vorliebe, wie zum Beispiel für saure Gurken oder angewärmten Kartoffelsalat, und er unterließ es dann selten, während er sich delektierte, die Einfachheit seiner Bedürfnisse hervorzuheben. Die Lehrerin verstand vortrefflich zu kochen, und wenn ihr eine Leibspeise des Mannes gelungen war, blieb sie für sein Lob nicht unempfänglich, obschon es bisweilen in eine zu gelehrte Form gekleidet war; so pflegte Quandt im Scherz zu sagen, wenn er sie nicht genommen hätte, wäre sicherlich der selige Trimalchio wiederauferstanden, um sie zu heiraten. Nach dem Abendessen kam die gemütliche Stunde mit Pantoffeln, Schlafrock, Lehnstuhl und Zeitunglesen. Ins Wirtshaus ging Quandt fast nie, einmal wegen der Kosten und dann, weil er keine Ansprache fand. Er zog die bequeme Ofenecke vor.
Aber seit Caspar im Haus weilte, war diese idyllische Abendstimmung ohne rechten Reiz. Quandt war gequält und wußte manchmal kaum die Ursache. Stellen wir uns einen Hund vor, einen klugen, nervigen, wachsamen Hund. Stellen wir uns vor, daß dieser Hund bei seinem Schnuppern in dem anvertrauten Revier irgendwo einen Brocken Gift erwischt hat und daß er nun, das verderbliche Feuer in seinem Leib, unbewußt das Dunkel sucht, alle feuchten Winkel lechzend durchrast, den Schatten verfolgt, die Fliege beknurrt, alles um sich und über sich nur auf das eine tolle Drängen bezieht und die ganze Welt für vergiftet hält, während es bloß seine armen Gedärme sind, so hätten wir ein anschauliches Bild von dem Zustand des bedauernswerten Mannes. Sein Dämon schmiedete ihn fest an den Jüngling; es wurde ihm vor allen Dingen wichtig »dahinterzukommen«. Er hätte ein paar Jahre seines Lebens hergegeben, wenn er dadurch geschwind zu der Kenntnis gelangt wäre, was »dahintersteckte«.
Um acht Uhr kam der Polizeileutnant zu Besuch; er war schlecht gelaunt, denn er hatte letzte Nacht im Kasino fünfundsechzig Gulden beim Pharao verloren und war das Geld noch schuldig. Gegen Caspar zeigte er sich auffallend freundlich; er fragte ihn aus, was er mit dem Präsidenten gesprochen, nahm aber den getreuen Bericht des Jünglings als zu belanglos mit Mißtrauen auf.
»Ja, unser guter Freund ist recht zurückhaltend«, beklagte sich Quandt; »ich wußte gar nichts von dem Einbruch beim Präsidenten, und mit Müh und Not, daß er überhaupt davon erzählt hat. Wissen Sie Näheres, Herr Polizeileutnant? Hat man schon Spuren?«
Hickel erwiderte gleichmütig, man habe bei Altenmuhr einen verdächtigen Landstreicher aufgegriffen.
»Was doch alles vorgeht!« rief Quandt; »welche Frechheit gehört dazu, das Oberhaupt der Behörde zum Opfer eines solchen Anschlags zu machen!« Insgeheim aber räsonierte er: recht so; das wird den Unantastbarkeitswahn der Exzellenz ein bißchen erschüttern; recht so; auch von den Spitzbuben können die großen Herren mitunter eine nützliche Lehre empfangen.
»Es sollte mich sehr wundern«, sagte Hickel mit vornehm geschlossenen Lippen – eine Finesse, die er dem Lord Stanhope abgeguckt –, »wenn diese Geschichte nicht wieder irgendwie mit unserm Hauser zusammenhinge.«
Quandt machte große Augen, dann schaute er schräg auf Caspar, dessen erschrockener Blick dem seinen entglitt.
»Ich habe Gründe zu einer solchen Vermutung«, fuhr Hickel fort und starrte die blank gescheuerten Nägel seiner roten Bauernhände an; diese Hände flößten Caspar stets einen namenlosen Widerwillen ein; »ich habe Gründe und werde vielleicht zu seiner Zeit damit herausrücken. Der Staatsrat selber ist gescheit genug, um zu wissen, was die Glocke geschlagen hat. Aber er will's nicht Wort haben, es ist ihm nicht geheuer dabei zumut.«
»Nicht geheuer zumut? Was Sie sagen!« versetzte Quandt, und ein angenehmes Gruseln lief ihm über den Rücken. Auch die Lehrerin hörte mit dem Strümpfestopfen auf und sah neugierig von einem zum andern.
»Ja, ja«, fuhr Hickel fort und lächelte den Lehrer mit seinen gelb blinkenden Zähnen an, »sie haben ihm dort unten in München gehörig eingeheizt, und er trägt den Kopf bei weitem nicht mehr so zuversichtlich. Meinen Sie nicht auch, Hauser?« fragte er und sah bald Quandt, bald dessen Frau strahlend an.
»Ich meine, es ist nicht in der Ordnung, daß Sie so vom Herrn Staatsrat sprechen«, antwortete Caspar kühn.
Hickel verfärbte sich und biß sich auf die Lippen. »Sieh mal an, sieh mal an«, sagte er düster. »Haben Sie das gehört, Herr Lehrer? Schon unkt die Kröte, es wird Frühjahr.«
»Eine höchst unpassende Bemerkung, Hauser«, ließ sich Quandt zürnend vernehmen. »Sie sind dem Herrn Polizeileutnant Ehrfurcht und Bescheidenheit schuldig so wie mir. Gegen den Baron Imhoff oder den Generalkommissär würden Sie sich so etwas nicht unterstehen, des bin ich sicher. Und ein doppelt Gesicht, ein falsch Gesicht, heißt es. Ich werde das dem Grafen schreiben.«
»Echauffieren Sie sich nicht, Herr Lehrer«, unterbrach ihn Hickel, »es lohnt sich nicht, man muß es seinem Unverstand zugut halten. Im übrigen hab ich gestern einen Brief vom Grafen bekommen«; er griff in die Rockbrust und zog ein zusammengefaltetes Papier heraus. »Sie möchten wohl gerne wissen, was er schreibt, Hauser? Na, gar so schmeichelhaft ist es eben nicht für Sie. Der gute Graf macht sich Sorgen wie immer und empfiehlt uns rücksichtslose Strenge, falls Sie nicht parieren.«
Caspar machte ein ungläubiges Gesicht. »Das hat er geschrieben?« fragte er stockend.
Hickel nickte.
»Er hat sich auch damals zu sehr geärgert über die Heimlichtuerei mit dem Tagebuch«, sagte Quandt.
»Das werd ich ihm alles erklären, wenn er wiederkommt«, versetzte Caspar.
Hickel rieb den Rücken an der Ofenecke und lachte. »Wenn er wiederkommt! Wenn! Wer weiß aber, ob er wiederkommt? Mir deucht, er hat nicht allzu große Lust dazu. Glauben Sie denn, Sie Kindskopf, so ein Mann hat nichts Besseres zu tun, als seine Zeit dahier zu versitzen?«
»Er kommt wieder, Herr Polizeileutnant«, sagte Caspar mit triumphierendem Lächeln.
»Oho, oho!« rief Hickel. »Das klingt ja allerdings verläßlich. Woher weiß man denn das so genau?«
»Weil er es versprochen hat«, entgegnete Caspar mit treuherziger Offenheit. »Er hat heilig versprochen, in einem Jahr wieder dazusein. Am achten Dezember hat er's versprochen, sind also noch zehn Monate und sechzehn Tage bis dahin.«
Hickel sah Quandt an, Quandt sah seine Frau an, und alle drei brachen in Gelächter aus. »Im Rechnen scheint er sich ja geübt zu haben«, meinte Hickel trocken. Dann legte er Caspar die Hand auf den Kopf und fragte: »Wer hat Ihm denn die herrlichen Locken abgeschnitten?«
Quandt erwiderte, Caspar habe es selbst gewünscht, nachdem er ihm vorgestellt, daß es für einen erwachsenen Menschen nicht schicklich sei, mit so einem Haarwald herumzulaufen. »Sie können jetzt schlafen gehen, Hauser«, sagte er hierauf.
Caspar reichte jedem die Hand und ging. Als er draußen war, öffnete Quandt leise die Tür und lauschte. »Sehen Sie, Herr Polizeileutnant«, flüsterte er Hickel bekümmert zu, »wenn er weiß oder annimmt, daß man ihn hört, steigt er ganz langsam und bedächtig die Stiege hinan, wenn er sich aber unbeachtet glaubt, da kann er wie ein Hase springen, gleich über drei Stufen auf einmal. Ist's nicht so, Frau?«
Die Lehrerin bestätigte es; und wieviel Umstände er einem mache, fügte sie verdrossen hinzu; jetzt sei er sechs Wochen im Haus und habe vierzehn Hemden in der Wäsche; immer müsse er herausgeputzt sein wie eine Docke, und schon in aller Herrgottsfrüh fange er an, seine Kleider zu bürsten.
Sie setzte dem Polizeileutnant ein Gläschen Schnaps vor und ging ins Nebenzimmer, um den Säugling zu stillen, der sich schreiend meldete.
»Ja, es ist des Teufels mit ihm«, setzte Quandt das Lamento seiner Gattin fort; »da hab ich neulich einmal aus der ›Bayrischen Deputiertenkammer‹ vorgelesen. Der Hauser stellt sich hinter mich, und wie ich fertig bin, liest er den Titel der Zeitung halblaut für sich hin, wie wenn ihn das Wort verwundre. Nun wird aber doch die ›Bayrische Deputiertenkammer‹ in jedem anständigen Hause gelesen, nicht wahr? Außerdem hat er Tag für Tag Gelegenheit gehabt, das Blatt auf unserm Tisch zu sehen, und der Name konnte ihm unmöglich neu sein. Ich frage also, ob er denn nicht wisse, was das sei, eine Deputiertenkammer. Darauf sagte er mir mit seinem unschuldigsten Gesicht: das sei wohl ein Zimmer, wo man Leute einsperre. Nun bitt ich Sie um alles in der Welt, das geht doch über den grünen Klee. Es muß schon ein Engel vom Himmel herunterkommen, damit ich solche Ungereimtheiten auf Treu und Glauben hinnehmen soll, und selbst dann getrau ich mich noch zu bezweifeln, ob es auch ein richtiger Engel ist und kein nachgemachter.«
»Was wollen Sie«, antwortete der Polizeileutnant, »es ist alles Schwindel, alles ist Schwindel.« Und indem er sich auf den gespreizten Beinen hin und her wiegte, loderte in seinen Augen ein unbestimmter, träger Haß.
Alles Schwindel; ein Urteil, das sich nicht etwa bloß auf die vorgetragene Anekdote bezog, sondern auf das ganze, ihm bis zum Ekel gleichgültige Treiben der Menschen, sofern es nicht mit seinem Wohlbehagen verknüpft war. Mochten sie sich einander die Köpfe abhacken, mochten sie über Himmel und Hölle, um König und Land streiten, mochten sie ihre Häuser bauen, ihre Kinder zeugen, mochten sie morden, stehlen, einbrechen, schänden und betrügen oder sich ehrlich rackern und edle Taten vollbringen, ihm war letzten Endes alles Schwindel, ausgenommen der Freibrief für ein sorgenloses Dasein, den ihm die Gesellschaft nach seiner Ansicht schuldig war.
Der Ritter von Lang, der an Hickel wegen seines einschmeichelnden Wesens Gefallen hatte, pflegte gern zu erzählen, wie Hickel einst mit seinem, des Ritters Sohn, einem jungen Doktor der Philosophie, über die Landstraße gegangen und wie der junge Mann, gegen das ausgestirnte Firmament deutend, angefangen habe, von den zahllosen Welten dort oben zu reden. Da habe Hickel mit seinem mokantesten Gesicht erwidert: »Ja, glauben Sie denn im Ernst, Doktor, daß diese hübschen Lichterchen etwas anderes sind als eben – Lichterchen?«
Das war nicht etwa bloß Unbildung, sondern nur der Ausdruck jener Überlegenheit, die in dem Worte gipfelte: alles Schwindel.
Man wußte in der ganzen Stadt, daß Hickel über seine Verhältnisse lebte. Es war sein Ideal, für einen Kavalier zu gelten, seine Leidenschaft, elegant zu sein, auch besaß er die feinste Nase für die Echtheit und Legitimität aller damit zusammenhängenden Dinge. Als vor einiger Zeit seine Aufnahme in den vornehmen Beamtenklub strittig gewesen war, hatte man lange gezögert, denn er war keineswegs beliebt und außerdem war er von niedriger Abkunft, seine Eltern waren arme Kätnersleute in Dombühl; schließlich hatte er seinen Wunsch mit Hilfe einiger erschlichener Familiengeheimnisse durchgesetzt, mit denen er den betreffenden Persönlichkeiten bange zu machen verstand. Der Hofrat Hofmann, sein früherer Vorgesetzter, gab dem vorherrschenden Gefühl gegen ihn bezeichnenden Ausdruck, indem er versicherte: »Er dekuvriert sich nicht; dieser Hickel dekuvriert sich nicht.« In der Tat hatte es stets den Anschein, als ob der Polizeileutnant mit etwas Gefährlichem im Hinterhalt bleibe.
Ausgezeichnet verstand er es, sich mit dem Präsidenten zu stellen. Er durfte sich sogar erlauben, dem sonst so Unnahbaren gewisse Wahrheiten zu sagen, die liebenswürdig oder sorgenvoll klangen, im Grunde aber nichts waren als verzuckerte Bosheiten. Er besaß eine nicht zu leugnende Geschicklichkeit im Erzählen amüsanter Histörchen und mancherlei einlaufenden Stadtklatsches. Dies ergötzte Feuerbach und stimmte ihn für vieles andre nachsichtig. »Rätselhaft«, sagten die Leute, »was der Staatsrat an dem Hickel für einen Narren gefressen hat.« Jedenfalls fand der Polizeileutnant stets williges Gehör bei Feuerbach, und mit Schlauheit ließ er sich dafür gern gefallen, daß der Präsident in seiner bärbeißigen Manier an ihm herumerzog, seinen leichtsinnigen Wandel tadelte und seine schlechten Instinkte mit erstaunlichem Scharfblick sozusagen in den Wurzeln entblößte. Ist es nicht wahrscheinlich, daß gerade dies den Präsidenten verführte und verstrickte? Indem er so klar die Leerheit und Düsterkeit dieser Seele durchschaute, hatte er sich vielleicht schon zu vertraut gemacht mit ihr, um sie von sich stoßen zu können.
Hickel wußte den Präsidenten nach und nach zu überreden, daß man Caspar nicht so frei wie bisher herumgehen lassen dürfe, und es wurde als Wächter ein alter Veteran bestellt, der einen Stelzfuß hatte und einarmig war. Dieser Wackere faßte seine neue Obliegenheit sehr gewissenhaft auf und folgte Caspar auf Schritt und Tritt zum Gelächter der Gassenjugend. Der Polizeileutnant hatte richtig spekuliert, wenn die so fürsorglich aussehende Maßregel dazu dienen sollte, die Bewegungsfreiheit des Jünglings möglichst zu hemmen. Es gab Beschwerden über Beschwerden, bald von Quandt, bald von Caspar, bald von dem Invaliden, den Caspar nicht selten überlistete, indem er sich heimlich davonstahl.
Er klagte dem Pfarrer Fuhrmann, bei dem er Religionsunterricht empfing, seine Not; dieser ihm wohlgesinnte Greis ermahnte ihn zur Geduld. »Was soll es nutzen, geduldig zu sein!« rief Caspar trotzig, »wird ja doch immer schlechter!«
»Was es nutzen soll?« versetzte der Pfarrer mild. »Was nutzt es Gott, daß er unserm unsinnigen Treiben zuschaut! Durch Geduld führt er uns zum Guten. Geduld bringt Rosen.«
Dennoch wandte sich Pfarrer Fuhrmann an den Präsidenten, und dieser versprach Abhilfe, ohne jedoch vorläufig etwas zu unternehmen. Die jährliche Inspektionsreise durch den Bezirk entfernte ihn für drei Wochen aus der Stadt; als er zurückgekehrt war, ließ er eines Tages den Polizeileutnant auf sein Arbeitszimmer rufen. »Hören Sie mal, Hickel«, redete er ihn an, »Sie sind doch in der hiesigen Gegend ziemlich gut bekannt? Schön. Haben Sie mal etwas über das Falkenhaus gehört?«
»Gewiß, Exzellenz«, antwortete Hickel. »Das sogenannte Falkenhaus ist ein uraltes markgräfliches Jagdschlößchen im Triesdorfer Wald.«
»Stimmt. Das Objekt interessiert mich schon seit einiger Zeit. Ich habe Nachforschungen eingezogen und habe folgendes erfahren: Das Falkenhaus hat bis vor ungefähr vier Jahren als Försterwohnung gedient, und zwar hat der letzte Förster jahrzehntelang mutterseelenallein dort gelebt. Der Mann hat nie mit irgendeinem Menschen verkehrt, ist nie in einem Wirtshaus gesehen worden und hat seine Einkäufe in den umliegenden Dörfern selbst besorgt. Eines Tages ist er plötzlich verschwunden gewesen, und ein verabschiedeter Gendarm soll ihn im Schwäbischen als Besitzer oder Verwalter eines Gutshofs wiedergesehen haben. Ich bin auch dieser Spur nachgegangen, und es hat sich herausgestellt, nicht nur, daß es damit seine Richtigkeit hat, sondern auch, daß der Mann im Oktober 1830 des Nachts in seinem Bett ermordet worden ist.«
»Davon ist mir nichts bekannt. Ich weiß nur, daß das Falkenhaus verödet und unbewohnt ist und daß im Volk allerlei gespensterhaftes Zeug über die unheimliche Einsiedelei erzählt wird.«
»Richten Sie jedenfalls Ihr Augenmerk darauf«, sagte der Präsident; »am besten, Sie senden einen ortskundigen Mann hin, der sorgfältige Erhebungen einziehen soll.«
»Zu Befehl, Exzellenz. Darf ich fragen, um welchen Fall es sich dabei handelt?«
»Es handelt sich um Caspar Hauser und seine Gefangenschaft.«
»Ah!« Hickel räusperte sich und machte eine Verbeugung, Gott weiß warum.
»Ich glaube mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen, daß das Falkenhaus die Stätte seiner grausamen Kerkerhaft ist. Es war mir schon seit den ersten Erzählungen Caspars über die Art seiner Wanderung mit dem Unbekannten zweifellos, daß der Ort in Franken selbst, nicht allzu weit von Nürnberg oder Ansbach zu suchen sei. Nun haben mich die Spuren zum Falkenhaus geführt.«
»Wahrscheinlich brauchen Eure Exzellenz dieses Indizium zu der Schrift über den Hauser«, bemerkte Hickel schmeichelnd.
»So ist es.«
»Und soll die Veröffentlichung des Werks noch in diesem Jahr vor sich gehen? Exzellenz verzeihen meine Neugier, aber ich bin ja herzlich interessiert bei der Sache.«
»Sie fragen mich zuviel, Hickel. Lassen Sie das. Da ist ein Briefchen für den Hofrat Hofmann, geben Sie es draußen zur Beförderung. Ich will mit dem Hofrat und Caspar morgen nach Falkenhaus fahren. Benachrichtigen Sie den Hauser, daß er sich bereithält, erwähnen Sie aber beileibe nichts von dem Zweck der Fahrt.«
Zur festgesetzten Stunde fand sich Caspar ein und sah sich alsbald zu seiner Verwunderung in der bequemen Kalesche gegenüber dem Präsidenten und dem Hofrat sitzen. In selten unterbrochenem Schweigen ging es durch die sonnige Frühlingslandschaft.
Sie langten an. Ein Gang durch das verlassene Waldhaus und die eingehende Prüfung seiner Lokalitäten brachte nicht den geringsten Aufschluß. War ein unterirdischer Raum zu jenem fürchterlichen Gebrauch vorhanden gewesen, so hatte der einstige Bewohner ihn sicherlich verschüttet, und die Zeit hatte alle Merkmale unsichtbar werden lassen.
Da entdeckte das scharf umhersuchende Auge des Präsidenten im Freien neben dem rechten Trakt des Gebäudes eine sonderbar gestaltete Erdgrube. Die Anzeichen ließen darauf schließen, daß sich vordem ein Holzschuppen oder dergleichen darüber erhoben hatte, denn ringsum lagen noch vermorschte Bretter und Balken und rissige Schindeln. Es führten sieben in den Sand geschlagene und schon verfallene Stufen hinab, und unten war die seltsam geglättete Erde von gelblichem Moos bedeckt.
Feuerbach verfärbte sich, als er dieses sah. Nach langem Versunkensein stieg er hinunter, betastete einige Stellen der Wände, bückte sich in einer Ecke auf den Boden, alles dies finster und wortlos. Als er wieder heraufkam, sah er Caspar durchdringend an. Der aber stand ruhig da und ließ den unwissenden Blick in die Tiefen des Forstes schweifen. Ahnt er nichts? dachte Feuerbach; ahnt er nicht, worauf sein Fuß tritt? Weckt ihn kein Hauch der Vergangenheit? Sprechen die Bäume nicht zu ihm? Verrät ihm die Luft nichts? Und da es nicht so scheint, darf ich mich unterfangen, mit einem Ja oder Nein die schauerliche Ungewißheit zu entscheiden?
Der Wagen hielt an der Heerstraße draußen. Beim Rückweg durch den Wald blieb Caspar, den plötzlich eine unbesiegbare Schwermut überfallen hatte, die ihn zu langsamem Gehen zwang, ein großes Stück hinter den beiden Männern.
Der Hofrat Hofmann benutzte die Gelegenheit, um dem Präsidenten seine vernunftgemäßen Zweifel mitzuteilen. »Ich möchte nur eines wissen«, sagte er mit verkniffenem Gesicht, »ich möchte wissen, warum man den Menschen, wenn er wirklich so lange in Gefangenschaft geschmachtet hatte, auf einmal freiließ, und nicht nur das, sondern mitten in eine große Stadt gebracht hat, wo er das ungeheuerste Aufsehen erregen, also notwendigerweise seine Peiniger verraten mußte. Eine solche Logik will mir nicht einleuchten.«
»Mein Gott, dafür lassen sich mancherlei Erklärungen denken«, erwiderte der Präsident ruhig; »entweder man war seiner überdrüssig geworden; ihn länger zu beherbergen war mit Schwierigkeit, ja mit Gefahr verknüpft; sein Kerkermeister konnte den Auftrag erhalten haben, ihn zu töten, faßte jedoch in einer begreiflichen Regung des Erbarmens oder der Anhänglichkeit oder der Furcht den Entschluß, ihn auf andre Art verschwinden zu lassen, und wo konnte das mit mehr Aussicht auf Erfolg geschehen als gerade in einer großen Stadt? Man dachte sich die Sache so: der Rittmeister Wessenig, dem mitgegebenen Schreiben folgend, steckt ihn unter die Soldaten; dort gibt es der Analphabeten und Halbidioten die Menge, dort wird er nicht weiter auffallen, vermeinte der Verbrecher in einem Optimismus, der freilich nur von seiner eignen Unbildung zeugt. Als aber die Dinge einen ganz andern Weg nahmen, bekam er's mit der Angst, teilte sich, mußte sich denen mitteilen, welche die Fäden von Anfang an in der Hand hielten, und diese mußten zusehen, wie sie den furchtbarsten Zeugen ihrer Schuld wieder unschädlich machen konnten, der nun, geschützt von einer Welt, ihnen als Auferstandener gegenübertrat.«
»Sehr fein, sehr fein«, murmelte der Hofrat beifällig, ohne merken zu lassen, daß er keineswegs überzeugt war.
Spätnachmittags kamen sie in die Stadt zurück. Caspar trennte sich von den Herren und ging heimwärts. Auf dem Promenadenweg begegnete er Frau von Imhoff. Sie begrüßte ihn und fragte, warum er sich so lange nicht bei ihr sehen lasse.
»Hab keine Zeit, hab viel zu arbeiten«, antwortete Caspar, doch mit so verlegenem Gesicht, daß die kluge Dame merkte, dies könne nicht der wahre Grund sein. Sie unterließ es aber, ihn auszuforschen, und fragte ablenkend, ob er sich auch des Frühlings recht erfreue.
Caspar schaute in die Luft und in die Kronen der Ulmen, als habe er den Frühling bis jetzt übersehen, und schüttelte den Kopf. Gern hätte er vieles gesagt, das Herz war ihm voll, übervoll, doch auf der Zunge lag es wie ein Stein, und er hatte nicht das Gefühl, daß diese Frau, so freundlich sie sich auch gab, wirklich für ihn aufgelegt sei. Was kann es nutzen? dachte er.
»Ich habe Ihnen einen Gruß zu bestellen«, sagte sie dann beim Abschied und nachdem sie ihn für den Sonntag zu Tisch gebeten hatte; »erinnern Sie sich noch der Geschichte meiner Freundin, die ich am Abend, als Lord Stanhope bei uns war, erzählt habe? Die läßt Sie grüßen. Und ein Gruß bedeutet bei ihr viel.«
»Wie heißt die Frau?« fragte Caspar, genau wie damals, nur nicht lächelnd und froh, sondern zerstreut.
Frau von Imhoff lachte, diese Wißbegier nach einem Namen erschien ihr komisch. »Kannawurf heißt sie, Clara von Kannawurf«, antwortete sie gutmütig.
Ganz hübsch, daß sie mich grüßen läßt, dachte Caspar, während er seinen Weg fortsetzte, aber was kann es nutzen? Was soll's mir nutzen?