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Das Amselherz

Vierundzwanzig Stunden später hält eine Kutsche vor dem Daumerschen Haus, und Frau Behold selber kommt, um Caspar zu holen. Wirklich, Frau Behold hat sich's etwas kosten lassen, eine schwarzlackierte Kutsche mit zwei Pferden und einen Mann mit goldenen Knöpfen auf dem Bock.

Caspar wird von Daumer und den beiden Frauen zum Tor geleitet, auch der Kandidat Regulein verläßt seine Junggesellenklause. Anna kann sich der Tränen nicht erwehren, Daumer blickt finster vor sich hin, Frau Behold gibt dem Kutscher ein Zeichen, die Rosse schnauben, die Räder rollen, und die Zurückbleibenden schauen stumm in die Dunkelheit, die das Gefährt verschlingt.

Das war der Abschied, und Caspar war's, als gehe es weit fort. Aber es ging nur von einem Haus auf der Schütt zu einem Haus am Markt. Es war dies ein schmales, hohes Haus, welches so eingepreßt stand zwischen zwei andern, daß es aussah, als fehle ihm die Luft zum Atmen. Es hatte einen gezinnten Giebel, steil abhängend wie die Schultern eines verhungerten Kanzlisten, die Fenster hatten nichts frei Schauendes, sondern etwas Blinzelndes, das Tor war seltsam versteckt, und innen wand sich eine dunkle Treppe in vielen Biegungen, gleichsam in vielen Ausreden durch die Stockwerke; die alten Treppen knarrten und stöhnten bei jedem Schritt, und wenn die Türen geöffnet wurden, floß nur ein dämmeriges Licht aus den Stuben.

Caspar wohnte in einem Gemach gegen den viereckigen Hof; vor den Fenstern lief eine Holzgalerie mit verschnörkeltem Geländer, auf jeder Seite waren grünverhangene Glastüren, und unten stand ein eiserner Brunnen, aus dem kein Wasser floß.

Das Wunderliche lag darin, daß draußen der Markt war, wo viele Menschen laut redeten, wo die Händler ihre kleinen Läden und Verkaufszelte hatten, wo von morgens bis abends Frauen feilschten, Kinder kreischten, Rosse wieherten, das Geflügel gackerte, und daß man bloß das Tor hinter sich zu schließen brauchte und es wurde so still, als ob man in die Erde hineingestiegen sei.

Dies machte Caspar im Anfang Spaß. Es glich einem Versteckenspiel, er fand es lustig, sich zu verstecken, und gelegentlich sah er es darauf ab, ein andres Gesicht zu zeigen, als ihm zu Sinn war, oder andre Dinge zu sagen, als man von ihm erwartete. An einem der ersten Tage verlor Frau Behold ein silbernes Kettchen; Caspar behauptete, es im Vorplatz gesehen zu haben, obwohl er es keineswegs gesehen hatte.

Es wurde ihm verboten, ohne Erlaubnis das Haus zu verlassen. Er fragte, wer es verboten habe, da wurde ihm geantwortet, Frau Behold habe es verboten, und als er sich an Frau Behold wandte, sagte sie, der Magistratsrat habe es verboten, und als er sich an den Magistratsrat wandte, sagte der, der Präsident habe es verboten. Dermaßen war alles verzwickt und versteckt in diesem Haus.

Einmal wollte Frau Behold in sein Zimmer gehen; sie fand es versperrt, er hatte von innen zugeriegelt. »Was sperrst du dich denn ein am hellichten Tag?« fragte sie und schnüffelte auf dem Tisch herum, wo seine Bücher und Schularbeiten lagen. »Fürchtest du dich vielleicht?« fuhr sie zungengeläufig fort. »Bei mir brauchst du dich nicht zu fürchten, bei mir gibt es keine vermummten Spitzbuben.« Er gab zu, daß er sich fürchte, und das schmeichelte Frau Behold, sie nahm eine grimmige Beschützermiene an und lächelte herausfordernd.

Jeden Vormittag, wenn er von der Schule kam – er besuchte jetzt zwei Stunden täglich die dritte Klasse des Gymnasiums –, erkundigte sich Frau Behold, wie es gegangen sei. »Schlecht ist's gegangen«, entgegnete er dann trübselig, und in der Tat, er hatte wenig Freude davon. Die Lehrer klagten, daß seine Gegenwart die andern Schüler der Aufmerksamkeit beraube; der Umstand, daß auf der Gasse stets ein Polizeidiener hinter ihm herging und daß die Polizei Tag und Nacht das Haus bewachte, in dem er wohnte, dünkte die Knaben aufregend sonderbar, und sie belästigten ihn mit den albernsten Fragen. Seine Schweigsamkeit wurde natürlich ganz falsch gedeutet, und wenn er von selbst unbefangen das Wort an sie richtete, wichen sie entweder scheu zurück oder höhnten ihn, denn er war in ihren Augen nichts weiter als ein großer dummer Teufel, der, fast doppelt so alt wie sie, noch in den Anfangsgründen der Wissenschaft steckte. Es kam häufig vor, daß er während des Unterrichts aufstand und eine seiner kindischen Fragen stellte; da brach dann die ganze Klasse in Gelächter aus, und der Lehrer lachte mit. Einmal, während eines gewaltigen Sturmwinds, der draußen heulte, verließ er seinen Platz und flüchtete in die Ofenecke; da kannte das Vergnügen der andern keine Grenze, und als ihn der dicke Lehrer hervorzog und zu den Bänken schob, begleiteten sie den Vorgang mit einer wahren Katzenmusik.

Am eigentümlichsten war es aber anzusehen, wenn er auf dem Nachhauseweg mitten unter der Knabenschar ging, still, verschlossen und sorgenvoll unter den Lärmenden und Unbekümmerten, männlich unter den Halbwüchslingen – und ihm zur Seite beständig der Wächter des Gesetzes.

Sehr häufig sprach Daumer vor, um bei den Kollegen Auskunft über Caspar einzuholen. »Ach«, hieß es da, »er hat freilich den besten Willen, aber leider nur einen mittelmäßigen Kopf. Er erweist sich anstellig, aber es bleibt nicht viel haften. Wir können ihn nicht tadeln, aber zu loben ist auch nichts.«

Daumer war gekränkt. Ihr könnt nicht tadeln, ihr Herren, ei, und tadelt doch, dachte er; Tadel ist leicht, besonders wenn er den Tadler lobt, wie es sein Merkmal ist. Er wandte sich an den Magistratsrat und suchte ihm eine Lobpreisung auf Caspar förmlich abzulisten, aber Herr Behold war kein Freund von offenen Meinungen. Er war ein einschichtig lebender Mensch, der seine Tage in einem düstern Kontor am Zwinger verbrachte, und wer von ihm etwas haben wollte, erhielt gewöhnlich die Antwort: »Da müssen Sie sich an meine Frau wenden.«

Daumer glich fast einem unglücklichen Liebhaber darin, wie er jetzt achtsam und bekümmert den Wegen seines früheren Pfleglings folgte, wobei er aber gern vermied, Caspar zu sehen und zu sprechen. Mit großem Mißtrauen verfolgte er insgeheim das Tun und Treiben der Frau Behold, und er zerbrach sich den Kopf darüber, weshalb diese so gierig getrachtet hatte, den Jüngling in ihre Nähe zu bekommen. »Was willst du«, meinte Anna, die ebensoviel gesunden Menschenverstand besaß wie ihr Bruder phantastischen Pessimismus, »es ist ja ganz klar, sie braucht eine Spielpuppe, eine Unterhaltung für ihren Salon.«

»Eine Spielpuppe? Sie hat doch ein Kind, und sie vernachlässigt sogar dieses Kind, wie man hört.«

»Freilich; aber daran ist nichts Merkwürdiges, ein Kind zu haben wie alle andern Leute; es muß etwas sein, wovon man redet, was Interessantes muß es sein; man kann dabei die große Dame spielen und liest hie und da den eignen Namen in der Zeitung. Auch gilt man nebenher für eine Wohltäterin, der Herr Gemahl kann einen hohen Orden bekommen, und was die Hauptsache ist, man vertreibt sich die Langeweile. Die Person kenn ich, als ob ich's selber wäre. Der Caspar tut mir leid.«

Frau Behold war immer unterwegs und eigentlich nur zu Hause, wenn sie Gäste hatte. Sie mußte immer Menschen sehen, sie liebte wohlgekleidete, gutgelaunte Menschen, Männer mit Titeln und Frauen von Rang, liebte Feste, Schmuck und prächtige Gewänder. Man hätte sie eine joviale Natur nennen dürfen, wenn der Ehrgeiz sie nicht so unruhig gemacht hätte; sie wäre bisweilen behäbig, ja gemütlich erschienen ohne eine gewisse ziellose Neugierde, von der sie bis ins Innerste, bis in den Schlaf der Nächte behaftet war. Sie hatte eine Unmasse französischer Romane verschlungen und war dadurch empfindsam und abenteuerlustig geworden, und das gute Teil Phlegma, das ihrem Temperament beigemischt war, machte diese Eigenschaften nur um so hintergründiger. Wer sie so nahm, wie sie sich gab, war im voraus betrogen.

Was Caspar betrifft, so sah sie ihn zunächst bloß humoristisch und am meisten dann, wenn er ernst und nachdenklich war. »Nein, was er heute wieder Komisches gesagt hat«, war ihre beständige Phrase. Es hatte oft den Anschein, als habe sie einen kleinen Hofnarren in Dienst genommen. »Also, mein liebes Mondkälbchen, sprich«, forderte sie ihn vor den Gästen auf. Wenn sie ihn gar eifrig beflissen sah, lateinische Vokabeln auswendig zu lernen, lachte sie aus vollem Hals. »Wie gelehrt, wie gelehrt!« rief sie und fuhr ihm mit der Hand wüst durch das Lockenhaar. »Laß es sein, laß es sein«, tröstete sie ihn, wenn er über die Schwierigkeit einer Rechnung klagte, »bringst's ja doch zu nichts, ist genauso, wie wenn ich seiltanzen wollte.«

Indes erregte er auf andre Weise bald eine wunderliche Neugierde in ihr. Eines Morgens kam sie dazu, als er in der Küche stand und Zeuge war, wie der Metzgerbursche das rohe und noch blutige Fleisch aus dem Korb nahm und auf die Anrichte legte. Eine unendliche Wehmut malte sich in Caspars Zügen, er wich zurück, zitterte und war keines Lautes fähig, dann floh er mit bedrängten Schritten. Frau Behold war betroffen und wollte ihrer Rührung nicht nachgeben. Was ist das? dachte sie; er verstellt sich wohl; was ist ihm das Blut der Tiere?

Um ihm gefällig zu sein, tat sie mehr, als ihre Bequemlichkeit ihr sonst verstattet hätte. Trotzdem schien er sich nicht wohl im Haus zu fühlen. »Sapperment, was ist dir übers Leberlein gekrochen?« fuhr sie ihn an, wenn sie ein trauriges Gesicht an ihm bemerkte. »Wenn du nicht lustig bist, führ ich dich in die Schlachtbank, und du mußt zuschauen, wie man den Kälbern den Hals abschneidet«, drohte sie ihm einmal und wollte sich ausschütten vor Lachen über die Miene des Entsetzens, die er darüber zeigte.

Nein, Caspar fühlte sich keinesfalls wohl. Frau Behold war ihm ganz und gar unverständlich, ihr Blick, ihre Rede, ihr Gehaben, alles das stieß ihn aufs äußerste ab. Es kostete ihn nicht wenig Kunst und Nachdenken, um seinen Widerwillen nicht merken zu lassen, gleichwohl war er krank und elend, wenn er nur eine Stunde mit Frau Behold verbracht hatte. Es fehlte ihm dann jegliche Arbeitslust, und die Schule zu besuchen, die ihm ohnehin verhaßt war, unterließ er ganz. Die Lehrer beschwerten sich beim Magistrat; Herr von Tucher, der jetzt wieder in der Stadt weilte und der vom Gericht zu Caspars Vormund ernannt worden war, stellte ihn zur Rede. Caspar wollte nicht mit der Sprache heraus, ein Betragen, das Herr von Tucher als Verstocktheit auffaßte und das ihm zu schlimmen Befürchtungen Anlaß bot.

Und da war noch eines, was Caspar zu denken gab. Manchmal begegnete ihm auf der Stiege oder im Flur oder in einem entlegenen Zimmer Frau Beholds Tochter, ein Mädchen, halb erwachsen und bleich von Gesicht. Ihre Augen waren feindselig auf ihn gerichtet. Wenn er sie anreden wollte, lief sie davon. Einmal schaute er von der Galerie in den Hof und sah sie am Brunnen stehen, hinter dessen eisernem Rohr ein Brett weggeschoben war, so daß der Blick in die Tiefe offen lag. Das Mädchen stand unbeweglich und starrte mindestens eine Viertelstunde lang in das schwarze Loch. Caspar verließ leise die Galerie und schlich hinunter; er betrat jedoch kaum den Hof, so flüchtete das Mädchen mit bösem Gesicht an ihm vorüber. Als Caspar ihr zaudernd folgte, begegnete ihm der Rat, und Caspar erzählte voll Eifer, was er mit angeschaut. Herr Behold zog die Stirn kraus und sagte beschwichtigend: »Ja, ja, gewiß; das Kind ist nicht gesund. Kümmer Er sich nicht darum, Caspar, kümmer Er sich nicht darum.«

Caspar kümmerte sich aber doch darum. Er fragte die Mägde, was mit dem Kind sei, und eine von ihnen erwiderte bissig: »Sie kriegt nichts zu essen, der Findling frißt ihr alles weg!« Darauf eilte er spornstreichs zu Frau Behold, wiederholte ihr die Worte der Magd und fragte, ob das wahr sei. Frau Behold bekam einen Wutanfall und jagte die Magd auf der Stelle davon. Als jedoch Caspar sie auch dann noch in seiner ungeschickten und altklugen Weise ermahnte, daß sie mehr auf ihre Tochter achten möge als auf ihn und daß er sonst fortgehen werde, schnitt sie ihm das Wort ab und verwies ihm den Vorwitz. »Wie willst du denn fortgehen?« fuhr sie auf. »Wohin denn? Wo bist du denn daheim, wenn man fragen darf?«

Es entstand jetzt in Frau Behold die Meinung, daß Caspar in ihre Tochter verliebt sei. Sie legte es darauf an, ihn über den Punkt auszuholen. Auf ihre Fragen antwortete er jedoch so blöde, daß sie sich beinahe ihres Verdachts geschämt hätte. »Grand Dieu«, sagte sie laut vor sich hin, »mir scheint, der Einfaltspinsel weiß nicht einmal, was Liebe ist!« Ja, noch mehr, sie spürte, daß er sich nicht einmal im entferntesten einen Gedanken darüber machte. Das war der guten Dame doch überaus seltsam, ihr, deren Begierden und Gelüste immer im trüben Gewässer halb romanhafter, halb schlüpfriger Leidenschaften plätscherten, so tugendhaft sie auch vor ihren Mitbürgern sich halten mußte.

Er ist doch aus Fleisch und Blut, kalkulierte sie, und wenn schon der närrische Daumer in allen Tönen von seiner Engelsunschuld schwärmt, als erwachsener Mensch weiß man, was der Hahn mit den Hühnern treibt. Er heuchelt, er hält mich zum besten; warte, Kerl, ich will dir den Gaumen trocken machen.

Auf dem Markt, zur Rechten vor dem Beholdschen Haus, stand der sogenannte Schöne Brunnen, ein Meisterwerk mittelalterlich Nürnberger Kunst. Seit grauen Zeiten erzählte man den Kindern, daß der Storch die Neugeborenen aus der Tiefe des Brunnens hole. Frau Behold fragte Caspar, ob er davon vernommen habe, und als er verneinte, sah sie ihn mit schlauem Augenzwinkern an und wollte wissen, ob er daran glaube. »Ich seh nur nicht, wo der Storch da hinunterfliegen kann«, antwortete er harmlos, »es ist ja alles mit Gittern vermacht.«

Frau Behold staunte. »Ei du Tropf!« rief sie aus, »schau mich einmal aufrichtig an!«

Er schaute sie an. Da mußte sie die Augen senken. Und plötzlich erhob sie sich, eilte zur Kredenz, riß eine Lade auf, schenkte sich ein Glas Wein voll und trank es auf einen Zug leer. Sodann ging sie ans Fenster, faltete die Hände und murmelte mit einem Ausdruck von Stumpfsinn: »Jesus Christus, bewahre mich vor Sünde und führe mich nicht in Versuchung.«

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß sie sonst eine höchst aufgeklärte Dame war, die sich das ganze Jahr nicht in der Kirche sehen ließ.

Es war schon Mitte August, und große Hitze herrschte. An einem Sonntag veranstaltete der Bürgermeister ein Waldfest im Schmausenbuk; Caspar war am Morgen mit dem Stallmeister Rumpler und einigen jungen Leuten bis Buch geritten und war so müde, daß er nach Tisch in seinem Zimmer einschlief. Frau Behold weckte ihn selbst und hieß ihn sich ankleiden, da der Wagen warte, der sie zum Festplatz bringen sollte. Auf Caspars Frage, ob noch wer mitgehe, erwiderte sie, zwei Knaben führen mit hinaus, die Söhne des Generals Hartung. Da sagte Caspar enttäuscht, er wünsche, daß Frau Behold ihre Tochter mitgehen lasse, denn die werde sich grämen, wenn sie zu Hause bleiben müsse. Frau Behold stutzte und wollte zornig werden, nahm sich aber zusammen. Sie beugte sich vor, ergriff mit der Hand ein Bündel Locken auf Caspars Kopf und sagte boshaft: »Ich schneide dir die Haare ab, wenn du wieder davon anfängst.«

Caspar entwand sich ihr. »Nicht so nahe«, flehte er mit aufgerissenen Augen, »und nicht schneiden, bitte!«

»Hab ich dich!« drohte Frau Behold, gezwungen scherzend. »Hab ich dich, furchtsames Menschlein? Noch ein Widerpart, und ich komme mit der Schere!«

Während der Fahrt blieb Caspar schweigsam. Die beiden Knaben, die vierzehn und fünfzehn Jahre alt waren, neckten ihn und suchten etwas aus ihm herauszulocken, da sie stets wie über eine Art Wundertier über ihn sprechen gehört hatten. Nach Schuljungengewohnheit fingen sie an, prahlerische Reden zu führen, als ob es keine gelehrteren und scharfsinnigeren Menschen gäbe. Weit auf der Landstraße draußen rief der eine, er höre schon die Musik aus dem Wald, da entgegnete Caspar, ärgerlich über das Wesen, das die beiden von sich machten, das wundre ihn, er höre nichts, dagegen sehe er auf einer hohen Stange fern über den Bäumen eine kleine Fahne. »O die Fahne«, meinten jene geringschätzig, »die sehen wir schon lang!« Auch hierüber wunderte sich Caspar, denn er hatte sie erst im Augenblick wahrgenommen, ein schmales Streifchen, das nur im Wehen des Windes sichtbar war.

»Gut«, sagte er, »wenn sie wieder weht, will ich euch fragen, ob ihr es bemerkt.« Er wartete eine Weile und stellte dann, während die Fahne ruhig war, die irreführende Frage: »Also, weht sie jetzt oder nicht?«

»Sie weht!« antworteten die Knaben wie aus einem Mund. Doch Caspar versetzte ruhig: »Ich sehe daraus, daß ihr nichts seht.«

»Oho!« riefen jene, »dann lügst du!«

»So sagt mir doch«, fuhr Caspar unbekümmert fort, »was für eine Farbe sie hat.«

Die Knaben schwiegen und guckten, dann riet der eine ziemlich kleinlaut: »Rot«, der andre, etwas kühner: »Blau.« Caspar schüttelte den Kopf und wiederholte: »Ich sehe, daß ihr nichts seht: weiß und grün ist sie.«

Daran war schwer zu mäkeln, eine Viertelstunde später konnten sich alle von der Wahrheit überzeugen. Aber die Knaben blickten Caspar voll Haß ins Gesicht; sie hätten gern vor Frau Behold geglänzt, die die ganze Unterhaltung wortlos mit angehört hatte.

Caspars Gegenwart beim Fest zog, wie immer, eine Anzahl Gaffer herbei. Darunter waren einige Bekannte, junge Leute, die sich seiner annehmen zu sollen glaubten und ihn Frau Behold unerachtet ihres Widerspruchs entrissen. Es war anfangs nur eine kleine Gesellschaft, die sich aber allgemach vergrößerte und, indem einer den andern anfeuerte, lauter Tollheiten beging. Sie warfen Tische und Bänke um, schreckten die Mädchen, kauften die Krämerbuden leer, verübten ein wüstes Geschrei und stellten sich dabei an, als ob Caspar ihr Gebieter sei und sie kommandiere. Das Treiben wurde immer ausgelassener; als es Abend geworden war, rissen sie die Lampions von den Bäumen und zwangen ein paar Musikanten, ihnen vorauszuziehen, um den Tumult mit ihren Trompeten zu begleiten. Zwei junge Kaufleute hoben Caspar auf ihre Schultern, und er, dem schon Hören und Sehen verging, wünschte sich weit weg und kauerte mit dem unglücklichsten Gesicht von der Welt auf seinem lebendigen Sitz.

Unter Gesang und Gelächter kam die entfesselte Schar vor die Estrade, wo der Tanz begonnen hatte; hier konnte sie nicht weiter, die angesammelte Menge versperrte den Weg nach rückwärts und seitwärts. Plötzlich sah Caspar ganz nahe die beiden Knaben, die in Frau Beholds Kutsche mitgefahren waren; sie standen auf der Treppe zum Tanzpodium und trugen einen langen Baumzweig mit einem weißen Pappendeckel an der Spitze, worauf in großen Lettern die Worte gemalt waren: »Hier ist zu sehen Seine Majestät Casperle, König von Schwindelheim.« Sie hielten die Tafel so, daß die Aufschrift Caspar zugekehrt war, auch alle Umstehenden gewahrten sie alsbald, und es erhob sich ein schallendes Gelächter. Die Trompeter gaben einen Tusch, und der Zug setzte sich wieder, am Wirtshaus vorbei, gegen den illuminierten Wald in Bewegung.

Caspar rief, man solle ihn herunterlassen, aber niemand achtete darauf. Nun zog er mit der einen Hand am Ohr des einen, mit der andern an den Haaren des zweiten seiner Träger. »Au, was zwickst du mich!« schrie dieser, und der andre: »Au, mich zebelt er!« Wütend traten sie beiseite, wodurch Caspar herunterglitt. Die beiden Schildträger standen vor ihm und grinsten höhnisch. »Wir haben auch ein Fähnlein für dich«, sagte der ältere, »sieh mal zu, ob es weht.« Im selben Augenblick schraken sie zusammen, denn eine gebieterische Stimme schrie dröhnend ihren Namen. Es war der Vater der beiden, der General, der mit einigen andern Herren und mit Frau Behold in geringer Entfernung an einem abseits stehenden Tisch saß. Diese alle erhoben sich, denn am Himmel waren schwere Wolken aufgezogen, und man hörte schon den Donner grollen.

Frau Behold empfing Caspar mit den Worten: »Du machst ja schöne Streiche, schämst dich nicht? Allons! Wir fahren heim.« Mit überlautem Wesen verabschiedete sie sich von den Herren und eilte zum Ausgang des Festplatzes, wo sie mit kreischender Stimme ihren Kutscher rief. »Setz dich!« herrschte sie Caspar an, als sie den Wagen erreicht hatten. Sie selbst stieg zum Kutscher auf den Bock, ergriff die Zügel, und nun begann ein tolles Fahren, erst durch den Wald, dann die staubschäumende Chaussee entlang. Sie trieb die Tiere an, daß sie nur so hüpften und von jedem Kieselstein, den ihr Huf traf, Funken spritzten. Kein Stern war zu sehen, die Landschaft breitete sich düster hin, häufig zuckten Blitze auf, und der Donner rollte näher.

In wenig mehr denn einer halben Stunde waren sie in der Stadt, und als die Pferde am Marktplatz hielten, dampfte der Schweiß von ihren Flanken. Frau Behold sperrte das Haustor auf und ließ Caspar vorangehen. Er tastete sich in der Dunkelheit bis zu seiner Zimmertür, doch die Frau ergriff ihn am Arm, zog ihn weiter und trat mit ihm in den sogenannten grünen Salon, einen großen Raum, wo die Fenster geschlossen waren und eine muffige Luft herrschte. Frau Behold zündete eine Kerze an, warf Hut und Mantille auf das Sofa und setzte sich in einen Ledersessel. Sie summte leise vor sich hin, plötzlich unterbrach sie sich und sagte in derselben singenden Weise: »Komm einmal her zu mir, du unschuldiger Sünder.«

Caspar gehorchte.

»Knie nieder!« gebot die Frau.

Zögernd kniete er auf den Boden und sah Frau Behold ängstlich an.

Wie am Nachmittag näherte sie wieder ihr Gesicht dem seinen. Ihr schmales, langes Kinn zitterte ein wenig, und ihre Augen lachten sonderbar. »Was sträubst du dich denn so?« gurrte sie, da er den Kopf zurückbäumte. »Ma foi, er sträubt sich, der Jüngling! Hast wohl noch kein lebendiges Fleisch gerochen? He, du Strick, wer's glaubt! Was Teufel, fürchtest dich am Ende? Hab ich dir nicht die besten Bissen auftragen lassen? Hab ich dir nicht gestern erst eine schöne Amsel geschenkt? Ich hab ein gutes Herz, Caspar, da horch, wie's schlägt, wie's tickt …«

Mit großer Kraft zog sie seinen Kopf gegen ihre Brust. Er dachte, sie wolle ihm ein Leids tun, und schrie, da drückte sie die Lippen auf seinen Mund. Ihm wurde eiskalt vor Grauen, sein Körper sank zusammen, wie wenn die Knochen aus den Gelenken gelöst wären, und als Frau Behold dieser jähen Erschlaffung inne ward, erschrak sie und sprang auf. Ihr Haar hatte sich gelockert, und ein dicker Zopf lag wie eine Schlange auf der Schulter. Caspar hockte auf dem Boden, krampfhaft umklammerte seine Linke die Rücklehne. Frau Behold beugte sich noch einmal zu ihm und schnupperte seltsam, denn sie liebte den Geruch seines Leibes, der sie an Honig erinnerte. Aber kaum spürte Caspar ihre abermalige Nähe, als er emportaumelte und ans andre Ende des Zimmers floh. Die Seite gegen die Tür geschmiegt, den Kopf vorgeduckt, die Arme halb ausgestreckt, so blieb er stehen.

Die ferne Ahnung von etwas Ungeheuerm dämmerte in ihm auf. Kein jemals gehörtes Wort gab einen Hinweis, doch er ahnte es, wie man auf eine Feuersbrunst, die hinter den Bergen wütet, aus der Röte des Himmels schließt. Schändlich war ihm zumut, insgeheim fühlte er sich an, ob er denn auch seine Kleider am Körper trüge, und dann schaute er auf seine Hände nieder, ob sie nicht voll Schmutz seien. Er schämte sich, er schämte sich, vor den Wänden, vor dem Sessel, vor der brennenden Kerze schämte er sich; er wünschte, die Tür möchte von selber sich öffnen, damit er unhörbar verschwinden könnte.

Es war wie das entsetzliche Aufleuchten von Augen, als ein rosiger Blitzstrahl ins Zimmer fuhr; der Donner folgte wie ein enormer Schrei. Caspar drückte die Schultern zusammen und fing an zu zittern.

Mittlerweile ging Frau Behold mit wahren Mannesschritten auf und ab, lachte ein paarmal kurz vor sich hin, plötzlich ergriff sie die Kerze und trat auf Caspar zu. »Du Aas, du verdorbenes, was hast du denn geglaubt«, sagte sie erbittert, »glaubst du vielleicht, mir liegt etwas an dir? Ja, einen alten Stiefel! Mach, daß du weiterkommst, und untersteh dich nicht, darüber zu sprechen, sonst massakrier ich dich!«

Sie lachte dabei, als sollte es im Grunde doch nur Scherz sein, aber Caspar erschien sie übergroß, ihr schwarzer Schatten erfüllte den ganzen Raum, außer sich vor Furcht, rannte er hinaus, die Frau hinter ihm her, er, die Treppe hinab zum Tor, rüttelte an der Klinke; es war zugesperrt. Er hörte draußen den Regen aufs Pflaster prasseln, zugleich vernahm er hastig trippelnde Schritte, ein Schlüssel drehte sich im Schloß, und der Magistratsrat erschien auf der Schwelle. Die unaufhörlichen Blitze beleuchteten Caspars schlotternde Gestalt, und das Donnergeschmetter verschlang die Fragen des bestürzten Mannes.

Oben an der Stiege stand Frau Behold, der nahe Kerzenschein durchfurchte ihr Gesicht mit verwildernden Lichtern, und ihre Stimme übertönte den Donner, als sie ihrem Manne zuschrie: »Er hat sich betrunken, der Kerl! Auf dem Schmausenbuk haben sie ihn betrunken gemacht! Laß Er sich heute nur nicht mehr blicken! Marsch, ins Bett mit ihm!«

Der Magistratsrat schloß das Tor und klappte den triefenden Parapluie zu. »Nun, nun … aber, aber«, machte er, »so schlimm wird's doch nicht gleich sein.«

Frau Behold antwortete nicht. Sie schlug eine Tür zu, dann war es still und finster.

»Komm Er nur mit, Caspar«, sagte der Rat, »wir wollen mal Licht anzünden und nachsehen, was es denn da gibt. Reich Er mir den Arm, so.« Er geleitete Caspar in dessen Zimmer, machte Licht und murmelte fortwährend kleine, beschwichtigende Sätzchen vor sich hin. Dann beroch er Caspars Atem, um zu sehen, ob er wirklich getrunken habe, schüttelte den Kopf und meinte verwundert: »Nichts dergleichen. Die Rätin ist da sicherlich im Irrtum. Aber mach Er sich nichts draus, Caspar, empfehl Er Seine Sache dem Herrn, und es wird wohl enden. Gute Nacht!«

Als Caspar allein war, irrte sein scheues Auge von Blitz zu Blitz. Bei jedem Aufflammen hatte er unter den Lidern Schmerzen wie von Nadelstichen, bei jedem Donnerschlag war ihm, als ob alles in seinem Leibe locker sei. Hände und Füße waren ihm eiskalt. Er wagte sich nicht ins Bett zu begeben, sondern blieb wie angewurzelt stehen, wo er stand. Er erinnerte sich mit Grauen des ersten Gewitters, das er im Turm auf der Burg erlebt hatte. Er war in einen Mauerwinkel gekrochen, und die Frau des Wärters war gekommen, ihn zu trösten. Sie sagte: »Man darf nicht hinausgehen, es ist ein großer Mann draußen, der zankt.« Immer wenn es donnerte, bückte er sich ganz zur Erde, und die Frau sagte: »Hab keine Angst, Caspar, ich bleib bei dir.«

Auch jetzt war es ihm, als sei ein großer Mann draußen, der zankte. Aber es war niemand da, um ihn zu trösten. Die Amsel, die in einem Käfig beim Fenster geduckt auf dem Holzstäbchen hockte, ließ bisweilen piepsende kleine Laute hören. Er hätte sie schon längst freigelassen, weil ihn das Tier erbarmte, doch fürchtete er Frau Beholds Zorn.

Als das Gewitter im Wegziehen war, entledigte er sich schnell der Kleider, kroch ins Bett und deckte sich bis zur Stirn hinauf zu, um das Blitzen nicht sehen zu müssen. In der Eile vergaß er sogar, die Türe abzuriegeln, und dieser Umstand hatte ein gar sonderbares Geschehnis zur Folge.

Am Morgen beim Aufwachen spürte er einen durchdringenden Geruch. Ja, es roch nach Blut im Zimmer. Schaudernd blickte er sich um, und das erste, was er sah, war, daß der Vogelbauer am Fenster leer war. Caspar suchte nach dem Tierchen und gewahrte, daß die Amsel auf dem Tisch lag, tot, mit ausgebreiteten Flügeln, in einem Blutgerinnsel. Und daneben, auf einem weißen Teller, lag das blutige kleine Herz.

Was mochte dies bedeuten? Caspar verzog das Gesicht, und sein Mund zuckte wie bei einem Kind, bevor es weint. Er kleidete sich an, um in die Küche zu gehen und die Leute zu fragen, doch als er das Zimmer verließ, erschrak er, denn Frau Behold stand im Flur neben der Tür. Sie hatte einen Kehrbesen in der Hand und sah unordentlich aus. Caspar schaute in ihr fahles Gesicht, er sah sie lange an, fast so matt und bewegt, wie er den toten Vogel angesehen.


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