Jakob Wassermann
Alexander in Babylon
Jakob Wassermann

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Erstes Kapitel

Das Diadem

Es war in Susa zu Anfang des Frühlings. Vor drei Tagen war das Heer aus der hohlen Persis angekommen. In Persepolis hatte Alexander ein fürchterliches Strafgericht abgehalten. Statthalter, Richter, Generale, Steuerverwalter, die meisten, denen er Vertrauen geschenkt, hatten seine lange Abwesenheit in Indien zu schändlichen Erpressungen und Vergewaltigungen benutzt. Alexander hatte die Betrüger, Empörer, Tempelräuber und Städteaussauger zusammentreiben lassen, Griechen, Makedonier und Barbaren, und die verbrecherischen Häupter fielen durchs Schwert. Noch zuletzt war die Schändung des Kyrosgrabes zu Pasargadä entdeckt worden. Die goldenen Gefäße, die Weihgeschenke, das Diadem von unermeßlichem Wert waren gestohlen, die wachehaltenden Magier erschlagen und ihre Leichname zerfetzt worden. Der Übeltäter befand sich noch unentdeckt mitten im Heer.

Vom Morgengrauen bis Mitternacht waren die Straßen von einer vielköpfigen Menge erfüllt. Makedonier, Thessaler, Griechen, Thraker, Lyder drängten sich um die Basare und zum Markt der phönikischen Kaufleute; Sterndeuter, Wahrsager, Ärzte, Hetären, Sklaven, Verschnittene, Schauspieler, Sophisten, indische Gaukler, syrische Tänzer, Athleten und Faustkämpfer vermehrten das unabsehbare Gewühl, die bunten Farben, die befremdlichen Gesichter und unverständlichen Laute. In den Toren der Stadtmauer hockten die vornehmen Susaner und unterhielten sich von den bevorstehenden großen Hochzeitsfeierlichkeiten, denn Alexander wollte sich mit der Prinzessin Stateira und seine Freunde mit den edelsten Perserinnen vermählen.

Oben in der großen Säulenhalle des Palastes lagerte ein Teil der königlichen Edelscharen. Faul und wohlgelaunt waren sie zu Hunderten auf Felle, Mäntel und gestickte Decken hingestreckt, und die gewaltige Halle erbrauste von ihren Gesprächen. Die Lanzen standen in Gestellen um die Säulen; die Erzhelme, blitzend wie Glas in der hereinfallenden Abendröte, lagen ohne Ordnung auf den marmornen Fliesen zwischen Trinkschalen, Amphoren, persischen Emailgefäßen und mit Früchten und Kuchen beladenen Dreifüßen. Unter dem Zederholzgebälk des Daches herrschte schon tiefes Dunkel, und es war, als ob sich der Abend von dort aus herniedersenkte über die wunderlichen Säulenkapitelle aus doppelten, großgehörnten Stierköpfen und herabglitte über die zarten Lotosornamente der Seitenmauern, über das Bild Auramazdas im geflügelten Ring und die halberhabene Steinfigur eines Königs. Geisterhaft belebt war diese Figur; im engen medischen Gewand, die Tiara auf dem Haupt, in der rechten Hand das Zepter, in der linken Hand eine Blüte, schien sie sich langsam und traurig aus der Schar der Fremdlinge zu entfernen.

Die Siesta der Truppe wurde durch einen tumultartigen Lärm gestört, der von der Terrasse heraufdrang. Fünfzehn bis zwanzig Makedonier drängten sich um einen einzelnen Menschen und zerrten ihn unter Drohungen und Verwünschungen die Treppe empor. Von einer lagernden Gruppe erhob sich der Tetrarch Phason und ging auf den Knäuel zu. Mit schallender Stimme gebot er Ruhe. Ein Söldner berichtete atemlos, sie hätten drüben in den Höfen einen Menschen aufgegriffen, einen Makedonier aus der Schar der Gezeichneten, namens Promachos. Er gebe vor, aus Ekbatana zu kommen, und erzähle, dreißigtausend junge Perser seien unterwegs, in makedonische Rüstung eingekleidet und in allen Übungen der Phalanx geschult.

»An dieser Lüge sollen seine ungeborenen Kinder ersticken!« schrie Phason wütend. »Zeigt mir den Kerl.«

Der Ring der Söldner öffnete sich murrend. Phason gewahrte einen jungen Menschen mit verstörten Zügen, dessen Oberkleid von gewalttätigen Händen zerfetzt war. »Nun, Promachos«, höhnte Phason, »hat man dich vielleicht unter die Gezeichneten gegeben, weil du immer die Wahrheit geliebt hast? Oder hast du deine Zunge schon früher in den Kot gesteckt?«

»Es ist, wie ich sage«, stammelte Promachos und erhob beschwörend den Arm. Unter dem glühenden Blick Phasons schlug er trotzig die Augen nieder, wich gegen eine Säule zurück, an die er, um sich zu decken, mit dem Rücken lehnte, und rief laut: »Dreißigtausend Perser, ganz wie ihr und ich gerüstet, haben vor fünf Tagen Ekbatana verlassen! Das ist so wahr, wie dort das Hundsgestirn zu leuchten anfängt!« Er deutete gegen den Himmel hinauf und wandte sich dann zu Phason. »Hüte dich, Pelläer«, sagte er finster. »Auch dir wird man Honig ins Gesicht schmieren und dich in die Sonne legen, wenn man deiner Dienste überdrüssig ist. Jetzt gilt Barbarensitte. Nur wer den Boden geküßt hat, darf aufrecht stehen.«

Mit der Wohlgelauntheit war es aus. Murmelnd hatten sich die Söldner erhoben. Ungeduld, Angst und Haß übten ihr schweigendes Spiel auf den weinerhitzten Gesichtern. Wollte Alexander sie den Barbaren preisgeben? Vertraute er ihnen nicht oder standen Dinge bevor, bei denen er sie zu fürchten hatte? Manche hängten schon mit drohenden Mienen das Schwert um die Schulter. Sie standen in der dunkelnden Röte des Abends wie mit Blut übergossen.

Phason erkannte die Größe der Gefahr. Er hatte schon manchmal dies dumpfe Grollen des Aufruhrs vernommen. Mit Worten war wenig auszurichten. »Glaubt ihr denn«, rief er mit seiner weittönenden Stimme, die in vielen Schlachten das Zittern der Feinde verursacht hatte, »daß Alexander den Verrat seines schlechtesten Soldaten abgewartet hätte, wenn er selbst Verrat begehen wollte? Eher wird das erythräische Meer nach Susa kommen, als daß Alexander uns verrät.«

»Und es ist doch Wahrheit«, entgegnete Promachos schreiend, bleich bis in die Augensterne.

Mit rasender Geschwindigkeit riß Phason das Schwert aus der gebuckelten Scheide und stieß es dem Promachos mit solcher Gewalt durch den Hals, daß die Spitze, neben dem Nackenwirbel herausfahrend, in der Marmorkanellierung der Säule schrill klirrend abbrach. Ein dicker Blutstrahl schoß im Bogen empor und bespritzte die Umstehenden. Promachos fiel um, gurgelnd, als ob sein Mund voll Wasser wäre. Er fuchtelte mit den Armen haltsuchend durch die Luft und wälzte sich röchelnd von einer Seite auf die andere; dann krallte er, wie um Luft zu bekommen, seine Finger in den Linnenpanzer über der Brust, und so entsetzlich war seine Anstrengung, daß er das Gewand zu durchreißen vermochte. Von niemand beachtet, fiel ein schimmernder Gegenstand auf den Stein des Fußbodens, mitten in die Blutlache. Die Hand des Sterbenden tastete danach, bis sie mit dem übrigen Körper erstarrte.

Die Röte des Abendhimmels begann unter dem Andringen großer Wolken zu ersticken. Aus der Tiefe der Halle, dem Verbindungsgang zum Palast, kamen Sklaven mit Fackeln; sie steckten die ehernen Schäfte in die Halter an den Säulen. Ein Söldner, der an der Leiche des Promachos stand, hob das blitzende und blutbesudelte Ding auf, das dem Getöteten entfallen war. Überrascht wollte er es den andern zeigen, als der Magier Osthanes, der hier in der Halle Alexander erwartete, neben ihn trat und ihm mit großer Erregung den Gegenstand entriß.

»Das Diadem!« rief er aus.

Eilig drängten sich die Söldner heran.

»Der Schuldige hat seine Schuld gebüßt«, sagte der Priester, auf die Leiche weisend. »Aber nichts vermag den Achämenidenkönig zu versöhnen; todbringend muß sein Diadem von Haupt zu Haupt wandern.«

Die Söldner erschienen sich den rachsüchtigen Göttern der Barbaren rettungslos preisgegeben. Furchtsam betrachteten sie den Magier. Osthanes genoß den Triumph, der in dem Schweigen um ihn her lag. In seinem langen Gesicht hing ein Bart schwarz wie Pech und glänzend wie Seide. Durchbohrende Augen leuchteten durch die struppigen Brauen wie glühende Kohlen durch die Stangen eines Feuerrostes. Seine Gesichtsfarbe war das dunkelste Braun, seine Zähne waren weiß wie das Fleisch der Mandel. Nie hat er gelächelt, niemals kann er lachen, kein grauenhafteres Wesen war zu denken, wie er so im Fackellicht stand, die Baresmastäbe in der Hand, die heilige Schnur um den Nacken, die hohe Tiara auf dem Kopf. Die Söldner waren so betäubt, daß sie nicht einmal Alexander bemerkten, der mit Hephästion und Eumenes in die Halle getreten war. Ihre Blicke waren ganz von dem Diadem gefesselt, das der Magier vor sich hielt und mit düsterem Ausdruck besah.

Auf goldenem, eirundem Grund zwischen zwei goldenen Bändern waren vierundzwanzig Diamanten von blendendem Feuer befestigt. Diese waren umgeben von einem dichten, dreifach geschlungenen Kranz von Smaragden und Rubinen, und um diese wieder lief ein Saum von Kornalin, auf dem zwölf Stiere in schreitender Stellung eingraviert waren, in ihrer Mitte das Symbol des Lebens. Den oberen Rand krönte ein kunstvoller Strauß birnenförmiger Perlen, jede so groß wie ein Schwalbenei. Es hieß, diese Perlen seien die erstarrten Tränen der Göttin Anahita, die sie um den Helden Rüstern geweint.

Der Magier schritt vor Alexander hin, warf sich nieder und berührte mit der Stirn den Boden. Alexander und Hephästion trugen beide das unscheinbare makedonische Gewand; Hephästion war viel größer von Gestalt, aber Alexanders Gesicht und Kopf waren von so mächtigen Formen, daß er dadurch alle zu überragen schien. Seine Augen schweiften über die versammelten Edelscharen, als wollten sie den allertiefsten Grund jeder Brust kennenlernen. Die Söldner zitterten vor diesem Blick, die Glieder zitterten ihnen, wenn er sie so anschaute, trotzdem seine Züge ruhig, ja sogar freundlich waren.

»Nie möge dein Schatten sich mindern, Herr«, sagte der Magier, indem er aufstand. »Haoma schütze dich, das schönste Wesen vor den Augen Zarathustras. Der Räuber des geweihten Grabes ist entdeckt.« Er hielt das Diadem empor. Alexander nahm es aus seiner Hand und betrachtete es in tiefem Staunen.

»Wirf es weg, Alexander!« rief auf einmal eine Stimme. »Der Magier weissagt den Tod aus seinem Besitz.«

»Es ist wahr«, sagte der Magier ernst, »ehe siebenmal der Mond sich erneut, muß der sterben, der das Diadem trägt.«

Von neuem betrachtete Alexander das strahlende Kunstwerk in seiner Hand. Ein flüchtiges Lächeln bewegte seine Lippen, sein großer Blick verlor sich langsam in den Raum.

Sterben müssen?

Fremd und fern war ihm der Begriff des Todes. Schien ihm doch die Welt nur um seinetwillen auferbaut und dazustehen, um seinetwillen wimmelte die Menschheit. Schien es doch, als ob ungezählte Tausende nur deswegen den Tod empfangen hatten, damit er stärker und voller leben könne; was sie verloren, nahm er in Besitz. Hatte er an das Sterben gedacht, als es in den Schluchten Baktriens Felsblöcke von den Höhen regnete und rings um ihn die besten Männer zerschmettert wurden, als vor Tyros die Schiffe zu brennen anfingen und das Meer mit verkohlten Leichnamen bedeckt war, zwischen denen er hindurchschwimmen mußte, als in Indien der Giftpfeil in seine Brust drang und er verblutend zur Erde stürzte? Er hatte niemals an den eigenen Tod gedacht. Die kündende Gewalt des Schicksals prallte kraftlos an seinem Innern ab. Und nicht die Jugend verursachte dies, nicht der stürmische Wille, der unaufhaltsam von Ding zu Ding, von Ereignis zu Ereignis sprang, nicht die spürbare Wärme des Blutes, das fühlbar pochende Herz, das schallende Wort, die sichtbare Welt und alles, was man greifen und schmecken kann. Es war etwas anderes, Ungreifbares, Geheimnisvolles; es baute Brücken über den Tod hinaus, es kannte kein Ende aller Enden, keinen letzten Weg, keine letzte Tat; Rausch und Taumel war sein Wesen, ein Sichaufrecken bis unter die Sterne, ein Verachten der gemeinen Lose, ein Fernhalten des Alltäglichen, Allstündlichen - Unsterblichkeitswollust. Oft war es wie ein prunkvoller Traum um Alexander, wenn die Schwerter klirrten und die Schilde klapperten und die Erde vom Schritt der Armeen dröhnte und der Himmel vom Brand gerötet war; oft hatte er beim Geschrei der Sterbenden Lust verspürt, sich mitten unter sie zu setzen und den Homer zu lesen.

Ein unbeschreibliches Schweigen herrschte in der gewaltigen Halle, als er die Wieselfellmütze vom Kopf nahm und mit Ruhe das Diadem daran festband. »Nun, Osthanes«, wandte er sich an den Magier, »befrage deine Stäbe.« Ihn reizte das Verlangen, die fremden Götter herauszufordern.

Osthanes öffnete den Köcher und warf die Tamariskenstäbe auf die Erde. Lange betrachtete er die wirren Figuren, die sie bildeten, dann verbarg er das Gesicht in den Händen. Die Söldner drängten sich heran. Alexander lächelte.

Eumenes hatte die Leiche des Promachos gesehen und machte Alexander aufmerksam. Phason berichtete mit nackten Worten, was vorgefallen war und weshalb er den Elenden mit eigener Hand gerichtet. Er war seiner Sache nicht ganz sicher, und als er geendet, starrte er wie gebannt auf Alexanders Lippen. Aber Alexander antwortete nichts. Er schaute in das verzerrte Gesicht des Toten, dann erhob er den Blick, der einen kalten Ausdruck gewonnen hatte, und heftete ihn erst auf Phason, dann auf zwei, drei andere der umstehenden Makedonier. Es war ein stummer schneller Kampf zwischen ihnen, aber Alexander hatte bald gesiegt, die Blicke, die er aufgefangen hatte, krümmten sich und suchten den Boden. Nun grüßte er die Söldner mit einem Kopfnicken, faßte Hephästion unter den Arm und ging mit ihm gegen die Terrasse.

Im Schatten der riesenhaften menschenköpfigen Marmorstiere blieben sie stehen. Gleich grünlichblauem Kristall, aber zart und leicht, bog und hob sich der Himmel von der Ebene im Westen bis zu den schwärzlichen Hügeln im Osten hinüber. Aus dem Park schallte das Gebrüll eines Löwen. Den Blumen- und Obstgärten entströmten berauschende Gerüche. Das Wasser des Flusses schimmerte in den Mondstrahlen wie ein unbewegliches, launisch verbogenes Silberband, die Ulmen und Platanen, die seine Ufer säumten, bewegten kräftig rauschend ihre Kronen.


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