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Margot schauderte.
»Ist er denn an Bord?« fragte sie schnell.
Der Zahlmeister lachte.
»Nein, das nicht, aber mich hat man in der Nacht um drei Uhr aus dem Bett geholt, damit ich die telegraphischen Anfragen beantworten sollte. Das war keine Kleinigkeit. Ich mußte über tausend verschiedene Reisepässe durchsehen, und das ist natürlich etwas langweilig.«
Margot lachte und fühlte Mitleid mit ihm.
»Sind eigentlich viele Passagiere an Bord?«
»Ja, wir sind besetzt bis auf den letzten Platz. Ohne Durchsicht der ganzen Pässe hätte ich keine Antwort geben können. Ich durfte doch nicht die Passagiere mitten in der Nacht aus den Kabinen zusammentrommeln. Glücklicherweise war ich in der Lage, die Frage zu verneinen. Wenn er England auf einem Dampfer verlassen hat, was sehr unwahrscheinlich ist, mußte er nicht gerade die ›Ceramia‹ nehmen. Gestern sind ein Dutzend großer Passagierdampfer aus englischen Häfen ausgelaufen. Miss Cameron, seien Sie versichert, ich werde Ihnen sofort das Telegramm zusenden, wenn etwas für Sie ankommen sollte.«
Damit mußte sie sich zufriedengeben. Es war Sonntagvormittag, und sie ging zu dem Gottesdienst, der im Salon der ersten Klasse abgehalten wurde. Nachher brachte sie den Tag mit Lesen zu, aber die Stunden zogen sich endlos hin. Gegen Abend sah sie Mrs. Stella Markham wieder. Es war schwer, ihr an Bord aus dem Weg zu gehen, da ihr Deckstuhl direkt neben dem Margots stand und die Passagiere auf den Fahrten über den Atlantik denselben Stuhl für die ganze Reise behalten. Sie saßen nebeneinander, als plötzlich ein unglücklicher Passagier vorüberwankte. Mrs. Markham lachte leicht auf.
»Das ist mein armer Butler. Er wird so leicht seekrank.«
»Reist er denn auch erster Klasse?« fragte Margot überrascht, denn Dienstboten reisten gewöhnlich in einer tieferen Klasse.
Mrs. Markham nickte.
»Ja, warum auch nicht?« entgegnete sie gelassen. »Wenn ich einen Hund hätte, würde er auch erster Klasse fahren. Ich kann die Passagiere niederer Klassen nicht leiden.«
»Sie scheinen ja eine überzeugte Demokratin zu sein«, entgegnete Margot lächelnd.
Mrs. Markham sah sie einen Augenblick erstaunt an.
»Ich hasse Leute, die ironisch oder sarkastisch werden.«
»Dann müssen Sie mich ja ganz besonders gern haben«, lachte Margot.
Stella Markham lächelte.
»Ich hasse Sie nicht. Sie sind so jung und erfrischend, daß man gern mit Ihnen spricht. Ich würde viele Millionen dafür geben, wenn ich mit Ihnen tauschen könnte.«
»Wer soll denn die Millionen bekommen?«
»Ach, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich kümmere mich nicht viel um Geld. Sie sind wirklich glücklich zu nennen.«
Als Margot hinunterging, um sich für den Abend umzukleiden, fiel ihr plötzlich ein, daß sie Mrs. Dupreid ganz vergessen hatte. Sie benützte die Gelegenheit, bei ihr vorzusprechen. Wieder erschien dasselbe Mädchen mit den harten Gesichtszügen.
»Mrs. Dupreid fühlt sich wohler, aber sie schläft jetzt. Gegen Abend werde ich sie an Deck bringen, damit sie einen kurzen Spaziergang macht.«
Margot hatte die Beruhigung, wenigstens ihre Pflicht getan zu haben. Der Tag schien überhaupt kein Ende nehmen zu wollen. Margot seufzte erleichtert auf, als sie in ihren Pyjama schlüpfte und den Sonntag in ihrem Kalender ausstrich.
Montag ging es nicht anders, nur war es wärmer geworden, und die Passagiere hatten die Mäntel abgelegt. Viele lehnten an der Reling oder streckten sich behaglich in ihren Deckstühlen im Sonnenschein.
Mrs. Stella Markham war die erste, die eine Andeutung darüber machte, daß irgend etwas an Bord nicht stimmte.
»Ich hatte gestern abend ein aufregendes Abenteuer«, erzählte sie, als sie neben Margot Platz nahm.
»Das klingt ganz unterhaltend«, erwiderte Margot. »Gerade im Augenblick kann ich ein wenig Zerstreuung gut gebrauchen.«
»Meine Kabine liegt auf dem A-Deck, auf dem wir uns jetzt befinden; meine Fenster sind direkt unter der Kommandobrücke. Es ist geradezu gefährlich, wenn man vergißt, die Vorhänge vor die Luken zu ziehen, und noch unangenehmer, wenn draußen Liebespärchen an der Reling stehen, nachdem die Lichter abgedreht sind. Man hört alles so genau. Diese Unterhaltungen von Verliebten sind doch wirklich albern, meinen Sie nicht auch?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Margot ruhig. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, andere Leute dabei zu belauschen.«
Mrs. Markham sah sie lächelnd an.
»Also, das erste Abenteuer erlebte ich, als ich gleich nach dem Abendessen an Deck kam. Mein Mädchen ging auf dem vorderen Deck spazieren, und ich muß sagen, daß ich eine gewisse Verantwortung für sie fühle, besonders da sie gern Herrenbekanntschaften macht. Sie lehnte sich an die Reling und schaute auf die Leute im Zwischendeck hinunter. Zufällig drehte sie sich um und sah, daß sich jemand in meinen Räumen befand. Sie konnte direkt durch das Fenster in mein Schlafzimmer sehen. Von dort aus führt eine Tür in den Tagesraum, eine andere in das Badezimmer. Sie sah sich an Deck um, und zu ihrem Erstaunen bemerkte sie eine Dame, die ängstlich in meine Kabine schaute.«
»Wie sah sie denn aus?«
»Das kann mein Mädchen leider nicht genau sagen. Sie behauptet, daß sie dicht verschleiert war. Das klingt ja sehr romantisch, aber man hat keinen weiteren Anhaltspunkt dadurch. Ich habe noch keine dichtverschleierten Passagiere an Bord des Schiffes gesehen, obwohl manche Damen wirklich gut daran täten, ihr Gesicht zu verschleiern, damit man ihre unangenehmen Züge nicht den ganzen Tag sehen müßte.«
»Nun, und was geschah weiter?«
»Die Dame sah mein Mädchen und entfernte sich schnell. Inzwischen eilte meine Zofe so schnell wie möglich nach dem Saloneingang. Aber sie konnte in dem langen Korridor keine verschleierte Dame entdecken. Und als sie dann zu meinen Räumen kam, waren sie leer.«
»Wahrscheinlich hat sich die Dame in der Tür geirrt.«
»Daran dachte ich auch zuerst, aber das Merkwürdigste kommt noch. Etwa um halb zwölf Uhr in der Nacht ging ich noch mit Mr. Winter ein paarmal an Deck auf und ab – so heißt mein Butler. Er ist ein sehr achtbarer Mann. Der Geistliche, Mr. Price von Texas, begleitete uns, und wir sprachen über verschiedene Kleinigkeiten. Sie wissen ja, man redet die albernsten Dinge, nur damit die Unterhaltung nicht einschläft. Und so ein Pfarrer ist die einzig mögliche Person, die einem Gesellschaft leisten kann, wenn man mit seinem Butler zusammen ist. Wir gingen zusammen auf und ab, bis es zwölf war und von der Kommandobrücke die Glocke zur Ablösung ertönte. Dann verabschiedete ich mich von Mr. Price und ging zu meiner Kabine. Winter hatte den Auftrag, mich bis zur Tür zu begleiten.
Als ich öffnete, brannte das Licht. Ich wollte gerade eine Bemerkung zu Winter machen, als ich eine schmutzige Hand und einen blauen Ärmel sah, der plötzlich aus dem anderen Zimmer um die Ecke tastete und das Licht abdrehte. Mr. Winter ist sehr mutig, er eilte sofort in mein Schlafzimmer, drehte das Licht an und kam gerade noch zur rechten Zeit, um zu sehen, wie ein Mann wie ein Aal durch die Kabinenluke auf das Deck kletterte. Er verschwand über die Reling nach unten.«
Margot sah sie bestürzt an.
»Wer war das denn?«
»Es muß ein Matrose gewesen sein. Natürlich habe ich mich beim Kapitän beschwert.«
»Weshalb ist der Mann in Ihre Kabine eingedrungen? Wollte er Sie bestehlen?«
Mrs. Markham schüttelte den Kopf.
»Ich bin ziemlich sorglos mit meinen Schmucksachen. Es. lagen verschiedene wertvolle Stücke in der Kabine umher, aber wir müssen ihn wahrscheinlich bei der Arbeit gestört haben, denn es fehlte nichts.«
»Haben Sie sein Gesicht gesehen?«
»Das war unmöglich, aber Mr. Winter sagte, daß es vermutlich ein Heizer gewesen ist. Sein Gesicht und seine Hände waren schmutzig, und er trug einen dunkelblauen Kittel, wie ihn gewöhnlich die Heizer im Dienst anhaben.«
Der Kapitän nahm die Sache offenbar sehr ernst, denn am Nachmittag ließ er alle Heizer am hinteren Deck antreten. Mr. Winter begleitete Mrs. Markham, um den Schuldigen herauszufinden.
Aber er hatte keinen Erfolg, er erkannte den Mann nicht wieder. Jedenfalls war der Gesuchte nicht unter den Heizern, die angetreten waren.
Am Abend erhielten die Passagiere je ein Exemplar der Schiffszeitung, die an Bord gedruckt wurde. Darin standen die wichtigsten Funknachrichten. Margot war gespannt, ob etwas von dem Erlebnis von Mrs. Markham erwähnt wurde.
Sie las die Zeitung von Anfang bis zu Ende sorgfältig durch, aber meistens wurden Auszüge aus Vorträgen und Reden gegeben, die irgendwelche politische Persönlichkeiten gehalten hatten. Dafür interessierte sie sich nicht im mindesten. Sie las von dem letzten Stand der Tennisturniere an der Riviera, dann kamen Börsenberichte; das war alles.
Margot sprach den Zahlmeister an, als er am Abend auf dem Promenadendeck erschien.
»Ihre Zeitung ist gerade nicht sehr interessant.«
»So interessant, wie wir sie eben machen können«, entgegnete er lächelnd. »Wir können doch nur das drucken, was uns gesandt wird.«
»Haben Sie denn nichts unterschlagen?«
»Nein, bestimmt nicht, Madame. Erwarteten Sie etwas Besonderes in der Zeitung zu finden?«
»Nein, nein, das gerade nicht«, sagte sie und zuckte die Schultern. »Aber ich hoffte, etwas Anregenderes zu entdecken als die langweiligen Reden des Ministerpräsidenten.«
Den letzten Teil der Unterredung hatte Mrs. Markham mit angehört. Sie ging jedoch fort, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen.
»Hat Ihnen Mrs. Markham erzählt, was gestern abend passierte?«
Margot nickte.
»Ich wünschte, es wäre nicht vorgekommen«, sagte der Zahlmeister beunruhigt. »Ich habe schon an und für sich sehr viel zu tun. Aber es vergeht kaum eine Reise ohne einen solchen Zwischenfall. Wenn sich dreitausend Leute an Bord eines Schiffes aufhalten, sind immer auch einige Verbrecher dabei. Unsere eigenen Leute sind vollkommen ehrlich, sie sind meistens schon lange Jahre im Dienst, und wir haben nie eine Klage über sie bekommen. Früher, als die Schiffe noch Kohlenfeuerung hatten, war es allerdings schlecht mit den Heizern. Damals mußten wir froh sein, wenn wir den Abschaum der ganzen Menschheit anheuern konnten. Aber bei der modernen Ölfeuerung können wir uns die Leute aussuchen, und gewöhnlich sind sie dem Chefingenieur persönlich bekannt.«
»Ist das Mr. Smythe?«
»Ja. Kennen Sie ihn?«
»Ich habe von ihm gehört. Er ist der Freund eines guten Bekannten von mir.«
Margot war merkwürdigerweise wach an dem Abend, saß noch lange an Deck, nachdem die Mehrzahl der Passagiere nach unten gegangen war, und las bei einer Lampe.
Sie sah, wie Mrs. Markham vorbeikam und sich auf den Arm ihres Butlers stützte. Kurz darauf verschwanden die beiden. Die meisten Lichter an Bord waren gelöscht, und die Decks lagen verhältnismäßig einsam und verlassen. Nur noch ein paar verspätete Passagiere gingen auf und ab.
Margot wollte gerade in ihre Kabine gehen, als sie plötzlich einen Mann bemerkte, der langsam vom hinteren Ende des Schiffes näher kam. Er trug Abendkleidung, blieb aber immer nahe an der Reling und sah meistens nach der dunklen Wasserfläche hinaus auf die See. Erst als er mit ihrem Stuhl in gleicher Höhe kam, drehte er sich um. Mit einem lauten Ausruf sprang sie auf.
Es war Jim Bartholomew!
»Jim!« rief sie atemlos und streckte beide Hände aus. »Warum – wieso –«
»Pst!« flüsterte er leise. »Nenne mich nur nicht Jim.«
»Aber ich verstehe nicht, was das zu bedeuten hat.«
»Nenne mich John Wilkinson, das ist auch ein ganz guter Name.«
»Aber, Jim, was ist denn passiert? Was hat das alles zu bedeuten? Warum bist du an Bord des Schiffes? Ich freue mich ja so! Ich habe mir schon so große Sorgen gemacht, daß du bei der Abfahrt des Schiffes nicht da warst.«
Er sah sich vorsichtig um.
»Geh zur Reling und tue so, als ob du aufs Meer hinausschaust. Dann komme ich zu dir, und wir können miteinander sprechen, Margot –«, sagte er, und seine Stimme klang ernst und leise – »ich möchte, daß wir wirkliche Freunde werden.«
»Danach brauchst du nicht erst zu fragen«, erwiderte sie ebenso.
»Ich werde deine Geduld auf eine größere Probe stellen, als es im allgemeinen von einer Frau verlangt wird. Zunächst einmal bitte ich dich, mich jeden Abend hier zu erwarten.«
»Aber warum kann ich dich nicht am Tag treffen?«
»Es gibt Gründe dafür, die du glücklicherweise nicht kennst.«
Ihr Herz schlug heftig. Sie fürchtete, daß ihm etwas geschehen könnte, und wilde Vermutungen stiegen in ihr auf. Aber dadurch kam sie der Lösung des Geheimnisses nicht näher.
»Ich verstehe es nicht.« Sie legte ihre Hand auf die seine. »Aber ich traue dir, und bin so glücklich, daß du an Bord des Schiffes bist. Unter welchem Namen bist du hier?«
»John Wilkinson. Es ist gerade keine originelle Idee, nur der erste Name, der mir eingefallen ist.«
»Wo ist deine Kabine?«
Er lachte leise.
»Eine Kabine habe ich nicht, wenigstens nicht für mich allein.«
»Aber, Jim.«
Er drückte ihre Hand.
»Mein Liebling, vor vier Tagen hatte ich die Möglichkeit, dich darum zu bitten, meine Frau zu werden. Ich hätte dich in die Arme schließen können, und du wärst mein gewesen. Aber diese Gelegenheit habe ich versäumt. Es war eine Art Eitelkeit – die Männer nennen es Stolz –, die mich davon abschreckte, weil du sehr reich bist. Und heute bin ich nicht nur in Gefahr, dich ganz und gar zu verlieren, sondern dir auch so großen Kummer zu bereiten, daß darüber dein Herz bricht. Du mußt den Kopf oben behalten, die Zähne zusammenbeißen und an mich glauben, dann hoffe ich, in vier Tagen das schwere Unheil abgewandt zu haben.«
»In den nächsten vier Tagen?« fragte sie besorgt.
Er nickte.
»Es klingt so seltsam, besonders da ich vorher davon sprach, daß ich Jahre darauf warten wollte, um dich zu gewinnen. Ich muß in vier Tagen mein Ziel erreichen, oder ich gehe vollkommen unter. Liebste Margot, willst du mir soviel Vertrauen schenken? Kannst du an mich glauben?«
Sie nickte und schmiegte sich an ihn.
»So, nun mußt du nach unten gehen. Ich werde hier an die Reling gelehnt bleiben. Gerade im Augenblick kommt so ein schiefäugiger Schiffsinspektor, der soll keine Unterhaltung mit mir anfangen. Gute Nacht.«
Er zog eine ihrer Hände unter den Arm und küßte ihre Fingerspitzen. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, Freude und Furcht rissen sie hin und her. Sie fürchtete für den Mann, den sie liebte, denn sie fühlte, daß er in großer Gefahr schwebte.
Am nächsten Morgen hatte sie eine Unterredung mit dem Obersteward. Sie gab ihren einzelnen Tisch auf und ließ sich einen Platz am Tisch des Zahlmeisters anweisen. Vier andere Passagiere hatten dort Plätze belegt. Zwei von ihnen erschienen während der ganzen Reise nicht bei den Mahlzeiten; der dritte war ein Deutschamerikaner, der immer sehr pünktlich und zeitig kam und gewöhnlich seinen Platz schon verlassen hatte, ehe Margot sich setzte.
»Ich habe noch niemals eine so unangenehme Tischgesellschaft gehabt«, sagte der Zahlmeister zu Margot. »Und ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie meinen Tisch mit mir teilen wollen. Da wird doch das Leben erst lebenswert. In Zukunft werde ich von jedem Passagier, der einen Platz an meinem Tisch haben will, eine schriftliche Garantie dafür verlangen, daß er zu den Mahlzeiten richtig erscheint. Übrigens speist gewöhnlich noch ein italienischer Offizier mit mir zusammen, haben Sie ihn vielleicht schon gesehen?«
»Ach, ist das der Herr mit den großen grauen Breeches?«
»Ja, den meine ich.«
Sie hatte den distinguierten italienischen Stabsoffizier in seiner feldgrauen Uniform, den vielen Goldtressen und den blankpolierten Reitstiefeln schon gesehen. Vor allem war er ihr aufgefallen durch seine Breeches und den breiten, eleganten Schnitt seines Waffenrocks.
»Er heißt Pietro Visconti, ist ein großer Patriot und geht als Attaché an die Italienische Botschaft in Washington. Jedenfalls reist er auf diplomatischem Paß.«
Kurz darauf erschien der Italiener. Er war verhältnismäßig klein, hatte scharf geschnittene, intelligente Gesichtszüge und sprach sehr viel und sehr lebhaft. Sein Benehmen war tadellos, und er bewegte sich etwas eckig militärisch, besonders wenn er sich aus dem Hüftgelenk heraus verbeugte. Englisch sprach er fließend, und er war äußerst unterhaltend, sogar humoristisch.
Margot brauchte seine Komplimente nicht allzusehr abzuweisen. Er war ihr nicht gefährlich, denn er vertraute ihr noch am selben Nachmittag an, daß er sich leidenschaftlich in eine andere Dame verliebt hätte. Margot seufzte erleichtert auf, als sie dies hörte. Es handelte sich um niemand anders als Mrs. Markham. Er sprach über ihre schönen Augen, ihre anmutige Gestalt, ihren zarten, reinen Teint und ihre vornehme Haltung. Gewöhnlich redete er, wenn er bei diesem Thema angekommen war, ohne Komma und Punkt eine halbe Stunde lang.
Margot war froh über die Zerstreuung, denn wenn ihr die Tage vorher schon lang vorgekommen waren, so schien dieser Tag überhaupt kein Ende zu nehmen. Sie versuchte, am Nachmittag etwas auszuruhen und zu schlafen, um frisch und munter für die Unterhaltung mit Jim zu sein, aber sie konnte nicht einschlafen. Und als sie dann an Deck zurückkehrte, traf sie Major Visconti, der sie gleich wieder in eine Unterhaltung verwickelte.
Am Abend stellte Mrs. Markham ihr den Pfarrer Charles Price vor. Nach kurzem Gespräch schon war sie angenehm überrascht, denn sie hatte es mit einem liebenswürdigen, klugen Mann zu tun, der sich sehr taktvoll mit ihr unterhielt und in seinen Ansichten großzügig war. Er erzählte ihr, daß er aus Gesundheitsrücksichten eine Reise nach Europa gemacht hätte.
»War es wegen Ihrer Nerven?« fragte Margot.
Er sah sie überrascht an.
»Ja. Wie kommen Sie darauf?«
»Sie sind noch etwas aufgeregt. Seit Sie mit mir sprechen, sehen Sie sich dauernd um, und bei dem geringsten Geräusch fahren Sie zusammen.«
Er nickte.
»Das stimmt. Das Abenteuer von Mrs. Markham ist mir auf die Nerven gefallen. Es tut mir wirklich leid, daß sie solche Aufregung gehabt hat, und ich muß sagen, daß sie ziemlich mutig ist.«
Der Decksteward brachte den Tee, den er auf kleinen, geflochtenen Tabletts servierte.
»Gehen Sie zu Bekannten nach Amerika?« fragte Mr. Price, indem er die Teetasse entgegennahm.
»In gewisser Weise ja, aber hauptsächlich ist es ein geschäftlicher Besuch. Dann kann ich hoffentlich nach England zurückkommen.«
Im selben Augenblick fiel ihr allerdings ein, daß sie nicht sofort umkehren mußte, da Jim ja auch nach Amerika reiste. Was er in New York vorhatte, konnte sie nicht ahnen. Die nächsten vier Tage sollten eine wichtige Entscheidung für ihn bringen. Wo mochte er sich nur aufhalten? Warum kam er nicht aufs Promenadendeck zu den anderen Passagieren?
Schließlich zuckte sie die Schultern und gab es auf, das Geheimnis lösen zu wollen. Mr. Price, der sie dauernd durch seine große Brille scharf beobachtet hatte, reichte ihr die leere Tasse zurück.
»Meiner Meinung nach sind Sie selbst nervös, Miss Cameron«, sagte er.
Als sie zum Abendessen kam, fand sie außer der Bordzeitung auch noch eine Passagierliste. Darauf hatte sie schon sehr gewartet, aber nicht gewagt, danach zu fragen. Sorgfältig durchsuchte sie die langen Spalten, und als sie alles durchgelesen hatte, war sie enttäuscht.
Jim stand nicht darauf, weder unter seinem eigenen Namen noch als John Wilkinson. Sie faltete die Liste nachdenklich wieder zusammen und legte sie neben ihren Teller.
»Haben Sie nach jemanden gesucht?« fragte der Zahlmeister.
»Ja«, erwiderte sie so gleichgültig wie möglich. »Ein Freund von mir wollte eventuell mit diesem Dampfer reisen – ein Mr. John Wilkinson.«
Der Zahlmeister schüttelte den Kopf.
»Wir haben keinen Wilkinson an Bord, weder in der ersten noch in der zweiten oder dritten Klasse. Ich weiß es ganz genau, weil ich heute die Landungsausweise durchgesehen und mit der Passagierliste verglichen habe.«
»Nicht an Bord?« fragte sie ungläubig.
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, wir haben diesmal keinen Passagier, der Wilkinson heißt. Das ist etwas ungewöhnlich, denn der Name kommt ziemlich häufig vor. Aber es sind schon andere Dinge passiert – einmal habe ich drei Überfahrten hintereinander gemacht, ohne daß wir einen Smith an Bord hatten!«
Er mußte früh vom Tisch aufstehen, denn infolge der Erkrankung eines Assistenten ruhte die ganze Last der Arbeit auf ihm.
»Übrigens, Miss Cameron«, sagte er, als er ging, »wenn Sie einmal etwas Interessantes sehen wollen und solange aufbleiben können, würde ich Ihnen ganz gern einmal unsere Radiostation zeigen.«
Ihre Augen glänzten.
»Die würde ich sehr gern sehen – aber haben Sie nicht zuviel zu tun?«
»Selbst Zahlmeister dürfen sich ausruhen. Würden Sie um halb eins auf dem obersten Deck auf mich warten? Dann zeige ich Ihnen unsere Radioanlage.«
Jim wollte sie um zwölf Uhr treffen. Lange konnte er doch nicht bleiben, also durfte sie ruhig diese Verabredung eingehen. Sie nickte.
Es war erst halb zwölf, als sie aufs Deck hinausging. Fünf Minuten vor zwölf kam Jim langsam die Reling entlang. An diesem Abend blieb er häufiger stehen, um aufs Meer hinauszuschauen. Es war herrliches Wetter, und das Schiff lag vollkommen ruhig auf dem Wasser. Es waren auch sonst viel mehr Passagiere draußen, um die frische Luft zu genießen.
Sie ging ebenfalls zur Reling. Er hatte gerade zwischen zwei Decklampen haltgemacht und sich über das Geländer gelehnt. Äußerlich war er vollkommen korrekt gekleidet, aber sie fand, daß er müde und bleicher aussah.
»Es war heute sehr heiß«, sagte er, als sie sich nach seinem Befinden erkundigte. »Und ich war – in meiner Kabine.«
»Hast du eigentlich Frank noch vor deiner Abfahrt gesprochen?«
»Nein, dazu hatte ich keine Zeit. Ich bin erst Freitag abend gefahren.«
Sie fragte ihn nicht nach dem Grund, denn sie fühlte, daß er darauf keine Antwort geben könnte.
»Margot«, fragte er plötzlich, »willst du mir nicht etwas von deiner Schwägerin erzählen?«
»Von Cecile?« erwiderte sie überrascht.
Er nickte.
»Aber, Jim, du weißt doch alles, was man von ihr erzählen könnte. Vor sieben Jahren heiratete sie Frank.«
»Was war sie denn vor ihrer Heirat?«
»Wie meinst du das? Sie lebte doch in äußerst guten Verhältnissen, denn sie war die Tochter von Henrick Benson. Sicher hast du doch von diesem reichen Künstler gehört? Und bestimmt besinnst du dich noch darauf, daß er den Ring mit den Töchtern der Nacht anfertigte.«
Er nickte.
»Weißt du etwas über die Familie?«
»Nein. Nur, daß ihre Schwester im Alter von achtzehn Jahren heiratete und in ihrer Ehe unglücklich wurde. Ich habe nicht viel darüber erfahren, Cecile spricht nicht gern über diesen Punkt. Ihre Schwester lief, als sie noch zur Schule ging, mit einem Chauffeur davon. Es ist doch ganz selbstverständlich, daß sie das gerade nicht an die große Glocke hängen möchte. Und auf jeden Fall ist die arme Frau ja später gestorben.«
»Das habe ich auch erfahren. Weißt du denn, was aus ihrem Mann geworden ist?«
Margot zögerte.
»Selbst darüber bin ich nicht ganz sicher. Aber er muß ein sehr schlechter Charakter gewesen sein – er ist dann längere Zeit ins Gefängnis gekommen. Ich habe mir selbst einen Vers daraus gemacht. Aber warum fragst du mich nach all diesen Dingen, Jim? Ach, ich habe mich schon wieder vergessen. Ich sollte dich doch nicht so ausfragen.«
Er lehnte sich zu ihr hinüber, sah sich erst noch einmal nach allen Seiten um und küßte sie dann aufs Ohr.
»Margot, denke an mich und halte den Daumen. Die nächsten drei Tage kommt es darauf an. Ich bin in einer sehr schwierigen Lage.«
Sie drückte liebkosend seinen Arm.
»Ja, ich will es tun. Ich werde immer an dich denken«, entgegnete sie ruhig.
»Und du mußt an mich glauben, was du auch immer hören magst.«
Sie nickte.
»So, nun geh wieder nach unten, Liebes. Ich muß mich leise zu meinem Versteck schleichen.«
Sie wollte schon gehen, als er sie am Arm faßte und wieder zur Reling zog. Zwei junge Passagiere kamen das Deck entlang und unterhielten sich angeregt. Den einen hatte sie schon vorher gesehen, der andere war ihr fremd. Äußerlich schienen es gewöhnliche Passagiere erster Klasse zu sein, aber auf Jim hatte ihr Erscheinen einen sonderbaren Einfluß.
»Was stimmt denn nicht?« fragte sie leise, als die beiden vorübergingen. »Kennst du die beiden?«
»Einen von ihnen«, entgegnete Jim grimmig. »Den Mann, der uns am nächsten ist!«
»Wer ist es denn?«
»Das kann ich nur vermuten. Als ich ihn das letztemal sah, war er nackt bis zum Gürtel und hieß Nosey. Jetzt müssen wir uns aber trennen, ich muß fort.«
Als sie kurz darauf wieder zum Deck zurückkehrte, war er verschwunden. Auch von dem geheimnisvollen Nosey konnte sie nichts mehr entdecken.
Kurz nach zwölf kam der Zahlmeister und zeigte ihr die enge Treppe, die zur drahtlosen Kabine führte und zwischen den beiden großen Schornsteinen der ›Ceramia‹ lag. Es war sehr heiß, aber der Raum war taghell erleuchtet. Die kleinen Lampen auf dem Schaltbrett trugen das ihre dazu bei. Der Radiotelegraphist erklärte ihr die Funktion der einzelnen Instrumente, und es dauerte nicht lang, bis sie auch einen Kopfhörer angelegt hatte und lauschte.
»Das ist die ›Campania‹«, erklärte der Telegraphist. »Sie liegt dreihundert Meilen weiter zurück.«
»Großartig«, sagte sie. »Und was ist das für ein anderes Geräusch?«
Er stellte eine längere Welle ein, was natürlich in den Apparaten allerhand unangenehme Geräusche verursachte.
»Das ist Aberdeen, die letzte Station, die wir von England hören können. Morgen haben wir keine Verbindung mehr mit dem Lande.« Einer der Operateure sah zu ihr hinüber. »Ich glaube, das sind die Nachrichten, die jetzt durchgegeben werden. Entschuldigen Sie, ich brauche jetzt den Kopfhörer selbst.«
Er befestigte ihn und setzte sich nieder, dann legte er einen großen Schreibblock vor sich hin.
Gleich darauf begann er zu notieren und sah sich nach dem Zahlmeister um.
»Ich weiß nicht, ob es Zweck hat, diese Nachrichten aufzufangen. Der Erste Offizier hat doch ausdrücklich Anweisung gegeben, daß nichts von dem Mord in Moorford in die Bordzeitung kommen soll.«
»Was hat es denn für eine Bewandtnis mit dem Mord in Moorford?« fragte sie ängstlich. »Um was handelt es sich denn?«
»Alle Nachrichten darüber hat der Erste Offizier aus der Bordzeitung gestrichen«, erklärte der Zahlmeister. »Ich glaube, er tat es, damit der Verbrecher nicht gewarnt wird, wenn er sich zufällig an Bord dieses Schiffes befinden sollte. Die Sache ist in einer Bank passiert.«
Margot hatte sich an eine Kabinenwand gelehnt; sie war furchtbar blaß geworden, aber bei dem unheimlich hellen Licht der elektrischen Lampen konnten die anderen es nicht sehen.
»Der zweite Direktor, ein Mann namens Stephenson oder Sanderson, wurde erschossen, und der erste Direktor, Mr. Bartholomew, wurde mit einem Revolver in der Hand angetroffen. Das hätte an und für sich nichts zu bedeuten gehabt, denn das ließe sich ja erklären. Bartholomew hatte sich erst wenige Minuten vorher von dem Polizeiinspektor getrennt. Aber in der darauffolgenden Nacht verschwand er und nahm ein Diamanthalsband im Wert von hundertzwölftausend Pfund mit. Zufällig befindet sich die Dame, der der Schmuck gehört, an Bord dieses Schiffes. Es ist eben ein Radiotelegramm angekommen, das den Verlust meldet. Ich werde ihr die Nachricht morgen in aller Frühe zustellen lassen.«
»Was – was ist denn mit Bartholomew geschehen?« fragte sie leise.
»Er ist entkommen«, erklärte der Zahlmeister mit einem Achselzucken. »Es ist allerdings möglich, daß sie ihn erwischt haben, seit wir die letzte Mitteilung darüber erhielten. Haben Sie heute nacht weitere Nachrichten gehört?« wandte er sich an den Operateur.
»Nein, es ist nicht der Rede wert. In Frankreich haben sie einen Mann verhaftet, aber es stellt sich jetzt heraus, daß es nicht Bartholomew ist.«
Margot machte einen Schritt vorwärts und wäre gestürzt, wenn der Zahlmeister sie nicht aufgefangen hätte.