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6

Margot Cameron stand an der Reling der großen ›Ceramia‹. Ängstlich beobachtete sie den Kai, ob sich nicht Jim irgendwo zeigte. Er hatte ihr versprochen, sich an Bord des Dampfers von ihr zu verabschieden, und sie wußte, daß etwas Außergewöhnliches passiert sein mußte, wenn er nicht kam. Sie hatte ihm noch so viel zu sagen; sie hatte alles vergessen, als sie sich von ihm trennte. Am liebsten hätte sie weinen mögen, und die Tränen waren ihr sehr nahe, als die Schiffsglocke schlug, damit die Nichtfahrenden von Bord gehen sollten.

Margot stand immer noch oben an der Reling des Bootsdecks, von dem aus sie den größten Fernblick hatte, als der Dampfer langsam ins Meer hinausfuhr. Immer noch hoffte sie, ihn doch noch an Land zu sehen. Erst als die ›Ceramia‹ Netley passierte, ging sie mit einem schweren Seufzer nach unten in die Luxuskabinen, die ihr Bruder hatte reservieren lassen.

Die Geräumigkeit der Zimmer ließ sie ihre Einsamkeit noch mehr fühlen, und zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie Heimweh. Aber sie faßte sich bald wieder, kleidete sich um, nahm ein Buch und ging ans Promenadendeck, wo sie ihren Liegestuhl aufsuchte.

Frank hatte alle nötigen Vorbereitungen mit größter Sorgfalt getroffen, und drei Stühle waren mitschiffs für die Reisegesellschaft reserviert. Der Steward brachte ihr Decken und ein Kissen aus der Kabine, und sie versuchte, sich so gut wie möglich die Zeit zu vertreiben.

Der Anhängezettel des Nachbarstuhls flatterte im Winde. Margot wurde darauf aufmerksam und faßte ihn mit der Hand.

»Mrs. Dupreid«, las sie, und nun erinnerte sie sich daran, daß ja Ceciles Freundin an Bord sein mußte.

Sie legte ihr Buch auf den Stuhl und ging zum Büro des Zahlmeisters.

»Mrs. Dupreid?« wiederholte der Assistent. »Ja, die Dame ist an Bord. Sie hat die Staatskabine 209 auf Deck C.«

Margot bedankte sich, fuhr mit dem Lift nach dem C-Deck und suchte nach der Kabine.

Nr. 209 lag in der Mitte des Schiffs. Auf Margots Klopfen zeigte sich eine Zofe in der Türöffnung.

»Ist Mrs. Dupreid in ihrer Kabine?«

»Jawohl, Madame. Aber sie möchte niemanden sehen.«

»Sagen Sie ihr doch bitte, daß Miss Cameron hier ist.«

»Sie weiß, daß Sie an Bord sind, Madame«, erklärte das junge Mädchen, »und sie bat mich, sie bei Ihnen zu entschuldigen. Sie fühlt sich nicht wohl und kann niemanden empfangen.«

Margot empfand diesen wenig freundlichen Empfang etwas kränkend, drückte ihr Bedauern aus und ging dann wieder auf das Promenadendeck, um sich durch Lesen die Zeit zu vertreiben.

Inzwischen waren die Passagiere aus dem Speisesaal heraufgekommen, und es kam ihr erst jetzt zum Bewußtsein, daß sie gar nicht daran gedacht hatte, am Essen teilzunehmen, weil sie auf Jim gewartet hatte. Das Promenadendeck war belebt; die Passagiere suchten ihre Deckstühle auf. Der Steward legte Kissen und Decken auf den Liegestuhl neben ihr, und eine große schlanke Dame beobachtete gleichgültig den Vorgang.

Margot sah sie neugierig an. Frauen interessieren sich immer füreinander, und sie ahnte irgendwie, wer diese Nachbarin sein könnte. Die Dame war sehr schön, mochte etwa achtundzwanzig Jahre alt sein und hatte geistvolle Züge. Vor allem fielen ihre großen, tiefdunklen Augen auf. Eine Sekunde lang sah sie Margot an, und diese hatte das Gefühl, als ob die Blicke durch sie hindurchgingen.

Der Steward richtete sich auf. Die Dame dankte ihn kurz und ließ sich nieder.

Margot sah, daß sie ein elegantes Kleid trug und ein Buch in der Hand hielt. Die andere las aber nicht, sondern wandte sich zu Margots Überraschung plötzlich an sie.

»Sind Sie nicht Miss Cameron?«

»Ja«, entgegnete Margot lächelnd und legte ihr Buch nieder.

»Ich hörte, daß Sie mit Ihrem Bruder und Ihrer Schwägerin an Bord sein sollten. Ich bin eine Nachbarin von Ihnen, mein Name ist Stella Markham.«

»Ach ja, ich habe Ihr Haus gesehen. Es wurde mir noch vor ein paar Tagen gezeigt.«

Sie erinnerte sich im Augenblick, daß Jim es ihr gezeigt hatte, und sie ärgerte sich über ihn. Bestimmt hatte sie darauf gerechnet, daß er sich an Bord des Dampfers von ihr verabschieden würde, und er hatte sie warten lassen. Nicht einmal ein Telegramm hatte er ihr geschickt.

»Sind Ihr Bruder und Ihre Schwägerin auch in der Nähe?«

»Mr. und Mrs. Cameron sind überhaupt nicht an Bord«, entgegnete Margot. »Sie haben im letzten Augenblick ihre Pläne geändert.«

»Nun, dann wird es eine recht einsame Fahrt für Sie werden«, meinte Stella Markham und lächelte ein wenig.

»Das ist mir auch ganz lieb.«

Hier stockte die Unterhaltung, und beide nahmen ihre Bücher auf.

Aber nach einiger Zeit brach Stella Markham das Schweigen aufs neue.

»Gerade Ihre Schwägerin hätte ich gern an Bord getroffen. Es waren eigentlich nur zwei Leute, die ich hier zu sehen wünschte, das heißt drei, wenn ich Sie einschließe«, fügte sie halb entschuldigend hinzu.

Margot lachte.

»Wer war denn die dritte Person?« fragte sie und schrak zusammen, als sie die Antwort hörte.

»Ich hoffte, einen gewissen Bankdirektor Bartholomew hier zu treffen.«

»Aber warum denn?« fragte Margot erstaunt und hoffte, daß Mrs. Stella Markham mit ihren durchdringenden Blicken nicht sehen konnte, daß sie errötete.

»Er soll ein sehr guter Gesellschafter sein.«

Margot ärgerte sich über diese Worte.

»Ich sitze am Tisch des Kapitäns Mr. Stornoway; er sprach über Mr. Bartholomew, als er hörte, daß ich von Moorford kam.«

Margot erinnerte sich im Augenblick daran, daß Jim ihr Stornoways Namen genannt hatte.

»Er wurde ganz lebhaft, als ich seinen Namen erwähnte«, fuhr Mrs. Markham fort, »obwohl er zuerst meiner Meinung nach etwas verlegen war. Er erzählte dann, daß er im Krieg mit Mr. Bartholomew zusammen an Bord eines Torpedobootzerstörers war, der durch den Feind versenkt wurde. Zwölf Stunden waren sie zusammen im Wasser, und wenn Mr. Bartholomew nicht gewesen wäre, wären sie beide ertrunken – es war auch noch ein dritter dabei, der sich ebenfalls an Bord des Dampfers befindet.«

»Ich habe davon gehört.« – »Kennen Sie ihn?«

»Meinen Sie Mr. Bartholomew? Ja, den kenne ich allerdings sehr gut.«

»Ist er wirklich so interessant?«

»Meinen Sie damit, daß er Purzelbäume schlägt und interessante Schlager singt?« fragte Margot kühl.

»Nein, ich meine, ob er interessant ist?«

»Ja, natürlich«, erwiderte Margot kurz.

Wieder sahen beide in ihre Bücher, aber Mrs. Markham schien das ihre nicht sehr unterhaltsam zu finden, denn nach kurzer Zeit wandte sie sich wieder an Margot.

»Ich bin die langweiligste Person, die es überhaupt gibt«, sagte sie. »Das ganze Leben erscheint mir so entsetzlich öde. Ich kann England nicht leiden, und ebenso geht es mir mit Amerika. In Paris, das die anderen Leute doch für so amüsant halten, finde ich es schrecklich.«

»Haben Sie es schon einmal mit Coney Island versucht?« fragte Margot, die Mrs. Markham nicht leiden konnte. »Ich habe mir sagen lassen, daß man sich dort die Zeit ganz gut vertreiben kann.«

Stella richtete sich auf und sah Margot gerade nicht sehr freundlich an.

»Ich kenne niemand, der jemals in Coney Island gewesen wäre«, entgegnete sie und schaute wieder in ihr Buch.

Margot erhob sich unruhig und ging auf dem Promenadendeck auf und ab. Schließlich fuhr sie mit dem Lift zum F-Deck, wo das Büro des Zahlmeisters lag. Die Unterhaltung mit Mrs. Markham hatte sie daran erinnert, daß immer noch ein Telegramm von Jim eintreffen könnte. Auf jeden Fall erwartete sie eines von ihrem Bruder und ihrer Schwägerin.

Tatsächlich erhielt sie auch ein Formular ausgehändigt, das Frank geschickt hatte, aber von Jim war nichts angekommen, ebensowenig von Cecile. Margot fiel es ein, daß sich Cecile auf der Reise nach Schottland befand, und unterwegs war es natürlich schwierig, ein Telegramm zu senden.

Sie wanderte ziellos im Schiff umher, bis es Zeit zum Tee war. Niemand ihrer Bekannten war an Bord, und aus reiner Langeweile kehrte sie zu ihrer Kabine zurück und legte sich nieder. Sie wurde gestört durch ihre Zofe, die ihr Abendkleid zurechtlegte.

»Wie spät ist es?«

»Es ist halb sieben, Madame«, entgegnete Jenny, die blaß und krank aussah.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

»Ich spüre die Seekrankheit.«

»Das ist aber doch nicht schlimm«, sagte Margot.

»Die See ist glatt wie ein Spiegel. Wo sind wir denn jetzt?«

»In der Nähe von Cherbourg. In einer Stunde kommen wir dort an und bleiben mehrere Stunden.«

Nachdem sich Margot angekleidet hatte, ging sie in den Speisesaal und ließ sich einen Tisch geben, der nur für eine Person gedeckt war. Frank hatte natürlich vorsorglich einen guten Tisch mit drei Plätzen bestellt. An der anderen Seite des Speisesaals sah sie Mrs. Stella Markham, die ein wundervolles Abendkleid in Schwarz und Blau trug. Auch sie saß an einem Tisch für sich.

Später ließ sich Margot den Kaffee in die große Gesellschaftshalle bringen. Der Raum war prachtvoll ausgestattet. Die Kapelle spielte, und Margot lauschte der Musik. Als um elf Uhr abends die ›Ceramia‹ den Hafen von Cherbourg verließ, begab sich Margot in die Kabinen, um sich zur Ruhe zu legen.

Sie konnte Seereisen außerordentlich gut vertragen und brauchte die Seekrankheit nicht zu fürchten. Trotzdem es im Kanal etwas unruhiger wurde, schlief sie vorzüglich, bis Jenny ihr am nächsten Morgen eine Tasse Tee und eine Apfelsine ans Bett brachte.

»Ist irgendeine Nachricht für mich gekommen?«

»Nein.«

»Auch kein Radiotelegramm?«

»Leider nicht.«.

»Gut, dann machen Sie mein Bad fertig.«

Sie war bitter enttäuscht. Wenn Jim nicht die Möglichkeit hatte, sich an Bord von ihr zu verabschieden, hätte er ihr doch wenigstens noch eine Nachricht schicken können. Er war doch auch schon an Bord großer Schiffe gewesen und hatte Seereisen gemacht. Er mußte doch wissen, daß man den Leuten unterwegs drahtlose Telegramme schicken konnte.

Als sie sich angekleidet hatte, suchte sie den Zahlmeister auf, den sie schon von früheren Reisen her kannte, und fragte ihn aus.

»O ja, wir sind schon weit genug vom Land entfernt, um Telegramme aufzunehmen. Es sind auch während der Nacht schon eine ganze Anzahl Radiotelegramme eingelaufen.«

Er sah sich um und sprach dann vorsichtig und leise.

»Es war sogar eine Nachfrage von dem Justizministerium oder der Polizei dabei. Sie erkundigten sich, ob ein Mann an Bord wäre, der im Verdacht steht, jemand ermordet zu haben.«


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