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Peter Dawlish glaubte, lange bewußtlos gelegen zu haben, als er sich mit einem Seufzer auf den Rücken drehte und vorsichtig seine Kopfwunde befühlte. Sein Gesicht war feucht und dick mit Blut verklebt. Als er versuchte, sich zu erheben, schien sich das ganze Gebäude um ihn zu drehen. Aber es gelang ihm doch, aufzustehen und sich an der Wand zu stützen. Er faßte den Handgriff der Tür, riß sie auf, wurde aber sofort von starken Händen gepackt.
»Hallo, wer sind Sie denn?« fragte eine strenge Stimme.
»Dawlish – mir muß etwas gesehen sein – ich sah Licht in dem Haus und wollte hineingehen. Die Tür öffnete sich – auf mehr kann ich mich nicht besinnen.«
Der Detektiv erkannte ihn.
»Die Tür öffnete sich?« fragte er besorgt. »War denn jemand in der Wohnung?«
Peter nickte, aber er stöhnte vor Schmerzen.
»Geben Sie mir bitte etwas zu trinken.«
Der Detektiv stützte ihn und führte ihn die Treppe hinauf in Leslies Wohnzimmer.
Ein Glas eiskaltes Wasser brachte ihn wieder zu sich, und er konnte nun zusammenhängend erzählen, was er erlebt hatte.
»Es können nicht mehr als zehn Minuten vergangen sein«, sagte der Detektiv. »Ich bin nur hinter das Haus gegangen, um den anderen Posten auf der hinteren Seite zu sprechen. Ich kann einen Eid darauf leisten, daß ich nicht länger fort war.«
Plötzlich bückte er sich und hob etwas auf. Es war ein Eingeborenen-Pantoffel, den einer der Leute in der Eile verloren hatte. Das Licht seiner Lampe, die er schnell noch angedreht hatte, um ihn zu suchen, hatte Peter gesehen.
»Ich will sofort Mr. Coldwell anrufen.«
Der Chefinspektor war gerade beim Abendbrot.
»Ich werde gleich hinkommen. Ich erhielt zwar ein Telegramm von Miss Maughan, daß sie nach Plymouth gefahren wäre, aber das will nicht viel heißen.«
Zwanzig Minuten später war er schon in der Wohnung. Peter war inzwischen provisorisch verbunden worden und hatte sich das Blut aus dem Gesicht gewaschen. Die Wunde schmerzte ihn, aber er hatte sich schon bedeutend erholt.
»Sie haben Sie mit einem Gummiknüppel geschlagen – das ist eine unfehlbare Methode«, meinte Coldwell abgestumpft.
Er schaute sich stirnrunzelnd in dem Zimmer um.
»Aber weil diese Kerle hier waren, muß Miss Maughan noch nicht hier gewesen sein. Sie kann noch nicht in Plymouth angekommen sein. Ich werde mich aber sofort vergewissern.« Er fuhr zum Telegrafenamt, von dem das Telegramm abgeschickt war, und er hatte Glück, daß er den Postmeister noch gerade traf, als er das Büro verlassen wollte.
»Ich möchte das Originaltelegramm sehen, das ungefähr um fünf Uhr an mich abgesandt wurde.«
»Das werden wir bald haben«, war die prompte Antwort.
Aber es war doch schwierig, und eine halbe Stunde kostbare Zeit verging, bis das mit Bleistift geschriebene Formular gefunden wurde. Coldwell brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um festzustellen, daß es nicht von Leslie geschrieben war, obwohl es zweifellos eine Frauenhandschrift war.
Er kehrte zu Leslies Wohnung zurück und schickte den Detektiv in einem Wagen nach Scotland Yard. Peter benutzte die Zwischenzeit, um ihm alles zu erzählen, was er in Mrs. Inglethornes Kasten gefunden hatte.
»Das habe ich vermutet – genau wie Leslie – wie Miss Maughan. Daß sie immer von dem Sohn sprachen, hat nichts zu bedeuten. Die unglückliche Lady Jane hatte die Absicht, das Kind bei sich zu behalten, wenn es ein Mädchen gewesen wäre. Das war aber nicht der Wunsch der Bande, in deren Hände sie gefallen war, sie sagten ihr einfach, es sei ein Junge. Aber ich werde das feststellen, bevor wir weitere Schritte in dieser Sache unternehmen. Um Leslie Maughan mache ich mir eigentlich keine allzu großen Sorgen – sie hat auf jeden Fall eine Pistole bei sich.«
Eine Viertelstunde später hielt sein Wagen vor den hinteren Toren des Holloway-Gefängnisses. Nachdem seine Legitimation genau überprüft war, wurde er eingelassen und zu dem Teil des Gebäudes geführt, wo die Untersuchungsgefangenen untergebracht waren. Die Oberwärterin öffnete die Tür und ging hinein. Gleich darauf kam sie wieder heraus und winkte ihn in die Zelle.
Mrs. Inglethorne saß mit verzerrtem Gesicht da. Ihre großen, rauhen Hände hatte sie gefaltet. Sie kannte Coldwell und schaute ihn grimmig an.
»Es hat keinen Zweck, daß Sie hier hereinkommen«, rief sie mit schriller Stimme. »Ich werde Ihnen doch nichts sagen! Wenn Sie das Kind haben wollen, suchen Sie es doch! Das wird Sie einige Zeit kosten!«
»Hören Sie einmal zu.« Coldwell hatte seine eigene Methode, mit Verbrechern umzugehen. »Ob Sie neun Monate Gefängnis oder eine lange Zuchthausstrafe bekommen, das hängt jetzt ganz davon ab, welche Antwort Sie mir geben. Und es ist auch Aussicht vorhanden, daß Sie zu noch schärferer Strafe verurteilt werden.«
Sie sah ihn böse an. »Was meinen Sie damit?«
Er erzählte ihr einen Teil ihres Lebens, sagte ihr, wo sie gelebt hatte und wie lange sie an den verschiedenen Plätzen gewohnt hatte. Sie machte keine Bemerkungen; verbesserte ihn auch nicht, sondern schaute auf ihre Hände. Erst als er eine Pause machte, blickte sie auf.
»Ist das alles?« fragte sie unverschämt.
»Noch nicht ganz. Sie haben in den letzten zwanzig Jahren auch Kinder in Pflege genommen. Sie haben von einer Person, die sich den Namen Arthur Druze beilegte, einen kleinen Jungen erhalten, der erst einige Tage alt war. Wo ist dieses Kind?«
»Das ist doch Ihre Sache, das herauszufinden.«
»Nein, es wäre besser, wenn Sie es herausbrächten.« Seine Stimme hatte jetzt einen harten, metallischen Klang, den sie nur manchmal annahm. »Sie haben mir zu beweisen, daß das Kind noch am Leben ist, oder es wird eine andere Anklage gegen Sie erhoben!«
Sie schaute erschrocken auf, ihr großer Mund zitterte.
»Sie können mich nicht anklagen –«
»Ich werde Sie wegen Mordes anklagen, und ich werde alle Gärten der Häuser aufgraben, in denen sie in den letzten sechs Jahren gewohnt haben – da werden sich die Beweise schon finden.«
Mrs. Inglethorne war verstört. Ihre Augen starrten den Inspektor wild an, und er las in ihrem Blick die Todesangst, die sie erfüllte.
»Ich habe das nicht getan«, schrie sie.
»Sie waren Marthas Dienstmädchen – waren Sie das nicht?«
Sie nickte stumm und warf sich dann wie eine Wahnsinnige auf ihr Lager. Aber in diesem Anfall brach sie ihre lebenslangen Gewohnheiten und gestand die Wahrheit.
Ein Polizeiwagen stand vor der Tür von Leslies Wohnung, als Coldwell zurückkam, und ein Dutzend Beamte warteten auf dem Gehsteig. Er winkte Peter zu sich.
»Es wäre besser, wenn Sie mitgingen!« sagte er.
»Wohin fahren Sie?«
»Nach Wimbledon – fühlen Sie sich wohl genug? Es ist möglich, daß alles ruhig abgeht, aber ich habe das Gefühl, als ob Ihre erhabene Hoheit kämpfend fallen wird.«
»Ist Leslie dort?«
Coldwell nickte.
Hundert Meter von dem Haus Anita Bellinis entfernt hielt das Polizeiauto an, und die Beamten stiegen aus. Coldwell hatte schon während der Fahrt seine Anordnungen getroffen. Vier der Detektive wurden auf der Rückseite des Hauses postiert, die übrigen sollten den vorderen Eingang angreifen. Coldwell selbst klingelte. In seiner rechten Hand hatte er eine kurze, scharfe Axt, um die Kette zu durchschlagen, wenn sich die Tür öffnete. Hinter ihm stand Peter. Der Chefinspektor neigte sich vor.
»Können Sie etwas hören?« flüsterte er.
»Nein.«
»Ich dachte, ich hörte einen Schrei.«
Er wartete noch einige Sekunden, dann wandte er sich an den nächsten Mann:
»Geben Sie mir das Brecheisen.«
Die lange Stahlstange wurde ihm gereicht. Mit einem geschickten Stoß klemmte er die Spitze zwischen Tür und Pfosten. Ein neuer Ruck stieß das Brecheisen noch tiefer hinein. Dann schwang er mit aller Gewalt die Stange nach rückwärts, und die Tür flog mit einem Krachen auf. Ein Hieb mit der Axt zerbrach die Kette, die Polizisten strömten in die dunkle Halle und eilten die Treppe hinauf.
*
Der untersetzte, breitschulterige Javaner hob Leslie mühelos auf, und während er das tat, bildeten seine Landsleute einen Kreis um ihn, klatschten im Rhythmus in die Hände und sangen monoton den Heiratsgesang ihres Landes. Leslie hörte es und biß die Zähne aufeinander, als sie sich von den starken Armen dieses Eingeborenen emporgehoben fühlte.
Einen Augenblick konnte sie Anita Bellini sehen – ihr haßerfüllter Blick ließ sie im Innersten erschauern.
»Leben Sie wohl, meine kleine Maughan«, sagte sie höhnisch. »Am Ende dieser Feier wartet der bittere Tod auf Sie.«
Dann stand sie plötzlich still und starrte auf die Tür.
»Keiner hat sich zu rühren! Sagen Sie diesen Kerlen, daß sie sich ruhig verhalten, Bellini!«
Es war Coldwells Stimme. Leslie fühlte, daß der Javaner sie zu Boden gleiten ließ. Aber plötzlich wurde sie wieder von jemand aufgehoben, und sie sah in Peters hageres Gesicht.
»Also – keine Schießerei«, sagte Coldwell höflich, »dann wird es auch keinen Spektakel geben. Ich verhafte Sie, Bellini. Ich vermute, daß Sie darauf vorbereitet sind?«
»Ich bin Prinzessin Bellini«, begann sie.
»Ob Sie Prinzessin Bellini oder Annie Druze oder Alice Druze sind, macht für mich nicht viel aus«, erwiderte Coldwell, als er sie am Handgelenk packte. »Aber Sie haben den Vorzug, die erste Frau zu sein, der ich in meinem Leben Handschellen anlege.«
Die kalten Stahlringe um ihre Handgelenke schnappten ein.
»Die meisten Frauen, die ich verhaftet habe, waren liebenswürdige sanfte Geschöpfe, verglichen mit Ihnen.«
Anita Bellini antwortete nicht. Sie sah plötzlich sehr alt aus. Aber dann tat sie etwas unerwartet Großzügiges, Ritterliches und Vornehmes. Sie nickte der erstaunten Gruppe von Javanern zu, die von drei bewaffneten Detektiven bewacht wurden.
»Diese Leute dort haben nichts Unrechtes getan, sie haben nur meine Befehle ausgeführt, ohne Kenntnis des Gesetzes.«
Sie sagte etwas in javanischer Sprache zu dem Mann, der Leslie gehalten hatte, und er lächelte und antwortete in derselben Sprache.
»Dies ist mein Erster Boy« – sie zeigte mit dem Kopf auf ihn – »er ist verantwortlich für die anderen.«
Dann warf sie den Kopf zurück und sagte mit einem harten Lächeln:
»Nun wohl, das ist das Ende der Druzes.«
»Nicht ganz«, erwiderte Leslie ruhig. »Auch mit Martha muß noch abgerechnet werden.«
Anita Bellini schaute zornig, aber auch furchtsam auf Leslie Maughan.
»Was wollen Sie damit sagen – wen meinen Sie mit Martha?« fragte sie scharf. »Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen.«
Leslie lächelte.
»Ich habe sie noch vor zwei Tagen gesehen, ich war also glücklicher als Sie.«
Sie warteten nur noch so lange, bis Leslie sich umgezogen und die Gefangene einen Mantel angelegt hatte. Dann verschwand Anita Bellini aus Leslies Leben. Nur noch einmal begegnete sie ihr, als sie auf dem Zeugenstuhl saß und gegen die Angeklagte mit dem Monokel aussagte. Aber Anita sah sie nicht an, sondern starrte geradeaus auf den Richter in seiner blutigroten Robe.
Bevor Leslie das Haus verließ, suchte sie noch nach Elisabeth und fand sie weinend in Ihrem Bett in dem kleinen Ankleidezimmer. Anita Bellini war schon aus dem Haus und auf dem Weg zur Wimbledon-Polizeistation. Das Kind war in zerschlissene und zerlumpte Kleider gehüllt. Leslie stand in dem Hausflur und schaute sie an. Die Tränen waren ihr nahe.
»Elisabeth, weißt du noch, daß du in den Büchern immer schöne Väter gesehen hast?«
Das Kind nickte und lächelte.
»Nun, ich werde dich jetzt zu einem wirklichen Vater bringen.«
»Zu einem wirklichen Vater?« fragte sie atemlos. »Zu meinem Vater?«
»Ja, aber du kannst nicht erraten, wer es ist.«
Plötzlich hängte sich das Kind an sie und schloß seine Arme um ihren Hals.
Peter fand sie beide weinend.