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18

Peter Dawlish ging in seinem engen Zimmer auf und ab, er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und eine Zigarette zwischen den Lippen, die noch nicht angesteckt war. Er dachte an Kinder – an die kleine Elisabeth und an seinen Sohn, den er noch nicht gesehen hatte. Es war alles hoffnungslos. Wie und wo konnte er mit seinen Nachforschungen beginnen? Sein Kind erschien ihm so unwirklich wie eine Traumgestalt, Elisabeth dagegen war tatsächlich vorhanden. Er sah ihre großen, furchtsamen Augen und ihr blasses Gesicht vor sich. Er schloß die Augen – und da war sie wieder, zart und schlank, und sie bat um Hilfe, die er ihr doch nicht geben konnte.

Er war ganz allein im Haus. Durch die dünnen Trennungswände dieser unsolid gebauten Häuser hörte er, wie ein Mann und eine Frau miteinander stritten. Auf der Straße pfiff ein Junge einen Gassenhauer. Wenn Mrs. Inglethorne hier wäre, würde er die Wahrheit schon erfahren, und wenn er sie halb erwürgen müßte. Wer außer ihr kannte Elisabeths Aufenthalt?

Er wohnte erst so kurze Zeit hier, daß er nicht einmal wußte, mit wem sie verkehrte – er kannte keinen dieser heimlich herschleichenden kleinen Diebe, die hier ihre Beute verhandelten. Er wußte nicht mehr von ihr, als daß sie eine gemeine und habgierige Person war. Sie hatte keine Bekannten, die sie abends besuchten. Sie durfte es bei dem Charakter ihres Gewerbes ja auch nicht wagen, andere Leute ins Vertrauen zu ziehen.

Die Polizei hatte das Haus von oben bis unten durchsucht, um vor allen Dingen weiteres Beweismaterial gegen sie zu entdecken. Man hatte aber nur nach wertvollen Gegenständen gesucht, die sie gekauft hatte, nach Stoffen und Seidenballen. Um Elisabeth hatte sich außer Leslie und ihm selbst eigentlich niemand gekümmert.

Dieser Gedanke kam ihm, als er auf und ab ging und tief nachdachte. Wäre es nicht möglich, daß er etwas finden würde, was sie übersehen hatten, wenn er das Haus noch einmal durchsuchte? Vielleicht einen winzigen Anhaltspunkt, der auf die Spur des Kindes wies? Aber was ging ihn eigentlich die ganze Sache an? Welches gesetzliche und moralische Recht hatte er – denn eigentlich, Mrs. Inglethornes Tochter für sich zu beanspruchen? Aber er setzte sich über diese Frage hinweg, nahm seine Taschenlampe und ging nach unten.

Die Tür zu dem Schlafzimmer der Frau stand offen. Das Schloß, das er aufgebrochen hatte, war noch nicht repariert worden. Er ging hinein und schaute sich um.

Wenn die Polizei eine Haussuchung vorgenommen hat, bleibt gewöhnlich ein Chaos zurück. Aber in diesem Falle war das Zimmer dadurch höchstens aufgeräumt worden. Eine Anzahl von Kleidern, die offenbar der Frau gehörten, lagen auf dem Bett. Zwei Öldrucke, die einst die Wand geschmückt hatten, waren heruntergenommen. Die sauberen, unverfärbten Stellen auf der Tapete bezeichneten die Plätze, an denen sie früher hingen. Neben den Kleidern stand ein viereckiger, hölzerner Kasten, wie ihn Soldaten zum Transport ihrer Habseligkeiten benutzen. Der Kasten war geöffnet worden und war unverschlossen. Ein Stück Zeug hatte sich zwischen Deckel und Rand geklemmt, so daß er ein wenig offenstand.

Wo würde eine Frau wie Mrs. Inglethorne wohl ihre Papiere verwahren? Verwahrte sie überhaupt Schriftstücke? Er versuchte, sich in die Gewohnheiten solcher Leute hineinzudenken und sich alles ins Gedächtnis zurückzurufen, was er zufällig aus zweiter Hand in Dartmoor über Menschen ihres Schlages gehört hatte. Unter dem Bett? Aber die Polizei hatte augenscheinlich die Matratzen aufgerollt und dort alles durchsucht. Dort war nichts. Er öffnete den großen, schwarzen Kasten geringschätzig. Aber plötzlich sah er mit erwachendem Interesse, daß die Innenseite des Deckels mit Zeitungspapier beklebt war. Hier hatte Mrs. Inglethorne Ausschnitte gesammelt, die sie interessierten und die einen Rückschluß auf ihre Einstellung und Denkungsart zuließen. Eine Überschrift fiel ihm ins Auge:

›Die Erbin eines großen Vermögens durch einen Kinderstrumpf entdeckt.‹

Eine andere lautete:

›Die Mutter wiedererkannt durch das Monogramm auf dem Kleid des Kindes!‹

Er las die Zeitungsausschnitte sorgfältig durch. Sie handelten alle nur von dem einen Gegenstand; Identifizierung unbekannter Kinder, wodurch die glücklichen Personen, die die Herkunft der Kleinen nachweisen konnten, große Vermögen erwarben. Einige Zeitungsausschnitte waren schon sehr alt, gelb und kaum noch entzifferbar. Anscheinend sammelte Mrs. Inglethorne sie schon seit langen Jahren.

Er vermutete, daß die Polizei den Kasten auch durchsucht hatte. Er war fast ganz mit kleinen, runden Bündelchen gefüllt, die mit einer Kordel zusammengebunden waren. Manche waren aus Leinen, aus rauhem Kalikostoff oder aus Baumwolle, und als er tiefer hineinfaßte, berührte er sogar Seide. Diese Bündel waren früher einmal weiß gewesen, aber vieles Berühren und Staub hatten sie grau und unansehnlich gemacht. Er öffnete eins der Bündel und rollte es auf. Er fand das Nachthemd eines Kindes, ein Paar kleine, wollene Schuhe und einen Schal. An den Schuhen war mit einer Stecknadel ein Stück Papier befestigt, auf dem eine ungeübte Hand die Worte geschrieben hatte: ›Mrs. Larses Junge, zehn Tage alt, Masern, neun Monate.‹ Hier also war die Lebensgeschichte des kleinen Sohnes von Mrs. Larse verzeichnet. ›Masern, neun Monate!‹ war seine Grabschrift.

Mrs. Inglethorne war eine Engelmacherin, er hatte das schon längst vermutet. Er öffnete ein anderes Bündel, vielleicht würde er auch etwas über Elisabeth finden. Das zweite Bündel enthielt nur ein rauhes Kalikokleid und auf einem Zettel die Worte: ›Junges Mädchen namens Leavey, fünf Tage Keuchhusten, sechs Wochen.‹ Er öffnete ein Päckchen nach dem anderen, und jedes war eine Tragödie für sich. Nur bei wenigen war die Todesursache in kurzen Worten erwähnt, in manchen fand er zwei gleichlautende Zettel.

Es lagen bereits zwölf Bündel vor ihm, die er geprüft hatte; er nahm nun das dreizehnte heraus und war gespannt, was der Inhalt dieser glücklichen oder unglücklichen Nummer sein würde. Er entrollte ein kleines Nachtgewand aus feinstem Leinen, das beste und teuerste, das er unter all den anderen gefunden hatte. Ein Schal aus schwerer Seide und ein winziges kleines Hemd aus weichem Flanell lagen dabei. Zuerst konnte er den dazugehörigen Zettel nicht finden, aber später entdeckte er ihn an der Innenseite des Schals. Er enthielt nur drei Worte, die aber sein Herz schneller schlagen ließen:

›Miss Marthas Mädchen.‹

Das Bündel fiel aus seinen zitternden Händen. Miss Marthas Mädchen!

Er dachte an den Brief. ›Druze hat ein sehr gutes Heim für deinen Sohn gefundene Und mit Bleistift war daruntergekritzelt gewesen: ›Marthas Dienstmädchen.‹ Und Marthas Dienstmädchen war – Mrs. Inglethorne!

Miss Marthas Mädchen! Diese Frau hatte sich nicht geirrt. Er untersuchte die Kleidungsstücke nacheinander und fand, daß an dem Nachthemd in der Nähe des Kragens ein zweiter Papierstreifen angesteckt war, der dieselbe Handschrift aufwies. Als er ihn las, stieß er einen heiseren Schrei aus:

›Miss Marthas Mädchen Elisabeth.‹

Fieberhaft wickelte er all die anderen kleinen Bündel aus, aber er fand keinen weiteren Anhaltspunkt. Seine Knie zitterten, als er die Treppe hinaufstieg. Die ihm so teuren Kleidungsstücke hatte er an sein Herz gedrückt. Dann kam ihm plötzlich der Gedanke, daß er sofort Leslie sprechen mußte. Er wagte es nicht, die Kleider in der Wohnung zu lassen, faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche. Den seidenen Schal benutzte er als Halstuch unter seinem dünnen Mantel, denn der Abend war bitter kalt.

Die Fenster ihrer Wohnung waren dunkel, aber er erinnerte sich daran, daß sie schwere Sammetvorhänge hatte, die vielleicht zugezogen waren. Er klingelte und wartete, aber es kam keine Antwort. Er läutete noch einmal. Aus einem nahegelegenen Hausflur kam ein Mann auf ihn zu.

»Wen wünschen Sie denn zu sprechen?« fragte er in einem amtlichen Ton. Peter wußte sofort, daß er einen Detektiv vor sich hatte.

»Ich möchte Miss Maughan sprechen – mein Name ist Dawlish.«

»Ach so, Sie sind Mr. Dawlish. Miss Maughan ist nicht hier. Sie wohnt zur Zeit bei Chefinspektor Coldwell. Es ist niemand in diesem Haus.«

Peter verbarg seine Enttäuschung nicht. Er war so erfüllt von seiner Entdeckung, daß er sich einem Menschen gegenüber aussprechen mußte. Er mußte Leslie sehen. Der Detektiv gab ihm die Adresse Coldwells, und Peter ging quer über die Charing Cross Road, um die Untergrundbahnstation zu erreichen, Als er auf der anderen Seite der Straße angelangt war, hatte er ein ungewisses Gefühl, drehte sich um und sah zu den Fenstern ihrer Wohnung hinauf. Er sah ein kurzes Aufflackern von Licht, als ob jemand eine elektrische Taschenlampe für den Bruchteil einer Sekunde angedreht hätte.

Peter blieb stehen. Es mußte also doch jemand in Leslies Wohnung sein. Langsam ging er über die Straße zurück. Der Detektiv war verschwunden, er war zur Rückseite des Häuserblocks gegangen, um seinen Kollegen dort aufzusuchen. Während Peter noch zögerte, öffnete sich plötzlich die Haustür. Er folgte einer momentanen Eingebung, stieß sie weit auf und trat einen Schritt in die Dunkelheit.

»Wer ist dort?« fragte er. An die Vorgänge, die sich dann abspielten, konnte er sich nicht erinnern. Etwas Weiches und zugleich Schweres fiel mit einem Schlag auf seinen Kopf. Sein weicher Hut wurde zusammengepreßt, als ob er aus Papier sei. Er taumelte und fiel in die Knie. Ein zweiter Schlag streckte ihn zu Boden. Das Blut rann an seinem Gesicht herunter und färbte den weichen Seidenschal, der früher einmal sein Kind eingehüllt hatte. '

An diesem bitterkalten Abend waren keine Spaziergänger in der Charing Cross Road zu sehen. Ein eisiger Nordostwind blies, und die Leute eilten schneller als sonst nach Hause. Kein Müßiggänger hätte dem Detektiv erzählen können, daß drei kleine Männer schnell über den Gehsteig zu einem Auto geeilt waren, das gerade in dem Augenblick vor der Haustür gehalten hatte, als Peter hineinging.


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