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Zur Zeit des Hochwassers, bevor die kleinen, ungestümen Nebenflüsse des Isisi-Flusses wieder ihren gewöhnlichen Umfang angenommen hatten, kam Sanders zur Residenz zurück. Er war sehr müde, denn er hatte eine Woche oben im Lande bei den Eingeborenen zugebracht. Nach vielen Bemühungen war es ihm schließlich gelungen, diese gleichgültigen Leute davon zu überzeugen, daß die Überschwemmung und Versumpfung ihrer Dörfer weniger den bösen Geistern als der Vernachlässigung der einfachsten Vorsichtsmaßregeln zuzuschreiben war.
»Ich habe dir doch gesagt, Rabanini«, sagte Sanders verzweifelt, »daß du den oberen Kanal sauber und von Bäumen und Sträuchern freihalten sollst, und ich habe dir für diese Arbeit doch schon viele Säcke Salz bezahlt.«
»Herr, es ist so«, erwiderte Rabanini und kratzte nachdenklich an seinen langen, braunen Beinen.
»Habe ich dich nicht beim letzten Vollmond, bevor die Regenzeit kam, gefragt, ob der Kanal sauber und in Ordnung ist, und hast du mir nicht geantwortet, er sehe aus wie eine Dorfstraße?« fragte Sanders ärgerlich. »O Herr«, bekannte Rabanini offen, »ich habe dich angelogen, denn ich dachte, du wärest verrückt. Denn welcher andere Mann könnte mit seinen wunderbaren Augen voraussehen, daß der Regen so bald und so heftig kommen würde? Deshalb, o Herr, habe ich nicht an den oberen Kanal gedacht. Viele Bäume sind mit dem Hochwasser gekommen, haben ihn verstopft, und so ist ein kleiner Damm entstanden. Ich bin ein unwissender Mann, und meine Gedanken sind ganz erfüllt von meinem eigenen Bruder, der von weither zu mir zu Besuch kam, denn er ist sehr krank.«
Sanders hatte keine Zeit, an Rabaninis kranken Bruder zu denken, als die schlanke, weiße »Zaire« ihren Weg den Strom hinunter nahm. Er war selbst sehr müde und brauchte Ruhe, denn seine fürchterlichen Kopfschmerzen zeigten ihm an, daß ihn ein Malariaanfall packen werde. Er hatte ein Gefühl, als ob sein ganzes Gehirn aus Jalousien bestände, die sich schnell hintereinander öffneten und schlossen und ihn bei jedem Aufblitzen eines Lichtstrahls einen Augenblick bewußtlos werden ließen.
Captain Hamilton holte ihn am Kai ab. Sanders stieg an Land, schwankte ein wenig und erzählte eine merkwürdige Geschichte von Abenteuern, die er auf einem norwegischen Salmfluß erlebt hatte. Hamilton nahm ihn besorgt am Arm und führte ihn zum Hause.
Zehn Minuten später hatte er Sanders zu Bett gebracht, der sich nur schwach dagegen wehrte. Er gab ihm eine erstaunliche Menge Chinin und Arsen und trat dann aus dem kühlen, dunklen Bungalow in den grellen, weißen Sonnenschein, der über dem Exerzierplatz lag. Er war ernst und nachdenklich.
»Eine eurer Frauen soll am Bett unseres Herrn Sandi wachen«, sagte er zu dem Sergeanten Abibu. »Sie soll mich rufen, wenn es ihm schlechter geht.«
»Bei meinem Leben«, erwiderte Abibu und wandte sich zum Gehen.
»Wo ist Tibetti?« fragte Hamilton.
Der Sergeant kam wieder zurück und schien verlegen zu sein. »O Herr, Tibbetti ist mit der weißen Dame, deiner Schwester, fortgegangen. Sie wollten ein Palaver mit Jimbujini, dem Zauberdoktor der Akasava, abhalten. Sie sitzen im Walde in einem magischen Kreise und, o Herr, Tibbetti wird sehr weise.«
Hamilton fluchte. Er hatte Leutnant Tibbetts, seiner Stütze und seinem Adjutanten, den Befehl gegeben, das Einexerzieren einiger neuer Kanorekruten zu überwachen, die vor einigen Tagen hier eingetroffen waren.
»Gehe und sage Mr. Tibbetti, er soll zu mir kommen«, befahl er. »Aber erst schicke eine Frau zu Sandi.«
Leutnant Tibbetti mit dem glatten, jungenhaften Gesicht, heiß vor Aufregung, aber doch höchst befriedigt, kam eiligst herbei. »Sir«, sagte er, salutierte ernst und umständlich und sah seinen Vorgesetzten mit merkwürdiger Feierlichkeit an.
»Bones, wo zum Teufel, haben Sie gesteckt?«
Bones atmete tief. »Wissenschaft!« sagte er kurz.
Hamilton sah seinen Untergebenen beunruhigt an. »Verdammt noch einmal, sind Sie nicht mehr bei Verstand?«
Bones schüttelte heftig den Kopf. »Geheimwissenschaft, mein Herr und Kamerad. Man ist niemals zu alt zum Lernen in dieser netten, schönen Welt.«
»Da haben Sie recht, ich bin ganz sicher, daß Ihr Leben nicht lang genug ist, um alles zu lernen.«
»Ich danke Ihnen, Sir.«
Patricia, die weniger Gewissensbisse empfand als Bones, kehrte langsamer zur Residenz zurück.
»Sanders hat sich mit Fieber legen müssen«, sagte Hamilton zu ihr.
»Fieber?« rief sie bestürzt. »Es ist doch nicht etwa – gefährlich?«
Bones lächelte nachsichtig und beruhigte sie. »Es ist nichts Ansteckendes, meine liebe Miß Hamilton.«
»Machen Sie nicht so dumme Scherze«, sagte sie so scharf, daß Bones zurückschreckte. »Glauben Sie etwa, daß ich mich vor ansteckenden Krankheiten fürchte? Ist es gefährlich für Mr. Sanders?« fragte sie ihren Bruder wieder.
»Nicht gefährlicher als ein tüchtiger Schnupfen«, antwortete er scheinbar sorglos. »Mein liebes Kind, wir haben alle Fieber. Du wirst es auch noch bekommen, wenn du bei Sonnenuntergang ohne Moskitoschuhe ausgehst.«
Er erklärte ihr mit der Gleichgültigkeit des alten Tropenmannes, der gegen Malaria abgehärtet und abgestumpft ist, welche Rolle die Moskitos bei dieser Erkrankung spielen, daß sie besonders gern an den Hand- und Fußgelenken stechen, weil die großen Blutgefäße und Arterien an diesen Stellen mehr an der Oberfläche der Haut liegen. Aber er konnte Patricia nicht beruhigen. Sie wollte bei Sanders wachen, aber Hamilton widersprach so heftig, daß sie schließlich ihre Absicht aufgab.
»Er würde es mir niemals verzeihen, wenn ich das zuließe. Morgen früh wird es ihm wieder gut gehen.«
Sie zweifelte daran, aber zu ihrem größten Erstaunen erschien Sanders zum Frühstück, als ob nichts vorgefallen wäre. Nur seine Augen sahen müde aus, und seine Hand zitterte ein wenig, als er die Kaffeetasse zum Munde hob. Ein Wunder, dachte Patricia, und äußerte dies auch.
»Nicht im mindesten, meine liebe Miß«, sagte Bones, der wie stets die Verantwortung für alle ungewöhnlichen Erscheinungen, die sie lobte, für sich in Anspruch nahm, mochten sie natürlich oder unnatürlich sein. »Das ist noch gar nichts im Vergleich zu dem, was mir einmal passiert ist. Ham, mein lieber, alter Freund, erinnern Sie sich daran, wie ich damals vom Machenombi-Strom heruntergebracht wurde? Ich sprach nur noch im Delirium – ich raste und tobte und war ganz von Sinnen. Wenn Sie mich damals gesehen hätten«, fuhr er fort und zeigte feierlich mit seinem knochigen Finger auf Patricia, »dann hätten Sie gesagt, Bones pfeift auf dem letzten Loch.«
»So etwas Vulgäres hätte ich nicht gesagt, Bones«, protestierte sie. »Hatten Sie denn damals auch Malaria?«
»Oh«, sagte Hamilton triumphierend, »ich war damals zu höflich, es zu bezweifeln. Aber wir wollen diese Frage lieber unbeantwortet lassen, Patricia.«
Bones zuckte die Schultern und sah seinen Vorgesetzten mit einem Blick vernichtender Verachtung an.
»Wenn ein tapferer Mann in der Ausübung seiner Pflicht fällt, meine teure Miß Patricia, dann ist die Größe des Geschosses nicht von Belang, das ihn auf dem Schlachtfeld getötet und seine Verwandten und Gläubiger in Trauer versetzt hat.«
»Nun sagen Sie doch einmal wirklich, was Ihnen gefehlt hat?«
»Masern«, erwiderte Hamilton brutal.
»Das war schlecht von Ihnen, mein alter Offizier. Trotzdem ist es richtig. Aber wenn erst mein Laboratorium fertig ist, dann werde ich glühende Kohlen auf Ihr Haupt sammeln. Miß Patricia, es wird ein vollständiger Umschwung aller Dinge hier kommen, es wird kein Fieber, keine Masern mehr geben – nur noch Gesundheit, Reichtum und Weisheit, das schwöre ich Ihnen!«
»Er scheint einen Sonnenstich zu haben«, sagte Hamilton. »Nehmen Sie sich doch zusammen, Bones. Sie sind hier unter guten Freunden.«
Aber Bones war über Spötteleien erhaben.
Er hatte sich eine große, viereckige Hütte an der Küste bauen lassen. Er war nächtelang aufgeblieben und hatte mit Schiene und Winkel einen komplizierten Plan gezeichnet, in dem gewisse blaue Rechtecke Fenster und große, rote Kegel Türen andeuteten. Obendrein hatte er auch noch eine Fassade in dem ernsten Stil entworfen, der zur Zeit des Königs Georg üblich war.
Nachdem dieser wundervolle, nach Maßstab gezeichnete Plan, auf dem Schnitte, Fassaden und Grundrisse prangten, fertig war, hatte Bones Mojeri von den unteren Isisi kommen lassen, der im ganzen Land berühmt war als Erbauer großer Häuser, und ihm die Ausführung anvertraut.
»Mojeri, dieses sollst du für mich bauen«, sagte Bones, der an dem Ende eines Bleistiftes kaute und entzückt auf seinen eigenen Plan sah, der vor ihm ausgebreitet lag. »Und du wirst berühmt werden in der ganzen Welt. Sieh einmal her. Dieser Raum soll zweimal so groß werden wie dieser, und du sollst einen künstlichen Gang ausdenken, daß ich von dem einen in den anderen Raum gehen kann, ohne daß jemand sieht, daß ich komme oder gehe. Dies hier soll mein Schlafzimmer werden, und in diesem großen Zimmer will ich Magie betreiben.«
Mojeri nahm den Plan in die Hand und sah ihn an. Er hielt ihn zuerst verkehrt, dann seitlich.
»O Herr«, sagte er schließlich und legte das Blatt ehrerbietig wieder fort, »ich werde mich an all diese großen Wunderdinge erinnern.«
»Hat er es denn auch getan?« fragte Hamilton, als Bones von dieser Unterredung berichtete.
Bones blinzelte und schluckte verlegen. »Ja, er ist hingegangen und hat mir eine viereckige Hütte gebaut – denken Sie nur, eine ganz einfache Hütte mit einem Raum. Dieser Mojeri ist ein großer Schwindler – ein Esel . . .«
»Lassen Sie mich doch einmal Ihren Plan sehen«, sagte Hamilton. Bones reichte ihm die Zeichnung.
»Hm«, meinte Hamilton, nachdem er sich alles genau betrachtet hatte. »Es ist sehr nett gezeichnet, aber wie wollten Sie denn eigentlich in ihr Zimmer kommen?«
»Natürlich durch die Tür, mein lieber, alter Offizier«, erwiderte Bones sarkastisch.
»Ich dachte, durch das Dach oder vielleicht auch durch eine Versenklappe, wie man sie auf den Bühnen findet.«
Plötzlich dämmerte es Bones. »Ach, ich habe doch nicht etwa die Tür vergessen?« fragte er ungläubig und sah über die Schulter seines Vorgesetzten.
»Natürlich! Wo führt denn eigentlich dieser Gang hin?«
»Direkt von meinem Schlafzimmer zu dem Raum, der mit ›L‹ bezeichnet ist.«
»Dann scheinen Sie ja ein Geisterkönig zu sein«, sagte Hamilton bewundernd. »Es ist nämlich gar nicht so leicht, zu dem Raum ›L‹ zu kommen, da Sie mitten in den Gang eine Querwand eingezeichnet haben –«
»›L‹ bedeutet Laboratorium«, erklärte der Architekt schnell. »Aber wo ist denn die Wand? Richtig, hier steht sie – aber die können wir ja nachher wieder herausbrechen – das ist eine Augenblickssache!«
»Großzügig gesprochen, Bones«, erwiderte Hamilton, nachdem er den Plan noch einmal betrachtet hatte. »Ich glaube, Mojeri hat ganz gut gehandelt. Sie müssen eben mit dem einen Zimmer zufrieden sein. Was wollten Sie denn eigentlich mit dem großen Haus anfangen?«
»Der Wissenschaft dienen und den menschlichen Geist erleuchten«, entgegnete Bones großartig.
»Oh, ich verstehe – Sie wollen dort Feuerwerk machen? Eine glänzende Idee.«
»Ich muß Sie leider eines Besseren belehren, mein lieber alter Herr«, erklärte Bones mit bewunderungswürdiger Geduld. »Ich werde nämlich meine alten medizinischen Studien wiederaufnehmen. In letzter Zeit habe ich leider viele wertvolle Stunden durch meine frivole Vergnügungssucht versäumt. Die Zeit entflieht – das Leben ist kurz –, und ich möchte noch hinzufügen –«
»Lassen Sie es lieber«, bat Hamilton. »Ich bekomme sonst Kopfschmerzen.«
Bones sah ihn interessiert an. »Darf ich Ihnen etwas verschreiben, Sir«, begann er.
»Nein, nein, danke, danke, ich möchte lieber die Kopfschmerzen aushalten«, sagte Hamilton schnell.
Es dauerte noch eine ganze Woche, bis das Laboratorium eingerichtet war. Dann veranstaltete Bones bei einem Nachmittagstee eine Einweihungsfeier.
Er selbst erschien dabei in einem langen weißen Operationskittel und trug eine schreckliche Leinenmaske, die an einer Schutzbrille aus Glimmer befestigt war. Durch diese betrachtete er tiefsinnig die Welt, als er Sanders, Hamilton und Patricia hereinbat. Sein Willkommensgruß wurde durch die Maske etwas unverständlich. Das Innere des Raumes war ungemütlich. Glasretorten, Reagenzgläser, Flaschen und all die wissenschaftlichen Instrumente bedeckten den großen Tisch und verschiedene Regale, ebenso die drei im Raum vorhandenen Stühle.
»Ich begrüße Sie in meiner kleinen wissenschaftlichen Werkstätte«, sagte Bones mit hohler Stimme hinter seiner Maske. »Ich möchte – ach, treten Sie, bitte, nicht in das eiserne Untergestell, mein lieber alter Offizier. Miß Patricia, Sie setzen sich ja in eine Schale mit Medizinalalkohol!«
Bones nahm seine Maske ab und sah ganz rot und aufgeregt aus.
»Behalten Sie das Ding nur auf, Bones«, meinte Hamilton, »Sie sehen so viel besser aus.«
Sanders trat an das Mikroskop, das unter einer großen Glasglocke stand. »Sie sind ja recht gut eingerichtet, Bones«, sagte er lobend. »Mit welchem Zweig der Medizin wollen Sie sich denn näher befassen?«
»Mit Tropenkrankheiten, Sir«, erwiderte Bones und nahm die Glasglocke von dem Mikroskop ab. »Ich hoffe, daß Sie mir gestatten, nach dem Tee eine Blutprobe von Ihnen zu nehmen.«
»Danke sehr«, entgegnete Sanders. »Ich glaube, Hamilton eignet sich für solche Versuche besser.«
»Kommen Sie mir nicht in die Nähe!« drohte Hamilton.
Als das Teegeschirr abgeräumt war, bot sich Patricia heldenmütig als Opfer an. »Nehmen Sie eine Blutprobe von mir«, sagte sie und streckte die Hand aus.
Bones nahm eine Nadel und sterilisierte sie in einer Spiritusflamme. »Ich verletze Sie nicht«, sagte er etwas nervös und näherte die Spitze ihrer weißen Haut. Aber plötzlich zog er sie schnell wieder zurück. »Also, Sie brauchen keine Angst zu haben – ich tue Ihnen wirklich nichts, meine teure, gute Miß Patricia«, wiederholte er etwas unsicher und nahm ihren Arm in seine Hand. Dann richtete er sich wieder auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nein, ich habe nicht den Mut, es zu tun«, gestand er.
»Sie sind ja ein schöner Doktor«, sagte sie vorwurfsvoll, nahm ihm die Nadel aus der Hand und stach sich. »Hier!«
Bones nahm den kleinen roten Tropfen, preßte ihn zwischen seine Gläser, tupfte einen Öltropfen darauf und stellte das Mikroskop ein.
Er schaute lange durch das Okular, und als er wieder aufblickte, sah er verstört aus. »Schlafkrankheit, meine liebe, arme Miß Hamilton!« rief er atemlos. »Ihr Blut ist vollständig mit Trypanosomen verseucht! Großer Gott! Was für ein Segen für Sie, daß ich es noch rechtzeitig entdeckt habe!«
Sanders stieß den jungen Wissenschaftler beiseite und schaute selbst durch das Mikroskop. Als er sich umwandte, sah auch er bleich und eingefallen aus. Ein furchtbarer Schrecken befiel Patricia.
»Sie verrückter Mensch«, grollte Sanders böse, »das sind doch keine Trypanosomen – Sie haben das Okularglas nicht abgestaubt!«
»Keine Trypanosomen?« fragte Bones bestürzt.
»Sie scheinen ja obendrein noch enttäuscht zu sein, Bones?« sagte Hamilton.
»Rein menschlich bin ich natürlich überglücklich«, erwiderte Bones düster, »aber als Wissenschaftler fühle ich mich direkt blamiert.«
Die Einweihungsfeier war von viel kürzerer Dauer, als der Gastgeber beabsichtigt hatte. Er hatte einen kleinen wissenschaftlichen Vortrag vorbereitet und wollte am Schluß ein schönes Experiment vorführen. Damit die Sache mehr Eindruck mache, hatte Bones den Raum künstlich verdunkelt, und seine Gäste saßen nun in der heißen, stickigen Finsternis, während er seine Gerätschaften nicht finden konnte und leise fluchte. Als das Experiment endlich beginnen sollte, fielen einige Flaschen auf den Boden und zerbrachen, und es breitete sich ein pestilenzartiger Gestank aus. Das Auditorium versuchte so schnell wie möglich die Türe zu erreichen.
»Die Frauen und Kinder zuerst!« rief Hamilton und öffnete die Türe.
Sie verabschiedeten sich aus respektvoller Entfernung von Bones.
Hamilton ging zu den Baracken der Haussa, und Sanders kehrte mit Patricia zur Residenz zurück.
Sie sprachen von Bones und seinem neuesten Steckenpferd.
»Glauben Sie wirklich nicht, daß ich diese schrecklichen Bakterien in meinem Blut habe?«
Sanders schaute geradeaus. »Ich dachte es – Sie verstehen, wir wissen, die Trypanosomen sind kleine Tierchen, die die Schlafkrankheit verursachen. Jeder, der einige Zeit hier in dieser Gegend gelebt hat, kann sich damit infizieren. Bones ist natürlich viel zu oberflächlich, er macht nichts ordentlich – ich hätte gleich daran denken sollen.«
Sie sagte nichts, bis sie zur Veranda kam und sich ihrem Zimmer zuwandte.
»Es war heute nicht schön bei Bones, nicht wahr?«
»Es war höllisch ungemütlich«, gab Sanders zu.
Sie seufzte tief und lang und klopfte ihm leise auf den Arm, bevor ihr klarwurde, was sie tat.
Bones kam von seiner Hütte und begegnete Sanders, der über den Exerzierplatz eilte.
»Bones, Sie müssen zu den Isisi hinauffahren«, sagte er. »Dort oben ist eine böse Krankheit ausgebrochen. Wahrscheinlich ist diese verdammte Überschwemmung daran schuld. Dieser niederträchtige Rabanini hat seinen Fluß nicht saubergehalten. Die unteren Wälder sind völlig überflutet.«
»Ich danke Ihnen vielmals, Exzellenz, daß Sie meinen wissenschaftlichen Fähigkeiten soviel zutrauen –«
»Machen Sie sich nicht lächerlich«, erwiderte Sanders gereizt. »Ich schicke Sie hinauf, damit Sie diese faulen Schlingel an die Arbeit bringen sollen. Wenn man die Kerle sich selbst überläßt, setzen sie sich einfach ruhig hin und sterben eher, als daß sie einen Entwässerungsgraben ziehen. Sorgen Sie dafür, daß ein paar kleine Kanäle mit einem gewissen Gefälle zum Strom hin angelegt werden. Rabanini versetzen Sie von mir aus einen Fußtritt. Nehmen Sie auch noch ein paar Kilo Chinin mit und verteilen Sie es, wenn es notwendig ist.«
Trotzdem schmuggelte Bones eine große Anzahl seiner medizinischen Instrumente mit an Bord und kam begeistert für seine neue Aufgabe bei den unteren Isisi an.
Drei Wochen später saß Sanders schweigsam und in Gedanken versunken am Tisch.
Patricia hatte schon mehrere Male erfolglos versucht, ihn in die Unterhaltung zu ziehen, aber er hatte ihr nur einsilbig geantwortet. Zuerst war sie etwas verletzt und ärgerlich gewesen, dann aber erkannte sie, daß ihn schwere Sorgen drücken mußten. Als sie aber gelegentlich den Namen Bones erwähnte, wurde er plötzlich lebhaft.
»Ja, Bones hat einige medizinische Kenntnisse«, beantwortete er ihre Frage. »Er hatte sich schon zwei Jahre als Student damit befaßt, bevor er einsah, daß Chirurgie und Medizin nicht seine Stärke seien.«
»Finden Sie nicht auch, daß hier ein Arzt fehlt?« fragte sie.
»Der ist hier unnötig. Ab und zu kommt der Militärarzt vom Hauptquartier, und außerdem haben wir eine Apotheke für die Eingeborenen. Glücklicherweise sind Epidemien hier sehr selten, allerdings haben wir auch einige schwere Krankheiten, die ja augenblicklich von den medizinischen Expeditionen genau untersucht werden – Schlafkrankheit, Beriberi und so weiter. Manchmal breitet sich natürlich auch eine Epidemie aus. Hamilton, bleiben Sie, bitte, ich möchte mit Ihnen reden.«
Hamilton hatte sich erhoben und wollte in sein Zimmer gehen, nachdem er seiner Schwester kurz zugenickt hatte. Er wandte sich wieder um.
»Gehen Sie ein wenig mit mir auf und ab«, sagte Sanders, nachdem er sich bei Patricia entschuldigt hatte.
»Was gibt es?« fragte Hamilton, als sie nicht mehr auf der Veranda gehört werden konnten.
Sanders schien sehr beunruhigt zu sein. »Haben Sie schon daran gedacht, daß wir keine Nachricht von Bones haben, seitdem er uns verlassen hat?«
Hamilton lächelte. »Er ist ein exzentrischer Mensch. Wenn ihm wirklich etwas Schlimmes zugestoßen wäre, hätten wir schon von ihm gehört.«
Sanders antwortete nicht gleich. Sie gingen auf dem kiesbestreuten Weg vor dem Haus auf und ab.
»Von Rabaninis Dorf sind aus dem einfachen Grund keine Nachrichten mehr gekommen, weil seit Bones' Ankunft niemand mehr hinein- oder herauskam. Es liegt, wie Sie wissen, auf der schmalen Landzunge an dem Zusammenfluß der beiden Ströme. Kein Boot hat die Ufer verlassen, und ein Versuch, auf dem Landwege dorthinzukommen, ist durch den Einsatz von Gewalt verhindert worden.«
»Durch Gewalt?« fragte Hamilton verwundert.
Sanders nickte. »Ich habe heute morgen einen längeren Bericht darüber erhalten. Zwei Männer der Isisi aus einem anderen Dorfe fuhren dorthin, um Verwandte zu besuchen. Als sie sich dem Ufer näherten, wurde mit Pfeilen auf sie geschossen, und sie kehrten schnell wieder um. Auch der Häuptling des Dorfes, M'gomo, ist in derselben Weise empfangen worden. Mein Späher Ahmet hat auch davon gehört und versucht, selbst nach der Halbinsel zu rudern. Auf eine Entfernung von zweihundert Metern wurde mit Feuerwaffen auf ihn geschossen.«
»Man hat doch nicht etwa Bones überfallen?« rief Hamilton bestürzt.
»Im Gegenteil, Bones hat Ahmet überfallen, denn Bones war der Schütze.«
Die beiden gingen schweigend weiter.
»Entweder ist er tatsächlich verrückt geworden«, sagte Hamilton, »oder . . .«
»Oder?«
Hamilton lachte verlegen und hilflos.
»Ich kann dieses Geheimnis nicht enträtseln. Dr. McMasters kommt ja morgen hierher, um ein paar kranke Haussas zu besuchen. Am besten nehmen wir ihn mit nach oben, damit er sich Bones einmal ansieht.«
Bedrückt und schweigsam fuhren sie am nächsten Morgen mit der »Zaire« nach Norden. Patricia hatte sie bis zum Kai begleitet und sah dem kleinen Dampfer besorgt nach.
Nur Dr. McMasters war guten Mutes, denn für ihn bedeutete die Exkursion eine willkommene Unterbrechung seiner sonst so eintönigen Praxis.
»Es ist möglich, daß er unvorsichtigerweise in die Sonne gegangen ist«, meinte er. »Ich habe verschiedene solcher Fälle gekannt, in denen die Leute den Verstand verloren haben. Ich besinne mich auf einen Mann in Grand Bassam, der einen anderen erschossen hat . . .«
»Nun seien Sie aber ruhig, Sie verfluchter Teufel!« rief Hamilton nervös. »Wir wollen lieber über Schmetterlinge sprechen.«
Die »Zaire« fuhr um die Flußbiegung, hinter der Rabaninis Dorf lag; Aber kaum war sie dort in Sicht gekommen, als von drüben schon ein Schuß fiel.
Sanders sah, wie die Kugel vor dem Dampfer ins Wasser einschlug und wie eine kleine Fontäne aufspritzte. Er schaute durch das Glas und beobachtete das Ufer.
»Es ist Bones«, sagte er grimmig. »Wir wollen beidrehen, Abibu.«
Der Steuermann drehte das Rad.
Ping! Wieder fiel ein Schuß. Diesmal schlug das Geschoß rechts ein. Die drei Männer drehten sich um.
»Die Leute sollen alle Deckung nehmen!« befahl Sanders dann ruhig. »Wir werden an dieses Ufer gehen, selbst wenn Bones eine ganze Batterie von 75er-Geschützen dort hat!«
Ein Ausruf Hamiltons lenkte plötzlich seine Aufmerksamkeit ab.
»Er signalisiert«, sagte Hamilton.
Bones gab mit seinen langen Armen Flaggensignale. Es schien offenbar eine Warnung zu sein.
Hamilton öffnete sein Notizbuch und schrieb mit.
»Tut mir furchtbar leid, lieber alter Offizier«, schrieb er Buchstabe für Buchstabe hin und lächelte kopfschüttelnd über die unnötig lange Einleitung. »Muß Sie fernhalten, schwerer Ausbruch der Pocken . . .«
Sanders nickte ernst und signalisierte zum Maschinenraum: »Stoppen«.
»Mein Gott«, sagte Hamilton entsetzt, denn er hatte schon einmal eine solche Epidemie erlebt. Es überkam ihn eine Gänsehaut, und er schüttelte sich vor Schrecken. Große Landstrecken waren damals in kürzester Zeit verödet. Ein ganzer Volksstamm war ausgestorben, die Überreste der eingefallenen Hütten konnte man noch unter dem hohen Elefantengras des Dschungels sehen.
Er wischte sich die Stirne und las besorgt die folgende Botschaft, denn er dachte an seine Schwester.
»Hatte entsetzlich zu kämpfen, verlor zwanzig Mann, bin aber Herr der Lage. Krankheit im Abnehmen. Holen Sie mich nach drei Wochen hier ab. Mußte hierbleiben, da sonst die unvorsichtigen Leute die Epidemie verbreitet hätten.«
Sanders schaute auf Hamilton. Mr. McMasters lachte. »So bekomme ich doch wenigstens schnell einmal Urlaub!« sagte er und rief seinen Diener.
Hamilton sprang nach vorn aufs Geländer, lehnte sich gegen einen Messingpfosten und signalisierte Antwort. »Wir schicken Ihnen einen Arzt.«
Von drüben wurde heftig gegensignalisiert: »Sprenge Doktor in die Luft! Was bin ich denn?!«
»Was soll ich ihm antworten?« fragte Hamilton, als er Sanders die Botschaft übermittelt hatte.
»Signalisieren Sie ihm: ›Sie sind ein Held‹«, sagte Sanders heiser.