Edgar Wallace
Die Gräfin von Ascot
Edgar Wallace

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26

Er lachte hart auf.

»Das sieht dir wieder ähnlich! Du hast dir den Kopf mit dummen Geschichten vollgekeilt, bis du darüber den Verstand verloren hast. Aber bis jetzt hast du mir immer noch nicht erzählt, woher du das Geld hast.«

Sie war müde und erschöpft.

»Ich habe das Geld bekommen wie alle ehrlichen Leute – ich habe schwer dafür arbeiten müssen. Zunächst hatte ich ein kleines Kapital, das war ein großer Vorteil. Ich fing bescheiden an; Marie gab ich zu guten Leuten in Pflege, während sie noch ganz klein war. Und nachher hatte ich Glück. Das Geschäft, das ich begann, schlug gut ein, und ich konnte etwas Geld sparen. Zeit zum Ausruhen blieb mir nie. Ich brachte Marie dann auf die Schule, zuerst nach Bexhill, wo sie mit lauter netten und anständigen Kindern zusammenkam, und später nach Cheltenham. Das war das Beste, was ich für sie tun konnte.«

Er sah sie unter seinen buschigen Augenbrauen düster an.

»Du hast alles Geld, das du mir hättest schicken sollen, für sie verschwendet! Verdammt noch mal, warum hast du mir nicht gesagt, wo du warst? Wenn ich diesen Auftrag nicht angenommen hätte, dann hätte ich dich wahrscheinlich nie wieder gesehen. Deinetwegen hätte ich im Rinnstein verrecken können!«

»Ja, ich wollte dich vergessen«, entgegnete sie entschlossen. »Hauptsächlich des Kindes wegen. Ich mußte zwischen dir und ihr wählen. Du hattest all dieses Elend über uns gebracht. Ich will nicht sagen, daß es allein deine Schuld war. Deine Erziehung ist auch daran schuld – die Umgebung, in der du aufgewachsen bist. Aber Marie tat mir so leid. Und so entschied ich mich für sie und ließ dich fallen. Ihr beide hattet nicht zusammen Platz in meinem Leben. Manche Frauen hätten vielleicht anders darüber gedacht, aber ich bin nicht wie die anderen. Ich bin zur Mutter geboren; die Liebe zu Dir hast du in mir erkalten und erstarren lassen. Und das Kind war so lieb«, fuhr sie fort. »Als sie hierherkam, dachten alle Nachbarn, ich wäre die Pflegerin, und ich sagte nichts dagegen. Ohne großes Zutun von meiner Seite entwickelte sich das eigentlich alles von selbst. An ihr wollte ich all das wiedergutmachen, was an mir versäumt worden war. Sie sollte all das Glück genießen, von dem ich nur träumte, ohne es jemals zu erreichen. Und so hatte ich etwas, wofür ich lebte, kämpfte und arbeitete, ein großes Ziel, zu dem ich aufblicken konnte. Es gab Zeiten, in denen es mir fast zu schwer wurde. Ich fühlte mich manchmal namenlos elend und allein . . .«

»Was soll ich dann erst sagen – vollständig von der Welt abgeschlossen? Meinst du denn, ich hätte mich nicht einsam gefühlt? An mich hast du natürlich nicht gedacht!«

Sie schüttelte den Kopf. Wie hätte sie auch an ihn denken sollen? Höchstens mit Schaudern und mit Abscheu.

»Ich konnte nicht an euch beide denken, das habe ich dir doch schon vorher gesagt«, erwiderte sie leise.

Sie sah ihn fragend an. Hatte sie ihn beruhigen können?

»Sie wird ja wohl den reichen Kerl heiraten?« fragte er.

»Ich weiß es nicht – aber ich hoffe, daß es dazu kommt.«

»Hat er denn Geld?«

Sie nickte. »Ja, ich glaube.«

Er erhob sich und ging mit schlürfenden Schritten im Laden auf und ab.

»Wenn er Geld hat, kann er auch für sie zahlen«, sagte er.

In diesem Augenblick schien das Gewitter seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Es war, als ob der Himmel über ihnen einstürzte. Verwirrt sah sie ihn an.

»Joe, das ist doch ganz unmöglich! Das kannst du ihm doch nicht sagen. Du darfst dich ihm doch nicht aufdrängen!« rief sie.

»Natürlich werde ich ihm das sagen!«

Als er sah, daß sie unter der Wucht seiner Worte zusammenschrak, freute er sich. Befriedigt sah er, wie sie litt.

»Laß mich nur, ich werde schon so viel aus ihm herausholen, als irgend möglich ist – er muß blechen, sonst mache ich ihm die Hölle heiß! Ich weiß, wer er ist – er heißt Morlay. Und dabei ist dieser Lump ein Detektiv! Donnerwetter, er soll meine Tochter heiraten? Lieber würde ich sehen, daß sie verreckt!«

»Joe, ich will dir Geld geben«, versprach sie ihm.

»Selbstverständlich wirst du mir Geld geben.«

Sie feuchtete ihre trockenen Lippen mit der Zunge an.

»Du willst ihm alles sagen – daß du Maries Vater bist und daß du einen Polizisten erschossen hast?«

»Halt's Maul!« schrie er wild. Seine Hände zuckten.

»Nun ja, das mußt du ihm doch mitteilen, wenn du ihm überhaupt etwas sagst. Glaubst du, er wird dir dann weiterhelfen? Nein, du kannst nicht wieder alles zugrunde richten! Du darfst ihr Leben nicht ruinieren!« rief sie.

»Wenn die Göre überhaupt etwas wert ist, wird sie sich gern um mich kümmern. Ich bin ihr Vater.«

Sie schaute ihn furchtsam an und erkannte, daß sie ihn nicht weiter reizen durfte.

»Joe«, sagte sie nervös, »vielleicht war es nicht recht von mir, daß ich nicht an dich gedacht habe. Du hast jetzt deine Tochter gesehen – habe ich denn keinen Erfolg gehabt? War es nicht richtig, was ich tat? Bist du nicht stolz auf sie?«

»Immer kannst du nur von ihr quatschen. Wo bleibe ich?« fuhr er sie wütend an.

»Spreche ich denn von mir? Ich habe doch auch auf alles verzichtet!« rief sie leidenschaftlich. »Nein, Joe, du darfst es ihr nicht sagen und alles verderben!«

»Doch, gerade das werde ich tun! Ich werde es ihr sagen, denn du sagst ja selbst, daß sie mein Kind ist. Sie muß vor allem für das Gute zahlen, das sie genossen hat!«

»Darin irrst du – sie ist uns gar nichts schuldig!« rief sie verzweifelt. »Kinder sind ihren Eltern nichts schuldig, sondern Eltern schulden ihnen etwas!«

Aber die beiden redeten aneinander vorbei.

»Ich bin ihr Vater«, erklärte er eigensinnig. »Und wenn sie das nicht begreift, werde ich es ihr schon beibringen. Wenn man natürlich so eine dumme Göre Mylady nennt, setzt man ihr Flausen in den Kopf, aber die werde ich ihr schon austreiben! Und dir bringe ich auch noch Vernunft bei! Wenn ich daran denke, was du alles für sie getan hast, und daß du das ebensogut für mich hättest tun können, dann packt mich die Wut! Sie hast du mit allem Luxus umgeben, und ich konnte derweilen im Gefängnis hocken!«

Seine Stimme überschlug sich und klang schrill und laut. Einen Augenblick duckte er sich, dann sprang er auf sie zu.

»All die vielen Jahre – die vielen Jahre!«

Sie glaubte, das Ende all ihrer Leiden wäre gekommen, denn seine Finger packten sie an der Kehle.

Es wurde ihr rot vor den Augen, und der Regen draußen wurde in ihren Ohren zum betäubenden Orkan.

Sie hatte nur noch den ungewissen Eindruck, daß sich die Tür öffnete. Dann ließ plötzlich der Druck an ihrer Kehle nach.

Es war Herman. Er war in sein Zimmer zurückgekehrt und hatte angestrengt auf die Stimmen unten im Laden gelauscht. Das Gewitter hatte etwas nachgelassen; nach einem furchtbaren Donnerschlag hörte Herman draußen nur noch den Regen. Und als der Wind die Regentropfen gegen die Fenster peitschte, so daß die Stimmen von unten kaum noch zu hören waren, hielt er es oben nicht länger aus.

Mit eisernem Griff packte er den Mann bei den Schultern und riß ihn zurück. Joe schwankte und starrte Herman an.

»Scheren Sie sich zum Teufel!« rief er wild.

»Was hat sie Ihnen getan?« schrie ihn Herman an.

Mrs. Carawood öffnete die Augen . . . Es kam ihr selbst in diesem Augenblick zum Bewußtsein, daß Herman nichts von der Wahrheit erfahren durfte.

»Es ist schon gut, Herman«, sagte sie mit großer Mühe und richtete sich auf. »Ich bin nur ohnmächtig geworden.«

»Aber ich habe doch selbst gesehen, wie dieser Schuft Sie erwürgen wollte!«

»Lassen Sie meine Frau in Ruhe!«

Herman schaute verstört von einem zum anderen.

»Was, das ist Ihre Frau?«

Bittend wandte er sich an Mrs. Carawood, aber sie ließ hilflos den Kopf sinken.

»Es stimmt, was er sagt, Herman. Mylady – ist meine Tochter. Sie ist keine Gräfin . . . Ich habe nur für sie gearbeitet, und nun wird er alles ruinieren. Jetzt wird sie mir Vorwürfe machen, Herman, und sie wird mich hassen . . . Ach, ich wünschte, ich wäre tot!«

Joe hatte sich inzwischen gesetzt und sah sich nach einem Kissen um. Als er keines fand, riß er einen Mantel vom Kleiderhaken, knüllte ihn zusammen und legte ihn hinter seinen Rücken. Dann zeigte er mit dem Daumen zur Tür.

»'raus mit euch!« befahl er. »Ich werde die Nacht hier schlafen, und ich will nicht länger gestört sein. Ich will auch einmal meine Ruhe haben!«

Sie war froh, daß sie entkommen konnte. Wenigstens hatte sie ein paar Stunden Zeit. Mit schweren Schritten ging sie zur Tür. Ihr Gesicht war eingefallen, und sie sah alt aus. Aber ein Gedanke wenigstens war tröstlich: Marie würde heute abend nicht nach Hause zurückkommen. John wollte sie zu einer Schulfreundin bringen.

Herman sah ihr besorgt nach, als sie die Treppe hinaufging. Dann hörte er sie in ihrem Zimmer, das über dem Laden lag.

Unentschlossen stand er in der Nähe der Tür. Er wollte diesen Eindringling nicht alleinlassen. Mrs. Carawood hatte mit ihm gekämpft und war unterlegen, aber der Kerl hatte auch noch mit ihm zu rechnen!

»Was stehen Sie denn noch hier herum – scheren Sie sich zum Teufel!«

»Ich geh' nicht fort!« sagte Herman ruhig. »Wenn einer hier 'rausfliegt, dann sind Sie es! Was fällt Ihnen ein, Mrs. Carawood so zuzusetzen! Sie brechen ihr das Herz, und niemand ist so gut zu mir gewesen wie sie . . .«

Die Tränen waren ihm nahe, aber dann ballte er die Fäuste, als sich Joe unsicher erhob.

»Also jetzt endlich 'raus!« sagte Joe und zeigte auf die Tür. »Wenn Sie nicht schnell machen, packe ich Sie beim Kragen und zeige Ihnen mal, was es heißt, sich frech gegen mich zu benehmen. Ich bin Joe Hoad, und mir kommt es nicht auf eine Schlägerei an. Ich habe einmal einem Polizisten das Lebenslicht ausgeblasen! Wenn Sie also jetzt nicht bald verschwinden, dann bekommen Sie es mit mir zu tun!«

»Wenn Sie einen Polizisten ermordet hätten, wären Sie ja an den Galgen gekommen. Aber ich weiß, was ich tun werde – ich rufe die Polizei. Sie scheinen ja verrückt zu sein! Wahrscheinlich sind Sie aus irgendeinem Irrenhaus entsprungen!«

Joe hatte sich zu sehr aufgeregt. Seine Züge verzerrten sich, die Mundwinkel zuckten, und er rang vergeblich nach Worten.

Herman konnte nichts verstehen. Er beobachtete erstaunt, wie der Mann nach dem Herzen griff. Hoads Augen traten aus den Höhlen, als er keine Luft mehr bekam. Er tastete nach dem Gesims über dem Kamin, dann gelang es ihm, ein paar Worte hervorzustoßen.

»Schnell . . . das Fläschchen . . .!«

Herman kam näher.

»Schnell . . . schnell . . . sonst kratze ich ab!«

Mit zwei Schritten hatte Herman den Kamin erreicht.

Der Mann starrte auf die Medizin und winkte verzweifelt.

»Sie – Sie haben ja auch kein Mitleid und kein Erbarmen mit ihr gehabt«, sagte er und faßte einen schrecklichen Entschluß.

Ohne Zögern schraubte er den Verschluß des Fläschchens ab, schüttete den Inhalt in den Kamin und warf die leere Flasche hinterher, daß sie zersplitterte. Im selben Augenblick glitt Joe zu Boden. Herman blieb vollkommen ruhig und lauschte angestrengt. Von oben hörte er kein Geräusch, nur der Regen rauschte draußen auf die Straße. Er drehte das Licht aus, öffnete die Ladentür und schlich dann auf Zehenspitzen zu der Stelle zurück, wo der reglose Körper lag. Mühsam zerrte er ihn zur Tür und schleifte ihn auf den Gehsteig hinaus. Es regnete in Strömen – niemand war zu sehen.


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