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Die hervorstechendsten Eigenschaften des Mr. Homer Lynne waren weitgehende Sympathie und eine unüberwindliche Vorliebe für Tschaikowskys Konzertouvertüre »1812«. Er liebte zwar Musik im allgemeinen, aber seine Nachbarn in Pennerthon Road in Hampstead bezeugten mit einer gewissen Bitterkeit, daß er dieser großen Schlachtkomposition vor allem anderen den Vorzug gab. Zuerst hatte es private Auseinandersetzungen mit ihm gegeben, dann war er wegen öffentlicher Ruhestörung vor das Polizeirevier zitiert worden. Als auch das nichts nützte, schrieben die Rechtsanwälte der benachbarten Parteien scharfe Briefe an ihn.
Es war ebenso sonderbar als bedauernswert, daß dieser sympathische und liebenswürdige Herr sich nicht im geringsten um die Wünsche und das Wohlergehen seiner Nachbarn kümmerte. In seinem Schlafzimmer stand das größte und lauteste Grammophon, das Hampstead jemals gesehen hatte. Der teuere Apparat war außerdem mit einem automatischen Plattenwechsler versehen, so daß der Spektakel unentwegt von neuem begann. Aber das schlimmste war, daß Mr. Lynne sich die Nachtstunden zu seinen Konzerten wählte.
Auf dem Polizeirevier hatte er angegeben, daß Grammophonmusik das einzige Mittel sei, seine aufgeregten Nerven so weit zu beruhigen, daß er Schlaf finden könne. Und nur sein Lieblingsstück »1812« sei laut genug, um diese Wirkung zu erzielen.
Daß Mr. Lynne sonst sehr mitfühlend war, konnten zum mindesten drei betrübte Elternpaare bezeugen. Er war ein Theateragent, der hauptsächlich für Südamerika arbeitete; seine Spezialität war die Zusammenstellung von »Truppen« für zwanzig größere oder kleinere Theater. Die großen Künstler, die auf seine Engagements hin durch Argentinien, Mexiko, Chile und Brasilien gereist waren, lobten ihn über die Maßen. Sie waren ausgezeichnet behandelt worden und hatten überall das größte Entgegenkommen bei den Leuten gefunden, für die Mr. Lynne sie engagiert hatte. Man nahm an, und es war auch eine Tatsache, daß er selbst finanziell an einer großen Anzahl von Theatern und Varietés interessiert war. Darin konnte man auch zum Teil die Erklärung für die Aufmerksamkeit finden, die den bekannten Künstlern auf ihren Tourneen zuteil wurde.
Aber er schickte auch kleinere Artisten auf Reisen, unbedeutende Leute, deren Namen niemals auf den Programmen englischer Aufführungen zu finden waren. Sie wurden je nach ihrer äußeren Erscheinung und nach der Art ihres Wesens gewählt. Auch spielte dabei die Frage eine große Rolle, ob sie irgendwelche Verwandten besaßen oder sonst gebunden waren.
»Es ist ein entzückendes Land«, pflegte Mr. Homer Lynne zu sagen.
Er machte einen würdigen, vertrauenerweckenden Eindruck, verfügte über gute, gefällige Manieren und war glattrasiert mit Ausnahme eines kleinen grauen Backenbartes. Wenn man ihn nicht genauer kannte, hätte man ihn für einen erfolgreichen Rechtsanwalt mit einer Praxis in Kirchenangelegenheiten halten können.
»Es ist wirklich ein außerordentlich sympathisches Land, aber ich weiß nicht, ob ich ein junges Mädchen wie Sie dorthin schicken kann. Natürlich bekommen Sie ein sehr gutes Gehalt, und das Leben ist angenehm dort – haben Sie eigentlich Verwandte?«
Wenn die junge Dame dann etwas von einem Bruder oder einem Vater erzählte, oder auch nur von einer Mutter oder einer unverheirateten Tante sprach, die sich um sie kümmerte, so nickte Mr. Lynne und versprach, am nächsten Tag zu schreiben. Dieses Versprechen erfüllte er auch unweigerlich und bedauerte, mitteilen zu müssen, daß er die Dame für den Posten für nicht geeignet halte – und damit sagte er die Wahrheit. Wenn sie aber vollständig allein stand und keine Verwandten oder Freunde besaß, die ihm später durch Nachforschungen die Hölle heiß machten, dann konnte sie sicher sein, von ihm ein Dampferbillett erster Klasse nach Südamerika zu erhalten; aber nicht für eine Tournee, wie er sie für große Künstler arrangierte. Auch sollten die Damen nicht an den großen Bühnen auftreten, wo man sie leicht finden konnte. Er schickte sie zu kleineren Vergnügungsetablissements, die weniger den Charakter eines Theaters, aber mehr den eines Kabaretts hatten.
Im Laufe seiner Tätigkeit hatten ihn drei junge Mädchen angelogen, als sie sich um eine Stellung bei ihm bemühten. Sie erzählten ihm, daß sie keine Verwandten hätten, aber nach einiger Zeit erschien ein Bruder und erkundigte sich nach dem Verbleib seiner Schwester.
An einem herrlichen Junimorgen erlebte Mr. Lynne einen ähnlichen Fall. Er saß in seinem schönen Büro, hatte die Hände gefaltet und schaute ernst auf einen nervösen, kleinen, jüdischen Herrn, der an der anderen Seite des großen Mahagonischreibtisches Platz genommen hatte und seinen großen, breitkrempigen Hut im Schoß hielt.
»Rosie Goldstein«, sagte Mr. Lynne nachdenklich. »Ja, ich glaube, ich kann mich auf den Namen besinnen.«
Er klingelte, und ein junger Mann von dunkler Gesichtsfarbe erschien in der Tür.
»Bringen Sie mir mein Engagementsbuch, Mr. Mandez.«
»Sie müssen wissen, Mr. Lynne«, sprach der Besucher auf den Agenten ein, »daß ich nicht die geringste Kenntnis davon hatte, daß meine Tochter Rosie so weit über See gehen wollte, bis eine ihrer Freundinnen mir sagte, sie wäre zu Ihnen gegangen und hätte hier ein Engagement für Südamerika erhalten.«
»Ich verstehe vollkommen. Sie hat Ihnen also nicht gesagt, daß sie fortgehen wollte?«
»Nein.«
Der junge Mann kam mit einem großen Buch zurück. Mr. Lynne wandte langsam die einzelnen Blätter um und fuhr mit dem Finger die Liste der Namen entlang.
»Hier haben wir sie schon«, sagte er dann. »Rosie Goldstein. Ja, ich besinne mich jetzt ganz genau auf die junge Dame. Aber sie erklärte mir, sie sei eine Waise.«
Goldstein nickte.
»Das hat sie wohl getan, weil sie fürchtete, ich würde sie nicht fortreisen lassen«, sagte er dann mit einem Seufzer der Erleichterung. »Aber solange ich weiß, wo sie ist, mache ich mir nicht soviel Sorgen. Können Sie mir ihre augenblickliche Adresse sagen?«
Lynne schloß das Buch sorgfältig und sah seinen Besucher liebenswürdig an.
»Ich habe ihre gegenwärtige Adresse nicht«, entgegnete er freundlich. »Aber wenn Sie ihr einen Brief schreiben wollen, so adressieren Sie nur bitte an mich. Ich werde ihn dann zu unseren Agenten nach Buenos Aires senden. Die werden natürlich wissen, wo sie sich augenblicklich aufhält. Sie müssen bedenken, daß ich mit vielen größeren und kleineren Theatern in Verbindung stehe und daß ich mich nicht darum kümmern kann, wo die einzelnen Künstler zur Zeit auftreten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sie augenblicklich weiter im Lande ist.«
»Ja, das begreife ich vollkommen«, sagte Mr. Goldstein dankbar.
»Sie hätte Ihnen aber unter allen Umständen sagen müssen, was sie vorhatte«, meinte Mr. Lynne und schüttelte den Kopf.
In Wirklichkeit meinte er ja, daß sie es ihm hätte sagen müssen.
»Aber auf alle Fälle werde ich sehen, was wir in dieser Angelegenheit tun können.«
Er reichte Mr. Goldstein seine kleine, fleischige Hand, und Mr. Mandez begleitete den Herrn bis zur Tür.
Drei Minuten später saß Mr. Lynne einer hübschen jungen Dame gegenüber, die schon einige Bühnenpraxis besaß. Sie war mit einer Truppe, die in Revuen auftrat, auf Reisen gewesen. Als sie alles über ihre bisherige kurze Theaterlaufbahn erzählt hatte, kam Mr. Lynne zu der entscheidenden Frage.
»Was sagen denn Ihr Vater und Ihre Mutter dazu, daß Sie so weit in die Welt hinausgehen wollen?« Er schaute sie mit seinem wohlwollenden Lächeln an.
»Ich habe keine Eltern mehr.«
Mr. Lynne sah, daß sie sehr ernst geworden war und daß ihre Lippen zitterten. Daraus schloß er, daß sie erst kürzlich einen schweren Verlust erlitten haben mußte.
»Aber Sie haben doch sicher noch Geschwister oder nahe Verwandte?«
»Nein, auch nicht. Ich stehe ganz allein in der Welt, Mr. Lynne. Sie werden mich doch hoffentlich engagieren?« fragte sie bittend.
Natürlich war Mr. Lynne entschlossen, sie zu engagieren. In Wirklichkeit brachten ja die kleineren Artisten, die er nach Südamerika schickte, unendlich viel mehr ein als die großen Nummern, deren Namen in London und in der ganzen Welt bekannt waren.
»Ich werde Ihnen morgen meinen Bescheid zukommen lassen«, sagte er wie gewöhnlich.
»Sie haben doch nichts gegen mich? Bitte engagieren Sie mich doch.«
Er lächelte.
»Nun, dann will ich Ihnen jetzt schon zusagen, Miss Hacker. Sie brauchen sich deswegen keine Sorge zu machen. Ich werde Ihnen den Kontrakt zuschicken – aber es ist eigentlich besser, Sie kommen persönlich her und unterzeichnen hier.«
Das Mädchen eilte mit beflügelten Schritten die Treppe hinunter zum Leicester Square. Ihr Herz jubilierte. Sie hatte ein Engagement in Aussicht, und ihr Honorar war dreimal größer als das größte Gehalt, das sie jemals früher erhalten hatte! Am liebsten hätte sie allen Leuten, denen sie begegnete, von ihrem Glück mitgeteilt. Und doch hätte sie sich nicht im Traum einfallen lassen, daß sie schon ein paar Augenblicke später einem vollständig fremden Menschen all ihre frohen Hoffnungen erzählen würde.
Er sah hübsch aus, war tadellos gekleidet und machte den Eindruck eines Ausländers. Sein Gesicht war so freundlich und gütig, daß Kinder sofort Zutrauen zu ihm fassen konnten – eine Eigenschaft, die kein Psychologe bisher analysiert hat.
Sie machte seine Bekanntschaft buchstäblich durch einen Zufall. Er stand am Fuß der Treppe, als sie herunterkam. In ihrer großen Freude verfehlte sie eine Stufe und fiel ihm in die Arme.
»Entschuldigen Sie, bitte, es tut mir sehr leid«, sagte sie lächelnd.
»Sie sehen aber gerade nicht sehr traurig aus – im Gegenteil, Sie sehen wie eine junge Dame aus, die eben ein sehr vorteilhaftes Engagement nach Übersee erhalten hat.«
Sie starrte ihn an. »Woher wissen Sie denn das?«
»Das weiß ich, weil – nun gut, ich weiß es eben.« Er lachte, gab scheinbar seine Absicht auf, nach oben zu gehen, wandte sich um und ging mit ihr auf die Straße.
»Ja, Sie haben recht. Ich werde nach Südamerika gehen. Es ist eine außerordentliche Gelegenheit für mich. Gehören Sie auch zur Bühne?«
»Nein, ich bin kein Schauspieler und habe auch sonst nichts mit Theater zu tun. Aber ich kenne die Länder sehr gut, in die Sie gehen wollen. Möchten Sie gerne etwas über Argentinien hören?«
Sie sah ihn etwas erstaunt an.
»Ach ja«, sagte sie zögernd, »aber ich –«
»Ich möchte eine Tasse Tee trinken, kommen Sie doch bitte mit«, forderte Leon sie liebenswürdig auf.
Obgleich sie weder den Wunsch hatte, Tee zu trinken, noch sich mit ihm zu unterhalten, übte seine Persönlichkeit doch eine solche Anziehungskraft auf sie aus, daß sie die Einladung annahm. In demselben Augenblick unterhielt sich Mr. Lynne mit seinem dunkelhäutigen Angestellten.
»Fonso, sie ist wirklich eine ausgesuchte Schönheit.« Dabei küßte der sonst so nüchterne und ruhige Mann ekstatisch die Spitzen seiner Finger.
Es war das drittemal, daß Leon Gonsalez das elegante Büro Mr. Homer Lynnes in der Panton Street besuchte.
Früher bestand einmal eine Organisation, die man »Die Vier Gerechten« nannte. Sie hatten sich zusammengefunden zu dem Zweck, Gerechtigkeit an denen auszuüben, die das Gesetz verschont oder übersehen hatte, und der Ruf ihrer kühnen Taten war in die ganze Welt gedrungen. Einer von ihnen war allerdings schon gestorben, und von den dreien, die noch übrigblieben, hatte sich Poiccart, den man früher das Gehirn der vier nannte, zu einem stillen Leben nach Sevilla zurückgezogen. Vor kurzem hatte er einen Brief von einem Landsmann aus Rio de Janeiro erhalten, der allerdings nicht wußte, daß er zu den Vier Gerechten gehörte. Dieser schrieb ohne besondere Absicht, aber mit großer Erbitterung über gewisse Vorkommnisse. Poiccart wechselte verschiedene Briefe mit ihm und erfuhr dadurch, daß die meisten der hübschen jungen Engländerinnen, die in den obskuren Tanzhallen kleiner Städte aufgetaucht waren, durch die Agentur des ehrenwerten Mr. Lynne engagiert worden waren. Poiccart hatte seinen beiden Freunden in London darüber berichtet.
»O ja, es ist ein ausgezeichnetes Land«, sagte Leon Gonsalez und rührte nachdenklich seinen Tee um. »Sie sind natürlich sehr zufrieden mit Ihrem Engagement?«
»Es ist einfach wundervoll. Denken Sie, ich werde wöchentlich zwölf Pfund erhalten, außerdem Wohnung und Essen. Ich kann fast das ganze Geld sparen.«
»Wissen Sie eigentlich schon, wo sie auftreten werden?«
»Ich kenne doch das Land nicht«, antwortete sie lächelnd. »Es ist sehr beschämend für mich, aber ich kenne nicht eine einzige Stadt in Argentinien.«
»Es gibt auch nur wenig Leute, die darüber Bescheid wissen. Aber Sie haben wahrscheinlich schon einmal etwas von Brasilien gehört?«
»O ja, das ist ein kleines Land in Südamerika. Das weiß ich.«
»Wo die Nüsse herkommen«, scherzte Leon. »Nein, da irren Sie. Es ist kein kleines Land, es ist so breit wie von hier bis zur Mitte von Persien und so groß wie von Brighton bis zum Äquator. Haben Sie jetzt ungefähr einen Begriff von der Größe Brasiliens?«
Sie sah ihn staunend an.
Leon fuhr fort, ihr zu erzählen, aber er beschränkte sich auf Nachrichten über das Klima dieser Länder. Nicht ein einziges Mal erwähnte er ihren Kontrakt. Die eigentliche Absicht seines Zusammenseins mit ihr kam ans Tageslicht wenn sie auch nichts davon merkte –, als er sich von ihr verabschiedete!
»Ich werde Ihnen ein Buch schicken, Miss Hacker, das Sie sicherlich interessieren wird, wenn Sie nach Argentinien gehen. Sie finden darin alle Informationen, die Sie brauchen.«
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen«, sagte sie dankbar. »Darf ich Ihnen meine Adresse geben, damit das Buch auch ankommt?«
Weiter wollte Leon nichts erreichen. Er steckte den kleinen Zettel, auf den sie sie geschrieben hatte, in seine Brieftasche, und sie trennten sich.
George Manfred, der sich einen kleinen Zweisitzer gekauft hatte, wartete vor der Nationalgalerie auf ihn, und sie fuhren nach Kensington Gardens. Die Restaurationsräume dort waren zu dieser Zeit sehr wenig besucht. Sie ließen sich an einem einsamen Tisch nieder, und Leon erzählte von dem Erfolg seines Besuches.
»Es war außerordentlich günstig, daß ich eins seiner Opfer getroffen und kennengelernt habe.«
»Hast du denn Lynne selbst gesehen?«
Leon nickte.
»Nachdem ich mich von dem Mädchen verabschiedet hatte, besuchte ich ihn noch. Es war recht schwer, an diesem mexikanischen Herrn vorbeizukommen – ich glaube, er heißt Mandez –, aber schließlich saß ich doch Lynne gegenüber. Ich spiele wirklich nicht Banjo«, fuhr er lachend fort, »ich gebe dir in allem Ernst die feierliche Erklärung, mein lieber George. Das Banjo ist für mich ein schreckliches Instrument –«
»Du willst also mit anderen Worten sagen, daß du dich als einen Banjosolisten vorgestellt hast, der um ein Engagement in Südamerika bat?«
»Du hast es erraten. Und ich brauche dir wohl kaum zu sagen, daß er mich nicht nahm. Aber der Mann ist tatsächlich interessant.«
»Für dich sind alle Menschen interessant, Leon«, sagte Manfred lachend, stellte seine Kaffeetasse beiseite und steckte sich eine lange, dünne Zigarre an.
»Ich hätte dem Kerl am liebsten gesagt, daß er seiner ganzen Veranlagung nach eigentlich ein richtiger Brandstifter ist. Er hat das Gesicht eines Mordbrenners – Lombroso hat diesen Typ am genauesten beschrieben. Eine fleckenlose, zarte Haut, ein plumpes, kindliches Gesicht, außergewöhnlich feine Haare. Man kann solche Leute unter Tausenden herausfinden.«
Er strich sich das Kinn und runzelte die Stirn.
»Diese Kerle leben von der Zerstörung menschlichen Glücks und profitieren davon. Ich glaube, dieser Menschentyp ist zu allen Verbrechen fähig. Ich würde gerne einmal mit unserem Freund Poiccart hierüber sprechen.«
»Kann er nicht gesetzlich belangt werden?« fragte Manfred. »Können wir ihn nicht einfach anzeigen?«
»Nein, wir haben durchaus keine Handhabe gegen ihn. Der Mann ist wirklich ein Agent. Die Namen von ausgezeichneten Künstlern stehen in seinen Engagementsbüchern, und sie geben ihm alle das beste Zeugnis. Die Lüge, die nur halb eine Lüge ist, kann man leichter entdecken als einen Verbrecher, der nur halb ein Verbrecher ist. Wenn der Hauptkassierer der Bank von England zum Falschmünzer würde, so würde er der erfolgreichste Fälscher der Welt werden. Dieser Mr. Lynne hat sich nach allen Seiten hin gesichert. Ich habe vor einigen Tagen mit einem jüdischen Herrn gesprochen, einem kleinen, lebhaften Mann namens Goldstein, dessen Tochter vor sieben oder acht Monaten abgereist ist. Er hat bis jetzt noch nichts von ihr gehört, und er sagte mir, daß Mr. Lynne sehr erstaunt war, als er erfuhr, daß sie einen Vater hatte. Er machte seine Geschäfte am liebsten und eigentlich prinzipiell nur mit alleinstehenden Mädchen.«
»Hat Lynne dem Mann die Adresse seiner Tochter mitgeteilt?«
Leon zuckte die Schultern.
»Argentinien ist ein Land mit annähernd drei Millionen Quadratkilometern – wie soll man sie da finden? Cordova, Tucuman, Mendoza, Salta, Santa Fe, Rosalio – das sind nur ein paar Städte, und es gibt Hunderte von Plätzen, wo die kleine Goldstein jetzt tanzen mag. Und diese kleineren Orte haben weder einen englischen noch einen amerikanischen Konsul. Es ist entsetzlich, daran zu denken, George.«
Manfred sah nachdenklich auf den grünen Rasen des Parks.
»Wenn wir nur ganz sicher wären«, fuhr Gonsalez fort. »Es wird allerdings zwei Monate dauern, bevor wir es genau feststellen können, aber das Geld würde sich sicher lohnen. Unsere junge Freundin wird mit dem nächsten Postdampfer nach Südamerika abfahren. Du sagtest doch vor einiger Zeit, daß du gern wieder einmal nach Spanien gehen würdest? Ich glaube, ich werde die Reise nach Südamerika machen.«
»Das wird das beste sein. Ich sehe keine Möglichkeit, gegen den Mann vorzugehen, wenn du dich nicht vorher an Ort und Stelle informiert hast.«
Miss Lilah Hacker ging in Boulogne an Bord der »Braganza« und war sehr überrascht, als sie entdeckte, daß der höfliche fremde Herr, der sie so unterhaltend über die Geographie Südamerikas aufgeklärt hatte, auf demselben Dampfer fuhr.
Sie war in der rosigsten Stimmung und freute sich, in das Land zu kommen, in dem es ihr so gut gehen würde. Ihre Hoffnungen auf die Zukunft waren himmelhoch. Und wenn sie auch ein wenig enttäuscht war, daß der liebenswürdige Mr. Gonsalez sich während der Überfahrt nicht viel um sie kümmerte, sondern sich merkwürdig zurückhielt, so war ihr sein Verhalten doch nicht besonders wichtig. –
Einen Monat, nachdem Miss Hacker die »Braganza« betreten hatte, waren ihre Hoffnung und ihr Glaube an die Menschheit beinahe ganz zerstört. Die Schuld daran trug Rafferty, ein stämmiger Irländer, der allerdings in Argentinien geboren war. Er war der Eigentümer der Tanzhalle »La Plaza« in einer kleinen Stadt im Innern des Landes, wo Viehmärkte abgehalten wurden. Mit zwei anderen Mädchen war sie dorthin geschickt worden. Ihre Gefährtinnen besaßen allerdings schon Erfahrung darin, wie man die Gauchos zu unterhalten hatte, die jede Nacht zur Stadt kamen und für die das Lokal »La Plaza« der größte Anziehungspunkt war.
»Sie müssen Ihr Benehmen aber von Grund auf ändern«, sagte Rafferty lässig. »Ich habe gehört, daß Sie gestern abend Spektakel machten, als Señor Santiago wünschte, daß Sie sich auf seinen Schoß setzen sollten.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Miss Hacker empört. »Ich kann mich doch nicht mit einem Farbigen einlassen!«
»Also hören Sie einmal zu. In diesem Land gibt es keine Farbigen. Verstanden? Mr. Santiago ist ein Gentleman, außerdem hat er dicke Gelder – und wenn er sich das nächstemal um Sie bemüht, dann sind Sie gefälligst nett und liebenswürdig zu ihm. Haben Sie das begriffen?«
»Das tue ich nicht.« Sie war blaß und zitterte vor Aufregung. »Ich fahre heute noch nach Buenos Aires zurück.«
»So? Sehen Sie einmal an!« Ein breites Grinsen ging über Raffertys Gesicht. »Die verrückte Idee können Sie sich aber gleich aus dem Kopf schlagen!«
Plötzlich ergriff er sie am Arm.
»Sie gehen jetzt sofort auf Ihr Zimmer und bleiben dort so lange, bis ich Sie heute abend zur Vorstellung herunterhole. Und wenn Sie Launen und Grillen haben sollten – dann wird Ihnen das noch leid tun!«
Er stieß sie durch die rohe Holztür der kleinen Kammer, die ihr als Schlafzimmer diente. Nachdem er die Tür zugeschlagen hatte, blieb er noch im Gang stehen. Seine Flüche und Drohungen brachten sie vollständig außer Fassung und ließen ihr fast das Blut stocken.
Am Abend kam sie herunter und absolvierte ihre Tanznummer. Zu ihrem Erstaunen und ihrer Erleichterung erregte sie nicht die geringste Aufmerksamkeit des protzigen Mr. Santiago. Dieser halbblütige Spanier mit dem gelben Gesicht saß unten und würdigte sie keines Blicks.
Auch Mr. Rafferty war ungewöhnlich höflich und liebenswürdig.
Sie ging etwas beruhigter in ihr Zimmer zurück. Aber plötzlich entdeckte sie, daß der Schlüssel verschwunden war. Erfüllt von neuer Sorge legte sie sich nicht zu Bett, sondern blieb auf und wachte. Worauf sie wartete, wußte sie selbst nicht. Um ein Uhr hörte sie leise Schritte im Gang, und gleich darauf versuchte jemand, ihre Tür zu öffnen. Aber sie hatte zur Sicherung die Stuhllehne unter die Türklinke gestellt. Es wurde heftig daran gerüttelt, und der morsche Stuhl krachte. Dann vernahm sie ein Geräusch, als ob ein Kissen mit einem Stock geschlagen würde, und es war ihr, als ob draußen jemand längs der Holzwand zu Boden gesunken wäre. Einen Augenblick später klopfte es leise an ihrer Tür.
»Miss Hacker!« Sie erkannte die Stimme sofort wieder, »öffnen Sie schnell, ich will Sie von hier fortbringen.«
Mit zitternden Händen rückte sie den Stuhl fort, entfernte die wenigen schwachen Möbelstücke, die sie gegen die Tür gestellt hatte, und öffnete. Bei dem Licht einer Kerze, die sie angesteckt hatte, sah sie Mr. Gonsalez, der mit ihr auf der »Braganza« nach Argentinien gekommen war.
»Treten Sie ganz leise auf. Wir gehen über die Hintertreppe auf den Hof hinunter. Haben Sie einen Mantel? Nehmen Sie ihn mit, wir müssen über sechzig Kilometer mit dem Auto fahren, bevor wir die Eisenbahn erreichen . . .«
Als sie durch die Tür trat, sah sie jemand im Gang liegen, und schaudernd erkannte sie, was das Geräusch vorhin bedeutet hatte.
Sie erreichten den großen Hof hinter der Tanzhalle, wo viele staubbedeckte Autos standen. Die Wagen gehörten den Farmern und ihren Gauchos, die in die Stadt gekommen waren, um sich am Abend zu amüsieren. Schnell gingen die beiden durch das Tor. Leon führte das Mädchen zu einem großen Wagen, der in der Mitte der Straße stand. Sie schaute sich noch einmal nach Raffertys Lokal um. Die Fenster waren hell erleuchtet, die Klänge der Kapelle tönten schwach durch die ruhige Nacht. Dann bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und weinte.
Leon Gonsalez hatte eine Anwandlung von Reue, denn er hätte ihr dies alles ersparen können.
Genau zwei Monate waren seit dem Tag seiner Abreise verflossen, als Leon die Treppe zu der Wohnung in der Jermyn Street hinauf eilte. Manfred saß behaglich in einem Sessel und las die Zeitung.
»Du siehst vergnügt und wohl aus, Leon.« George sprang auf und drückte dem Freund die Hände. »Du hast mir kein einziges Mal geschrieben – ich habe allerdings auch nicht erwartet, daß du Zeit, dazu finden würdest. Ich bin erst vor zwei Tagen zurückgekommen.«
Er berichtete kurz, wie es Poiccart in Sevilla ging.
»Hast du unseren Fall prüfen können?« fragte er dann.
»Ja, es bestätigt sich alles, was wir vermutet haben«, erwiderte Leon grimmig. »Nur vor Gericht können wir nicht beweisen, daß Lynne schuldig ist. Aber für uns liegt die Sache vollständig klar. Ich habe seinen Agenten besucht, als ich in Buenos Aires war, und habe in dessen Abwesenheit den Schreibtisch erbrochen und alle Papiere, durchgesehen. Es waren auch verschiedene Briefe von Lynne dabei. Aus ihrem Inhalt und Ton ging deutlich hervor, daß er genau weiß, um was es sich bei diesen Engagements handelt.«
Die beiden Freunde schauten einander an.
»Der Rest ist einfach«, sagte Manfred. »Ich möchte es dir überlassen, alle Einzelheiten auszuarbeiten, mein lieber Leon, und ich hoffe, Mr. Lynne wird es noch bitter bereuen, daß er vom schmalen Pfad der Tugend abgewichen ist.«
Es gab keinen unverdrosseneren und gewissenhafteren Mann als Leon Gonsalez. Wenn es solche Verbrechen zu strafen galt, so bedeutete die Ausarbeitung des Planes für ihn keine Anstrengung, sondern ein Vergnügen. Noch niemals wandte ein Feldherr auch der geringsten Kleinigkeit größere Sorgfalt zu als Leon.
Bevor der Tag zu Ende ging, hatte er die Gegend, in der Mr. Lynne lebte, ausgekundschaftet und dabei auch erfahren, daß Mr. Lynne Musik leidenschaftlich liebte.
Der Wagen, der Leon nach der Jermyn Street zurückbrachte, fuhr ihm nicht schnell genug, und als er endlich angekommen war, stürmte er in das Wohnzimmer.
»Das Unmögliche ist doch möglich, mein lieber George«, rief er und ging aufgeregt in dem Zimmer auf und ab. »Zuerst glaubte ich, daß ich meinen Plan nicht zur Ausführung bringen könnte. Aber denke dir, dieses Scheusal liebt Musik! Er hat ein mächtiges Grammophon in seiner Wohnung aufgestellt!«
»Willst du nicht erst einmal etwas Eiswasser trinken?« fragte Manfred freundlich.
»Nein, nein, mir ist es durchaus nicht zu heiß. Ich bin vollständig kühl und bei Sinnen, ich bin so kalt wie Eis. Wer hätte so günstige Umstände erwartet? Heute abend werden wir nach Hampstead fahren und uns einmal sein Konzert anhören!«
Es dauerte lange, bis er einen zusammenhängenden Bericht über alles gab, was er herausgebracht hatte. Mr. Lynne war denkbar unbeliebt bei seinen Nachbarn, und Leon erklärte auch die Ursache.
Manfred verstand alles noch besser, als er abends in der stillen Straße, in der Mr. Lynnes Haus lag, das Rollen der Pauken und Trommeln, das Schrillen der Trompeten, das Dröhnen der Glocken, die Schüsse der Kanonen und all den lauten Spektakel hörte, der »1812« bei unmusikalischen Leuten so beliebt machte.
»Es klingt wie eine wirkliche Militärkapelle«, sagte Manfred erstaunt.
Ein Polizist kam den Gehsteig entlang. Als er das Auto vor dem Hause halten sah, wandte er sich lachend zu den beiden.
»Ein fürchterlicher Lärm, was?«
»Ich wundere mich nur, daß nicht alle Leute in der Nähe aufwachen«, meinte Manfred.
»Das tun sie schon, oder wenigstens früher war es so. Allmählich haben sie sich daran gewöhnt. Es ist das lauteste Grammophon, das es überhaupt gibt.«
»Wie lange dauert denn dieser Radau? Doch nicht die ganze Nacht hindurch?« fragte Manfred.
»Ich glaube, er läßt das Ding jeden Abend ungefähr eine Stunde lang laufen. Der Herr, der hier wohnt, kann ohne Musik nicht einschlafen. Er muß wohl so eine Art Künstler sein.«
»Das glaube ich auch«, erwiderte Leon grinsend.
Am nächsten Tag fand er heraus, daß vier Dienstboten bei Mr. Lynne beschäftigt waren, von denen drei im Haus schliefen. Mr. Lynne kam gewöhnlich um zehn Uhr abends heim, nur an den Freitagen verließ er die Stadt.
Am Mittwoch hatten die Köchin, die Haushälterin und der Hausmeister ihren freien Abend. Es blieb also nur das Hausmädchen übrig, und diese Schwierigkeit war leicht zu überwinden. Die Unannehmlichkeit bestand nur darin, daß die Angestellten ungefähr um elf Uhr schon wieder zurückkamen. Leon entschied sich deshalb dafür, sein Unternehmen am Freitagabend auszuführen, an dem Mr. Lynne gewöhnlich nach Brighton ging. Er beobachtete, wie der Agent vom Victoria-Bahnhof abfuhr, und rief dann Lynnes Wohnung an.
»Ist dort der Hausmeister Masters?« fragte er.
»Jawohl, mein Herr«, antwortete die Stimme eines Mannes.
»Hier ist Mr. Mandez«, sagte Leon, indem er das etwas gebrochene Englisch des Mexikaners nachahmte. »Mr. Lynne kommt heute abend nach Hause zurück und hat eine sehr wichtige Besprechung in seiner Wohnung. Er wünscht, daß niemand von den Dienstboten anwesend ist.«
»Jawohl, mein Herr«, antwortete Masters, ohne irgendwelche Überraschung zu zeigen. Offenbar hatte er auch schon früher ähnliche Instruktionen erhalten. Leon hatte größere Schwierigkeiten erwartet und sich komplizierte Erklärungen ausgedacht, die nun überflüssig waren.
»Soll ich allein hierbleiben?«
»Nein, Mr. Lynne sagte ausdrücklich, daß er niemand sehen will, wenn er zurückkommt. Er läßt auch bestellen, daß Sie die Seitentür und die Küchentür offenlassen sollen«, fügte er noch hinzu. Das war ein glänzender Einfall.
»Ich werde alles so ausführen.«
Leon ging darauf sofort zum Postamt und sandte ein Telegramm an Mr. Lynne, Hotel Ritz, Brighton.
›Die junge Goldstein ist in Santa Fe entdeckt worden, schrecklicher Spektakel, Polizei hat Nachforschungen angestellt. Muß Sie unbedingt sofort sprechen. Warte auf Sie in Ihrem Haus. Mandez.‹
»Um acht Uhr hat er die Depesche, um neun Uhr kommt ein Zug von Brighton zurück, um halb elf ist er in Hampstead«, sagte Leon zu Manfred, der vor dem Postamt auf ihn wartete.
»Sobald es dunkel wird, gehen wir in seine Wohnung.«
Ohne die geringsten Schwierigkeiten kamen sie ins Haus. Manfred ließ seinen Zweisitzer vor dem Haus eines Doktors stehen, denn dort fiel ein Wagen nicht auf. Dann gingen die beiden zu Fuß nach Lynnes Haus. Es war ein einzeln stehendes, großes Gebäude, in der luxuriösesten Weise möbliert. Die Dienstboten hatten sich, wie erwartet, entfernt. Bald hatten sie auch das große Zimmer Lynnes gefunden, das nach der Straße zu lag.
»Dort steht seine Spektakelkiste«, sagte Leon und zeigte auf einen wunderschön geschnitzten Schrankapparat in der Nähe des Fensters. »Mit elektrischem Antrieb. Wohin führt eigentlich diese Leitung?«
Er verfolgte den Draht bis über das Bett, wo er in einem Schalter endete.
»Ach so, wenn dieser höllische Lärm ihn so weit müde gemacht hat, daß er schlafen will, kann er das Grammophon abstellen, ohne aus dem Bett zu klettern.«
Er öffnete den Deckel des Grammophons und betrachtete die Platte.
»›1812‹«, sagte er lachend. Er knipste am Schalter. Die grüne Scheibe setzte sich sofort in Bewegung. Dann ging er zu dem Bett, drehte dort den Schalter, und augenblicklich blieb die Scheibe stehen.
»Das hätten wir also.«
Leon schaute sich in dem Raum um, und schließlich fand er das, was er suchte. An einer Tür war ein starker Messingbügel befestigt, an dem man Kleider aufhängen konnte. Er zog mit aller Kraft daran, aber der Haken rührte sich nicht.
»Das ist vorzüglich«, sagte er und öffnete die kleine Mappe, die er mitgebracht hatte. Die starke Kordel, die er herausnahm, knotete er mit einem Ende an dem Kleiderhaken fest und versuchte, ob sie auch hielt. Dann nahm er ein paar Handschellen heraus, schloß sie auf und legte sie auf das Bett, ebenso ein Instrument, das wie ein Feldmarschallstab aussah. Es war ungefähr 35 cm lang, und zwei breite Filzstreifen waren daran befestigt. Neun Kordelschnüre, doppelt so lang wie der Handgriff, hingen von dem oberen Ende herunter. Sie waren sauber zusammengefaltet und an dem Handgriff festgebunden.
Leon drehte den Stab um, und Manfred sah ein rotes Siegel.
»Was ist denn das, Leon?«
Gonsalez zeigte ihm das Siegel, und Manfred las:
»Gefängnisverwaltung.«
»Dieses Ding nennt man allgemein ›neunschwänzige Katze‹. Es ist durchaus echt, und ich habe einige Mühe gehabt, es zu beschaffen.«
Er schnitt die Schnur durch, welche die neun Stränge zusammenhielt. Manfred nahm sie in die Hand und betrachtete sie neugierig. Die einzelnen Kordeln waren etwas dünner als Gardinenschnüre, aber viel fester und dichter gedreht. An den Enden waren sie mit gelber Seide einen halb Zoll lang abgebunden.
Leon nahm die Peitsche in die Hand und ließ sie durch die Luft schwirren.
»Sie ist im Pentonville-Gefängnis gemacht, und ich fürchte, ich bin nicht so gewandt in ihrer Handhabung wie der Beamte, der sie gewöhnlich benutzt.«
Es war jetzt ganz dunkel geworden. Die beiden gingen wieder nach unten und warteten in dem Raum, der direkt an die Eingangshalle stieß.
Kurz nach halb elf wurde die große Haustür geöffnet und wieder geschlossen.
»Sind Sie hier, Mandez?« hörten sie Mr. Lynne rufen. Seine Stimme klang etwas ängstlich. Er war einige Schritte auf die Tür des Raumes zugegangen, als Gonsalez heraustrat.
»Guten Abend, Mr. Lynne«, sagte er.
Der Theateragent drehte das Licht an.
Er sah die Gestalt eines einfach gekleideten Mannes vor sich, aber er konnte nicht erkennen, wer es war, denn das Gesicht des Fremden war von einem weißen, durchbrochenen Schleier verdeckt.
»Wer sind Sie und was wollen Sie?« stieß Lynne keuchend hervor.
»Ich will mit Ihnen abrechnen!« erwiderte Leon kurz. »Bevor wir aber weiter verhandeln, möchte ich Ihnen nur das eine sagen: Wenn Sie irgendwie schreien oder versuchen, die Aufmerksamkeit anderer Leute zu erregen, so schieße ich Sie über den Haufen!«
»Was wollen Sie denn von mir?« fragte Lynne zitternd. Plötzlich sah er Manfred, der ähnlich verschleiert auf ihn zutrat. Seine Kräfte verließen ihn, und er sank in einen Sessel, der in der Halle stand.
Manfred packte ihn am Arm und führte ihn nach oben in das Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen; es brannte nur eine kleine Lampe auf dem Nachttisch.
»Ziehen Sie Ihren Rock aus«, befahl Manfred.
Mr. Lynne gehorchte.
»Nun die Weste.«
Die Weste fiel auf die Erde.
»Nun müssen Sie auch noch das Hemd ablegen«, sagte Gonsalez.
»Was haben Sie denn vor?« fragte Lynne heiser.
»Das werde ich Ihnen später sagen.«
Mr. Lynne stand nackt bis zum Gürtel; sein Gesicht zuckte vor Aufregung und Nervosität, aber er wagte keinen Widerstand, als Manfred ihm die Handfesseln anlegte.
Die beiden Freunde führten ihn zur Tür, wo der Kleiderhaken befestigt war. Leon steckte das lose Ende der starken Kordel durch die Ösen der Handfesseln und zog die Arme Lynnes straff nach oben über seinen Kopf.
»Nun können wir miteinander reden«, sagte Gonsalez. »Mr. Lynne, seit langer Zeit treiben Sie ein schreckliches und schändliches Gewerbe. Sie haben junge Mädchen, die in manchen Fällen noch Kinder waren, nach Südamerika geschickt. Die Strafe für ein derartiges Vergehen ist Zuchthaus, wie Sie wissen, und außerdem dies.«
Mit diesen Worten nahm er die Peitsche auf und schüttelte die neun Stränge. Mr. Lynne schaute sie entsetzt an.
Gonsalez ließ die »neunschwänzige Katze« durch die Luft sausen.
»Ich schwöre Ihnen aber, daß ich niemals wußte . . .«, stieß Lynne hervor. »Sie können es nicht beweisen –«
»Es fällt mir auch gar nicht ein, es in der Öffentlichkeit beweisen zu wollen«, erwiderte Leon. »Ich bin nur hierhergekommen, um Ihnen den Beweis zu erbringen, daß Sie das Gesetz nicht ungestraft übertreten können.«
In diesem Augenblick stellte Manfred das Grammophon an, und das Schmettern der Trompeten und der Donner der Pauken füllten den Raum mit ohrenbetäubendem Lärm.
Der Polizist, der vor wenigen Tagen mit Manfred und Gonsalez gesprochen hatte, ging langsam am Haus vorbei und blieb grinsend stehen. Einer der Nachbarn Lynnes trat zu ihm.
»Was für einen abscheulichen Spektakel das Ding wieder macht«, sagte er verärgert.
»Ja, es ist fürchterlich. Ich glaube, der Mann müßte sich einmal eine neue Platte anschaffen«, meinte der Polizist. »Das klingt so, als ob man einer Katze auf den Schwanz tritt oder als ob jemand um Hilfe schreit.«
»Es hat noch niemals anders geklungen«, brummte der andere und ging weiter.
Auch der Polizist entfernte sich. Aus dem Schlafzimmer Mr. Lynnes aber tönten die sieghafte Melodie der Marseillaise, das Donnern der Kanonen und ein ängstliches Jammern und Schreien, für das man Tschaikowsky nicht verantwortlich machen konnte.