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Aus Staines wird der Tod von Mr. Falmouth gemeldet, der früher Direktor der Kriminalpolizei in London war. Man erinnert sich noch, daß Mr. Falmouth während seiner amtlichen Tätigkeit George Manfred, den berüchtigten Führer der Vier Gerechten, verhaftete. Die aufsehenerregende Flucht dieses bekannten Bandenführers ist vielleicht das bedeutendste Kapitel der modernen Kriminalgeschichte. Die »Vier Gerechten« waren bekanntlich eine Organisation, die sich selbst das Ziel gesetzt hatte, Ungerechtigkeiten zu rächen, die das Gesetz unbestraft ließ. Man nimmt an, daß die Mitglieder dieser Bande außerordentlich reiche Leute waren, die ihr Leben und ihr Vermögen dieser merkwürdigen und vollständig gesetzwidrigen Tätigkeit widmeten. Man hat seit langen Jahren nichts mehr von ihnen gehört.
Manfred las diese Notiz aus dem »Morning Telegram« vor, und Leon Gonsalez runzelte die Stirn.
»Ich muß energisch dagegen protestieren, daß man uns eine ›Bande‹ nennt«, sagte er.
Aber Manfred lächelte nur.
»Der arme, alte Falmouth«, meinte er nachdenklich. »Er war wirklich ein netter Mensch.«
»Ich mochte ihn auch gerne«, stimmte Gonsalez zu. »Er war soweit normal, nur Anzeichen von Progenismus –«
Manfred lachte.
»Entschuldige, wenn ich wieder einmal dumm erscheine, aber ich kann es auf diesem wissenschaftlichen Spezialgebiet nicht mit dir aufnehmen. Progenismus?«
»Der Laie sagt gewöhnlich ›hervorragender Unterkiefer‹«, erklärte Leon. »Fälschlicherweise wird dieses Merkmal für ein Zeichen von Willensstärke gehalten!«
»Aber abgesehen von allem Progenismus war Mr. Falmouth ein guter Kerl«, erwiderte Manfred, und Leon nickte beifällig. »Er besaß auch gutentwickelte Weisheitszähne«, fügte Manfred ironisch hinzu.
Gonsalez wurde rot, denn die Erinnerung an seinen Irrtum war ihm peinlich. Trotzdem lachte er.
»Es wird dich vielleicht interessieren, mein lieber George«, sagte er triumphierend, »daß der berühmte Doktor Carrara die Zähne von vierhundert Verbrechern und einer gleichen Anzahl von Nichtverbrechern untersuchte und dabei fand, daß die Weisheitszähne bei den normalen Menschen häufiger vorhanden waren.«
»Ich gebe dir ja recht mit deinen Weisheitszähnen«, sagte Manfred hastig. »Aber sieh doch einmal aufs Meer hinaus hast du jemals etwas Schöneres gesehen?«
Sie saßen auf einer saftigen, grünen Wiese, von der aus man Babbacombe Beach übersehen konnte. Die Sonne ging unter, ein herrlicher Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Die Sonnenstrahlen vergoldeten alle Bäume und Sträucher. Hoch über der blauen See erhoben sich die brandroten Klippen und die grünen Felder von Devonshire.
Manfred schaute auf die Uhr.
»Wollen wir uns zum Abendessen umziehen? Oder ist dein Freund, für den du dich so sehr interessierst, mehr ein Bohemien?«
»Er gehört zu der neuen Generation«, erwiderte Leon. »Über alte Traditionen fühlt er sich erhaben. Ich freue mich sehr, daß du ihn kennenlernst. Seine Hände sind direkt faszinierend.«
Manfred war klug genug, nicht zu fragen, warum die Hände faszinierend waren.
»Ich habe ihn beim Golfspiel getroffen«, fuhr Gonsalez fort. »Dabei haben sich verschiedene Dinge zugetragen, die mich sehr interessierten. Wenn er einen Regenwurm sah, blieb er zum Beispiel stehen und tötete das unschuldige Tier mit einer solchen Wut, daß ich höchst erstaunt war. Ein Wissenschaftler sollte doch keine solchen Schrullen und Vorurteile haben. Er ist sehr reich. Die Leute im Klub erzählten mir, daß ihm sein Onkel nahezu eine Million hinterlassen hätte. Außerdem ist er der einzige Erbe einer seiner Tanten oder Cousinen, die voriges Jahr starb und ihm ein großes Besitztum hinterließ, das man ebenfalls auf eine Million schätzt. Er ist natürlich eine glänzende Partie. – Ob Miss Moleneux allerdings dasselbe denkt, konnte ich nicht herausbringen«, fügte er nach einer Pause hinzu.
»Großer Gott«, rief Manfred verwirrt, »sie kommt wohl auch heute abend zum Essen?«
»Sie kommt mit ihrer Mutter«, erklärte Leon ernst.
»Diese tüchtige Dame hat brieflichen Unterricht im Spanischen genommen und redet mich immer mit ihrem Kauderwelsch an, wenn ich sie treffe.«
Die beiden Freunde hatten für den Frühling Cliff House gemietet, um sich dort zu erholen. Besonders Manfred liebte Devonshire im April, wenn die Abhänge der hügeligen Landschaft mit Schlüsselblumen und Narzissen bedeckt waren, die wie ein goldener Sprühregen auf den grünen Wiesen schimmerten. »Señor Fuentes« hatte das Haus nach einer Besichtigung gemietet. Die Ruhe und der Frieden, die hier von der Natur ausströmten, taten seinem unruhigen, geschäftigen Geist unendlich wohl.
Manfred hatte sich zum Essen umgekleidet und saß im Wohnzimmer vor dem großen Kamin, in dem ein Holzfeuer brannte. Als er das Geräusch eines näher kommenden Autos hörte, das vorsichtig den Klippenweg herunterfuhr, stand er auf und trat ins Freie.
Leon Gonsalez war bei ihm, bevor die große Limousine vor der Eingangshalle hielt.
Zuerst stieg ein großer, schlanker Herr aus dem Wagen. Er sah nicht schlecht aus, obgleich sein Gesicht von Falten durchzogen war und seine Augen tief lagen. Die Brauen waren nicht gewölbt, sondern verliefen in gerader Richtung. Er grüßte Gonsalez mit einer gewissen Herablassung.
»Hoffentlich haben wir Sie nicht zu lange warten lassen, meine Experimente haben mich noch etwas aufgehalten. Heute ging alles schief im Laboratorium.«
Manfred, der ihn scharf beobachtet hatte, wurde ihm und den Damen vorgestellt. Er reichte einem, ernsten, jungen Mädchen von eigenartiger Schönheit die Hand.
Manfred war sehr sensitiv und erkannte sofort, daß Miss Moleneux von einer heimlichen Sorge bedrückt war. Ihr freundliches Lächeln, das zweifellos aufrichtig gemeint war, erschien ihm gleichwohl mechanisch und leer. Leon, der die Menschen mehr nach Verstandes- als nach Gefühlsmomenten beurteilte, zog ebenfalls seine Schlußfolgerungen aus ihrem Verhalten. Der ungewisse Eindruck Manfreds formte sich bei ihm zu einer bestimmten Erkenntnis. Das Mädchen fürchtete sich! Leon hätte gerne gewußt, vor wem sie Angst hatte. Sicherlich nicht vor dieser untersetzten, selbstzufriedenen Frau, die ihre Mutter war, und sicherlich auch nicht vor diesem hageren, bebrillten Gelehrten.
Während die Damen ihre Mäntel in einem der oberen Zimmer ablegten, hatte Manfred Gelegenheit, sich ein Urteil über Dr. Viglow zu bilden. Er brauchte ihn nicht zu unterhalten, denn der Doktor war selbst ein gewandter Gesellschafter.
»Ihr Freund spielt recht gut Golf«, sagte er, indem er auf Gonsalez zeigte. »Wirklich gut für einen Fremden. Sie sind doch beide Spanier?«
Manfred nickte. Eigentlich war er ja mehr Engländer als sein Gast, aber augenblicklich stattete er England als Spanier einen Besuch ab und war auch mit einem spanischen Paß versehen.
»Wenn ich Sie recht verstanden habe, sind Ihre Forschungen ungewöhnlich erfolgreich?« fragte Leon.
Dr. Viglows Augen leuchteten auf.
»Ja, ich bin sehr zufrieden.« Plötzlich fragte er schnell: »Wer hat Ihnen denn das gesagt?«
»Sie haben es mir doch selbst im Klub erzählt.«
Der Doktor runzelte die Stirn.
»So?« Er fuhr mit der Hand über die Stirn. »Ich kann mich gar nicht darauf besinnen. Wann war denn das?«
»Heute morgen. Aber Ihre Gedanken waren wahrscheinlich mit wichtigeren Dingen beschäftigt.«
Der junge Gelehrte biß sich auf die Lippen.
»Ich hätte nicht vergessen dürfen, was heute morgen passierte«, sagte er in besorgtem Ton.
Manfred hatte den Eindruck, daß er verzweifelt mit sich selbst kämpfte. Aber schließlich heiterte sich seine Miene wieder auf.
»Ja, ich habe wirklich einen ungewöhnlichen Erfolg zu verzeichnen. In einigen Monaten wird mein Name berühmt sein, sogar in meinem eigenen Vaterland. Aber diese Studien kosten auch eine unheimliche Menge Geld. Erst heute habe ich wieder nachgerechnet, daß ich allein für Stenotypistinnen wöchentlich nahezu sechzig Pfund zahle.«
Manfred schaute ihn erstaunt an.
»Für Stenotypistinnen?« wiederholte er langsam. »Dann schreiben Sie sicher ein wissenschaftliches Werk?«
»Hier kommen unsere Damen«, sagte der Doktor.
Es lag zuweilen etwas Abruptes, fast Abstoßendes in seinem Wesen, und als sie später bei Tisch saßen, hatte Manfred weiteren Grund, sich über das schlechte Betragen ihres Gastes zu wundern. Dr. Viglow saß neben Miss Moleneux. Als sich das Essen seinem Ende näherte, wandte er sich plötzlich unerwartet zu ihr.
»Du hast mich heute noch nicht geküßt, Margaret«, sagte er laut.
Das junge Mädchen errötete und wurde dann blaß. Ihre Finger zitterten nervös. »Habe ich dich – noch nicht geküßt, Felix?« stammelte sie.
Das Gesicht des Doktors war rot vor Ärger.
»Bei Gott, das ist wirklich gut!« schrie er. »Ich bin mit dir verlobt, ich habe dir in meinem Testament mein ganzes Vermögen vermacht, ich zahle deiner Mutter tausend Pfund im Jahr, und du hast mich heute noch nicht einmal geküßt!«
»Doktor!« unterbrach plötzlich die sanfte, aber eindringliche Stimme Leons die Spannung. »Können Sie mir nicht sagen, welcher Stoff mit der chemischen Formel Cl2O5 bezeichnet wird?«
Dr. Viglow wandte langsam den Kopf zu ihm und schaute ihn an. Allmählich verlor sich der seltsame Ausdruck aus seinem Gesicht, und er wurde wieder normal.
»Das ist eine Oxydverbindung von Chlor«, sagte er ganz ruhig. Die Unterhaltung wandte sich nun wissenschaftlichen Dingen zu.
Die einzige Person bei Tisch, die durch Dr. Viglows Entgleisung nicht außer Fassung gebracht wurde, war die kleine, selbstzufriedene Frau, die an Manfreds rechter Seite saß. Als der Doktor das Jahresgeld erwähnte, das er ihr zahlte, kicherte sie nur. Nachdem die allgemeine Unterhaltung wieder eingesetzt hatte, wandte sie sich zu Manfred und sprach mit leiser Stimme zu ihm.
»Felix ist manchmal so exzentrisch, aber gewöhnlich ist er ein ruhiger, liebenswürdiger und freundlicher Charakter. Man muß doch an die Zukunft seines Kindes denken – sind Sie nicht auch meiner Ansicht, Señor?«
Die letzte Frage hatte sie in ihrem schlechten Spanisch an ihn gerichtet. Manfred nickte und schaute einen Augenblick zu dem jungen Mädchen hinüber, das immer noch verstört und totenblaß aussah.
»Ich bin fest davon überzeugt, daß sie noch ganz glücklich mit ihm werden wird«, fuhr die Mutter fort, »viel glücklicher als mit diesem unmöglichen Menschen.«
Sie erklärte nicht genauer, wer dieser unmögliche Mensch war, aber Manfred ahnte eine ganze Tragödie. Er war nicht gerade romantisch veranlagt, aber ein Blick auf das Mädchen hatte ihm gesagt, daß bei dieser Verlobung etwas nicht stimmte. Er kam jetzt zu dem Schluß, den sein Freund Leon schon längst gezogen hatte, und erkannte, daß sie von reiner Furcht beherrscht war. Und er wußte jetzt auch, vor wem sie sich fürchtete.
Eine halbe Stunde später standen die beiden vor der Tür und sahen dem verschwindenden roten Schlußlicht von Dr. Viglows Wagen nach. Dann gingen sie zurück in das Wohnzimmer, und Manfred legte etwas Brennholz auf das Feuer, um es neu anzufachen.
»Nun, welchen Eindruck hast du?« fragte Gonsalez und rieb sich offenbar erfreut die Hände.
»Ich finde dieses Verhältnis einfach entsetzlich«, erwiderte Manfred, als er sich in einen Sessel setzte. »Ich dachte, es käme heutzutage nicht mehr vor, daß unvernünftige Mütter es wagen dürfen, ihre Töchter zu einer Ehe mit einem ungeliebten Mann zu zwingen. Man hört doch immer von den modernen jungen Mädchen, die so selbständig sind.«
»Die menschliche Natur bleibt immer dieselbe, daran ändern auch die modernen Zeiten nichts«, sagte Gonsalez lebhaft. »Die meisten Mütter handeln recht töricht, wenn es um das Schicksal ihrer Töchter geht. Ich weiß, daß du mir nicht recht geben wirst, aber ich kann Beweise anführen. Mantegazza hat statistische Angaben über achthundertdreiundvierzig Familien gesammelt . . .«
Manfred mußte lachen.
»Du bist nur zufrieden, wenn du deinen ewigen Mantegazza zitieren kannst! Hat dieser schreckliche Mensch denn alles gewußt?«
»Fast alles. Aber wir wollen von Miss Moleneux sprechen.« Leon wurde wieder ernst. »Es ist klar, daß sie ihn nicht heiraten will.«
»Was ist eigentlich mit ihm los?« fragte Manfred. »Er scheint ein ganz unbeherrschter Mensch zu sein.«
»Er ist verrückt«, antwortete Leon ruhig.
Manfred schaute ihn erstaunt an.
»Verrückt?« wiederholte er ungläubig. »Du meinst doch nicht etwa, daß er geisteskrank ist?«
»Ich brauche dieses Wort in vollem Ernst.« Gonsalez steckte sich eine Zigarette an. »Der Mann ist zweifellos verrückt. Vor einigen Tagen war ich meiner Sache noch nicht sicher, aber jetzt weiß ich es gewiß. Eine ganz unzweideutige Probe ist das schwindende Gedächtnis. Leute, die am Rande des Wahnsinns oder in den Anfängen einer Geisteskrankheit stehen, können sich nicht daran erinnern, was kurze Zeit vorher geschah. Hast du nicht bemerkt, wie bestürzt er war, als ich von der Unterhaltung sprach, die ich heute morgen mit ihm hatte?«
»Das ist mir allerdings aufgefallen«, gab Manfred zu.
»Er kämpfte mit sich selbst. Der noch gesunde Teil seines Gehirns lehnte sich gegen den kranken Teil auf – der Wissenschaftler gegen den unverantwortlichen, kranken Menschen. Der Gelehrte in ihm stellte fest, daß er auf dem Wege zum Wahnsinn war, wenn er plötzlich sein Gedächtnis für Vorfälle verlieren konnte, die nur einige Stunden zuvor passiert waren. Aber der Wahnsinn in ihm sagte, daß er so ein außergewöhnlicher, wunderbarer Mensch sei, daß die allgemein gültigen Regeln für ihn nicht in Betracht kämen. Wir werden ihm morgen einen Besuch machen und uns einmal sein Laboratorium ansehen. Wahrscheinlich entdecken wir dann auch, warum er sechzig Pfund wöchentlich für Stenotypistinnen bezahlt. Und nun gehst du am besten zu Bett, mein lieber George. Ich werde noch ein Kapitel des ausgezeichneten, aber manchmal auch irrenden Lombroso lesen.«
Dr. Viglows Laboratorium befand sich in einem neuen, roten Ziegelgebäude, das an der Grenze der Heide von Dartmoor lag. Daneben hatte er vor kurzem eine große Baracke errichten lassen, um die vielen Assistentinnen und Stenotypistinnen unterzubringen.
»Seit zwei oder drei Jahren habe ich nun keinen Professor getroffen«, sagte Manfred, als sie quer durch die Heide zu Dr. Viglow fuhren. »Seit fünf Jahren habe ich kein Laboratorium betreten. Und nun habe ich im Laufe weniger Wochen zwei außergewöhnliche Gelehrte kennengelernt, von denen allerdings einer schon tot war. Auch habe ich zwei Laboratorien besucht.«
Leon nickte.
»Eines Tages muß ich doch tatsächlich noch eine wissenschaftliche Abhandlung über die Duplizität der Fälle schreiben«, meinte er.
Vor dem Laboratorium hielt ein Postwagen. Drei Mädchen in weißen Arbeitskitteln trugen Postpakete aus der Tür und verstauten sie in dem Wagen.
»Er muß aber eine ungeheuer umfangreiche Korrespondenz haben«, sagte Manfred verwundert.
Dr. Viglow, der auch einen weißen Arbeitsmantel trug, stand in der Tür und begrüßte sie freundlich, als sie ausstiegen.
»Kommen Sie bitte in mein Büro«, sagte er und führte sie zu einem großen, luftigen Raum.
»Sie haben aber unheimlich viel Post«, sagte Leon.
Dr. Viglow lachte.
»Ich schicke die Pakete vorläufig zum Postamt nach Torquay. Sie lagern einstweilen dort und sollen erst abgeschickt werden, wenn« – er machte eine Pause –, »wenn ich meiner Sache sicher bin. Ein Wissenschaftler kann nicht sorgfältig genug sein«, sagte er ernst. »Wenn er eine Entdeckung bekanntgemacht hat, wird er hinterher dauernd von der Furcht gequält, daß er noch etwas Wichtiges, Ausschlaggebendes vergessen haben könnte, oder daß seine Schlußfolgerungen zu voreilig gezogen wären. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß ich recht habe«, sagte er halb zu sich selbst. »Ich bin sicher, daß alles richtig ist, aber ich muß noch mehr Gewißheit haben!«
Er führte sie in dem großen Laboratorium umher, aber es war hier für Manfred nicht viel mehr zu sehen als in dem Arbeitsraum des verstorbenen Professors Tableman.
Dr. Viglow hatte sie bei ihrer Ankunft herzlich begrüßt und war sehr unterhaltsam gewesen. Aber nach wenigen Minuten schon wurde er immer stiller und gab keine Erklärungen für gewisse Instrumente, die Leon sehr zu interessieren schienen. Erst als er direkt gefragt wurde, antwortete er kurz und ausweichend.
In dem nächsten Raum änderte sich plötzlich das Benehmen Dr. Viglows, er wurde wieder mitteilsam und machte einen fast vergnügten Eindruck.
»Ich werde es Ihnen jetzt sagen«, rief er. »Ich werde Ihnen alles erklären! Außer mir weiß noch keine lebende Seele davon. Niemand versteht die außerordentlich wichtige Arbeit, die ich geleistet habe, und niemand kennt die Bedeutung meines Planes.«
Seine Augen leuchteten, sein Gesicht nahm einen freudigen Ausdruck an, und es schien Manfred, als ob er sich in diesem Augenblick mehr straffte.
Dr. Viglow zog die Schublade eines Tisches auf, der an der Wand stand, nahm eine längliche Porzellanplatte heraus und stellte sie auf den Tisch. Aus einem Wandschrank, der mit Drahtgaze geschlossen war, holte er einen Zinnkasten und schüttete den Inhalt mit unverhülltem Widerwillen auf die Porzellanplatte. Es war gewöhnliche Gartenerde. Plötzlich sah Leon zu seinem Erstaunen einen kleinen Regenwurm, der durch das Umstürzen an die Oberfläche gekommen war. Der kleine Kerl versuchte, sich möglichst schnell wieder mit vielen Windungen in den Erdhaufen einzubohren.
»Dieser verdammte Bursche!« Viglows Stimme klang zornig und erregt. Sein Gesicht zuckte und war wutentstellt. »Wie ich diese Biester hasse!« Seine Augen sprühten Haß, aber er schien auch von einem entsetzlichen Angstgefühl gepackt zu sein.
George Manfred holte tief Atem und trat einen Schritt zurück, um Viglow besser beobachten zu können. Der Mann beruhigte sich allmählich wieder und sah Leon an.
»Als ich noch ein Kind war«, sagte er mit zitternder Stimme, »konnte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen als diese häßlichen Würmer. Ich hatte damals ein Kinderfräulein, eine böse Person von schlechtem Charakter. Einmal hat sie mir einen solchen Regenwurm in den Halsausschnitt gesteckt. Denken Sie doch, wie schrecklich das gewesen ist!«
Leon erwiderte nichts. Für ihn war ein Regenwurm irgendein Tier aus der Familie der Olygochaeten, der den etwas pompösen Namen lumbricus terrestris trug. Er konnte nicht verstehen, warum Dr. Viglow, dieser hervorragende Naturwissenschaftler, das kleine Geschöpf nicht ebenso beurteilte.
»Ich habe eine Theorie aufgestellt.« Der Doktor war nun ruhiger geworden und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »In bestimmten großen Perioden kommen alle Lebewesen auf dieser Welt der Reihe nach einmal zur Herrschaft. In Millionen von Jahren wird der Mensch wahrscheinlich zu der Größe einer Ameise zusammenschrumpfen, und der Regenwurm wird an seine Stelle treten. Er wird seine Intelligenz mit unerhörter Kraft steigern und wird sich durch Schlauheit und Grausamkeit die Herrschaft über die Welt aneignen! Dieser Gedanke hat mich immer gequält«, fuhr er fort, als weder Leon noch Manfred irgendeine Bemerkung machte. »Und er quält mich noch dauernd bei Tag und bei Nacht. Deshalb sehe ich meine Lebensaufgabe darin, die Menschheit vor dieser drohenden Gefahr zu schützen.« Er machte eine Pause. »Augenblicklich sind die Regenwürmer weder intelligent noch klug, auch haben sie nicht den geringsten Ehrgeiz. Es ist also jetzt noch leicht, ihrer Herr zu werden.«
Dr. Viglow ging wieder zu dem Schrank und nahm eine weithalsige Flasche heraus, die mit grauem Pulver gefüllt war. Er trat an Leon heran und zeigte bedeutsam auf das Gefäß.
»Dies ist das Resultat einer zwölfjährigen Arbeit«, sagte er schlicht. »Es ist nicht schwer, irgendeinen Stoff zu finden, der diese pestilenzartigen Tiere tötet. Aber dies ist etwas ganz anderes.«
Er nahm eine winzige Portion mit einem Seziermesser heraus, füllte ein Gefäß von zwei Litern mit Wasser und löste das Pulver darin auf. Er rührte die farblose Flüssigkeit mit einem Glasstab um und ließ dann drei Tropfen auf den Erdhaufen fallen, in dem sich der Wurm verborgen hatte. Nach einigen Sekunden bewegte sich die Erde heftig, in der das arme Opfer eingeschlossen war.
»Er ist tot«, rief Dr. Viglow triumphierend. Er teilte die Erde mit einem Stäbchen, um die Wahrheit seiner Behauptung zu beweisen. »Und nicht nur das Tier ist tot, sondern diese Handvoll Erde bringt auch jedem anderen Regenwurm Verderben, der damit in Berührung kommt.« Er klingelte, und eine seiner Assistentinnen kam herein. »Nehmen Sie das weg«, sagte er und schüttelte sich vor Widerwillen. Dann ging er mit düsteren Blicken zu seinem Schreibtisch.
Leon sprach auf dem Heimweg nicht. Er saß zusammengekauert in einer Ecke des Wagens, hatte die Arme über der Brust gekreuzt und das Kinn nachdenklich gesenkt. Am selben Abend verließ er das Haus ohne irgendein Wort der Erklärung. Er hatte vorher Manfreds Einladung zu einem gemeinsamen Spaziergang abgelehnt und nicht gesagt, wohin er gehen wollte.
Gonsalez ging den Weg an den Klippen entlang quer über die Hügel von Babbacombe und kam nach einer längeren Wanderung ungefähr um neun Uhr abends zu der Wohnung Dr. Viglows. Das Haus des Doktors war ziemlich groß und erforderte eine Menge Dienstboten. Aber es gehörte zu seinen vielen Eigentümlichkeiten, daß er in einem kleinen Gärtnerhaus schlief, das in einiger Entfernung von dem Hauptgebäude stand.
Erst vor kurzem hatte sich Dr. Viglow diesen einsamen Aufenthaltsort ausgesucht. Vorher war es ihm in dem großen Hause recht gut gegangen, in dem schon sein Vater gewohnt hatte. Aber in letzter Zeit hatte er dort nachts Stimmen und Knarren im Holzwerk gehört, auch hatte er Gestalten aus dem Dunkel auftauchen sehen, die in den langen Gängen einherschlichen. In seinen krankhaften Anwandlungen war er zu der Überzeugung gekommen, daß sich seine Dienstboten gegen ihn verschworen hätten und ihn während der Nacht ermorden wollten. Deshalb hatte er den Gärtner ausquartiert und das kleine Haus neu ausstatten und möblieren lassen. Hier verbrachte er nun hinter verschlossenen Türen die Nächte, indem er las, seinen Gedanken nachhing oder schlief. Gonsalez hatte schon von dieser Schrulle gehört und näherte sich dem Gärtnerhaus mit einiger Vorsicht, denn ein furchtsamer Mann ist gefährlicher als ein böser Mann. Er klopfte an die Tür und hörte gleich darauf Schritte auf dem Steinflur.
»Wer ist da?« fragte eine Stimme.
»Ich bin es«, erwiderte Gonsalez und nannte den Namen, unter dem er bekannt war.
Nach einem Zögern wurde aufgeschlossen, und die Tür öffnete sich.
»Treten Sie bitte ein«, sagte Dr. Viglow unwirsch und schloß die Tür wieder hinter ihm zu. »Sie sind sicher hierhergekommen, um mir zu gratulieren. Sie müssen auch zu meiner Hochzeit kommen, lieber Freund. Es wird ein großartiges Fest werden, denn ich werde dabei eine Rede halten über die Bedeutung meiner Entdeckung. Wollen Sie etwas trinken? Ich habe zwar nichts hier, aber ich kann es vom Haupthaus bringen lassen. In meinem Schlafzimmer habe ich ein Telefon.«
Leon schüttelte den Kopf.
»Ich habe mir noch viele Gedanken über Ihre Entdeckung gemacht, Doktor«, sagte er dann und nahm die angebotene Zigarette an. »Auch die vielen Postpakete, die heute vor Ihrer Tür aufgeladen wurden, habe ich mit der Entdeckung in Verbindung gebracht, von der Sie uns erzählten.«
Dr. Viglows Züge erhellten sich, und er strahlte vor Genugtuung. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und legte ein Bein über das andere wie jemand, der sich auf eine längere Rede vorbereitet.
»Das will ich Ihnen auch erklären. Seit Monaten stehe ich in Briefwechsel mit landwirtschaftlichen Gesellschaften, sowohl hier in diesem Lande als auf dem Kontinent. Ich bin eine europäische Größe«, sagte er hochfahrend und anmaßend. »Ich habe ein Mittel gegen die Reblaus gefunden, und durch mich wurde diese Geißel der Weinberge unschädlich gemacht.«
Leon nickte, denn er wußte, daß er die Wahrheit gesprochen hatte.
»Sie sehen also, daß man auf mein Wort etwas gibt, wenn es sich um Ackerbau handelt. Aber nach verschiedenen Unterredungen mit unseren beschränkten Landwirten fand ich, daß sie die Vernichtung dieser . . .«, er erwähnte den Namen der ihm so schrecklichen Tiere nicht, aber er zitterte, ». . . nicht gerne sehen. Und nach dieser Erfahrung muß ich natürlich meine Handlungsweise einrichten, jetzt, da ich davon überzeugt bin, daß mein Mittel in jeder Weise wirksam ist, kann ich der Post den Auftrag geben, die Pakete abzusenden. Ich wollte eben mit dem Vorsteher des Postamts telefonieren, als Sie an die Tür klopften. Die Pakete sind schon adressiert und mit Marken versehen.«
»An wen schicken Sie denn die Pakete?«
»An Gutsbesitzer und Landwirte. Es sind ungefähr vierzehntausend Pakete, die nach allen Teilen Europas versandt werden. In jedem Paket befindet sich eine gedruckte Anweisung in Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch. Damit die Leute meine Vorschriften auch ausführen, habe ich ihnen gesagt, daß dieses Pulver ein neues Düngemittel ist.«
»Was sollen die Leute denn tun, wenn sie die Pakete bekommen?« fragte Leon weiter.
»Sie sollen das graue Pulver in Wasser auflösen und einen gewissen Teil ihres Landes damit besprengen. Ich habe angegeben, daß es am besten auf gepflügtem Lande geschieht. Sie brauchen nur einen Teil ihres Landes damit zu besprengen. Diese niederträchtigen Biester werden das andere Land bald genug infizieren. Ich bin fest davon überzeugt, daß in sechs Monaten in ganz Europa und Asien kein Exemplar dieser schrecklichen Geschöpfe mehr am Leben ist.«
»Die Leute wissen also nicht, daß dieses Gift dazu bestimmt ist, Regenwürmer zu töten?«
»Nein, das habe ich Ihnen doch eben erklärt«, erwiderte der Doktor böse. »Warten Sie einen Augenblick. Ich will nur mit dem Postmeister telefonieren.«
Er erhob sich schnell, aber Leon war noch schneller und packte ihn am Arm.
»Mein lieber Freund«, sagte er, »das dürfen Sie nicht.«
Dr. Viglow versuchte sich loszumachen.
»Lassen Sie mich gehen«, schrie er wütend. »Gehören Sie auch zu diesen Dämonen, die mich quälen?«
Unter gewöhnlichen Umständen wäre Leon stark genug gewesen, einen Mann wie Dr. Viglow aufzuhalten, aber der Wahnsinnige besaß außergewöhnliche Kräfte und warf Gonsalez in einen Stuhl. Bevor sich sein Gegner wieder erheben konnte, schlüpfte Dr. Viglow durch die Tür, machte sie rasch zu und schloß sie ab.
Das eingeschossige Haus war durch eine Holzwand, die Dr. Viglow hatte einziehen lassen, in zwei Räume geteilt. Über der Tür war ein Fenster angebracht; Leon zog schnell den Tisch dorthin, sprang hinauf und schlug das Glasfenster mit seinem Ellbogen ein.
»Rühren Sie das Telefon nicht an!« rief er Viglow zu. »Hören Sie?«
Der Doktor sah sich hämisch lachend um.
»Sie sind auch ein Freund dieser Teufel!« Er streckte gerade die Hand aus, um den Hörer abzuheben, als Leon ihn niederschoß.
Als Manfred am nächsten Morgen von seinem Spaziergang zurückkam, traf er Gonsalez, der auf dem Rasen vor dem Haus auf und ab ging und eine besonders lange Zigarre rauchte.
»Mein lieber Leon, du hast mir ja nichts von alledem gesagt?« Manfred legte seinen Arm in den seines Freundes.
»Ich dachte, es wäre das beste, zu warten.«
»Ganz zufällig habe ich die Geschichte gehört. Man erzählt, daß ein Dieb in das Gärtnerhaus einbrach und den Doktor erschoß, als er um Hilfe telefonieren wollte. Alles Silberzeug in dem äußeren Raum ist gestohlen worden, auch die goldene Taschenuhr und die Brieftasche des Doktors sind verschwunden.«
»Sie ruhen auf dem Grund des Meeres in der Babbacombe-Bucht«, erwiderte Leon. »Ich bin heute morgen schon zum Angeln ausgefahren, als du noch schliefst.«
Sie gingen eine Weile schweigend auf und ab.
»War es denn wirklich notwendig?« fragte Manfred dann.
»Durchaus«, antwortete Leon ernst. »Du mußt vor allem daran denken, daß dieser Mann, obwohl er verrückt war, nicht nur ein Gift, sondern auch einen Ansteckungsstoff entdeckte.«
»Aber mein lieber Leon«, fragte Manfred lächelnd, »waren denn die Regenwürmer das alles wert?«
»Ja, sie sind viel mehr wert als sein Leben. Die größten Gelehrten, die sich mit Landwirtschaft befaßt haben, sind darin einig, daß die ganze Erdoberfläche steril würde und die Menschheit in sieben Jahren verhungern könnte, wenn die Regenwürmer nicht dauernd in Tätigkeit wären.«
Manfred blieb stehen und starrte seinen Freund an.
»Glaubst du das wirklich?«
Leon nickte.
»Die Regenwürmer sind im Haushalt der Natur unbedingt notwendig«, entgegnete er ernst. »Das Land wird fruchtbar durch sie. Leider ist ihr Nutzen noch nicht allgemein bekannt. Sie sind die besten Freunde der Menschen. – Aber nun will ich zum Postamt gehen und dem Postmeister eine genügend glaubhafte Geschichte erzählen, damit ich alle diese Pakete zurückbekomme.«
»Ich bin in mancher Beziehung froh darüber«, sagte Manfred lächelnd. »Eigentlich in jeder Beziehung. Das junge Mädchen hat mir sehr gut gefallen, und ich bin sicher, daß dieser unmögliche Mensch doch nicht so ganz unmöglich ist.«