Edgar Wallace
Das geheimnisvolle Haus
Edgar Wallace

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15

Lady Constance Dex erhob sich nach einer schlaflosen Nacht, die sie in dem Pfarrhaus von Great Bradley verbracht hatte. Sie ging hinunter und setzte sich zu ihrem Bruder an den Frühstückstisch. Der Reverend Jeremiah Bangley war durch ihr Erscheinen völlig verblüfft. Er war ein untersetzter, wohlwollend aussehender Mann, mit sich und der Welt zufrieden. Er war ebenso häufig in London wie in seiner Pfarrei und gehörte zu den Menschen, die auch außerordentliche Ereignisse als einen Teil des normalen Lebens betrachten. Ein Erdbeben in Little Bradley, das seine Kirche und den größten Teil seiner Gemeinde verschlungen hätte, würde ihn nicht mehr interessiert haben als das Knospen der Bäume oder die Frühlingsblüte in seinem großen, von starken Mauern umgebenen Garten. Aber jetzt war er doch sehr erstaunt.

»Du kommst zum Frühstück, Constance? Ich habe dich seit vielen Jahren nicht mehr an diesem Tisch gesehen!«

»Ich konnte nicht schlafen«, erwiderte sie, während sie von dem Tablett auf dem Seitentisch ein knuspriges Stückchen Schinken auf ihren Teller legte. »Ich werde mit meiner Mappe nach Moor Cottage gehen.«

Ihr Bruder runzelte die Stirn, als er das hörte.

»Ich hatte schon immer den Gedanken, daß Moor Cottage nicht gerade das beste Geschenk war, das dir der verstorbene Mr. Farrington machte.« Er schwieg eine Weile, damit sie sich dazu äußern sollte, aber sie entgegnete nichts. »Es liegt so verlassen an der Grenze des Moors, ganz entfernt von belebten Plätzen – ich fürchte, meine liebe Constance, daß du dort eines Tages noch von einem bösen Landstreicher oder Verbrecher überfallen wirst.«

Es war viel Wahres in seinen Worten. Moor Cottage war ein kleines, hübsches Wohnhaus, das von dem Eigentümer des »geheimnisvollen Hauses« zur selben Zeit wie das Haus selbst erbaut worden war. Er hatte die Absicht, es als Sommerhaus zu benützen. Und sicher war man dort ungestört, denn der Weg, der dort hinführte, wurde kaum von anderen Leuten benützt, seitdem die Bradley-Minen nicht mehr in Betrieb waren.

 

Vor vielen Jahren, als man den Boden unter dem Moor nach Zinn und Blei absuchte und ihn nach allen Seiten hin unterminierte, lag Moor Cottage inmitten eines geschäftigen Betriebes. Die baufälligen Überbleibsel der Ansiedlungen der Bergarbeiter waren auf der anderen Seite des Hügels noch zu sehen, ebenso in etwa fünfhundert Meter Entfernung der graue, hohe Schornstein des alten Kraftwerkes.

Aus irgendeinem Grunde hatte der Eigentümer des »geheimnisvollen Hauses« dieses kleine Bauwerk gerade hier errichten lassen, obgleich es fast drei Kilometer von seinem eigentlichen Wohnsitz entfernt lag, und er hatte weder Kosten noch Mühe gescheut, um es im Innern aufs beste einzurichten.

Lady Constance Dex hatte von Mr. Farrington und seinen Freunden manche Geschenke erhalten. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er nicht genug für sie tun konnte. Er hatte sie mit Beweisen seiner Achtung und Verehrung geradezu überschüttet. Moor Cottage war vielleicht die kostbarste seiner Gaben gewesen. Hierher konnte sie sich zurückziehen, um sich in den schönen, mit Eichenholz getäfelten Räumen an die glücklichen Tage zu erinnern, die sie in Great Bradley verlebt hatte.

»Es liegt ein wenig einsam«, sagte sie lächelnd zu ihrem Bruder. Sie gab nicht viel auf seine Meinung. Er war etwas phlegmatisch und betrachtete alle Dinge von einem gewissen Durchschnittsstandpunkt aus. »Aber du weißt doch, Jerry, daß ich mir ganz gut helfen kann; außerdem ist Brown in der Nähe, wenn ich jemanden nötig haben sollte.«

Er nickte und widmete sich wieder der Lektüre der »Times«, in der er durch ihr Erscheinen gestört worden war.

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, sagte er hinter seiner Zeitung. Plötzlich ließ er sie wieder sinken.

»Wer ist eigentlich dieser Mr. Smith?«

Sie horchte interessiert auf.

»Von welchem Mr. Smith sprichst du denn?«

»Soviel ich weiß, ist er Detektiv; er hat Great Bradley in der letzten Zeit häufig mit seinem Besuch beehrt. Vielleicht ist in dem ›geheimnisvollen Haus‹ etwas nicht in Ordnung?«

»Was sollte das sein? In den letzten zehn oder zwanzig Jahren ist dort nichts Außergewöhnliches passiert.«

Er zuckte die breiten Schultern.

»Ich bin mit diesem Haus niemals ganz einverstanden gewesen.«

Sie beendete ihr eiliges Frühstück und erhob sich.

»Du bist noch niemals mit einer Sache einverstanden gewesen, Jerry.« Sie klopfte ihm auf die Schulter, als sie an ihm vorüberging. Dann schaute sie durch das Fenster. Der Wagen, den sie hatte kommen lassen, wartete vor der Tür. Brown, der sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ, saß auf dem Bock.

»Zum Mittagessen bin ich wieder zurück«, verabschiedete sie sich von ihrem Bruder.

Jeremiah Bangley schaute ihr nach und sah, daß sie mit einer Mappe in den Wagen einstieg. Darin lagen die Briefe und Tagebücher, die Dr. Goldworthy ihr vom Kongo mitgebracht hatte, aber davon wußte er nichts.

In der Einsamkeit von Moor Cottage fand Lady Constance die ruhige Umgebung, in der sie die Worte verstand, die sich wie mit Feuerschrift in ihre Seele einbrannten.

In dem Landhaus wohnten keine Dienstboten. Wenn sie dort gewesen war, sandte sie gewöhnlich einen ihrer Leute hin, um alles wieder für einen neuen Besuch in Ordnung zu bringen.

Sie schloß eine kleine Tür auf, die unter einem mit Grün bewachsenen Bogen hindurchführte.

»Sie können das Pferd ausspannen – ich bleibe mindestens zwei Stunden hier«, sagte sie zu dem wartenden Kutscher.

Der Mann berührte grüßend seinen Hut. Er war an die Ausflüge hierher gewöhnt und besaß die ruhige Ausdauer der Leute seines Berufes. Er lenkte den Wagen zur Rückseite des Anwesens, das vollständig von einem Zaun umgeben war. Dort lag ein kleiner Stall, der aber niemals benützt wurde. Er spannte das Pferd aus, schnallte ihm den Hafersack um und setzte sich nieder, um seine Lieblingszeitung zu lesen, ein kleines Blatt, das von den Vergehen und Ausschweifungen der oberen Zehntausend berichtete. Er war kein gerade schneller Leser, und die Lektüre bot genügend Stoff, um ihn drei bis vier Stunden zu beschäftigen.

Nach einer Stunde glaubte er, die Stimme seiner Herrin zu hören, die ihn rief. Er sprang auf, eilte zu der Tür des Hauses und horchte.

Als er aber nichts hören konnte, ging er wieder zu seinem Ruhesitz zurück und las weiter. Schließlich hatte er vier Stunden gewartet und war sehr hungrig geworden. Seine Geduld war erschöpft, was man ja auch verstehen und entschuldigen konnte.

Langsam erhob er sich, schirrte das Pferd wieder an und fuhr mit dem Wagen ostentativ vor das Fenster des kleinen Wohnzimmers, das Lady Constance Dex als Arbeitszimmer benützte. Nachdem eine weitere halbe Stunde vergangen war, ohne daß sich jemand meldete, stieg er von seinem Bock hinunter und klopfte an die Tür.

Es antwortete niemand.

Er klopfte noch einmal heftiger, aber wieder ohne Erfolg.

Besorgt trat er an das Fenster und schaute hinein. Der ganze Boden war mit verstreuten Papieren bedeckt, ein Stuhl war umgeworfen, ein Tintenfaß umgestoßen. Aus alledem entnahm sein an Ordnung gewöhnter Sinn, daß hier etwas Ungewöhnliches geschehen sein mußte.

In diesem Augenblick kam ein Auto schnell über den Hügel aus der Richtung des Pfarrhauses gefahren. Mit einem Ruck hielt es vor dem Hause an, und Mr. Smith sprang heraus.

Brown hatte ihn schon im Pfarrhaus gesehen und begrüßte ihn nun wie einen vom Himmel gesandten Rettungsengel.

»Wo ist Lady Constance?« fragte Mr. Smith schnell.

Der Mann zeigte mit zitterndem Finger auf das Haus.

»Sie muß irgendwo da drinnen sein«, sagte er furchtsam. »Aber sie antwortet mir nicht und . . . und das Zimmer scheint ganz in Unordnung zu sein.« Er führte den Detektiv zum Fenster.

Mr. Smith schaute hinein – seine schlimmsten Befürchtungen waren bestätigt.

»Treten Sie zurück!«

Er hob seinen Ebenholzstock und schlug das Fenster ein; gleich darauf zog er den Fensterriegel von innen zurück, und ein paar Sekunden später hatte er sich in den Raum geschwungen. Er eilte von Zimmer zu Zimmer, aber es war nichts von Lady Constance zu entdecken. Auf dem Fußboden des Arbeitszimmers lag ein Stück eines Spitzenkragens, das offensichtlich von ihrem Kleid abgerissen war.

»Hallo«, sagte Ela, der Mr. Smith gefolgt war, und zeigte auf den Tisch. Auf einem Blatt Papier war der Abdruck einer blutigen Hand zu sehen.

»Farrington war hier«, erwiderte Mr. Smith kurz. »Aber wie ist er wieder hinausgekommen?«

Er verhörte den Kutscher eingehend, aber Brown blieb fest.

»Nein, mein Herr, es ist ganz unmöglich, daß jemand das Haus verließ, ohne daß ich ihn gesehen hätte. Ich konnte nicht nur das Haus von meinem Sitz aus überblicken, sondern auch die ganze Umgebung bis zur Spitze des Hügels.«

»Gibt es nicht noch irgendeinen anderen Platz, wo sie sich aufhalten könnte?«

»Es ist nur noch das Hintergebäude da«, entgegnete Brown, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte. »Früher haben wir dort immer den Wagen untergestellt, aber heutzutage tun wir das nicht mehr, besonders nicht bei gutem Wetter.«

Das Hintergebäude bestand aus einer großen Wagenremise und einem kleinen Stall. Es war kein Schloß an den Türen, und Mr. Smith konnte sie ohne weiteres öffnen. In einer Ecke lag ein Strohhaufen, der offensichtlich für den Kutscher bestimmt war, wenn er den Raum einmal benützen sollte.

Mr. Smith ging hinein, beugte sich plötzlich mit einem Ausruf nieder, ergriff eine Gestalt am Kragen und riß sie auf die Füße.

»Wollen Sie mir höflichst erklären, was Sie hier machen?«

Aber dann schwieg er erstaunt, denn sein schläfriger Gefangener war niemand anders als Frank Doughton.

 

»Es ist eine merkwürdige Geschichte, die Sie mir da erzählen«, meinte Mr. Smith.

»Das gebe ich gern zu«, sagte Frank lächelnd. »Aber ich bin so müde, daß ich nicht weiß, wieviel ich Ihnen schon mitgeteilt habe und was ich noch nicht berichtet habe.«

»Sie haben erzählt, daß man Sie gestern abend entführte, daß Sie zuerst durch London, dann in unbestimmter Richtung aufs Land fuhren und daß Sie in den frühen Morgenstunden entkamen, indem Sie aus dem langsam fahrenden Wagen sprangen.«

»Ja, das stimmt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo ich bin. Vielleicht können Sie mir das sagen?«

»Sie sind in der Nähe von Great Bradley«, erwiderte Mr. Smith lächelnd. »Ich wundere mich, daß Sie Ihre Heimat nicht wiedererkennen – Sie haben doch, soviel ich weiß, Ihre Jugend in dieser Gegend verlebt?«

Frank schaute sich erstaunt um.

»Warum hat man mich denn hierhergebracht?«

»Das müssen wir erst noch herausbringen. Meine Meinung ist –«

»Glauben Sie, daß man mich in das ›geheimnisvolle Haus‹ bringen wollte?« unterbrach ihn der junge Mann.

Mr. Smith schüttelte den Kopf.

»Das ist wohl unwahrscheinlich. Ich vermute eher, daß unser Freund Poltavo diesen kleinen Schachzug auf eigene Faust unternommen hat. Er ließ Sie wohl hierher entführen, um den Verdacht auf die Bewohner des ›geheimnisvollen Hauses‹ abzuwälzen. Aber sagen Sie mir doch, wie Sie in dieses Stallgebäude kamen.«

»Obwohl ich todmüde war, nahm ich all meine Kraft zusammen, und es gelang mir, meinen Verfolgern zu entkommen. Aber nach diesem harten Lauf fühlte ich mich vollkommen erschöpft. Ich kam zu diesem Haus, das weit und breit die einzige menschliche Wohnung zu sein schien, und nachdem ich vergeblich versucht hatte, die Bewohner zu wecken, ging ich einfach hier herein, legte mich hin und schlief sofort ein.«

Mr. Smith hatte nichts an seiner Erzählung auszusetzen. Die verworrene Lage wurde durch diesen Vorfall noch schwieriger.

»Hörten Sie keinen Ruf, während Sie hier lagen?«

»Nein.«

»Haben Sie auch nichts von einem Streit in dem Haus gehört?« Er erklärte Frank Doughton das merkwürdige Verschwinden der Lady Constance Dex.

»Sie muß noch im Hause sein«, meinte Frank.

Sie gingen zusammen dorthin zurück und nahmen ihre Nachforschungen wieder auf. Im Obergeschoß fanden sie ein Schlafzimmer und einen daran anstoßenden Baderaum; im Erdgeschoß lag außer dem Arbeitszimmer, das sie schon vorher durchsucht hatten, ein kleines, hübsch ausgestattetes Zimmer, in dem ein Klavier stand. Aber all ihre Bemühungen waren ergebnislos – Lady Constance Dex war verschwunden, als ob sich die Erde geöffnet und sie verschlungen hätte. Es war auch keine Falltür in dem ganzen Gebäude zu finden.

Mr. Smith war aufs höchste erstaunt.

»Es ist doch eine Erfahrungstatsache«, sagte er zu Ela, »daß körperliche Dinge Raum einnehmen. Lady Constance muß also irgendwo sein! Sie kann sich doch nicht in Dunst aufgelöst haben! Und ich werde dieses Haus nicht eher verlassen, als bis ich sie gefunden habe.«

Ela dachte tief nach und runzelte die Stirn, als er die Unordnung auf dem Schreibtisch betrachtete.

»Erinnern Sie sich an das kleine Medaillon, das Sie bei dem Ermordeten am Brakely Square fanden?« fragte er plötzlich.

Mr. Smith nickte und zog es aus der Westentasche hervor, denn er hatte es seither immer bei sich getragen.

»Wir wollen uns das Ding noch einmal ganz genau ansehen, besonders die Inschrift«, meinte Ela.

Sie zogen zwei Stühle an den Tisch und prüften das kleine, runde Papierstückchen, das sie im Innern des Medaillons gefunden hatten.

Mor: Cot.
Gott schütz dem Kenig.

Ela schüttelte hilflos den Kopf.

»Ich bin ganz sicher, daß wir ein gutes Stück weiterkommen, wenn wir diese Inschrift verstehen. Aber betrachten Sie doch einmal die erste Zeile. Mor: Cot. – das soll sicher Moor Cottage heißen.«

»Alle Wetter, da haben sie recht! Darauf bin ich noch gar nicht gekommen. Sicher hatte der Mann, dem das Medaillon gehörte, das Geheimnis von Moor Cottage entdeckt und wollte damit unseren Freund erpressen. Aber die patriotische Zeile darunter ist mir unverständlich.«

»Die hat auch etwas zu bedeuten. Es kann auch eine Geheimschrift sein. Sie sehen, daß sie recht vulgär abgefaßt ist. Er schreibt Kenig und macht grammatikalische Fehler.«

Sie warteten vor Moor Cottage, während der Kutscher nach dem Pfarrhaus und von dort zur Stadt fuhr. Jeremiah Bangley traf nach kurzer Zeit ein. Er war sehr ruhig; die Tatsache, daß seine Schwester verschwunden war, schien ihn nicht im mindesten zu überraschen, obwohl er konstatierte, daß es ein außerordentliches Ereignis sei.

»Ich habe Constance stets gewarnt, sich allein hier aufzuhalten, und ich könnte mir es auch niemals verzeihen, wenn Brown nicht in der Nähe gewesen wäre.«

»Wissen Sie irgendeine Erklärung?«

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. Er kannte das Haus überhaupt nicht und hatte es noch nie betreten. Er sagte, daß er nicht neugierig sei, und es war ja auch bekannt, daß er sich nicht viel um die Angelegenheiten anderer Leute kümmerte.

Die Beamten der Ortspolizei kamen eine halbe Stunde später unter Führung eines Polizeiinspektors, der gerade auf der Station war, als die Anzeige erstattet wurde.

»Es ist wohl ratsam, daß ich diesen jungen Mann mitnehme«, meinte er und zeigte auf Frank.

»Aber warum denn?« fragte Mr. Smith ruhig. »Was kann es Ihnen nützen, ihn zu verhaften? Es liegt keinerlei Verdachtsmoment gegen Mr. Doughton vor, und ich bin bereit, persönlich dafür zu bürgen, daß er zur Verfügung steht, wenn er verlangt wird. – Sie fahren am besten in die Stadt zurück«, wandte er sich liebenswürdig an Frank. »Sie müssen sich vor allem ausschlafen. Dieses Abenteuer ist gerade keine geeignete Vorbereitung für Ihre Hochzeit. Wenn ich recht unterrichtet bin, soll sie doch morgen stattfinden?«

Frank nickte.

»Ich möchte nur wissen, ob Ihre Entführung etwas damit zu tun hat. Kennen Sie jemand, der ein Interesse daran hat, die Hochzeit zu verhindern?«

Frank zögerte.

»Es fällt mir schwer, einen Menschen zu verdächtigen, aber Poltavo –«

»Poltavo?« wiederholte Mr. Smith schnell.

»Er hatte gewisse Absichten auf Miss Gray.«

Es war ihm peinlich, daß Doris' Name in diesem Zusammenhang erwähnt werden mußte.

»Poltavo hat ja schließlich guten Grund, sich über die bevorstehende Hochzeit zu ärgern«, meinte Mr. Smith humorvoll. »Erzählen Sie mir aber noch, was sich eigentlich in dem Auto zugetragen hat.«

Frank berichtete in kurzen Worten, welche Umstände zu seiner Gefangennahme geführt hatten.

»Als ich mich in ihren Händen befand«, fuhr er fort, »spielte ich erst eine Weile tot. Der Wagen fuhr mit unglaublicher Geschwindigkeit. Jeder Fluchtversuch hätte nur den Erfolg haben können, daß ich mich schwer verletzte. Sie machten kein Hehl aus ihrer Absicht. Solange wir noch durch Londoner Stadtgebiet fuhren, brannte die Deckenlampe, und die Vorhänge waren heruntergezogen. Die beiden Burschen waren maskiert und offenbar Ausländer. Einer saß mir gegenüber. Während der ganzen Nacht lag ein Revolver auf seinen Knien, und er ließ mir keine Unklarheit darüber, daß er die Waffe sofort gebrauchen würde, wenn ich die geringsten Schwierigkeiten machte.

Ich wußte nicht, in welcher Richtung wir fuhren, aber plötzlich waren wir auf freiem Felde. Sie ließen das eine Fenster herunter, ohne den Vorhang zu lüften. Aber der frische Duft der Felder strömte herein, und ich wußte, daß wir schon weit von London entfernt sein mußten.

Dann muß ich eingenickt sein, denn als ich aufwachte, dämmerte der Tag schon. Ich verhielt mich ganz ruhig und überdachte meine Lage.

Die beiden Männer waren auch eingeschlafen. Ich sah mich vorsichtig um, der Wagen fuhr jetzt ziemlich langsam. Offenbar hatten sie dem Chauffeur Weisung gegeben, während der Nacht die Geschwindigkeit zu vermindern. Ich sah die inneren Handgriffe der Tür und überlegte mir, nach welcher Seite ich fliehen könnte. Ich entschied mich für die Tür an meiner rechten Seite, die mir zunächst lag, nahm all meine Energie und Kraft zusammen, stand plötzlich auf, öffnete die Tür und sprang hinaus. Ich habe genug Erfahrung durch den Verkehr auf Londoner Autobussen und kann auf den Boden springen, ohne gleich auf die Nase zu fallen.

Ich befand mich auf einer Heide, die keine Deckung bot. Aber in etwa achthundert Meter Entfernung sah ich ein kleines Gehölz und eilte darauf zu. Glücklicherweise mußte ich eine Mulde passieren. So kam es, daß ich schon außer Sicht war, bevor die beiden Männer den Chauffeur, der wahrscheinlich gar nichts bemerkt hatte, von meiner Flucht verständigen konnten. Erst als ich auf der anderen Seite der Mulde wieder herauskam, sahen sie mich, und einer von ihnen muß auch nach mir geschossen haben, denn ich hörte eine Kugel an meinen Ohren vorbeischwirren. Das ist alles. Es war noch ein glücklicher Ausgang für ein Abenteuer, das zuerst recht gefährlich aussah.«

Jeremiah Bangley lud Frank ein, mit ihm zum Pfarrhaus zurückzufahren. Der junge Journalist verabschiedete sich von Mr. Smith, der die Nachforschungen nach Lady Constance weiter fortsetzte. Aber auch eine nochmalige eingehende Untersuchung der Räume blieb erfolglos.

»Als einzige Erklärung bleibt nur übrig«, sagte Mr. Smith etwas deprimiert, »daß Lady Constance das Haus verlassen hat, während der Kutscher in seine Zeitung vertieft war. Vielleicht erwartet sie uns im Pfarrhaus und hat nur einen Spaziergang gemacht.«

Aber er wußte genau, daß es nicht so war. Die verschlossenen Tore, vor allem die Spuren des Kampfes, der in dem Arbeitszimmer stattgefunden haben mußte, und der blutige Handabdruck wiesen darauf hin, daß es sich hier um ein Verbrechen handelte.

»Auf jeden Fall befindet sich Lady Constance hier in dieser Gegend in einem Umkreis von nicht mehr als sechs bis acht Kilometern«, sagte er grimmig, »und ich werde sie finden, selbst wenn ich das geheimnisvolle Haus Stein für Stein abbrechen müßte.«

 


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