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Zwei Tage später sprang Frank Doughton Punkt zehn Uhr aus seinem Auto, das vor dem Redaktionsgebäude der »Evening Times« hielt. Er blieb einen Augenblick stehen und atmete die frische, frühlingshafte Märzluft ein; der Nebel, der die letzten Tage so drückend gemacht hatte, war vollkommen verschwunden. Aus einem nahen Blumenladen drang Fliederduft auf die Straße. Frank eilte die Treppe hinauf.
»Ist der Chef schon im Büro?« fragte er den Nachrichtenredakteur, der erstaunt aufschaute, als Frank hereinstürzte, und dann nach der Uhr sah.
»Nein, noch nicht. Sie haben sich ja selbst übertroffen.«
Frank nickte.
»Ich mußte heute schon früh fortgehen.«
Er warf seinen Hut auf den Schreibtisch, setzte sich und sah die eingegangenen Schriftstücke durch. Aber seine Gedanken waren ausschließlich mit dem Problem beschäftigt, wohin der Millionär verschwunden sein konnte. Er hatte Doris noch nicht wiedergesehen.
Das erste Blatt, das er in die Hand bekam, war die Frühausgabe einer Konkurrenzzeitung. Er schaute schnell auf die Überschriften der ersten Seite und sprang plötzlich mit einem erschrockenen Ausruf auf. Er war bleich, und seine Hand zitterte.
»Großer Gott!«
Der Nachrichtenredakteur wandte sich um.
»Farrington!« sagte Frank heiser. »Denken Sie, er hat Selbstmord begangen!«
»Ja, wir haben auch einen kurzen Artikel darüber gebracht«, bemerkte Jamieson selbstzufrieden. »Das ist eine ganz interessante Geschichte . . . Kannten Sie ihn denn?« fragte er plötzlich.
Frank Doughton sah ihn an. Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen.
»Ich – ich war mit ihm im Theater an dem Abend, als er verschwand.«
Jamieson pfiff leise.
Frank Doughton erhob sich rasch und griff nach seinem Hut.
»Ich muß schnell zu ihnen gehen – vielleicht kann ich etwas für Doris tun.« Er brach plötzlich ab. Er war nicht mehr imstande weiterzusprechen. Gleich darauf stand er an der Tür.
Jamieson sah ihn mitfühlend an.
»Ich würde an Ihrer Stelle nach Brakely Square fahren. Vielleicht hat sich die Sache inzwischen aufgeklärt – vielleicht ist es nur ein Irrtum . . . Haben Sie auch gelesen, daß man die Leiche noch nicht entdeckt hat?«
Auf der Straße hielt Frank ein vorbeifahrendes Auto an.
Er fuhr zuerst zum Stadtbüro, wo Farrington sich gewöhnlich aufhielt, und hatte eine kurze Unterredung mit dem ersten Sekretär, der ihn über vieles aufklärte. Man hatte einen kurzen Brief Mr. Farringtons gefunden, in dem er erklärte, daß er lebensmüde sei und aus dieser Welt scheiden wolle.
»Aber aus welchem Grunde denn?« fragte der junge Mann bestürzt.
»Mr. Doughton, Sie scheinen die Tragweite dieser Tragödie nicht ganz zu überschauen. Mr. Farrington war ein Multimillionär, ein Fürst in Finanzkreisen. Wenigstens hielt man ihn bis heute morgen dafür. Wir haben seine Privatbücher durchgesehen. Daraus ging hervor, daß er in den letzten Wochen schwere Verluste an der Börse erlitten hat. Er hat nicht nur sein eigenes Vermögen verloren . . . Gestern abend hat er nun in einer Anwandlung von Verzweiflung seinem Leben ein Ende gemacht. Selbst wir hatten von diesen geschäftlichen Transaktionen nicht die geringste Ahnung.«
Frank Doughton schaute ihn verwirrt an.
Sprach dieser Mann wirklich von Farrington, der ihm doch erst in der vorigen Woche erzählt hatte, daß er das Vermögen seines Mündels im letzten Monat um eine ganze Million erhöht habe? Noch vor zwei Tagen hatte er ihm geheimnisvoll etwas von einem großen finanziellen Coup angedeutet, den er bald machen würde. Und nun war dieses große Vermögen verloren, und Farrington selbst lag auf dem Grund der Themse?
»Ich fürchte, ich verliere den Verstand!« sagte er vor sich hin. »Mr. Farrington ist kein Mann, der Selbstmord begeht.«
»Es ist in der Öffentlichkeit noch nicht bekannt, aber ich dachte, ich könnte es Ihnen sagen, da Sie ein Freund Mr. Farringtons waren. Mr. T. B. Smith ist mit der Aufklärung des Falls betraut worden. Er wird wahrscheinlich auch Ihre Adresse wissen wollen. Und wenn Sie zufällig etwas erfahren sollten –«
»Dann werde ich es Sie bestimmt wissen lassen. Smith ist ein sehr fähiger Beamter.«
Doughton gab ihm seine Adresse und ging dann eilig fort. Er war froh, daß der Mann keine weiteren Fragen gestellt hatte.
Als er wieder in seinem Auto saß, warf er sich müde in die Polster. Nun zu Doris!
Aber das junge Mädchen ließ sich nicht sehen. Lady Dinsmore empfing ihn im Morgenrock. Sie sah besorgt aus, und er drückte ihr schweigend die Hand.
»Es ist sehr lieb von Ihnen, mein lieber Freund, daß Sie so schnell gekommen sind. Haben Sie schon alles gehört?«
Er nickte.
»Wie geht es Doris?«
Die Frau sank in einen Stuhl und schüttelte den Kopf.
»Das arme Kind nimmt es sehr schwer. Sie weint nicht, aber ihre Gesichtszüge sind wie versteint. Sie wollte es nicht glauben, bis sie seine eigene Handschrift sah. Dann wurde sie ohnmächtig.«
Lady Dinsmore nahm ihr Spitzentaschentuch und wischte sich die Augen.
»Doris hat nach dem Grafen Poltavo geschickt«, sagte sie dann.
Frank starrte sie an.
»Warum hat sie das getan?«
»Das weiß ich auch nicht«, erwiderte sie seufzend. »Sie spricht sich nicht darüber aus, aber vielleicht fühlt sie, daß der Graf etwas weiß – sie glaubt, daß Gregory irgendwie betrogen worden ist.«
Frank neigte sich vor.
»Das ist auch meine Ansicht«, sagte er ruhig.
Lady Dinsmore sah ihn nachsichtig an.
»Sie kennen Gregory nicht«, sagte sie nach einer Weile.
»Trotzdem kann ich Ihnen nicht beipflichten. Wenn er nicht ermordet wurde, so muß es Selbstmord gewesen sein. Aber warum hätte sich Mr. Farrington denn selbst umbringen sollen?«
»Ich bin sicher, daß er nicht die geringste Absicht hatte, so etwas zu tun«, erwiderte Lady Dinsmore gefaßt.
»Und was nehmen Sie an?«
»Warum glauben Sie denn, daß er wirklich tot ist?« fragte sie leise.
Frank sah sie mit hellem Erstaunen an.
»Wie meinen Sie das?« Hatte der Unglücksfall ihr den Verstand geraubt?
»Ich meine ganz einfach, daß er ebensowenig tot ist wie Sie oder ich«, entgegnete sie kühl. »Welche Beweise haben wir denn? Nur einen Brief, der von ihm persönlich geschrieben wunde und in dem er uns allen Ernstes mitteilt, daß er sich entschlossen habe zu sterben. Klingt das wahrscheinlich? Ich nehme als sicher an, daß dies das letzte ist, was er beabsichtigte. Wann hat Gregory jemals die Wahrheit gesagt, wenn es sich um seinen Aufenthalt handelte? Nein, glauben Sie mir, er ist nicht tot. Aus Gründen, die nur er kennt, gibt er vor, es zu sein; in Wirklichkeit hat er sich nur entschlossen, in der Verborgenheit zu leben.«
»Aber warum denn?« fragte der junge Mann bestürzt. Das war die verrückteste Erklärung, die er sich denken konnte. Sein Kopf wirbelte von den widersprechenden Eindrücken; er schien in ein schreckliches Abenteuer gestürzt worden zu sein, und es verlangte ihn danach, wieder in die nüchterne Alltagswelt zurückzukehren.
Die Tür am anderen Ende des Raumes öffnete sich. Er schaute schnell auf und erwartete schon halb, Farrington selbst auf der Schwelle zu sehen.
Aber es war Doris. Sie blieb einen Augenblick unentschlossen stehen und starrte die beiden wie abwesend an. In ihrem weißen Morgengewand und mit ihrem schwarzen Haar, das durch ein einfaches Stirnband zusammengehalten wurde, wirkte sie fast wie ein Kind. Das kalte Frühlingssonnenlicht, das durch die Fenster hereinströmte, ließ erkennen, daß die Nacht Spuren in ihren Zügen hinterlassen hatte. Schwache violette Schatten waren unter ihren Augen sichtbar, ihr Gesicht war bleich.
Frank trat ihr schnell entgegen. Er sah nur ihr weißes, trauriges Gesicht. Schnell nahm er ihre Hände in die seinen, und sie fühlte seinen warmen Druck.
Sie sah ihn lange forschend an, dann zitterten ihre Lippen, und mit einem herzzerreißenden Schluchzen warf sie sich in seine Arme und barg ihren Kopf an seiner Schulter. Frank hielt sie zart.
»Nicht weinen, Liebling«, flüsterte er.
Er beugte sich nieder und streichelte ihr Haar. Ein liebevoller Ausdruck lag auf seinen Zügen.
»Liebling!« sagte er leise.
Sie hob das blasse Gesicht zu ihm empor.
»Sie – Sie sind so gut zu mir«, hauchte sie. Unter seinem warmen Blick zog eine leichte Röte über ihre Wangen, dann löste sie sich von ihm und setzte sich nieder.
Lady Dinsmore kam zu ihr und legte den Arm um sie.
»Nun, Frank?« begann sie freundlich und zeigte auf einen Stuhl. »Nehmen Sie doch Platz. Wir wollen uns beraten. Vor allem möchte ich« – sie drückte die kalte Hand des Mädchens – »meine feste Überzeugung aussprechen, daß Gregory nicht tot ist. Ein Gefühl sagt mir, daß er sicher und wohlauf ist.«
Doris sah Frank nachdenklich an.
»Haben Sie noch etwas erfahren – ich meine, später?«
»Es war noch nicht genügend Zeit für neue Entwicklungen. Scotland Yard beschäftigt sich mit der Sache, und Mr. Smith ist mit der Untersuchung beauftragt.«
Sie schauderte und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
»Smith erklärte doch gestern im Theater, daß er ihn verhaften wollte – wie merkwürdig und schrecklich das alles ist«, sagte sie verängstigt. »Ich – ich muß immer daran denken. Das dunkle Wasser im Strom – mein armer Onkel . . . Es ist so, als ob ich ihn dort sehen könnte . . .« Sie schluchzte wieder und konnte nicht weitersprechen.
Lady Dinsmore sah hilflos zu Frank hinüber.
In diesem Augenblick brachte ein Diener einen Brief.
Lady Dinsmore zog die Augenbrauen zusammen.
»Von Poltavo«, sagte sie halb zu sich selbst.
Doris stürzte vor und nahm den Brief von dem Tablett. Eilig zog sie den Bogen aus dem Kuvert. Sie schien die Botschaft sofort zu verstehen, denn es entfuhr ihr ein kleiner Freudenschrei. Ihr blasses Gesicht überzog sich plötzlich mit einem lebhaften Rot, und sie beugte sich nieder, um den Brief noch einmal zu lesen. Ihre Lippen öffneten sich, ihre ganze Haltung drückte Hoffnung und Zuversicht aus. Dann faltete sie das Schreiben wieder zusammen und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
Frank starrte entsetzt hinter ihr her. Er war bleich geworden vor Wut und Eifersucht.
Lady Dinsmore erhob sich schnell.
»Entschuldigen Sie mich – warten Sie hier«, sagte sie und folgte ihrer Nichte.
Frank Doughton ging zerstreut auf und ab und erwartete jeden Augenblick ihre Rückkehr. Erst vor wenigen Minuten hatte er die höchste Glückseligkeit erlebt, als Doris ihren Kopf an seiner Schulter barg – nun war er wieder in den Abgrund tiefster Hoffnungslosigkeit gestoßen. Was mochte in dem kurzen Brief gestanden haben, der sie so freudig erregt hatte? Hätte sie ihn so sorgfältig an sich genommen, wenn er nicht eine Liebesbeteuerung enthalten hätte? – Er war unachtsam und wäre beinahe über einen Stuhl gestolpert. Leise fluchte er vor sich hin.
Der Diener, der unbemerkt eingetreten war, machte sich durch ein diskretes Räuspern bemerkbar.
»Lady Dinsmore läßt sich entschuldigen und Ihnen bestellen, daß sie Ihnen später schreiben wird.«
Er begleitete den jungen Mann zur Haustür.
Auf der ersten Stufe blieb Frank steif aufgerichtet stehen, denn er sah sich plötzlich Poltavo gegenüber.
Der Graf grüßte ihn mit ernster Miene.
»Eine traurige Angelegenheit«, sagte er leise. »Haben Sie die Damen schon gesehen? Wie hat Miss Gray alles aufgenommen? Geht es ihr den Verhältnissen entsprechend gut?«
Frank schaute ihn düster an.
»Ihr Schreiben hat ihre Stimmung aufs beste beeinflußt.«
»Mein Schreiben?« fragte Graf Poltavo erstaunt. »Ich habe ihr doch gar nicht geschrieben – Sie sehen doch, daß ich persönlich komme!«
Franks erregte Züge verrieten, daß er Poltavos Worten keinen Glauben schenkte. Er zog wütend den Hut, ging die Treppe hinunter und wäre beinahe mit einem anderen Herrn zusammengestoßen.
»Mr. Smith«, sagte er begierig, »haben Sie neue Nachrichten?«
Der Detektiv sah ihn interessiert an.
»Die Themsepolizei hat die Leiche eines Mannes aufgefischt. In seinen Taschen hat man viele Dinge gefunden, die das Privateigentum Mr. Farringtons sind.«
»Dann ist es also doch wahr, daß ein Selbstmord vorliegt?«
Der Detektiv schaute an ihm vorbei.
»Wenn ein Mann seinen Kopf abschneiden kann, bevor er in den Fluß springt, könnte man an Selbstmord glauben«, erwiderte er vorsichtig. »Ich habe aber noch niemals ein solches Wunder erlebt und bin infolgedessen sehr skeptisch.«
Ein Zug fuhr in den Waterloo-Bahnhof ein. Als er zum Stehen gekommen war, stieg ein großer, schlanker Herr aus. Bei näherer Betrachtung erkannte man, daß er nicht mehr so jung war, wie der erste Eindruck vermuten ließ. An den Schläfen färbten sich seine Haare schon grau, und einige scharfe Linien waren um seine Mundwinkel eingegraben.
Sein Gesicht war gebräunt; er schien erst vor kurzem aus einem heißen Klima nach England zurückgekehrt zu sein.
Er stand jetzt vor dem Bahnhof und überlegte, ob er hier ein Auto nehmen oder unterwegs einen Wagen anrufen sollte, denn die Nacht war naß und kalt, und die Bahnfahrt hatte ihn ermüdet.
Während er noch zögerte, fuhr geräuschlos ein großes Auto heran, und der Chauffeur berührte seine Mütze.
»Ich danke Ihnen«, sagte der Mann lächelnd. »Sie können mich zum Metropol fahren.«
Er öffnete die Tür und wollte eben einsteigen, als sich eine Hand leicht auf seinen Arm legte. Er wandte sich um und sah in humorvolle graue Augen.
»Ich glaube, Sie nehmen besser einen anderen Wagen, Dr. Goldworthy«, sagte der Fremde.
»Es tut mir leid –«, begann der Arzt.
Der Chauffeur wäre abgefahren, nachdem er seinem Passagier einen schnellen Blick zugeworfen hatte, aber ein Mann, der unverkennbar der Geheimpolizei angehörte, sprang an seine Seite.
»Es tut mir auch leid«, erwiderte Mr. T. B. Smith, denn er war es, der den jungen Arzt zurückhielt, »aber ich werde Ihnen alles erklären. Kümmern Sie sich nicht um den Chauffeur, meine Leute werden das in Ordnung bringen, Sie sind mit knapper Not einer Entführung entgangen!«
Er brachte den bestürzten Mann nach Scotland Yard, und nach einer längeren Unterhaltung kannte er die Geschichte George Doughtons, der in den Armen Dr. Goldworthys gestorben war. Und er wußte nun auch von einem Kasten, der Papiere enthielt, die der Doktor Lady Constance Dex auszuhändigen versprochen hatte. Er erfuhr auch, wie diese Frau die Nachricht von dem Tod ihres einstigen Geliebten erhalten hatte.
»Ich danke Ihnen«, sagte Mr. Smith, als Dr. Goldworthy endete. »Ich glaube, ich verstehe die Zusammenhänge jetzt.«