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11
Der Menschenkenner

Mr. Jackson Hyane war einer jener älter aussehenden jungen Leute, auf die die Bezeichnung »Stadtherr« vorzüglich paßte. Er war immer gut und vollständig korrekt gekleidet. Bei den Rennen in Ascot hatte er stets einen Sattelplatz. Es war aber sehr befremdlich, daß er nicht das Mitgliedszeichen des Königlichen Rennklubs im Knopfloch trug. Bei fast allen großen gesellschaftlichen Veranstaltungen konnte man ihn treffen, seine Gegenwart bedeutete jedoch nicht notwendigerweise, daß er mit den Spitzen der Gesellschaft eng befreundet war. Aber er hinterließ immerhin den Eindruck, daß er irgendwie zu den maßgebenden Kreisen gehörte und sogar eine hervorragende Rolle in ihnen spielte.

Er wohnte in der Nähe der Albemarle Street in einer kleinen Wohnung und hatte keine bestimmte Beschäftigung. Seine Freunde glaubten, daß er ein kleines Vermögen besäße und noch einige Erbschaften in Aussicht habe. Die meisten von ihnen verließen ihn ärmer an Geld, denn Mr. Hyane konnte wunderbar Piquet spielen und schien dabei sehr viel Glück zu haben.

Seine Mutter war eine geborene Whitland und sein Vater der berüchtigte Colonel Hyane, der sich rühmen konnte, daß seine Bibliothek mit Schriftsätzen des höchsten Gerichtshofes tapeziert war. Auch hatte man ihn unter polizeilicher Bedeckung über die Grenze von Monte Carlo abgeschoben.

Mr. Jackson Hyane war ein Kenner von Menschen und Dingen. Seiner scharfen Beobachtungsgabe entging kaum etwas. Er merkte sich alles genau, sparte aber seine Kenntnisse bis zu dem Augenblick auf, in dem er Nutzen daraus ziehen konnte. Er war eine schöne Erscheinung und von hohem Wuchs. Sein Lächeln war allein fünftausend Pfund im Jahre wert, denn es war so kindlich unschuldig und so voller Begeisterung, obwohl er niemals einen kindlichen Charakter gehabt hatte, noch begeisterungsfähig war.

An einem grauen Oktobertag legte er sein Paßbuch in eine Schublade seines Schreibtisches und schloß sie ab. Dann nahm er das ganze Material eines allerdings noch nicht vollständigen Planes, kleidete sich sehr sauber und korrekt, begab sich nach Piccadilly, rief ein Mietauto an und fuhr zu dem großen Geschäftsgebäude, in dem die Firma Tibbetts & Hamilton Ltd. ihre Bureaus hatte.

Er hatte diesen kühnen Streifzug sorgfältig vorbereitet. »Zufällig« hatte er Miß Marguerite Whitland vor einer Woche getroffen, sie in ihrer Wohnung besucht und ihr eine alte Photographie ihres Vaters mitgebracht, die er ebenso »zufällig« in seinen Briefschaften entdeckt hatte. Sie gab ihm mit großem Widerwillen die Zusage, einmal mit ihm speisen zu wollen.

Bones schaute von seinem Schreibtisch auf, als der junge Mann in den Raum trat.

»Sie kennen mich nicht, Mr. Tibbetts!« sagte Jackson Hyane, und dabei spielte sein allbekanntes, berühmtes Lächeln auf seinem Gesicht. »Mein Name ist Hyane.«

Es war seine erste Zusammenkunft mit Bones, aber es war durchaus nicht das erstemal, daß er ihn gesehen hatte.

»Mein lieber, alter Hyane, nehmen Sie, bitte, Platz!« sagte Bones gutgelaunt. »Was kann ich für Sie tun?«

Mr. Hyane lachte.

»Sie können nichts Besonderes für mich tun, es sei denn, daß Sie Ihrer Sekretärin eine Stunde länger als gewöhnlich freigeben.«

»Meiner Sekretärin?« fragte Bones schnell und sah den Besucher verdächtig von der Seite an.

»Ich meine Miß Whitland«, sagte Hyane leichthin. »Sie ist meine Cousine, wie Sie wissen. Der Bruder meiner Mutter war ihr Vater.«

»O ja«, erwiderte Bones ein wenig steif.

In diesem Augenblick fühlte er einen großen Widerwillen gegen den verstorbenen Professor Whitland. Er war davon überzeugt, daß Mr. Whitland ihm einen bösen Streich gespielt hatte, weil er überhaupt eine Schwester besaß. Mr. Hyane war ein zu guter Menschenkenner, um Bones' Abneigung zu übersehen.

»Marguerite und ich sind gute, alte Bekannte«, fuhr er sorglos fort, »Sie können sich gar nicht denken, wie froh ich bin, daß sie eine so ausgezeichnete Stellung hier gefunden hat.«

»O ja«, sagte Bones wieder und räusperte sich. »Sie ist eine sehr nette, gute Sekretärin, Mr. Hyane, eine nette, liebe ... hm!« Dann hustete er wieder verlegen.

Marguerite kam in diesem Augenblick aus ihrem Bureau und grüßte ihren Cousin mit einem leichten Kopfnicken, was auf den verstörten Bones den Eindruck machte, daß sie schon lebenslängliche Freunde gewesen seien.

»Ich habe soeben Mr. Tibbetts gefragt«, sagte Hyane, »ob er dir nicht noch eine Stunde länger freigeben kann.«

»Ich fürchte, das geht nicht –«, begann das Mädchen.

»Doch, doch«, sagte Bones mit erhobener Stimme. »Sicher geht es, meine liebe, alte – hm – meine liebe, junge – hm – sicher, Miß Marguerite, gehen Sie mit Ihrem Vetter zum Zoo ... ich meine, zeigen Sie ihm die Sehenswürdigkeiten.«

Er war sehr aufgeregt und beobachtete die beiden jungen Leute, als sie aus der Türe gingen, mit so augenfälliger Unruhe, daß Hamilton für sich lachen mußte.

Bones ging langsam zu seinem Schreibtisch zurück, als Hamilton seinen Hut nahm.

»Kommen Sie mit, Bones«, sagte er kurz. »Es ist Mittagszeit. Ich dachte noch nicht, daß es so spät sei.«

Aber Bones schüttelte den Kopf.

»Nein, ich danke Ihnen, mein Lieber«, sagte er traurig. »Ich möchte nicht mitkommen, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Wollen Sie denn heute nicht zu Mittag essen?« fragte Hamilton erstaunt.

Bones schüttelte wieder den Kopf.

»Nein, mein lieber Junge«, sagte er mit hohler Stimme. »Sagen Sie, bitte, der Bedienung, daß sie mir ein großes Glas Sodawasser und ein Biskuit heraufschickt, aber ich vermute, daß ich das Biskuit nicht esse.«

»Ach, Unsinn! Vor einer halben Stunde haben Sie mir noch gesagt, Sie wären so hungrig, daß Sie eine ganze Wagenladung vertilgen könnten!«

»Jetzt nicht mehr, mein lieber Ham. Wenn Sie das Essen bestellt haben, so senden Sie es zurück. Ich mag überhaupt nicht soviel essen.«

»Also nun kommen Sie schon mit!« Hamilton legte ihm die Hand auf die Schulter. »Kommen Sie mit und essen Sie etwas. Wer war eigentlich der hübsche, junge Mann?«

»Hübsche, junge Mann?« lachte Bones bitter. »Ein Geck, mein lieber, alter Ham! Ein eitler Fant, ein netter, alter Kleiderfex – das war er! Ich hasse solche Leute, die nur in der City herumlaufen können – so etwas gehört sich nicht, mein lieber, alter Freund! Was zum Teufel mußte denn auch ihr Vater eine Schwester haben? Ich hatte noch nie etwas davon gehört!«

»Das hätte sie Ihnen auch wirklich mitteilen müssen!« sagte Hamilton mitleidig. »Nun kommen Sie aber und essen Sie etwas!«

Aber Bones weigerte sich standhaft. Er blieb hart wie ein Diamant. Er wollte sitzenbleiben und Hungers sterben. Das sagte er zwar nicht, aber er machte eine kleine Andeutung, daß Hamilton ihn bei seiner Rückkehr verhungert und leblos über seinen Schreibtisch geneigt finden würde. Hamilton mußte also allein zu Tisch gehen. Er aß schnell und kam bald wieder. Bones war noch am Leben, aber er war sehr unglücklich.

Er saß am Tisch und schnitt Gesichter, murmelte unzusammenhängende Worte, gestikulierte von Zeit zu Zeit in schrecklicher Weise und ließ sich schließlich in seinen Stuhl zurückfallen, vergrub die Hände tief in den Taschen – ein Bild tiefster Verzweiflung und trostlosen Elends.

Um drei Uhr kam Miß Marguerite Whitland atemlos zurück, und Bones' Augen bemerkten eifersüchtig, daß sie unnötig erregt war.

»Kommen Sie, kommen Sie, mein liebes Fräulein,« sagte er eigensinnig, »bringen Sie Ihr Buch, ich muß Ihnen einen wichtigen Brief diktieren! Haben Sie sich beim Essen gut amüsiert?«

Die letzte Frage wurde in einem so bedrohlichen Ton gestellt, daß Marguerite zusammenschrak.

»Ja – nein – nicht sehr – wirklich!«

»Aha!« sagte Bones fast beleidigend. Sie wurde rot, verschwand in ihrem Zimmer und kam erst nach fünf Minuten wieder zurück. Sie war empört und sehr zurückhaltend gegen ihn.

»Ich glaube, ich werde heute nicht diktieren, meine liebe, junge Sekretärin«, sagte er unglücklich, »bitte, lassen Sie mich allein!«

»Aber mein lieber Bones,« protestierte Hamilton, als das Mädchen mit einem feuerroten Gesicht in ihr Zimmer zurückgegangen war, »spielen Sie sich doch nicht auf wie ein alter Esel. Wenn ein Mädchen nicht einmal mehr mit ihrem Vetter zu Tisch gehen darf! –«

Bones sprang von seinem Stuhl auf, zuckte schnell die Schultern und zwang sich zu einem schrecklichen Grinsen.

»Was geht mich die ganze Sache an, mein lieber, alter Ham? Glauben Sie doch ja nicht, daß ich mich von so einer Stenotypistin aus der Fassung bringen lasse – oder weil sie einmal zum Essen geht. Das ist doch ganz ausgeschlossen! Nein, mein lieber Partner, darum kümmere ich mich doch gar nicht!«

»Halt!« sagte Hamilton mit der Würde eines beleidigten Bischofs.

»Aber in der Tat nicht!« rief Bones wild, »was geht mich denn das übrigens an? Ich freue mich überhaupt, daß sie einen Vetter hat und all sowas!«

»Was, zum Teufel, ist denn mit Ihnen los?« fragte Hamilton.

»Nichts!« sagte Bones und lachte noch lauter als vorher.

Die Beziehungen zwischen Mr. Augustus Tibbetts, dem geschäftsführenden Direktor der Firma Schemes Ltd. und Miß Marguerite Whitland, seiner ihm vom Himmel gesandten Sekretärin, wurden an diesem Nachmittag beinahe gelöst. Sie verließ am Abend das Bureau, ohne ihm Lebewohl zu sagen. Bones ging in einer fürchterlich verzweifelten Stimmung zu seiner Wohnung in der Devonshire Street, als ihm plötzlich einfiel, daß er sein Auto in der City zurückgelassen hatte. Er mußte ein Mietauto nehmen, um es abzuholen.

»Bones,« sagte Hamilton am nächsten Morgen, »bemerken Sie denn nicht die schrecklich düstere Stimmung, die in unser Bureau gekommen ist?«

»Düstere Stimmung!« sagte Bones hohläugig. Er hatte die ganze Nacht damit verbracht, Briefe an Marguerite zu schreiben, und hatte dabei seinen ganzen Papiervorrat verbraucht. »Düstere Stimmung – nein, das sehe ich nicht. Niemand ist hier in düsterer Stimmung!«

»Ich kann aber jemand nennen, der in solcher Stimmung ist«, sagte Hamilton bissig. »Das unglückliche Mädchen, das Sie so angebellt haben –«

»Angebellt?« keuchte Bones. »Habe ich doch meine düstere Gemütsstimmung verraten, alter Freund? Ich dachte doch, daß ich sie vollkommen verborgen hätte!«

»Worüber haben Sie denn überhaupt Kummer?« fragte Hamilton.

Bones zuckte die Achseln.

»Oh, es ist nichts, wirklich nichts. Ein bißchen Fieber, mein lieber, alter Kamerad, das ich mir im Dienst des Königs und des Vaterlandes zugezogen habe.«

Hamiltons Worte hatten aber doch den Erfolg, daß sich seine Züge sichtlich aufheiterten und für den Rest des Vormittags war er wieder normal. Aber seine Stimmung änderte sich sofort wieder, als fünf Minuten vor eins Mr. Hyane, der nette, junge Mann, ganz unerwartet wieder auf der Bildfläche erschien.

»Ich fürchte, ich bin ein großer Störenfried für Sie, Mr. Tibbetts. Aber es sind so viele Dinge, die ich dringend mit meiner Cousine besprechen muß – es handelt sich nämlich um Familienangelegenheiten –«

»Sie brauchen sich doch nicht zu entschuldigen«, sagte Bones beinahe grob.

»Ich will sie nicht länger als über die Mittagspause aufhalten«, lächelte Mr. Hyane. »Ich habe schon bemerkt, daß Sie sehr viel zu tun haben.«

Bones sagte nichts mehr und als Marguerite Whitland im Zimmer erschien, hatte er sich wieder soweit in der Gewalt, daß er sogar versuchte, einen Witz zu machen. Das Gesicht des Mädchens war ein Problem für sich, als sie ihren Vetter sah. Hamilton, den die Sache ja eigentlich nichts anging und der nur ein unparteiischer Beobachter war, las Erstaunen, Ärger und Widerwillen in ihren weitgeöffneten Augen. Bones aber, der sich doch rühmte, eine umfassende Kenntnis der Physiognomie zu besitzen, deutete dieselben Symptome ganz anders. Er sah tiefe Bewunderung und Wiedererwachen einer Jugendliebe darin.

»Hallo, Jackson«, sagte sie kühl. »Ich habe nicht erwartet, dich hier zu sehen.«

»Ich sagte dir doch, daß ich herkommen würde«, erwiderte er lächelnd. »Ich muß dich sehen, Marguerite. Mr. Tibbetts war so liebenswürdig, daß ich annehmen darf, er hat nichts dagegen –«

»Mr. Tibbetts ist nicht interessiert, wie ich meine Mittagspause zubringe«, sagte sie steif. Bones seufzte innerlich.

Ein tiefes Stillschweigen trat ein, als die beiden gegangen waren. Hamilton hatte nicht den Mut, etwas zu sagen.

»Ja, das ist nun einmal so«, sagte Bones, und seine Stimme war so ruhig und normal, daß Hamilton ihn ganz erstaunt anschaute. »Wir wollen jetzt zu Tisch gehen.«

Er änderte sogar sein Betragen nicht, als Miß Whitland am Nachmittag zu ihm kam und um zwei Tage Urlaub bat. Mit einer Höflichkeit, die ganz frei von den ihr so vertrauten Überschwenglichkeiten war, willfahrte er ihrer Bitte. Sie wollte ihm die Gründe sagen, warum sie so unerwartet um Urlaub bat, aber die Erinnerung an sein früheres Betragen hielt sie davon ab. Die Erklärung war sehr einfach. Marguerite hatte schon manches von ihrem merkwürdigen Vetter gehört, aber sie fand die schlechten Beschreibungen seines Betragens nicht bestätigt. Mr. Jackson Hyane konnte sehr überzeugend sprechen und bat sie im Namen ihrer Verwandten, eine Reise nach Aberdeen zu machen, um Urkunden über Grundbesitz einzusehen. Er sagte ihr, daß wertvolles Besitztum der Familie Whitland in Gefahr war, an die Krone zu fallen. Sie konnte es mit seiner Unterstützung retten und sie hatte ihm ihre Zustimmung gegeben.

Tatsächlich war in der Familie immer über diese Ländereien gesprochen worden, aber niemand wußte besser als Jackson Hyane, daß die Forderungen der Whitlands nicht berechtigt waren. Aber er hatte die Grundstücke in Schottland in seinen Plan einbezogen, und sie versprachen ihm nützlicher zu werden, als er jemals dachte.

An dem Nachmittag packte er seinen Koffer, steckte seinen Paß und sein Eisenbahnbillett in seine innere Rocktasche und traf endgültige Vorbereitungen zur Abreise. Ein alter Freund besuchte ihn, als er gerade beim Tee saß. Er erfaßte die Situation sofort, als er die gepackten Koffer und die verbrannten Papiere im Kamin sah.

»Hallo, mein Junge,« sagte er, »willst du fort?«

Jackson nickte. Er hatte keine Ursache, vor seinen besten Freunden Theater zu spielen.

»Kannst du die Bank nicht mehr halten?«

Jackson schüttelte den Kopf.

»Nein, Billy,« sagte er ruhig, »das kann ich leider nicht mehr. In diesem Moment werden verschiedene angesehene Leute in Westend Anzeige gegen mich erstatten.«

»Hast du Schecks gefälscht?« fragte der andere nachdenklich. »Ja, das mußte so kommen, mein lieber Kerl. Du hast immer Pech gehabt.«

»Schrecklich!« sagte Jackson Hyane. »Es ist soviel Geld in der Stadt, aber es ist unmöglich, daran zu kommen. Ich habe seit zwei Monaten keine Karte mehr angerührt, und ich habe mehr Wechsel zurückgehen lassen, als ich überhaupt ausdenken kann. Aber ich habe trotzdem noch eine Chance!«

Sein Freund nickte. In ihren Kreisen gab es noch immer eine Chance. Aber er konnte nicht ahnen, daß die Chance, von der der Menschenkenner Hyane sprach, mit dem Namen Tibbetts zusammenhing.

Um halb neun abends begleitete er seine Cousine zur Station King's Croß. Er hatte ein Schlafwagenbillett für sie gelöst und spielte den aufmerksamen Verwandten. Er kaufte ihr eine Menge Zeitschriften, die sie während der schlaflosen Stunden auf der Reise unterhalten sollten.

»Ich fühle mich sehr unruhig«, sagte Marguerite aufgeregt. »Mr. Tibbetts könnte mir für immer Urlaub geben, selbst wenn er bis über beide Ohren in der Arbeit steckte. Ich habe das unsichere Gefühl, daß ich ihm alles hätte erklären sollen – aber ich tat es nicht.«

»Ein seltsamer Vogel, dieser Tibbetts!« sagte ihr Cousin. »Man nennt ihn doch Bones?«

»Ich nenne ihn niemals so«, sagte sie ruhig. »Nur seine intimsten Freunde haben dieses Vorrecht. Er ist einer der besten Menschen, die ich jemals traf.«

»Er ist sentimental und extravagant, nicht wahr?« fragte Jackson. Sie wurde rot.

»Er ist niemals sentimental zu mir gewesen«, sagte sie. Aber sie konnte den Menschenkenner nicht täuschen.

Als der Zug die Station verlassen hatte, ging er geradewegs nach Devonshire Street. Bones war in seinem Arbeitszimmer und las, oder er gab wenigstens vor, zu lesen. Der letzte, den er an diesem Abend sehen wollte, war Jackson Hyane. Aber der Willkommengruß, den er dem unliebsamen Besucher bot, verriet nichts von der Abneigung, die er dem jungen, elegant gekleideten Mann entgegenbrachte. Hyane reichte ihm die Hand, als ob sie alte Freunde wären.

»Nehmen Sie Platz, Mr. –«, sagte Bones.

Es war ein eiskaltes Gefühl in seinem Herzen, und es überkam ihn eine Ahnung, daß ein Unglück hereinbrechen würde. Aber er schaute den Schicksalsschlägen und den Schrecknissen des Lebens kühn ins Gesicht. Er war ein anderer geworden – er war nicht mehr der Bones, der bei jeder Kleinigkeit aufgeregt und wild wurde.

»Ich vermute, daß Sie über meinen Besuch erstaunt sind, Mr. Tibbetts«, sagte Hyane und nahm eine Zigarette aus der silbernen Dose, die auf dem Tisch stand. »Ich bin selbst verwundert, daß ich den Mut und die Kraft habe, Sie aufzusuchen. Ich komme in einer sehr delikaten Angelegenheit.«

Tiefes Schweigen trat ein.

»So?« sagte Bones nach einiger Zeit etwas heiser. Er wußte gefühlsmäßig, was diese delikate Angelegenheit zu bedeuten hatte.

»Ich komme wegen Marguerite«, sagte Mr. Hyane.

Bones neigte den Kopf.

»Sehen Sie, wir sind unser ganzes Leben lang große Freunde gewesen,« fuhr Jackson fort, »wir waren heimlich verlobt.« Er beobachtete den andern scharf und las alles in seinem Gesicht, was er wissen wollte. »Ich liebe Marguerite über alles, und ich glaube, sie erwidert meine Liebe ebenso. Ich war nie vom Glück begünstigt, und ich hatte nicht das Geld, um Marguerite ein Leben bieten zu können, wie es ein Mädchen von guter Erziehung haben sollte.«

»Vortrefflich«, sagte Bones, und seine Stimme erschien ihm wie die eines Fremden.

»Vor einigen Tagen«, sprach Mr. Hyane weiter, »wurde mir aber eine Teeplantage für vierzehntausend Pfund angeboten. Die Aussichten waren so glänzend, daß ich zu einem befreundeten Bankmann ging. Er versprach auch, mir das Geld zu borgen, wofür ich ihm natürlich eine gute Verzinsung garantierte. Die ganze Zukunft, die so düster vor uns lag, lichtete sich auf und wurde plötzlich taghell. Ich besuchte Marguerite, wie Sie wohl sahen, erzählte ihr von dem großen Glück und fragte sie, ob sie mich jetzt heiraten wolle.«

Bones sagte nichts. Sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt.

»Und nun komme ich zu der schwierigen Lage, in der ich mich befinde«, sagte Mr. Hyane. »Heute nachmittag haben Marguerite und ich Sie ein wenig hinters Licht geführt – ich hoffe, Sie werden uns das vergeben.«

»Bestimmt, ganz gewiß!« murmelte Bones und krampfte die Hände in die Lehne seines Stuhls.

»Ich habe Marguerite heute nachmittag zum Standesamt abgeholt – wir sind verheiratet –!«

»Verheiratet?« wiederholte Bones schwermütig. Mr. Hyane nickte.

»Ja, wir haben heute nachmittag um halb zwei geheiratet, und zwar vor dem Marylebener Standesamt. Ich hoffte, daß Marguerite Ihnen diese Neuigkeit selbst überbringen würde – aber diesen Nachmittag ist ein furchtbares Unglück über uns hereingebrochen.«

Er legte die Zigarette weg, stand auf und ging mit aufgeregten Schritten im Bureau umher. Er hatte diese Haltung schon den ganzen Morgen eingeübt, denn er überließ nichts dem guten Glück.

»Um drei Uhr besuchte ich meinen Finanzmann und entdeckte, daß er unmöglich sein Versprechen halten konnte, da er unerwartet große Verluste an der Börse erlitten hatte. Meine Lage ist fürchterlich, Mr. Tibbetts, denn ich fühle, daß ich Marguerite verführt habe, mich unter falschen Voraussetzungen zu heiraten. Ich hoffte, morgen früh zum Agenten zu gehen, die Farm zu kaufen, ihm vierzehntausend Pfund einzuzahlen – mit dem nächsten Postdampfer wollten wir dann nach Indien fahren.«

Er sank in seinen Sessel zurück und verbarg das Gesicht in den Händen. Bones betrachtete ihn. Mit Anstrengung fand er seine Stimme wieder.

»Weiß – Ihre – Ihre – Frau davon?« fragte er.

Jackson schüttelte den Kopf.

»Nein,« seufzte er, »das ist ja das Schreckliche an der Geschichte. Sie hat nicht die geringste Ahnung. Was soll ich ihr nur sagen? –«

»Das ist eine sehr böse Lage, mein alter Mr. Hyane«, sagte Bones nach einer Pause. »Eine verflucht schlimme Lage für die arme junge Miß – für Mrs. – für sie.«

Er erhob sich weder von seinem Stuhl noch änderte er seinen starren Ausdruck. Er war weit schwerer getroffen, als er jemals fassen konnte. Und doch wußte er nicht recht, wie er diese Unterredung zu Ende bringen sollte. Er war um eine Ausrede verlegen, bis seine Augen plötzlich auf die Uhr am Kamin fielen.

»Kommen Sie um neun Uhr zurück, Mr. Hyane, ich bin furchtbar beschäftigt jetzt – also um neun!«

Mr. Hyane verabschiedete sich geschickt und entfernte sich. Er ließ Bones mit den Trümmern eines großen, romantischen Traumes zurück.

Deshalb war sie also so schnell fortgegangen – und sie hatte es ihm nicht einmal gesagt. Aber warum hatte sie es ihm nicht gesagt? Er war ihr nichts gewesen ... er würde sie nie wiedersehen! Bei diesem Gedanken wurde es ihm eiskalt. Nie wieder! – nie wieder! Er versuchte, alle seine geschäftliche Tüchtigkeit zusammenzunehmen, auf die er so stolz war. Er brauchte irgend etwas, irgendeine Hilfe, einen moralischen Beistand in diesem niederschmetternden Augenblick. Er hätte laut aufschreien mögen, aber er tat es nicht.

Sie hätte ihm eine Woche vorher kündigen müssen, sagte er sich, und dann lachte er hysterisch bei diesem Gedanken.

Er betrachtete die Sache von allen möglichen Seiten und hatte seine Fassung noch nicht wiedergefunden, als Mr. Jackson Hyane um neun Uhr zurückkehrte.

Aber Bones war zu einem Entschluß gekommen. Er hatte sich vorgenommen, zu helfen. Als Mr. Hyane in das Bureau kam, sah er das Scheckbuch auf dem Tisch liegen und kam dadurch in beste Stimmung. Bones mußte sich erst verschiedene Male räuspern, bevor er sprechen konnte.

»Mr. Hyane«, sagte er heiser, »ich habe mir die Sache überlegt. Ich bewundere Ihre – ich bewundere Sie aufrichtig, Mr. Hyane. Alles, was sie glücklich machen kann, mein alter Mr. Hyane, macht mich auch glücklich. Sehen Sie das?«

»Ich sehe es«, sagte Mr. Hyane und hatte als Menschenkenner die Genugtuung, sein Opfer nicht falsch beurteilt zu haben.

»Vierzehntausend Pfund«, sagte Bones, wandte sich plötzlich zu dem Schreibtisch und ergriff die Feder. »Soll ich den Scheck auf Ihren Namen ausschreiben?«

»Sie sind zu liebenswürdig«, murmelte Hyane. »Geben Sie mir einen Barscheck, Mr. Tibbetts – ich muß die Agenten in bar bezahlen, diese indischen Kaufleute sind zu argwöhnisch.«

Bones schrieb in äußerster Eile, dann riß er das Blatt aus dem Buch und überreichte es Jackson.

»Mr. Tibbetts«, sagte Hyane dankbar, »ich betrachte dies halb als eine Anleihe für mich, halb für meine Frau. Wir werden Ihnen Ihre außerordentliche Güte nie vergessen.«

»Unsinn! Ich hoffe, Sie werden glücklich werden. Wollen Sie ihr, bitte, sagen –« Er schluckte.

Ein schwaches Klingeln ertönte im Vorzimmer. Ali, sein Diener, steckte das schwarze Gesicht zur Türe herein.

»O Herr,« sagte er, »der Telephonapparat verlangt Konversation.«

Bones war über diese Unterbrechung sehr froh, murmelte eine Entschuldigung und ging in den Vorraum.

Ali hatte sich schon angewöhnt, telephonische Anfragen selbst zu beantworten, aber diesmal hatte er die Fragen vom Amt nicht richtig verstanden.

»Hallo,« rief Bones, »wer ist dort?«

Als er die Stimme hörte, die ihm antwortete, ließ er beinahe den Hörer fallen.

»Ist dort Mr. Tibbetts?«

»Ja,« sagte Bones heiser, und sein Herz schlug wild.

»Ich spreche von York aus, Mr. Tibbetts. Ich wollte Ihnen noch sagen, daß der Schlüssel zum Geldschrank in der obersten Schublade meines Schreibtisches liegt.«

»Es ist gut, meine liebe Mrs. Hyane!«

»Was sagen Sie da?« fragte die Stimme scharf.

»Ich gratuliere Ihnen, meine liebe, alte Mrs.!« sagte Bones. »Ich hoffe, daß Sie sehr glücklich werden – auf Ihrer Plantage.«

»Was sagen Sie?« fragte die Stimme. »Nannten Sie mich nicht eben Mrs. Hyane?«

»Ja«, sagte Bones heiser. Er hörte sie lachen.

»Wie merkwürdig sind Sie doch! Dachten Sie wirklich, daß ich jemals meinen Vetter heiraten würde?«

»Haben Sie ihn denn nicht geheiratet?« fragte Bones.

»Geheiratet?! Das ist doch absurd! Ich fahre wegen einer Familienangelegenheit nach Schottland!«

»Sie sind nicht verheiratet?« fragte Bones in Exstase.

»Ich werde mich auch nicht verheiraten«, sagte sie. »Was soll denn das alles bedeuten? Erzählen Sie mir, bitte!«

Bones holte tief Atem.

»Kommen Sie mit dem nächsten Zug zurück, mein junges, liebes Fräulein«, sagte er. »Lassen Sie die ganze Familienangelegenheit zum Teufel gehen. Ich werde Sie auf der Station abholen und Ihnen alles erzählen!«

»Aber – aber –«

»Tun Sie nur, was ich Ihnen gesagt habe, meine liebe Miß«, rief Bones und hing den Hörer mit einem seraphischen Lächeln an.

Die Tür seines Arbeitszimmers war dick und außerdem war sie gegen Geräusche von außen durch eine besondere Schallplatte abgedichtet. Der Menschenkenner hatte nichts von der Unterhaltung gehört. Bones ging in das Zimmer zurück. Mr. Hyane sah seinen veränderten Gesichtsausdruck und vermutete, daß sich etwas Bedeutendes zugetragen haben mußte.

»Ich fürchte, ich halte Sie auf, Mr. Tibbetts«, sagte er.

»Nicht im mindesten«, erwiderte Bones vergnügt. »Lassen Sie mich doch noch einmal den Scheck sehen, den ich Ihnen gab.«

Der andere zögerte.

»Lassen Sie mich noch einmal sehen!«

Mr. Hyane nahm ihn lächelnd aus seiner Tasche und reichte ihn Bones.

»Halb für Sie – und halb für sie, mein lieber, alter Bursche!« Bones riß den Scheck entzwei. »Das ist Ihre Hälfte«, sagte er und gab Mr. Hyane den einen Teil.

»Was, zum Teufel, tun Sie?« fragte der andere entsetzt.

Aber Bones faßte ihn am Kragen und stieß ihn den Korridor entlang, der leider nur viel zu kurz war.

»Öffne die Tür, Ali! Mache sie recht weit auf, du alter Heide! Raus!«

Um Mitternacht saß Bones auf dem Bahnsteig des Bahnhofs King's Croß. Er rauchte abwechselnd seine Pfeife und sang. Man hatte ihm gesagt, daß der nächste Zug von York nicht vor drei Uhr morgens ankommen würde.


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