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Schrumbin

Es gab wohl niemanden, der den Alten für geistig normal gehalten hätte. Man ertrug ihn, wie man etwa ein schwachsinniges Kind erträgt, an dessen Vorhandensein man sich mit der Zeit gewöhnt hat und das man im Grunde eigentlich gar nicht mehr sieht. Dazu kam noch, daß man den Alten faktisch auch nur höchst selten zu Gesicht bekam. Er trat aus den Räumen, in denen er schon seit einem Menschenalter einsam hauste, fast nie ans Tageslicht.

Er wohnte im Norden, in einer jener schmutzigen Gassen, die zum größten Teil von Prostituierten, Zuhältern, Dieben und von anderem lichtscheuen Gesindel bevölkert werden. Die Wände der gleichsam pestverseuchten Häuser sind brüchig, die Toreingänge erwecken den Eindruck von faulenden, zahnlosen Mäulern, und in den Höfen riecht es dumpf nach jener Armut, die sich an ihrem eigenen Unrat wärmt. Halbnackte Kinder mit senilen Gesichtern spielen aus Kehrichthaufen, an zerfallendem Gemäuer verenden die kärglichen Reste des Sonnenlichts, und in der Nähe, irgendwo, schluchzt traurig ein Leierkasten.

In dieser Gegend wohnte der Alte, in einem. Hinterhaus, drei Treppen hoch. Die Treppe war aus Holz und auch bei Tag stets dunkel, und wenn man den Fuß auf sie setzte, dann ächzte sie gequält auf, wie im Schmerz. Hoch oben im dritten Stock trat man vor eine schmutzige Tür. An dieser Tür war vor einem Menschenalter ein schmaler Pappstreifen mit zwei Reißzwecken befestigt worden, auf dem, in schwarzer Tuschfarbe, zu lesen stand:

Dr. Andreas Schrumb

Das war der Name des Alten, aber nur ganz wenige wußten, daß er so hieß. Für die, die ihn sahen, war er einfach der »Alte«. Wie alt er tatsächlich war, war schwer zu entscheiden, denn er hatte sich in den letzten zehn Jahren kaum mehr verändert.

Er war nicht groß und überaus dünn, so daß man, wenn man ihn in seinem fadenscheinigen, altmodisch geschnittenen Bratenrock über die Gasse gehen sah, fast Sorge hatte, der Wind könnte ihn aufnehmen und ihn forttragen wie ein Stück seidenes Papier. Niemand belästigte ihn auch, weil er so schwach und so gebrechlich war und trotz seiner in Gold gefaßten Augengläser den Eindruck absoluten Armseins machte und weil er, was noch weit schwerer in die Wage fiel, so naiv kindlich aussah mit seinem harmlosen, unschuldigen Kinderlächeln.

Ja, vor allem das Kindliche in seinem von tausend Runzeln zergrabenen, bartlosen Gesicht war es, das einem, wenn man seiner ansichtig wurde, sofort an ihm auffiel. Er hatte den charakteristischen Kopf eines etwa neunzigjährigen Greises, der in seiner vorderen Partie ganz kahl war, während auf der hinteren Partie schneeweiße Locken saßen, so lang, daß sie ihm bis tief über den Nacken herunter fielen. Er pflegte sie mit kindlicher Sorgfalt und war wohl auch, wie man aus seinem Gebaren schließen konnte, ein wenig eitel auf sie.

Sonst interessierte an ihm nur noch der zahnlose Mund, der sich auf der Straße nicht selten bewegte, – so, als spreche der Alte mit sich selber, ohne daß man freilich jemals einen Laut vernahm. War der Mund ruhig, dann konnte man darauf schwören, daß er doch lächelte, auf jene harmlose Art, die Menschen eigen ist, von denen man nicht weiß, ob sie bloß gutmütig oder schon schwachsinnig sind. Die Leute, die den Alten kannten, hatten sich für seinen Schwachsinn entschieden.

Freilich, es kannten ihn nur ganz wenige, und selbst die Frau, die seit etwa zehn Jahren täglich um ihn war, mußte bekennen, daß er ihr im Grunde noch genau so fremd sei wie an dem Tage, da sie bei ihm in den Dienst getreten war.

Diese Frau war eine alte Bahnschaffnerswitwe namens Haase, eine Berlinerin aus der Chausseestraße, und der Dienst, den sie bei dem Alten zu verrichten hatte, bestand lediglich darin, daß sie während zweier Stunden im Tag, morgens und abends, zwei Räume der alten, düsteren Wohnung zu säubern und in Ordnung zu bringen hatte.

Es waren dies die Küche und der primitive Schlafraum des Alten. Den dritten Raum dagegen, den der Alte gleichfalls inne hatte, zu betreten, war ihr auf das Strengste untersagt. Nur einmal in den langen zehn Jahren hatte sie einen scheuen Blick hinein gewagt. Was sie gesehen hatte, das hatte sie nicht nur mit großer Verwunderung erfüllt, sondern auch mit einem gewissen Schrecken, so daß es mehrere Tage dauerte, bis sie sich überwand und von dem Eindruck, den sie gehabt hatte, Nachbarn gegenüber erzählte. Von dieser Zeit an kursierte in der Gasse das Gerücht, der Alte sei ein Narr und beschäftige sich damit, Gold zu machen. Aber auch dieses Gerücht hatte nur die Wirkung eines gelungenen harmlosen Scherzes.

Wußte der Alte um die spöttischen Gerüchte, die über ihn kursierten? Wenn das der Fall war, dann nahm er sie zweifellos ebenso scherzhaft, wie sie gemeint waren. Es war im Laufe der Jahre schon vorgekommen, daß ihn der eine oder der andere angehalten und gefragt hatte, wie weit er in seinen Experimenten, Gold zu erzeugen, denn schon fortgeschritten sei. Da hatte der Alte sein kindlichstes Gesicht gemacht, lebhaft und lautlos mit seinem zahnlosen Mund gewackelt und herzlich gelacht. Womit man sich alle Male beruhigt und ihn, der also offenbar doch nur ein Narr war, nicht weiter belästigt hatte.

Baß erstaunt wären allerdings die Frager gewesen, wenn sie Gelegenheit gehabt hätten, den Alten zu beobachten, wenn er in jenem streng geschlossen gehaltenen dritten Raum inmitten der vielen Retorten und Tiegel saß, deren wirres Durcheinander Frau Haase einmal hatte flüchtig wahrnehmen können. Dann war der Alte nicht mehr der »Alte«, sondern ein Mensch, den man sehr wohl als Doktor Andreas Schrumb ansprechen konnte, als einen Gelehrten, der grübelnd über Experimente gebeugt war, die ihm ernsthaft zu denken gaben. Dann war auch das kindliche Lächeln von seinem zahnlosen Mund verschwunden, dessen dünne Lippen, fest aufeinander gepreßt, einen Zug fast verbissener Tücke angenommen hatten.

Er gewährte dann etwa den Anblick eines Zauberers, der höllische Säfte braut. Man hätte vielerlei Flüssigkeiten in den Retorten sehen können, blaue, grüne, rote und gelbe, und in den Tiegeln Pulver und an den kleinen Gasöfchen Flammen, welche die oder jene Flüssigkeit zum Sieden oder das oder jenes Pulver zum Schmoren brachten.

Und bestimmt hätte dann niemand geglaubt, daß hier lächerliche Versuche gemacht würden, Gold zu erzeugen, wohl aber wäre es nicht ausgeschlossen gewesen, daß der eine oder der andere an Giftmischerei gedacht hätte, – beeinflußt nämlich von den Augen des Alten, die während der Arbeit sonderbar hämisch dreinblickten, so, als mache es ihm Spaß, allen denen, die er haßte, mit seiner Tätigkeit einen argen Streich zu spielen.

Womit beschäftigte er sich nun?

Die Sache war die, daß er, der so arm schien und der so bedürfnislos lebte, in Wirklichkeit sehr reich war. So reich, daß er bis auf den heutigen Tag von den Zinsen hatte leben können, die ihm sein bei einem großen chemischen Industriewerk angelegtes Vermögen abwarf. Diese Zinsen brachte ihm freilich niemand ins Haus, sondern er bemühte sich allmonatlich einmal selbst in das Innere der Stadt, um sie bei einer Bank abzuheben.

An solchen Tagen kam er auch mit allerlei Paketen beladen nach Hause. Diese Pakete enthielten allerdings nur Materialien, die für einen anderen als ihn völlig wertlos gewesen wären, in der Hauptsache Chemikalien, wie er sie für seine geheim gehaltenen Experimente brauchte. Einen Monat lang sah man ihn dann wieder kaum auf der Straße, denn er kochte auch selbst für sich, während es die Aufgabe der Witwe Haase war, ihm alle die kargen Lebensmittel, die er für seine Mahlzeiten benötigte, einzuholen. So lebte er schon jahrzehntelang und war sehr zufrieden.

Er war zufrieden, weil die Experimente, mit denen er sich beschäftigte, ihn dermaßen ausfüllten, daß für Bedürfnisse anderer Art schlechterdings nichts übrig blieb. Die Chemie war schon in seinen jungen Jahren das Lieblingsfeld gewesen, das er beackert hatte. In ihr war er erst Lehrling, dann Geselle und schließlich Meister gewesen, er hatte sie theoretisch studiert und sich auch mit allen praktischen Anwendungen, die sie ermöglichte, beschäftigt. Sie hatte ihm, der es von Haus aus übrigens nicht nötig hatte, auch Vermögen gemacht, aber nicht dieser materielle Nutzen, den sie gewährte, war es, um dessentwillen er sie bis zu leidenschaftlicher Verbissenheit liebte.

Nein, er hing ihr um ihrer selbst willen an, und weil er meinte, daß in ihr Möglichkeiten schlummerten, die noch niemand so richtig ausgeschöpft hatte. Diese Möglichkeiten, in einer bestimmten Richtung wenigstens voll ausschöpfen, das wollte er. So war er mit den Jahren dahin gekommen, den Wirkungskreis, den er sich steckte, streng zu spezialisieren, und das Ziel, das er in ihm verfolgte, fest und eng zu umgrenzen. Seine Spezialität aber waren in der Tat die Gifte. In ihnen kannte er sich aus wie wohl kein zweiter, und in Stunden, da er wähnte, dem Triumphe seiner Arbeit nahe zu sein, nannte er sich kichernd ihren König und Meister.

Und jetzt, – jetzt hatte er das Ziel, das er so lange und so zäh verfolgt hatte, tatsächlich erreicht. Wie, war es denn wahr? Er lächelte traumhaft, indem er sich diese Frage stellte, und blickte, wie um sich zu überzeugen, ob er auch wach sei, in den Spiegel, der ihm sein Bild zurückwarf: diesen Greisenkopf, der, nachdem er sich Jahrzehnt um Jahrzehnt aufrecht gehalten hatte, nun plötzlich einzuknicken schien, da ja die große Arbeit endlich getan und auch von Erfolg gekrönt war. Nun, was lag auch jetzt daran, ob der Körper erschlaffte. Das Ziel seines Lebens war erreicht. Was ihm das Dasein noch brachte, war gleichgültig. Schrumbin war nun endgültig entdeckt ...

… Doktor Andreas Schrumb kicherte und bewegte, wie er es zuweilen auf der Straße zu tun pflegte, aus lebhafte Weise die Lippen seines zahnlosen Mundes, ohne doch einen Laut von sich zu geben. Er nahm ein winziges Fläschchen vom Tisch, hob es in die Höhe, hielt es gegen das verdämmernde Licht des späten Novembernachmittages und stellte es dann befriedigt wieder auf den Tisch zurück. Es enthielt eine Flüssigkeit, die hell und krystallklar war. Diese war sein Schrumbin.

Was war das: Schrumbin?

Was es war, das gedachte Doktor Andreas Schrumb noch am heutigen Abend einem Mann auseinanderzusetzen, der, wenn ihn nicht alles täuschte, die in Berlin zur Zeit geeignetste Persönlichkeit darstellte, der er Schrumbin zur Prüfung auf seine praktische Anwendbarkeit hin übergeben konnte.

Das heißt, in Bezug auf Tiere war Schrumbin schon mit glänzendstem Erfolge erprobt, und es stand nur noch nicht fest, ob es seine tödliche sichere Wirkung auch auf den menschlichen Organismus ausüben würde. Zwar, Doktor Andreas Schrumb zweifelte nicht im mindesten daran, – immerhin, der Beweis war noch zu liefern. Ja, nur um den Beweis handelte es sich noch. Um ihn zu liefern, deshalb suchte er noch heute einen Mann auf, den, so dünkte ihn, ihm ein gütiges Schicksal in den Weg geführt hatte.

Zunächst kannte er freilich nur seinen Namen, und auch den hatte er nur aus der Zeitung erfahren, aus dem Morgenblatt, in dem er rein zufällig folgende Personal-Notiz gelesen hatte:

 

»Wie wir erfahren, ist soeben Fürst Basil Lenski, eine der prominentesten Persönlichkeiten der ehemaligen Moskauer Gesellschaft, in Berlin eingetroffen und hat in der Pension Segaste Wohnung genommen. Die Reise, die der Fürst hinter sich hat, mutet recht abenteuerlich an, wenn man bedenkt, daß er, der wohl einer der von den bolschewistischen Machthabern am besten gehaßten ehemaligen Konservativen ist, um von Moskau nach Deutschland zu gelangen, seinen Weg über Sibirien, China und Japan nehmen mußte. Interessieren dürfte auch die Tatsache, daß es dem Fürsten gelungen ist, sein großes, nach vielen, vielen Millionen zählendes Vermögen, soweit es in amerikanischen und englischen Wertpapieren angelegt war, vor den Zugriffen seiner Verfolger zu retten. Wie gerüchtweise verlautet, gehört er zu jenen glühenden russischen Patrioten, die, im Auslande da und dort verstreut, die Wiederherstellung der alten Ordnung in Rußland erstreben und auch praktisch zu verwirklichen suchen.«

 

Doktor Andreas Schrumb tat noch einen letzten Blick in das Zeitungsblatt, steckte es dann ein, schlüpfte in einen alten fadenscheinigen Mantel und bedeckte sich mit seinem charakteristischen breitkrämpigen Hut.

Darauf bückte er sich und zerrte aus einem Winkel einen schäbigen Köter hervor, einen alten, mißratenen Dachshund, den er an eine Leine nahm, um mit ihm, der sich heftig sträubte, die Wohnung zu verlassen.

Sorgfältig schloß er hinter sich ab. Dem Hunde versetzte er, da er ihm nicht die Treppe hinunter folgen wollte, ein paar kräftige Schläge, was zur Folge hatte, daß der Köter sich endlich doch fügte. Langsam und in ihrer äußeren Erscheinung ein recht groteskes Bild bietend, schritten die beiden die Gasse hinab, der Hund störrisch an der Leine zerrend, der Alte kindlich lächelnd, wie er es immer zu tun pflegte. In der Chausseestraße bestiegen sie dann beide einen Wagen der elektrischen Bahn, die sie in das Stadtinnere und schließlich nach dem vornehmen Westen brachte.

Vor einer Villa in einer ebenso exklusiven wie stillen Straße machte Doktor Andreas Schrumb dann halt. Er beobachtete aufmerksam das Haus, das in einem Garten stand und entdeckte schließlich an dem schmiedeeisernen Zaun ein kleines Schild, das die schlichte Inschrift trug: »Pension Segaste«.

Hier drückte er auf den Knopf der elektrischen Glocke. Nach einer Weile trat ein Mädchen aus dem Hause und schritt zögernd bis zur Gartentür vor. Man sah es ihr unschwer an, daß der Alte und insbesondere sein verwahrloster Hund keinen Vertrauen erweckenden Eindruck auf sie machten.

»Sie wünschen?«

Der Alte lächelte zuerst und wackelte dann lautlos mit seinen Lippen. »Verzeihung, – ich möchte den Fürsten sprechen.«

»Den Fürsten Lenski?«

»Ja ... Er wohnt doch hier?«

»Ja,« versetzte das Mädchen widerwillig, »aber ich weiß nicht ...«

»Ich muß ihn sprechen,« erklärte der Alte mit Nachdruck, »es handelt sich um eine Angelegenheit, die außerordentlich wichtig ist.«

»Wen darf ich melden?«

»Doktor Andreas Schrumb.«

»Kommen Sie,« forderte das Mädchen den Alten aus und warf einen letzten mißtrauischen Blick auf den ihn begleitenden Köter.

Sie führte den Alten in den ersten Stock hinauf, wo sie ihn in ein Zimmer eintreten ließ, das den Eindruck eines schlicht-vornehmen Warteraums machte. Der Hund wollte seinem Herrn auch hier nicht folgen, und der Alte mußte ihn, um ihn zum Gehorsam zu zwingen, wieder schlagen. Daraufhin gehorchte er zwar, winselte aber schauerlich auf. Der Alte versetzte ihm einen zweiten Schlag und nahm dann bescheiden auf einem Stuhl Platz. Eine grün beschirmte elektrische Lampe verbreitete in dem Raum ein düsteres Licht.

Da ging die Tür, und das Mädchen trat wieder ein. »Der Fürst läßt bitten.«

Doktor Andreas Schrumb erhob sich und zwang seinen Hund, ihm nachzufolgen. Man schritt einen matt erleuchteten Korridor entlang. Das Mädchen öffnete eine Tür. Den widerspenstigen Köter hinter sich her zerrend, betrat Doktor Andreas Schrumb ein zweites Zimmer.

In einem Klubsessel, ein rundes Tischchen mit Rauchutensilien vor sich, saß ein Herr, auf den voll das Licht der einzigen Lampe fiel, die den luxuriös möblierten Raum dürftig erhellte. Der Eintretende stutzte merklich. Der Fürst, wenn er es war, besaß eine höchst merkwürdige Nase.

»Was steht zu Diensten?« fragte der fremde Herr in reinem Deutsch, ohne sich von seinem Stuhl zu erheben.

»Verzeihung, – habe ich die Ehre mit dem Herrn Fürsten persönlich?«

»Ja.«

»Hm,« sagte der Alte, indem er plötzlich wieder sein kindliches Lachen aufsetzte und mehrere Male hintereinander lautlos mit seinem zahnlosen Munde zu wackeln begann, »mein Name ist Schrumb. Doktor Andreas Schrumb. Chemiker, bitte.«

»Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte der Fürst höflich.

Er zeigte auf einen zweiten Klubsessel, der in einer Entfernung von etwa drei Metern vor ihm stand. Der Alte folgte aus seine bescheidene Art dieser kühl-freundlichen einladenden Geste. Den Hund zwang er, sich zu seinen Füßen niederzulassen. Der Köter gehorchte erst wieder mehreren derben Schlägen und heulte wie angstvoll auf, was den Alten veranlaßte, ihn einige Male begütigend zu streicheln.

»Sie gehen ohne Ihren Hund wohl niemals aus?« fragte der Fürst.

»Es ist nicht mein Hund,« versetzte der Alte.

»Nicht Ihr Hund?«

»Nein, – das heißt, es ist wohl mein Hund – aber ich habe ihn erst gestern gekauft, weil ich ihn heute brauche.«

»Weil Sie ihn heute brauchen?«

»Ja, und zwar, wenn Sie gestatten, bei Ihnen, Fürst.«

»Bei mir?«

»Das heißt,« wiederholte der Alte und lächelte kindlich, »wie gesagt, nur dann, wenn Ihnen daran liegen sollte, – sozusagen ...«

»Wie das?« fragte der Fürst.

Doktor Andreas Schrumb schien es nicht leicht zu werden, sich zu erklären. Jedenfalls suchte er noch immer nach einer passenden Art, mit seinen Erklärungen anzufangen.

Mit einem gewissen Staunen betrachtete er nochmals das Gesicht des Fürsten, dem ein abscheulicher Lappen, der die Nase vorstellte, etwas abschreckend Häßliches verlieh.

Von dieser Äußerlichkeit abgesehen, die ihn zudem weit mehr frappierte als abschreckte, gefiel ihm der Fürst recht gut, was er rein gefühlsmäßig feststellte, ohne es sich gegenständlich im mindesten erklären zu können. Letzten Endes dachte er darüber auch gar nicht nach. Auch er gehörte zu den Menschen, die sich bei ihren Sympathien und Antipathien blind von ihrem Instinkt leiten lassen.

»Ich verdanke Ihren Namen der Zeitung,« stieß der Alte endlich hervor, so heftig und so laut, daß dieser Satz in seiner Plötzlichkeit fast wie unmotiviert wirkte.

»So,« sagte der Fürst.

»Ja, der Zeitung. Ich las, daß Sie ein Russe sind, und zwar ein Geflüchteter, der, – der die Absicht hat, sich – wie soll ich sagen? – zu rächen.«

»Zu rächen? An wem?«

»An Rußland.«

»Wofür?«

»Dafür, daß man, – nun ja, daß man Sie vertrieben hat, Fürst.«

Wiederum lächelte der Alte auf seine kindliche Art. Es war, wenn man ihn so sah, in der Tat recht schwer, ihn nicht für schwachsinnig zu halten.

Ob ihn auch der Fürst in dem Verdacht des Schwachsinns hatte? Nun, man sah ihm seine Gedanken nicht an. Der Ausdruck seiner Miene war in ihrer Gelassenheit völlig dunkel. Immerhin, er betrachtete den Alten nicht ohne eine gewisse ferne Sympathie.

»Wäre das so unmöglich?« fragte der Alte ebenso hartnäckig wie naiv.

»Nein,« antwortete der Fürst, »nicht unmöglich,«

»Es wäre wirklich erklärlich,« rief der Alte aus, »und auch logisch.«

»Vielleicht.«

»Und wenn Sie zudem auch noch, was ich vermute, politische Ziele verfolgen sollten,« fuhr der Alte fort, »dann –«

Er sprach den Satz nicht laut zu Ende, sondern wackelte nur stumm mit seinem zahnlosen Mund, was recht drollig aussah, ohne daß es dem Fürsten freilich auch nur das leiseste Lächeln entlockte.

Eine längere Zeit herrschte Schweigen zwischen den beiden. Der Fürst schien über den Besucher sinnend hinwegzusehen, während der Alte zu Boden blickte, auf das verwahrloste Fell des gekauften Köters nieder, der sich endlich beruhigt zu haben und mit halb geschlossenen Augen zu schlafen schien.

»In Rußland,« begann der Alte endlich wieder, »wird zur Zeit viel gemordet.«

»Ja«, sagte der Fürst.

»Nur ganz wenige,« fuhr Doktor Andreas Schrumb fort, und er sprach diesmal gleichsam nur zu sich selber, »ja, nur ganz wenige haben in Rußland zur Zeit die Macht und gebrauchen sie rücksichtslos, – aber wodurch, so frage ich mich, haben sie die Macht, obwohl es doch nur ganz wenige sind, ein ganz kleines Häufchen? ... Sie haben sie durch die Waffen. Sie haben sie durch das Pulver, Herr, durch das Pulver und durch das Blei ... Wie, wenn ihnen die anderen, die Pulver und Blei nicht haben, eine andere Waffe entgegensetzen könnten?«

Diese Frage, die naiv und lauernd gesprochen war, richtete sich wieder direkt an den Fürsten.

Der hob den Kopf, und seine Augen, die bisher nur geringen Ausdruck gezeigt hatten, schienen sich ein wenig zu beleben.

Merkte das Doktor Andreas Schrumb?

Er kicherte plötzlich und versenkte die Finger seiner knöchernen rechten Hand in seine Westentasche. Er zog eine kleine Schachtel aus ihr hervor.

»Hier,« sagte er.

»Was ist das?«

»Eine Schachtel,« sagte der Alte. »Eine Schachtel mit Konfekt ... Passen Sie auf!«

Er hatte die Schachtel geöffnet und ihr ein Zuckerstückchen entnommen. Jetzt streichelte er den Hund, der den schläfrigen Versuch machte, mit dem Schwanz zu wedeln. Darauf hielt ihm der Alte das Zuckerstückchen vor die Schnauze, das der Köter erst mißtrauisch beroch, um es dann vorsichtig in das Maul zu nehmen. Er besaß nur noch wenig Zähne. Die mühten sich jetzt damit ab, die Süßigkeit zu zerbeißen. Dann verschlang er sie, und es war im Zimmer wieder totenstill.

»Was tun Sie da?« fragte der Fürst.

»Einen Augenblick,« sagte der Alte. »Bitte, beobachten Sie jetzt den Hund.«

Er war aufgestanden und zur Seite getreten. Auch der Fürst hatte sich erhoben. Gemeinsam betrachteten sie beide den Hund, der keinerlei Zeichen von sich gab, die auf Ungewöhnliches hätten schließen lassen.

Er lag ruhig da, endlich zufrieden, mit halb geschlossenen Augen, genau wie vorhin. Doch das dauerte nur wenige Sekunden. Plötzlich streckte er alle vier Pfoten von sich und reckte auch den Leib, der sonderbar steif zu werden schien. Nur einen schwachen Versuch machte er noch, den Kopf zu heben. Aber das gelang ihm nicht mehr. Der Kopf fiel zurück, der Hund war tot. War steif und tot, ohne daß er auch nur den geringsten Schmerzenslaut von sich gegeben hatte.

»Was haben Sie ihm gegeben?« fragte der Fürst.

»Schrumbin,« sagte der Alte.

»Was ist das?«

»Ein Gift.«

»Ein Gift?«

Doktor Andreas Schrumb nickte. »Ein Gift, das ich erfunden habe, nach jahrzehntelangen Studien und Versuchen. Dessen Zusammensetzung mein Geheimnis ist. Und das in seiner Wirkung nicht seinesgleichen hat, – nicht seinesgleichen unter allen anderen existierenden Giften!«

»Ein Gift ist es?« wiederholte der Fürst, und in seinem Gesicht drückte sich nicht nur Erstaunen, sondern mit einem Male auch ein starkes, lauerndes Interesse aus.

Die Art, wie der Alte mit dem Kopf nickte, wurde noch lebhafter. Dazu wackelte er, ehe er zum Sprechen kam, erst wieder mit seinem Mund.

»Ein Gift,« bestätigte er, »das nicht mehr seinesgleichen hat, – in keiner Beziehung ... Nämlich, es tötet nicht nur, wie Sie gesehen haben, fast augenblicklich, und zwar schmerzlos, sondern – hihi! – es zeichnet sich auch durch eine zweite Eigenschaft aus, die, – die, so unglaublich sie anmutet, doch wahr ist ... Nämlich. Es ist keinem Arzt und keinem Chemiker möglich, auch durch die sorgfältigste Untersuchung nicht, an dem zerstörten Organismus auch nur die geringste Spur von Gift nachzuweisen. Schrumbin wirkt, zersetzt das Blut, tötet, – aber – hihi! – es verflüchtigt sich zugleich, wenn ich so sagen darf, es verschwindet, nachdem es seine Schuldigkeit getan hat, ist nicht mehr da ... Niemand ist imstande, an dem, der durch Schrumbin gestorben ist, nachzuweisen, woran er gestorben ist!«

Doktor Andreas Schrumb schwieg und blickte den Fürsten triumphierend an. Der senkte den Kopf. Man sah es ihm nicht an, welche Wirkung das Gehörte aus ihn hatte.

»Woraus besteht Ihr Schrumbin?« fragte er endlich.

»Das ist mein Geheimnis ... Äußerlich stellt es sich als eine helle, kristallklare Flüssigkeit dar, die völlig ohne Geschmack ist und die auch nicht riecht. Die Art, wie man es anwenden kann, ist ungeheuer vielseitig. Der hundertste Teil eines Tropfens genügt, um selbst einen Elefanten zu töten. Man gießt einen Tropfen in ein Glas Wasser, Kaffee, Tee. Man infiziert einen Apfel, ein Stück Kuchen, ein Stück Fleisch mit ihm. Ja, man braucht, um sofort zu sterben, nur einen Zug aus einer Zigarette zu tun, deren Tabak mit einem winzigen Tropfen getränkt ist ...«

Der Alte wurde mit einem Male lebhaft. Als genügten ihm die Worte nicht, die er sprach, bediente er sich, um sich verständlich zu machen, auch noch seiner Hände. Er war maßlos erregt und eigentlich außer Rand und Band. Es sei das erste Mal, erklärte er, daß er sich einem Menschen offenbare.

Ob der Fürst denn begreife, welch eine Waffe von geradezu unheimlicher Gefährlichkeit Schrumbin darstelle? Ob er genug Phantasie besitze, um die Perspektiven wahrzunehmen, die sich einem auftäten, wenn man sich vorstelle, was man mit diesem Gifte alles vollbringen könne? Mache es den, der es besitze, nicht geradezu zu einem unumschränkten Herrscher über Wohl und Wehe, kurz über das Leben seiner Nächsten?

Angenommen zum Beispiel, er habe einen Feind. Gut, dann präsentiere er ihm ein Glas Wasser, und schon sei der Gegner erledigt ... Gewiß, das sei Mord. Aber sei nicht das ganze Leben nichts als ein einziger großer Mord, nämlich das unausgesetzte Bemühen des Stärkeren, den Schwächeren aufzufressen, – in der oder jener Form? Was den Einzelnen nur davon abhalte, sich im Kampfe um das Dasein des gemeinen Meuchelmordes zu bedienen, sei letzten Endes nichts anderes als die Furcht vor der Strafe. Diese Furcht komme bei Anwendung von Schrumbin in Wegfall, denn es sei ein Gift, dessen Vorhandensein in dem getöteten Körper niemals nachgewiesen werden könne ...

»Ich habe,« so schloß der Alte, »ein reichliches Dutzend Tiere mit Schrumbin getötet. Die Kadaver sind in den größten Instituten Deutschlands obduziert worden, ohne daß es auch nur einer einzigen ihrer Kapazitäten gelungen wäre, festzustellen, was die Todesursache sei, so daß man in allen Fällen immer nur einen Herzschlag als vorliegend annahm.«

»So,« sagte der Fürst, nachdem der Alte sich endlich müde geredet hatte. »Ich gestehe, Ihr Schrumbin interessiert mich sehr ... Immerhin, gestatten Sie mir eine Frage?«

»Bitte,« sagte der Alte.

»Ich möchte Sie fragen: haben Sie mit Schrumbin auch schon Versuche bei Menschen gemacht?«

Der Alte blickte scheu auf die Leiche des vergifteten Hundes und schüttelte den Kopf.

»Nicht?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich, – ich hatte keine Gelegenheit,« murmelte der Alte.

»Nur das war der Grund?«

»Ja, nur das.«

Doktor Andreas Schrumb kicherte wieder, indem er dies sagte. Kicherte boshaft und blickte doch harmlos-kindlich drein, wie ein Mensch, der nicht imstande ist, mit Absicht eine Blume zu knicken. Indem er seine Worte mit eindringlichen Gesten belebte, kam er erneut ins Reden. Aber es schien, als rede er diesmal mit Vorsatz verworren, gleichsam um einen Tatbestand, den er klar machen wollte, aus einer gewissen Scham heraus dennoch mit Dunkelheiten zu verbrämen.

Ob der Fürst ihn denn nicht verstehe? Die Angelegenheit sei doch heikel. Gewiß, er sei Gelehrter, und als solcher würde er sich aus sentimentalen Gründen keinen Augenblick sträuben, mit Schrumbin Experimente auch an Menschen vorzunehmen. Aber welchen Menschen könnte er dazu wählen? Den nächsten besten? Dagegen habe er eine Aversion. Andererseits sei er alt, lebe wie ein Einsiedler völlig einsam und verkehre mit Menschen so gut wie gar nicht ...

Es bliebe allerdings noch der Ausweg, Schrumbin der Wissenschaft auszuliefern. Aber auch diesen Weg zu gehen sträube er sich. Gebe man denn eine Waffe derart unvergleichlicher Art so achtlos aus der Hand? Schrumbin sei ein Mittel, das seinen Besitzer geradezu zum heimlichen Diktator über Unzählbare machen müsse. Es brauche nur einen Herrn, der energisch, unerschrocken, klug und überlegen genug sei, sich seiner richtig zu bedienen. Und da –

»– da haben Sie an mich gedacht?« vollendete der Fürst.

»Ja.«

»Und warum gerade an mich?«

»Ich bin nicht abergläubisch,« versetzte der Alte mit veränderter Stimme, »aber ich glaube fest an gewisse geheime Kräfte, die von einem Menschen zum andern laufen und wirken, selbst über große Entfernungen hinweg ... Die Empfindung einer solchen geheim wirkenden Kraft hatte ich, als ich Ihren Namen in der Zeitung las, Fürst. Das ist der Grund, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin, um Ihnen meine Dienste anzubieten ...«

»Ihre Dienste?«

»Ja.«

»Sie meinen damit, daß Sie mir Ihr Schrumbin anbieten?«

»Ja.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Sie mir den Vorschlag machen, es Ihnen abzukaufen?«

Doktor Andreas Schrumb schüttelte den Kopf. »Sie täuschen sich, Fürst. Ich verfolge keine eigennützigen Ziele. Schrumbin ist unverkäuflich.«

»Sie sind also ein Idealist?« fragte der Fürst.

»Ja,« bestätigte der Alte und lächelte kindlich.

»Und was Sie erstreben, ist dieses: durch die unerschrockene Person eines Zweiten, den Sie lenken, aus der Verborgenheit heraus ungeheuerliche Wirkungen auf Ihre Mitwelt auszuüben?«

»Ja,« sagte der Alte schnell, sichtlich erfreut darüber, daß er so gut verstanden wurde.

»Und jene zweite Person,« fuhr der Fürst fort, »deren Sie sich bedienen wollen, – die soll ich sein?«

»Lehnen Sie das ab?« fragte der Alte.

»Es ist nicht ausgeschlossen, daß – ich Ihren Vorschlag akzeptiere.«

»Sie würden dadurch,« versetzte der Alte lauernd, »einer der mächtigsten Menschen der Welt, – wenn auch nur im geheimen!«

»Vielleicht ...«

»Und gerade Rußland,« fuhr der Alte kichernd fort, »ist zur Zeit das Land, in dem Schrumbin – segensreich wirken könnte ...«

Er hob die Hand an den Mund und sagte den Rest im Flüstertone. Er malte Bilder aus, von der Zukunft, die ein einziges großes Sterben war. Vergewaltigte in Rußland nicht ein Dutzend Raubtiere ein ganzes Volk? Hier mußte die Rache einsetzen. Die Reihen jener mit anderen Mitteln nicht erreichbaren russischen Machthaber mußten mit Schrumbin gelichtet werden. Zuerst starb der, dann der, dann der. Woran? Das war das Geheimnis. Würden die Hunderte, tausende von plötzlichen geheimnisvollen Todesfällen nicht wie ein Wunder anmuten, wie eine Strafe Gottes, gegen die man wehrlos war? Eine furchtbare Angst, ein panischer Schrecken würden sich unter denen verbreiten, deren Gewissen belastet war, mit hunderterlei Gewalttaten und Verbrechen. Und das Ende würde bei diesen bisher Unverwundbaren, die entsetzt fliehen würden, der Wahnsinn sein ...

»Ihr Vorschlag lockt mich,« erklärte der Fürst nach einer Pause des Zögerns.

Der Alte wackelte aufgeregt mit dem Munde, rieb sich die Hände und fragte: »Nehmen Sie ihn an?«

»Jedenfalls,« versetzte der Fürst gelassen, »möchte ich mit Schrumbin einen Versuch machen, – einen Versuch bei Menschen.«

»Für den Erfolg,« flüsterte der Alte heiser, »kann ich mich verbürgen – ganz unbedingt.«

»Schön,« sagte der Fürst. »Wollen Sie mir also Schrumbin überlassen?«

»Zunächst ein Fläschchen,« sagte der Alte.

Er griff in das Innere seines fadenscheinigen Bratenrockes und förderte einen kleinen Flacon zu Tage, den er gegen das Licht hob. Er enthielt eine helle kristallklare Flüssigkeit.

Der Fürst nahm das Fläschchen in Empfang, betrachtete es eine Weile und steckte es dann ein.

»Es ist gut,« sagte er freundlich. »Sie werden noch von mir hören.«

»Und der Hund?« fragte der Alte, auf den Kadaver zeigend.

Der Fürst winkte lächelnd ab. »Lassen Sie ihn hier.«

Auch Doktor Andreas Schrumb lächelte und zwar so kindlich-heiter, wie er es in diesem Maße noch niemals getan hatte. Linkisch verbeugte er sich zum Abschied, wackelte noch einmal mit seinem zahnlosen Mund und schritt dann hinaus ...

Der Fürst stand eine Weile nachdenkend am Rauchtisch, packte dann den toten Hund bei den Hinterpfoten, öffnete die Tür, die in ein angrenzendes Zimmer führte, und schleuderte den Kadaver in dieses hinein ...


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