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Sie wohnten schrägüber von uns, des Steinhilbers, in einem alten Häuslein mit angebauter Scheuer. Der große Steinhilber, wie er überall genannt wurde, war Taglöhner, hatte nebenbei ein paar Fleckenämtlein, war Leichenschauer, hatte die Wiesengräben offen zu halten und übernahm lange Jahre hindurch die Holzhauerakkorde.
Er war ein aufgeweckter, spaßiger Mann, den jedes gern hatte. Was verschlug's, wenn er auch allmorgendlich, ehe er an die Arbeit ging, und auch tagsüber seinen Schnaps trank? Er verdiente ihn ja, allerdings seine arme Familie hatte oft kaum den nötigen Kreuzer. Wohl war ein Kühlein im Stall, auch ein Rind, ein paar Hennen, allein das war auch alles. – Sie hatten einen Buben, Jakoble, so alt wie ich, 1835 geboren, 's Annemeile, ein Jahr jünger, und 's Hanjörgle, drei Jahre jünger als ich. Da starb die Mutter, und der Steinhilber, ein rüstiger Witwer, nahm wieder ein Weib; sie war aus Malchingen, eineinhalb Stunden von hier. Kann sie heute noch vor mir sehen, das rotbackige Weiblein mit den schwarzen Zöpfen! Aber, war es schon vorher bei der rechten Mutter hungrig zugegangen, so war es jetzt bei der Stiefmutter noch viel hungriger, obschon nicht zu leugnen ist, daß die Kinder wahre Freßbäuche waren, wohl darum, weil sie nichts Rechtes bekamen, und kaum gesättigt werden konnten.
Da war nun das tägliche Feilschen ums Vesperbrot, das der Stiefmutter geradezu von der Seele ging, und das sie so gerne am Laib gelassen hätte, und das zu ersparen sie alle denkbaren Ausflüchte hervorsuchte. Obschon sie sonst um der Kinder Gesundheit ganz unbekümmert war, so offenbarte sie auf einmal rührende Sorgfalt. Alle Mist- und Unratstätten der Kinder suchte sie ab und erzählte dann der ganzen Nachbarschaft, auch dem Mann, wenn er abends und morgens zu Hause war, daß die Kinder voll von Würmern stäken, und daß das Brot bloß dazu diene, diese noch mehr zu füttern, sie geradewegs zu mästen. Und das brauche man nicht, wo das Brot so teuer sei, und es sei gescheiter Wurmsamen bringen zu lassen. Und der Amtsbote, der alte Weißenbühler, brachte eine großmächtige Tüte voll aus der Josenhansschen Apotheke in Leonberg. Auf diese Weise gelang es ihr, den Kindern das Vesperbrot abzugewöhnen, denn so oft sie rückfällig wurden und nur von weitem an die Tischlade hinschielten, war sie sofort mit einem Löffel voll Wurmsamen zur Hand. So suchten die Kinder überall etwas zu erwischen, um den Hunger zu stillen. Kaum waren die Wiesen ein wenig grün, so suchten sie vor der Schule nach Sauerampfer und Guckelgauch (Wiesenbocksbart). Die Äpfel aßen sie, wenn noch der Butzen von der Blüte daran steckte. Die schlimmste Zeit jedoch war überstanden, wenn es wenigstens Zwetschgennarren gab, bald darauf auch Erdbeeren, Heidelbeeren, Himbeeren und Frühbirnen. Sie kannten jeden Baum auf dem ganzen Zehnten, und besonders den Frühbirnen galten ihre heimlichen Besuche. Da war Hülle und Fülle. Aber wie war es vorher? Wir saßen einmal in der Schule und lasen wie gewöhnlich im Buch Hiob, als Maikäfer um unsere Köpfe flogen und an die Fensterscheiben schwirrten. Als der Schulmeister äußerte: »Wo die wohl herkommen«, sagte mein Nebensitzer, des Schulzen Christian: »Der Steinhilber hat alle Taschen voll.« – So war es auch, und als der Herr Henzler fragte: »Was tust du mit den Maikäfern«, antwortete er, als wäre dies selbstverständlich: »Essen!«
Steinhilbers Kinder waren stets darüber unterrichtet, was in jedem Hause gekocht worden war, denn es fiel da und dort was ab, namentlich bei des Mauchen; da gab es hie und da Reste, sogenannte Überlinge. Mit besonderer Vorliebe suchten sie Zwetschgensteine, die, zu den Küchenfenstern hinausgeworfen, in den schmutzigsten Winkeln im Ablauf der Rinnsteine zu finden waren. Sie zerschlugen sie dann mit einem Hammer und aßen die Kerne, Ebenso spürten sie den Kartoffelabfällen nach, ob nichts Eßbares mehr in den Schalen stecke. Denn, wie gesagt, sowie es einmal Zwetschgennarren gab, das ist so nach Johannis, war das Vesperbrot ganz abgeschafft.
Doch auf einmal waren sie fort. Der Schulmeister las ihre Namen ab, aber keines wußte, wo sie hingekommen waren. Nach drei oder vier Wochen brachte sie der Landjäger, als am Bettel ergriffen, per Schub heim. Zunächst aufs Rathaus, wo sie über Nacht ins Häusle (Arrest) gesteckt wurden.
Am nächsten Tag sollten sie in der Schule abgestraft werden. Zuvorderst wurden einige scharfkantige kleine Holzscheitchen von der Bühne herabgeholt, auf denen die Kinder kniend die Strafpredigt des Herrn Lehrers anzuhören hatten, sodann mußten sie, jedes seiner Worte nachsprechend, das feierliche Versprechen ablegen, nie und nimmermehr ihre lieben Eltern, die schon soviel an ihnen getan, also betrüben zu wollen. Dann mußten sie das vierte Gebot aufsagen, und zuletzt bekam jedes eine tüchtige Tracht Schläge. Zum Schluß der Schule wurde dann das Gesangbuchlied: »Kehre wieder! Kehre wieder, der du dich verloren hast!« von der gesamten Schuljugend gesungen.
Aber was half's? Nach drei oder vier Wochen war wieder die gleiche Geschichte. Auf Rutesheim hatten sie es besonders abgesehen. Da gab es Stücker Brot wie ein Wamsärmel, und Rahmstrugele beim alten Philippin. Erdbirnen, soviel sie nur essen mochten, und Milch dazu, und zwar keine abgerahmte. Wenn nur nicht der böse Landjäger immer wieder dazwischen gekommen wäre. Nun, der Herbst, namentlich wenn es Obst gab, war nicht übel. Sie wußten jeden Baum, der gute Früchte hatte, und da sagte dann die Mutter in Hinsicht der nahen Kirchweihe: »Wenn ihr keine Äpfel und Zwetschgen herbeischafft, so bekommt ihr auch keinen Kuchen!« – Sobald im Frühling das Bohnenstecken anging, mußten sie durch »Bohnenhitzen«, dem bekannten Spiel der Kinder, die Steckbohnen beschaffen.
Besonders einträglich für die Küche des Steinhilberschen Hauses gestalteten sich die Visitationstage, wo es, wie auch noch heute, gebräuchlich war, jedem Kind zum Schluß der Prüfung einen Wecken zu verabreichen. Da mußte nun jedes der drei Älteren ein Jüngeres mit zur Schule nehmen, wo es dann auch einen bekam. Und eine gute Stunde vorher, ehe die Kinder kommen konnten, stand schon Milch auf dem Feuer zu einer Milchsuppe, und die Steinhilbere sprang wohl zwanzigmal die Staffel hinab, um nachzusehen, ob die Kinder jetzt kommen. Da mußten sie dann schon im Hausgange die Wecken abliefern.
Allmählich jedoch nahmen sie Hamstergewohnheiten an. Jedes hielt sich ein Versteck, das es ängstlich vor seinen Geschwistern hütete, einen Behälter, in dem es Eßbares für Notfälle aufspeicherte. Hiezu war besonders der Öhmdstock im Scheunenbarn geeignet. Da hatten sie dann bis in den Winter hinein Schlehen, Hagebutten, Wacholderbeeren, Sperbern, Bucheckern, Haselnüsse und Äpfel im Vorrat.
Als während und nach der Hungerzeit der fünfziger Jahre viele Leute von hier und der Umgegend nach Nordamerika auswanderten, schlossen sie sich, kaum konfirmiert, auch einer solchen Truppe an. Man hat nichts mehr von ihnen gehört.