Richard Wagner
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Richard Wagner

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Dritte Abteilung

Bericht über die Aufführung der neunten Symphonie von Beethoven im Jahre 1846 in Dresden (aus meinen Lebenserinnerungen ausgezogen)

Anmerkung des Herausgebers: 19) Wagner stand damals (seit 1843) als Königlicher Hofkapellmeister an der Spitze des Dresdener Opernorchesters (vergl. S. 68ff. dieses Bändchens).

Für diesen Winter bestand mein Hauptunternehmen in einer äußerst sorgfältig vorbereiteten, im Frühjahr am Palmsonntage zu Stande gebrachten Aufführung der neunten Symphonie von Beethoven. Diese Aufführung brachte mir sonderbare Kämpfe, und für meine ganze weitere Entwicklung sehr einflußreiche Erfahrungen ein. Der äußere Hergang war dieser. Die königliche Kapelle hatte jedes Jahr nur eine Gelegenheit, außer der Oper und Kirche sich selbstständig in einer großen Musikaufführung zu zeigen: zum Besten des Pensionsfonds für ihre Wittwen und Waisen war das sogenannte alte Opernhaus am Palmsonntag zu einer großen, ursprünglich nur für Oratorien berechneten Aufführung eingeräumt. Um sie anziehender zu machen, wurde dem Oratorium schließlich immer eine Symphonie beigegeben. Da wir beide Kapellmeister (Reissiger und ich) uns die Abwechselung vorbehalten hatten, fiel für den Palmsonntag des Jahres 1846 mir die »Symphonie« zu. Eine große Sehnsucht erfaßte mich zur neunten Symphonie; für die Wahl derselben unterstützte mich der äußerliche Umstand, daß dies Werk in Dresden so gut wie unbekannt war. Als die Orchestervorsteher, welche die Conservirung und Mehrung des Pensionsfonds zu überwachen hatten, hiervon erfuhren, ergriff sie ein solcher Schreck, daß sie in einer Audienz an unseren Generaldirektor von Lüttichau sich wandten, um diesen zu ersuchen, daß er mich kraft seiner höchsten Autorität von meinem Vorhaben abbringen möge. Als Gründe zu diesem Gesuch führten sie an, daß unter der Wahl dieser Symphonie der Pensionsfonds Schaden leiden würde, da dieses Werk hierorts in Verruf stehe, und jedenfalls das Publikum vom Besuch des Konzertes abhalten würde. Vor längeren Jahren war nämlich auch die neunte Symphonie in einem Armen-Konzerte von Reissiger aufgeführt worden, und mit aufrichtiger Zustimmung des Dirigenten vollkommen durchgefallen. In der That bedurfte es nun meines ganzen Feuers und aller erdenklichen Beredtsamkeit, um zunächst die Bedenken unseres Chefs zu überwinden. Mit den Orchestervorstehern konnte ich aber nicht anders als mich vorläufig vollständig zu überwerfen, da ich hörte, daß sie die Stadt mit ihren Wehklagen über meinen Leichtsinn erfüllten. Um sie auch zugleich in ihrer Sorge zu beschämen, nahm ich mir vor, das Publikum auf die von mir durchgesetzte Aufführung und das Werk selbst in einer Weise vorzubereiten, daß wenigstens das erregte Aussehen einen besonders starken Besuch herbeiführen, und somit den bedroht geglaubten Kassenerfolg in günstiger Weise sichern sollte. Die neunte Symphonie ward somit in jeder erdenklichen Hinsicht zu meiner Ehrensache, deren Gelingen alle meine Kräfte anspannte. Das Comité trug Bedenken gegen die Geldauslage für die Anschaffung von Orchesterstimmen: ich lieh sie somit von der Leipziger Konzert-Gesellschaft aus. – Wie ward mir nun aber, als ich, seit meinen frühesten Jünglings-Jahren, wo ich meine Nächte über der Abschrift dieser Partitur durchwachte, jetzt zum ersten Mal die geheimnißvollen Seiten derselben, deren Anblick mich einst in so mystische Schwärmerei versetzt hatte, mir wieder zu Gesicht brachte, und nun sorgfältig durchstudirte! Wie in jener unklaren Pariser Zeit die Anhörung einer Probe der drei ersten Sätze, durch das unvergleichliche Orchester des Conservatoire's ausgeführt, mich plötzlich, über Jahre der entfremdenden Verirrungen hinweg, mit jenen ersten Jugendzeiten in eine wunderbare Berührung gesetzt, und befruchtend für die neue Wendung meines inneren Strebens wie mit magischer Kraft auf mich gewirkt hatte, so ward nun diese letzte Klangerinnerung geheimnißvoll mächtig in mir von Neuem lebendig, als ich zum ersten Mal wieder mit den Augen vor mir sah, was in jener allerersten Zeit ebenfalls nur mystisches Augenwerk für mich geblieben war. Nun hatte ich Manches erlebt, was in meinem tiefsten Innern unausgesprochen zu einer ernsten Sammlung, zu einer fast verzweiflungsvollen Frage an mein Schicksal und meine Bestimmung mich trieb. Was ich mir nicht auszusprechen wagte, war die Erkenntniß der vollständigen Bodenlosigkeit meiner künstlerischen und bürgerlichen Existenz in einer Lebens- und Berufs-Richtung, in welcher ich mich als Fremdling und durchaus aussichtslos ersehen mußte. Diese Verzweiflung, über die ich meine Freunde zu täuschen suchte, schlug nun dieser Symphonie gegenüber in helle Begeisterung aus. Es ist nicht möglich, daß je das Werk eines Meisters mit solch' verzückender Gewalt das Herz des Schülers einnahm, als wie das meinige vom ersten Satze dieser Symphonie erfaßt wurde. Wer mich vor der aufgeschlagenen Partitur, als ich sie durchging, um die Mittel der Ausführung derselben zu überlegen, überrascht, und mein tobendes Schluchzen und Weinen wahrgenommen hätte, würde allerdings verwunderungsvoll haben fragen können, ob dieß das Benehmen eines königlich sächsischen Kapellmeisters sei! Glücklicherweise blieb ich bei solcher Gelegenheit von Besuchen unserer Orchestervorsteher und ihres würdevollen ersten Kapellmeisters, sowie sonstiger in klassischer Musik bewanderter Herren verschont.

Zuerst entwarf ich nun in Form eines Programmes, wozu mir das nach Gewohnheit zu bestellende Textbuch zum Gesang der Chöre einen schicklichen Anlaß gab, eine Anleitung zum gemächlichen Verständniß des Werkes, um damit – nicht auf die kritische Beurtheilung – sondern rein auf das Gefühl der Zuhörer zu wirken. Dieses Programm, für welches mir Hauptstellen des Goethe'schen »Faust« eine über Alles wirksame Hülfe leisteten, fand nicht nur zu jener Zeit in Dresden, sondern auch späterhin an anderen Orten erfreuliche Beachtung. Außerdem benutzte ich in anonymer Weise den Dresdener Anzeiger, um durch allerhand kurzbündige und enthusiastische Ergüsse das Publikum auf das, wie man mir ja versichert hatte, bis dahin in Dresden »verrufene« Werk anregend hinzuweisen. Meine Bemühungen, schon nach dieser äußerlichen Seite hin, glückten so vollständig, daß die Einnahme nicht nur in diesem Jahre alle je zuvor gewonnenen übertraf, sondern auch die Orchestervorsteher die darauf folgenden Jahre meines Verbleibens in Dresden regelmäßig dazu benutzten, durch Wieder-Vorführung dieser Symphonie sich der gleichen hohen Einkünfte zu versichern.

Was nun den künstlerischen Theil der Aufführung betraf, so arbeitete ich einer ausdrucksvollen Wiedergebung von Seiten des Orchesters dadurch vor, daß ich Alles, was zur drastischen Deutlichkeit der Vortragsnüancen mich nöthig dünkte, in die Orchesterstimmen selbst aufzeichnete. Namentlich veranlaßte mich die hier übliche doppelte Besetzung der Blasinstrumente zu einem sorgfältig überlegten Gebrauch dieses Vortheils, dessen man sich bei großen Musikaufführungen gewöhnlich nur in dem rohen Sinne bedient, daß die mit »piano« bezeichneten Stellen einfach, die Forte-Stellen dagegen doppelt besetzt vorgetragen werden. In welcher Weise ich auf diese Art für Deutlichkeit der Ausführung sorgte, sei z. B. durch eine Stelle des zweiten Satzes der Symphonie bezeichnet, in welcher, zum ersten Mal in C dur, die sämmtlichen Streichinstrumente in verdreifachter Oktave die rhythmische Hauptfigur, unausgesetzt im Unisono, gewissermaßen als Begleitung zu dem zweiten Thema, welches nur die schwachen Holzblasinstrumente vortragen, spielen: da im ganzen Orchester gleichmäßig »fortissimo« vorgezeichnet ist, so ergiebt sich hieraus bei jeder erdenklichen Aufführung, daß die Melodie der Holzblasinstrumente gegen die immerhin nur begleitenden Streichinstrumente vollständig verschwindet, und so gut wie gar nicht gehört wird. Da mich nun keinerlei Buchstaben-Pietät vermögen konnte, die vom Meister in Wahrheit beabsichtigte Wirkung der gegebenen irrigen Bezeichnung aufzuopfern, so ließ ich hier die Streichinstrumente bis dahin, wo sie wieder abwechselnd mit den Blasinstrumenten die Fortführung des neuen Thema's aufnehmen, statt im wirklichen Fortissimo, mit nur angedeuteter Stärke spielen: das von den verdoppelten Blasinstrumenten dagegen mit möglichster Kraft vorgetragene Motiv war nun, wie ich glaube – zum ersten Mal seit dem Vorhandensein dieser Symphonie, mit bestimmender Deutlichkeit zu hören. In ähnlicher Weise verfuhr ich durchgehends um mich der größten Bestimmtheit der dynamischen Wirkung des Orchesters zu versichern. Nichts anscheinend schwer Verständliche durfte so zum Vortrag kommen, daß es nicht in bestimmender Weise das Gefühl erfaßte. Viel Kopfzerbrechen's gab von je z. B. das Fugato in 6/8 Takt nach dem Chorverse: »Froh wie seine Sonnen fliegen«, in dem »alla Marcia« bezeichneten Satze des Finale's: indem ich mich auf die vorangehenden, ermuthigenden, wie auf Kampf und Sieg vorbereitenden Strophen bezog, faßte ich dieses Fugato wirklich als ein ernst-freudiges Kampfspiel auf, und ließ es anhaltend in äußerst feurigem Tempo und mit angespanntester Kraft spielen. Ich hatte am Tage nach der ersten Aufführung die Genugthuung, den Musikdirektor Anacker aus Freiberg bei mir zu empfangen, welcher kam, um mir reuig zu melden, daß er bisher einer meiner Antagonisten gewesen sei, seit dieser Aufführung aber zu meinen unbedingten Freunden sich zähle: was ihn – wie er sagte – gänzlich überwältigt habe, sei eben diese Auffassung und Wiedergebung jenes Fugato gewesen. – Eine große Aufmerksamkeit widmete ich ferner der so ungewöhnlichen rezitativ-artigen Stelle der Violoncelle und Kontrabässe im Beginn des letzten Satzes, welche einst in Leipzig meinem alten Freunde Pohlenz so große Demütigungen eintrug. Bei der Vorzüglichkeit namentlich unserer Kontrabassisten konnte ich mich dazu bestimmt fühlen, auf die äußerste Vollendung hierbei auszugehen. Es gelang mir in zwölf Spezialproben, welche ich nur mit den betreffenden Instrumenten hielt, zu einem fast ganz wie frei sich ausnehmenden Vortrage derselben zu gelangen, und sowohl die gefühlvollste Zartheit, als die größte Energie zum ergreifendsten Ausdruck zu bringen. – Vom Beginne meines Unternehmens an hatte ich sogleich erkannt, daß die Möglichkeit einer hinreißend populären Wirkung dieser Symphonie darauf beruhe, daß die Überwindung der außerordentlichen Schwierigkeiten des Vortrages der Chöre in idealem Sinne gelingen müsse. Ich erkannte, daß hier Anforderungen gestellt waren, welche nur durch eine große und enthusiasmirte Masse von Sängern erfüllt werden konnten. Zunächst galt es daher, mich eines vorzüglich starken Chores zu versichern; außer der gewöhnlichen Verstärkung unseres Theaterchores durch die etwas weichliche Dreissig'sche Singakademie, zog ich, mit Überwindung umständlicher Schwierigkeiten, den Sängerchor der Kreuzschule mit seinen tüchtigen Knabenstimmen, sowie den ebenfalls für kirchlichen Gesang gutgeübten Chor des Dresdener Seminariums herbei. Diese, zu zahlreichen Übungen oft vereinigten dreihundert Sänger, suchte ich nun auf die mir besonders eigenthümliche Weise in wahre Extase zu versetzen; es gelang mir z. B. den Bassisten zu beweisen, daß die berühmte Stelle: »Seid umschlungen Millionen«, und namentlich das: »Brüder, über'm Sternenzelt muß ein guter Vater wohnen« auf gewöhnliche Weise gar nicht zu singen sei, sondern nur in höchster Entzückung gleichsam ausgerufen werden könne. Ich ging hierfür mit solcher Extase voran, daß ich wirklich Alles in einen durchaus ungewohnten Zustand versetzt zu haben glaube, und ließ nicht eher ab, als bis ich selbst, den man zuvor durch alle Stimmen hindurch gehört hatte, mich nun nicht mehr vernahm, sondern wie in dem warmen Tonmeere mich ertränkt fühlte. – Große Freude machte es mir, das Rezitativ des Barytonisten: »Freunde, nicht diese Töne«, welches seiner seltsamen Schwierigkeiten wegen wohl fast unmöglich vorzutragen zu nennen ist, durch Mitterwurzer, auf dem uns bereits innig bekannt gewordenen Wege der gegenseitigen Mittheilung, zu hinreißendem Ausdrucke zu bringen. – Ich trug aber auch Sorge, durch einen gänzlichen Umbau des Lokales mir eine gute Klangwirkung des jetzt nach einem ganz neuen Systeme von mir aufgestellten Orchesters zu versichern. Die Kosten hierzu waren, wie man sich denken kann, unter besonderen Schwierigkeiten zu erwirken; doch ließ ich nicht ab, und erreichte durch eine vollständig neue Konstruktion des Podiums, daß wir das Orchester ganz nach der Mitte zu konzentriren konnten, und es dagegen amphitheatralisch auf stark erhöhten Sitzen von dem zahlreichen Sängerchor umschließen ließen, was der mächtigen Wirkung der Chöre von außerordentlichem Vortheil war, während es in den rein symphonischen Sätzen dem sein gegliederten Orchester große Präzision und Energie verlieh.

Schon zur Generalprobe war der Saal überfüllt. Mein Kollege beging hierbei die unglaubliche Thorheit, beim Publikum völlig gegen die Symphonie zu intriguiren, und auf das Bedauerliche der Verirrung Beethoven's aufmerksam zu machen; wogegen Herr Gade, welcher von Leipzig aus, wo er damals die Gewandhauskonzerte dirigirte, uns besuchte, mir nach der Generalprobe unter Anderem versicherte, er hätte gern zweimal den Eintrittspreis bezahlt, um das Rezitativ der Bässe noch einmal zu hören. Herr Hiller fand, daß ich in der Modifizirung des Tempo's zu weit gegangen sei; wie er dieß verstand, erfuhr ich später durch seine eigene Leitung geistvoller Orchesterwerke. Ganz unbestreitbar war aber der allgemeine Erfolg über jede Erwartung groß, und dieses namentlich auch bei Nichtmusikern; unter solchen entsinne ich mich des Philologen Dr. Köchly, welcher bei dieser Gelegenheit sich mir näherte, um mir zu bekennen, daß er jetzt zum ersten Male einem symphonischen Werke vom Anfang bis zum Ende mit verständnißvoller Theilnahme habe folgen können.

In mir bestärkte sich bei dieser Gelegenheit das wohlthuende Gefühl der Fähigkeit und Kraft, das, was ich ernstlich wollte, mit glücklichem Gelingen durchzuführen.


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