Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die weiße Stadt

1

Als der Leutnant Beauchamp Browne in London die Order erhielt, mit seinem Regiment unverzüglich nach Kairo abzugehen, überkam den jungen Mann plötzlich eine eigentümliche Empfindung. Ein Schauer überlief ihn. Es war wie eine dumpfe dunkle Ahnung, ihm drohe in dem Sonnenlande Unheil. Im nächsten Augenblick war er damit fertig. Was konnte ihm geschehen? Ihm, der seine Jugend als Ewigkeitsgefühl in sich trug? Er war einer der elegantesten Offiziere seines vornehmen Regiments, dessen schlanke Wohlgestalt selbst in dem Lande der schönen Männer auffiel; dabei von überschäumender Lebenslust und Kraft, ein schneidiger Reiter, sicherer Schütze und stets heiterer Gesellschafter. Zugleich ein guter Kamerad und Ritter liebenswürdiger Frauen. Mit letzteren nahm es der junge Herr etwas sehr leicht. Freilich ward es ihm leicht gemacht. Trotzdem gab es in seinem Liebesleben manchen Fall, an den er nicht ohne Reue hätte zurückdenken müssen – wenn er daran überhaupt gedacht haben würde.

Als er erfuhr, sein Regiment sei für Ägypten bestimmt, fielen ihm sogleich die Frauen jenes wundersamen Landes ein. Sie erschienen dem Kenner der Frauen ebenso geheimnisvoll wie das Land selbst, das aus einem fast mystischen Strome, einem schmalen Fruchtland an beiden Ufern und der Wüste bestand, einer glühenden trostlosen Unendlichkeit.

Das Land konnte ihm ein Geheimnis bleiben; aber die Frauen des Landes mußten für ihn die sie umhüllenden Schleier heben. Er wollte ihnen keck ins Gesicht schauen. Schön sollten sie sein! Er wollte ihre fremdartige Schönheit genießen wie einen Trunk feurigen Weins. Seinem goldblonden Haar und seinen stahlblauen Augen würden sie nicht widerstehen. Und wenn Gefahr dabei war, um so verführerischer der Reiz, umso lockender das Abenteuer, das auch nur eine Episode sein sollte: Beauchamp Browne liebte in dem Dienst des Sohnes der großen Göttin lediglich die Episoden.

Er langte an in der Kosmopolis am Nil; bezog sein Quartier auf der Zitadelle; blickte von seinem hohen Wohnort aus auf die Grabstätten der Kalifen und Mamelucken herab; auf die Pyramidenfelder von Gizeh, Abusir und Sakkara, auf die Libysche und Arabische Wüste, die auch nur ein Reich des Todes waren; und alles, was an Jugend, Sehnsucht und Kraft in ihm brauste und brannte, schrie nach Leben unter Lebenden.

So stürzte er sich denn in das Gewühl winterlicher Gesellschaftsfreuden, die vorzüglich in den großen Fremdenherbergen hohe Wogen schlugen. Dort lebte man des Abends wie in London oder in dem heißgeliebten Paris. Es gab Bälle, Routs, Feste. Schöne Frauen aller Nationen gab es. In seinen weißen, mit breiten Goldborten besetzten Hosen, der roten goldumrandeten Weste, dem roten koketten Rock, sah der junge Offizier prachtvoll aus. Er war der gewandteste Tänzer, der feurigste Kurmacher, und von einer wahrhaft leuchtenden Heiterkeit, als sei das ganze Menschenleben ein einziges Fest der Jugend und Freude, im Sonnenlande eine Sonnenfeier. Es kam daher auch in Kairo zu den von ihm geliebten, netten kleinen Episoden.

Sie waren jedoch für den hübschen Herrn nichts Neues, waren vielmehr etwas sehr Alltägliches; und er sehnte sich nach dem Unbekannten, dem Geheimnisvollen, Verschleierten. Er hatte es sich leicht vorgestellt, die Hüllen zu heben und fremden Frauenreizen in das Antlitz zu blicken, Reizen, die, wie behauptet ward, kein Mann ungestraft schaute. Doch die Wirklichkeit entsprach seiner Vorstellung nicht. Wenn er an jene seltsame Empfindung zurückdachte, die ihn in der Heimat bei der Nachricht seiner Versetzung beschlichen hatte, so deuchte ihn jetzt, sie sei ihm damals als die Verheißung eines großen Erlebnisses an den Ufern des Nils erschienen. Nun fühlte er sich darum betrogen, fühlte er sich enttäuscht. Gern hätte er die Liebe auch einmal in anderer, drohender Gestalt kennen gelernt. Es brauchte nicht gerade das entschleierte Antlitz der Gottheit von Sais zu sein. Keinesfalls war er der Jüngling, sich von dem Anblick entgeistern zu lassen.

Auf einem Ball im »Savoy«, auf dem die Prinzessin von Wales erschien und Beauchamp als Tänzer befehlen ließ, machte ihm ein Kamerad die Mitteilung:

»Weißt du's schon?«

»Was soll ich wissen?«

»Du kommst fort.«

»Zurück nach England?«

»Leider nein.«

»Leider?«

»Du erhältst das Kommando über eine Expedition.«

»Herrlich! Wohin?«

»Das ist weniger ›herrlich‹.«

»So sprich doch!«

»Du gehst südwärts.«

»Nach Indien?«

»Du bleibst in Ägypten.«

»Doch nicht in den Sudan?«

»Nur nach Nubien.«

»Unsinn! Was sollte ich dort?«

»Ein von uns bereits aufgegebenes Fort am rechten Nilufer soll wieder bezogen werden.«

»Also schickt man mich in die Arabische Wüste?«

»Gerade dich, unsern hübschesten und geliebtesten Offizier, mußten sie für diese schauderhafte Wildnis bestimmen.«

»Immerhin ist es eine Auszeichnung.«

»Immerhin, du Armer.«

Beauchamp bezwang sich. Der Ton, mit dem ihm sein Kamerad die üble Nachricht übermittelte und ihn jetzt bedauernd beglückwünschte, hatte einen Klang von Schadenfreude: einen sehr leisen, aber für sein Ohr dennoch vernehmbaren Klang. Er wußte sich heimlich beneidet; wußte daher, daß man ihm die »Auszeichnung« gönnte. Also zeigte er sich nicht nur vollkommen gelassen, sondern geradezu erfreut: es würde dort unten ein stolzes, ein großes Leben sein! Ein ganz anderes Leben als dieses ewige Spiel mit dem Kleinen und Nichtigen, wozu die matten Eroberungen schlecht verteidigter Frauenherzen gehörten ...

Niemals war der junge Offizier so glänzend gewesen, als an diesem, seinem letzten erfolgreichen Gesellschaftsabend in Kairos vornehmstem Hotel. Denn bereits am nächsten Tag erhielt er den Befehl zum Aufbruch aus Ägyptens Hauptstadt, und sehr bald darauf befand er sich mit seinen Leuten, nachdem Assuan mit der Bahn erreicht worden war, auf dem Marsch nach seinem neuen Bestimmungsort, weit entfernt von aller Kultur, inmitten des Grausens der Wüste.

2

Die Wüste.

Der junge Beauchamp lernte sie erst jetzt kennen, und der elegante Offizier ward fasziniert durch ihre furchtbare, ihre dämonische Schönheit. Er hätte nicht für möglich gehalten, daß diese endlose glühende Trostlosigkeit ihm ein andres Gefühl einflößen könnte als heftige Abneigung; und jetzt mußte er jeden Tag von neuem erleben, wie seine widerstrebende Seele ihrem wilden Zauber unterlag. Denn ein Zauber war's.

Nur solche geheimnisvolle Macht war zwingend genug, seine frohe Jugend in Bann zu schlagen. Als er mit seinen Leuten an seinem Bestimmungsort eintraf, glaubte er, die schreckliche Wildnis nicht ertragen zu können; glaubte er, sie würde ihn auf die Dauer entgeistern, als sei sie ein gespenstisches Wesen, das sich wie ein Vampyr auf den Lebenden wirft und sein Blut trinkt.

Das Fort erhob sich auf einer steilen Felsklippe hoch über dem Nil, zwischen dem ersten und zweiten Katarakt. Jenseits des gelben Stroms erstreckte sich die rote Libysche Wüste als unendliches Sandmeer mit berghohem Wogenschlag. Unabsehbar brandete Welle auf Welle mit glühendem Gischt zu einem ewig leuchtenden, ewig regenlosen Himmel empor: ein Ozean, um vieles furchtbarer – um vieles herrlicher als jener, den Schiffe durchfurchen. Die Festung selbst lag in der Arabischen Wüste. Diese war anders, ganz anders als jene am westlichen Ufer, und war womöglich noch furchtbarer – noch herrlicher. Sie hatte nicht das flimmernde funkelnde Goldgelb der Libyerin, sondern strahlte in dunkelvioletter und purpurroter Farbenpracht ihrer Granitfelsen, von denen die Erdbeben vor Jahrtausenden gewaltige Blöcke losgerissen, emporgeschleudert und durcheinander geworfen hatten, endlosen Steinbrüchen und Bergstürzen gleich. Eine Welt war's von zermalmender Größe, nicht für Menschen geschaffen, sondern für Giganten und Götter, wie solche in den altägyptischen Tempeln verehrt wurden.

In dieser Welt lebte nun der Jüngling, der sein Leben genießen wollte, als sei es ein einziger leuchtender Festtag, eine Jubelfeier des Daseins.

Die militärischen Pflichten des jungen Offiziers waren bald erfüllt. Sie bestanden hauptsächlich darin, seine kleine Mannschaft mit der Wüste vertraut zu machen, die er selbst erst kennen lernen mußte; und sein scheinbar verlorener Posten war wohl nur eine Vorbereitung für den nahen Sudan, darin es seit den Tagen des Mahdi beständig gärte. Mühsam war die Beschaffung des Proviants. Was die Truppe nicht an Konserven mit sich führte, mußte von Assuan herbeigeschafft und alles Wasser aus dem tief gelegenen Fluß geschöpft werden. Es war eben das Leben in einer Wildnis, darin weder Baum noch Strauch gedieh, nur Geier und Wüstenwölfe hausten und die Kobraschlange träge über das im Sonnenbrand glühende Gestein kroch. Trotzdem ward der junge Mann von der Größe eines solchen Daseins gepackt.

Er besaß ein Pferd, einen Schimmelhengst edelster arabischer Rasse. Auf seinen Ritten geschah es, daß er die Wüste in ihrer ganzen erschütternden Herrlichkeit kennen lernte. Dabei fiel allerlei Nichtiges, mancher Flitter und Tand von seiner Seele. Denn eine große Natur duldet nicht dergleichen, und die Wüste war das Größte, was die Natur hervorgebracht hat: ihr Geheimnisvollstes und zugleich Wundersamstes. Halbe Tage lang trieb sich Beauchamp auf seinem »Abdallah« ziellos umher, mit keinem andern Zweck, als dem, seine Jugend auf diesen einsamen Ritten zu fühlen und immer tiefer in die Mysterien der Wüste zu dringen. Nur wenn er auf einen der langen flachen Sandströme zwischen den Felsenbetten stieß, konnte er jagen. Das war dann ein Ritt! Auf der Fläche des Sandes sah er wie auf einer Tafel die Fährten der Wüstenbewohner, Hyäne, Wolf und Schakal, verzeichnet. Viper und Kobra hatten in dem Schimmer ihre Spuren zurückgelassen, einem zarten Ornament gleich.

Plötzlich ein braunroter, purpurfarbener gewaltiger Granitblock. Noch einer, und noch einer! Und jeder trug das Zeichen einer vieltausendjährigen Kultur, eine in den Stein gegrabene Inschrift: Hieroglyphen! Eine schmale steife Gestalt in Flachrelief, ein Gott oder Herrscher des alten Ägyptens – einsam, inmitten der Wüste ...

Häufig begann der Offizier seine Ausritte bei Tagesgrauen, zu andern Malen erst bei anbrechender Dämmerung. Wenn die Morgenröte die Wüste mit Rosenschimmer überfloß, der Sonnenuntergang ihre Majestät in Purpur hüllte; wenn sie unter einem Sternenhimmel sich ausbreitete, dessen Glanz dem Norden unbekannt war, so schien ihre Schönheit nicht von dieser Erde zu sein.

Und Beauchamp lernte sie kennen, wenn sie am schrecklichsten war, in den Gluten der Mittagssonne, unter deren Strahlen die Felsenberge sich in Flammen wandelten und die Wüste aufloderte in einem Brand, der Himmel und Erde ergriff.

Dann erfaßte den Reiter ein Grauen.

3

Eines Tages dehnte Beauchamp seinen Ritt weiter aus als gewöhnlich und gelangte in ein ihm vollständig fremdes Wüstengebiet, durch welches, an bereits in ältesten Zeiten ausgebeuteten Steinbrüchen vorbei, eine Karawanenstraße führte.

Die breite Heerstraße inmitten der Öde machte einen befremdlichen Eindruck: wo Menschen eine Stätte nicht hatten – eine Stätte nicht haben konnten – plötzlich tausendfältige Spuren einer fernen Zielen zustrebenden Schar. Die Hufe der hin und her ziehenden Kamele hatten den weichen Sandboden, darin der Fuß tief einsank, hart getreten. Der Weg war's, den die Karawanen aus dem Sudan durch Nubien nach Oberägypten und weiter bis nach dem hochheiligen Mekka seit Jahrhunderten zogen, schlaue Händler und fromme Pilger, darunter Büßer, die in der Wüste Anachoreten und Heilige wurden.

Diese Straße ritt Leutnant Browne. Bisweilen stieß er auf bleichendes Gebein. Ein zu Tode erschöpftes Kamel war hingesunken, und sein Herr hatte es verendend am Wege liegen lassen; Geier hatten sich auf das sterbende Tier gestürzt, noch ehe es ein Leichnam war. Nun bleichte die Sonne Afrikas die Knochen zu dem Weiß des Elfenbeins.

Der Einsame ritt und ritt wie gewaltsam vorwärts getrieben. Bereits brach die Dämmerung herein, der in diesen Gegenden schnell die Nacht folgt. Sie war allerdings keine tiefe Dunkelheit. Immerhin würde der Reiter Mühe haben, den Rückweg zu finden. Trotzdem ritt er weiter und weiter.

Was war das? In der Ferne, am Horizont etwas Weißes, Schimmerndes. Auf der von dem düstern Violett des Abends überflossenen Wüste leuchtete es geisterhaft auf. Wie eine schneeige Insel schwamm das eigentümliche lichte Etwas auf dem Purpur der Wüstenflut.

Beauchamp hielt sein Pferd an und starrte auf den fremdartigen Glanz.

Was konnte es sein?

Vielleicht einer der Alabasterbrüche, deren es in der Arabischen Wüste viele gab. Kürzlich hatte der Offizier einen solchen getroffen. In blendendem Weiß war es vor ihm aufgestiegen, Klippen, Wände, Zinken und Zacken. Wie ein Verzauberter war er durch den Glanz geritten; nichts um sich, als die durchstrahlten schneeigen Mauern, über sich die unwahrscheinliche Bläue des Himmels. Aber der weiße Streifen am Horizont war kein Alabasterbruch.

Dann also eine Stadt. Welche? Irgend eine Wüstenstadt.

Wäre es eine Stadt gewesen, so hätte er davon wissen müssen. Er hatte die Karte genau im Gedächtnis; erinnerte sich genau, daß in dieser Gegend, dieser Richtung keine Stadt verzeichnet stand.

Was konnte es also sein?

Es war zu spät, um es zu ergründen. Beauchamp mußte sich widerwillig zur Rückkehr entschließen. Das geheimnisvolle Weiß, welches ihm in der Dämmerung so überraschend entgegenschimmerte, beschäftigte seine Einbildungskraft derartig, daß seine Versunkenheit ihn in die Irre führte. Erst lange nach Mitternacht traf er auf dem Fort ein. Seine Leute waren über das Ausbleiben ihres jungen Leutnants, dem sie leidenschaftlich ergeben waren, bereits beunruhigt und hatten nach allen Richtungen Boten ausgesandt. Beauchamp erzählte ihnen von der Karawanenstraße, von jenem weißen Streifen sagte er jedoch kein Wort. Auch dieses grundlose Verschweigen war seltsam. In seinem Zimmer holte er sogleich die Karte herbei. Wie er vorher wußte, fand er in jener Gegend keine Ortschaft verzeichnet. Er verbrachte eine unruhige Nacht und träumte von einem weißen Abgrund, darin er versank. Als er in eine bodenlose, leuchtende Tiefe stürzte, schrie er auf und erwachte. Das Traumbild verfolgte ihn den ganzen Tag über. Auch das war ihm noch niemals geschehen.

Was konnte das Weiße nur sein?

Er nahm sich vor, den Streifen am Horizont zu ergründen, vermochte jedoch sein Vorhaben nicht so bald auszuführen, obgleich er deshalb mehrere Male ausritt. Es war wie Hexerei. Je näher er dem weißen Streifen am Horizont zu kommen glaubte, um so weiter schien sich das leuchtende Band zu entfernen. Immer und immer schwebte es wie etwas Unirdisches und Geisterhaftes über der purpurfarbenen Wildnis der Granitfelsen, die das gelbe Bett des Sandstroms mit der Karawanenstraße durchzog. Sie mußte doch geradenwegs auf das leuchtende Etwas zuführen, das wie eine Fata Morgana am Himmel stand. Aber das Wüstenbild verschwand niemals, befand sich stets an der nämlichen Stelle, mußte also erreichbare Wirklichkeit sein.

»Dieses Mal kehrst du nicht eher wieder um, als bis du dort gewesen bist!«

Er ließ seine Feldflasche mit Wein und Wasser, seine Satteltasche mit Brot und Orangen füllen und ritt den bereits bekannten Weg, auf irgend ein Abenteuer gefaßt, das er ritterlich bestehen wollte und schon jetzt hoch willkommen hieß. Seltsamerweise fühlte er sich durch eine unbestimmte große Erwartung erregt. Alles das war ihm unheimlich.

Er ritt und ritt, wollte nicht umkehren, erreichte sein Ziel.

Es war eine Stadt.

Als der Reiter diese Entdeckung machte, war er noch zu entfernt, um mehr zu erkennen, als daß es eben ein Ort war. Er kam zu einem Walde uralter Tamarisken, der wie ein Hain vor den Toren lagerte: »wie ein Totenhain« – mußte der junge Mann denken. Die phantastischen Bäume mit ihren lang herabhängenden Zweigen und dem zarten graugrünen Laubwerk waren von Wüstenstaub so dicht überzogen, daß sie wie versteinert dastanden. Gewiß blieben sie selbst bei Chamasin so regungslos! Kein Vogel wohnte in den starren Wipfeln, kein Laut war darunter zu hören.

Beauchamp ritt in die verzauberte Waldung hinein, gelangte zu ihrem Ausgang und sah sich plötzlich unmittelbar vor der weißen Stadt.

Nein – kein Tier und kein Mensch! Wenigstens kein lebendiger Mensch. Aber Straßen, Gassen, Plätze, Häuser mit Kuppeln. Und jedes Haus hatte seinen stillen Bewohner; denn jedes Haus war ein Grab.

Eine vielhundertjährige von allen Lebenden längst verlassene arabische Gräberstadt war das Weiße, Leuchtende, Mystische.

4

Straßen, Gassen, Plätze, wie eine Stadt für atmende Wesen sie zeigt. Jedes Grab hatte eine andre Form. Einige waren hochgewölbt, andere niedrig und flach. Über vielen Grabstätten waren steinerne Baldachine errichtet. Die Grüfte der Reichen und Vornehmen glichen Moscheen mit Minaretts zur Seite; und die Scheichgräber überdeckten monumentale Kuppelbauten. Von den geringeren Gräbern trug jedes zwei gemauerte niedrige Aufsätze, winzigen Türmen gleich, von verschiedenartigster Gestalt, bald wie eine abgebrochene Säule, bald wie die Spitze eines Obelisks. Von den Zinnen war die eine über dem Haupte des Begrabenen, die zweite zu seinen Füßen errichtet; neben einer jeden sollte einer der beiden Engel sitzen, die dem Muselmann im Tode beigegeben werden. Der eine der Engel verzeichnete die guten und bösen Taten des Menschen auf seiner Tafel; der andere befragte nach seinem Tode die Seele: »Was tatest du Gutes? Was Böses?«

Viele Grüfte waren mattrosa, blaßblau oder grünlich gefärbt; andre trugen die schwindenden Spuren von schreiend bunten Bemalungen: Ornamente und Darstellungen von Bäumen und Pflanzen. Trotz so vielem Farbigen machte die Totenstadt in der Wüste einen durchaus hellen Eindruck; eben den einer »weißen« Stadt ...

Auf seinem weißen Berberroß ritt Beauchamp durch die Gassen, über die Plätze, an hundert und hundert Grüften vorüber. Sie schienen kein Ende zu nehmen.

Die Gräber der Reichen und Vornehmen waren von Mauern umgeben. Sie lagen in Höfen, und daneben standen verlassene Wohnhäuser. Denn die Toten Ägyptens werden zu gewissen Zeiten von ihren Angehörigen besucht, die alsdann tagelang neben ihnen leben und ihr Gedächtnis feiern. Aber die Gestorbenen, die hier im Wüstensande gebettet lagen, waren von den Ihren vergessen, verlassen worden. Ein schweres Schweigen lastete wie ein großes Grauen über der Stätte ...

Da stieß der einsame Reiter auf einen zweiten Lebenden unter all den Toten. Dieser zweite kauerte vor dem verfallenen Eingang eines Scheichgrabes und richtete sich bei dem Anblick des andern Lebendigen steif in die Höhe. Es war, als träte er aus der Gruft hervor. Regungslos stand er neben der braunen bröckelnden Mauer.

Beauchamp hielt sein Pferd an und starrte auf die Erscheinung. Es war ein Jüngling von edelster Bildung, vollständig unbekleidet bis auf einen blauen Schurz um die Lenden. Das schwarze Haar fiel ihm auf die Schulter herab; in dem Gesicht, dessen Züge die starre Schönheit einer Antike hatten, glühten die Augen eines Fanatikers, eines Wahnsinnigen.

Der Offizier rief den Bewohner der Totenstadt an; erhielt keine Antwort; erkannte, daß der einzige Mensch, der außer ihm an der grauenvollen Stätte sich aufhielt, ein armer Verrückter sei, wohl ein von religiösem Irrsinn Befallener, den sein frommer Wahn von den Lebendigen hinweg zu den Toten trieb, als Büßer für eine vielleicht niemals begangene Schuld.

Beauchamp Browne wollte des Weges weiter reiten, als der Jüngling von der Grabmauer sich löste und auf ihn zugeschritten kam, in einer Weise, als wäre er an beiden Füßen gefesselt und als trüge er um den Leib Ketten geschmiedet. Zum zweitenmal rief der Fremde das unheimliche Menschenwesen an: »Wer bist du und was tust du hier?«

Auch jetzt keine Antwort. Aber der arme Narr hob die Hand, als winkte er dem Ankömmling, mit ihm zu gehen; so wenigstens wurde seine Gebärde von Beauchamp verstanden. Dieser folgte seinem unheimlichen Führer, dessen Schreiten ein Gleiten und Schieben war; folgte ihm aus der Totenstadt fort, hinaus auf die Karawanenstraße, die dicht daran vorüberführte. Aber auch das Haus, zu dem er geleitet wurde, war ein Grabgebäude, eines der reichsten und ältesten, vor dessen Pforte der Wahnsinnige stehen blieb, einen Laut ausstoßend, der wie ein Aufschrei klang.

In dem totenhaften Schweigen hatte der wilde Ton, der erste, den Beauchamp vernahm, etwas Unmenschliches.

Dreimal schrie der Sinnlose so gräßlich auf ...

Nach dem dritten Mal wurde im Innern des Hauses die Türe geöffnet und ein Weib trat heraus, von solcher Schönheit, daß der junge Offizier bei dem Anblick erbebte, als träte ihm aus dem Grab sein Schicksal entgegen.

Das prachtvolle Geschöpf trug die Tracht einer Fellachenfrau, ein indigoblaues faltenreiches Gewand und indigoblaue schleppende Schleiertücher. Als sie den Fremden erblickte, verhüllte sie sofort das Gesicht, dessen fremdartige Herrlichkeit der Gast bereits geschaut hatte. Dieser wußte bis dahin nicht, daß das Weib so schön sein konnte: so verderblich, so mörderisch schön.

Sprachlos vor Staunen hielt Beauchamp auf seinem Pferde vor dem Grabe. Auch die Frau blieb stumm. Sie schritt zu einer hohen Amphore aus gebranntem Ton, die in den Wüstensand eingebettet war; nahm einen kupfernen Schöpfer; füllte damit aus dem Kruge einen Becher mit Wasser; schritt zu dem Reiter; reichte das Trinkgefäß schweigend zu ihm hinauf.

Beauchamp nahm und trank.

Aber dann sprach er sie an. Er mußte erfahren, wer sie war; wie sie an diesen Ort kam; weshalb sie unter den Toten blieb, was sie hier tat? Wie konnte sie es an dieser gräßlichen Stätte aushalten? So jung, so schön! So dämonisch schön, daß der Mensch bei ihrem Anblick erschrak und bis in die Seele hinein von einem Erbeben, einem Erschauern erfaßt ward.

»Sage mir, wer bist du?«

Und da sie nicht antwortete, lauter, dringlicher: »Ich bitte dich, sage mir's!«

»Seine Schwester bin ich.«

Ihre Augen deuteten auf den wahnsinnigen Jüngling, der neben der Verhüllten stand und von dem Fremden keinen Blick wandte.

»Dein Bruder ist krank?«

»Allah liebt ihn und trübte ihm den Sinn.«

»Mit deinem von Allah geliebten Bruder lebst du hier?«

»Ich lebe hier.«

»Schon seit langem?«

»Seit jeher.«

»Allein lebst du jetzt hier mit dem Sinnlosen?«

»Bei uns leben eine Magd und unser alter Diener Ali.«

»Sie sind jetzt nicht hier?«

»Sie müssen das Wasser herbeischaffen.«

»Von wo?«

»Grundwasser der Wüste aus einem Brunnen. Er ist weit.«

»Es ist das Wasser, welches du für mich schöpftest?«

»Es ist das Wasser.«

»Die Amphore ist damit gefüllt?«

»Ja, Herr.«

»Und du tränkst die Vorüberziehenden; erquickst die Durstigen; reichst dem verschmachtenden Wüstenpilger den Trunk?«

»So ist's, Herr. Wer an dieser Straße an diesem Hause vorübergeht, und wen dürstet, für den schöpfe ich Wasser.«

»Es ziehen nicht viele diese Straße?«

»Nicht viele, Herr.«

»Dennoch bleibst du hier.«

»Herr, ja.«

»Deswegen bleibst du in der Totenstadt? Deswegen

Plötzlich begann der Verrückte zu stammeln, zu sprechen. Mit Mühe verstand Beauchamp, daß der Tolle seine Schwester zu einer Heiligen machen wollte; daß das Schöpfen des Wassers eine fromme Handlung wäre; daß Allah daran Wohlgefallen hätte, und außer Allah gäbe es keinen Gott.

Das alles war schaurig, war verrückt. Beauchamp überkam von neuem ein Grauen. Er wollte fort; wollte von dem Alp sich befreien, und aus dem Fiebertraum zur Wirklichkeit zurückkehren. Vorher wollte er jedoch den Namen des seltsamen Frauenwesens erfahren. Erfahren mußte er ihn! Wenn er an das wundersame Weib dachte, wollte er es bei seinem Namen nennen können.

»Wie heißt dein Bruder? ... Wie heißest du?«

»Mein Bruder wird Jussuf gerufen. Aber er bedarf keines Namens.«

»Und du?«

»Ich?«

»Wie ist dein Name?«

»Essahrah.«

»Essahrah? ... Wie seltsam! Essahrah bedeutet die Wüste, die wilde, herrliche, ewige. Sie ist das Schönste auf Erden und das Schrecklichste.«

»Herr, lebe wohl.«

Verhüllten Gesichts ging sie ins Haus und schloß hinter sich die Tür ... Um den starrenden Augen des Verrückten zu entgehen, der unheimlichen Stätte zu entfliehen, gab der Offizier seinem Pferde die Sporen und jagte davon, als würde er von Geisterscharen verfolgt.

Noch aus der Ferne vernahm er die Schreie des Wahnsinnigen. Jussuf rief den Namen seiner Schwester »Essahrah! Essahrah!«

Wie die Wüste hieß sie. Wie das Schönste und das Schrecklichste auf Erden.

5

Was war mit ihm geschehen? Welche unheilvolle Gewalt hatte über seine Seele Macht gewonnen? Es gab ja doch keine Zaubertränke mehr? Dennoch deuchte ihn bisweilen, als sei er durch jenen Trunk Wassers, welcher ihm in der weißen Stadt der Toten von einem jungen und schönen Weibe gereicht worden war, einem Zauber verfallen.

Essahrah war ihr Name ... Der Name klang so fremdartig und rätselvoll, wie sie selbst war. Wie konnte man einem Mädchen den Namen der Wüste geben? Welch toller Einfall einer Mutter! Es war freilich eine Frau, die einem Narren das Leben gab. Beide Eltern schienen übrigens gestorben zu sein. Wer hatte die Kinder an jenen schaurigen Ort gebracht? Wer ließ sie dort bleiben? Aber hatte die Schwester des Wahnsinnigen nicht gesagt, »von jeher« sei sie dort gewesen? ... Als das junge Weib die Türe öffnete, hatte Beauchamp in einen Gang geblickt, der in eine Scheichgruft führte. Er hatte die Särge der frommen Männer gesehen, mit verblichenen Seidenstoffen bedeckt und von Talismanen zur Abwehr böser Geister umgeben. Also hausten die Geschwister wahr und wahrhaftig mit Toten zusammen!

Eine alte Magd und der Diener Ali lebten bei ihnen. Die Gesellschaft der beiden milderte etwas das Grausen ihrer Einsamkeit. Immerhin blieb es ein Aufenthalt des Schreckens.

Aber was kümmerte das ihn, dessen Erlebnisse mit schönen Frauen lediglich Episoden gewesen waren, wie sie das Leben eines jungen eleganten Offiziers in der Großstadt mit sich brachte. Bisher hatten alle seine Liebesaffären Damen der Gesellschaft gegolten; er hatte sich nie vorgestellt, andre Abenteuer als mit Frauen von Welt haben zu können, und jetzt mußte er Tag und Nacht an ein Fellachenweib, eine Nubierin, denken; mußte er sich beständig mit dem phantastischen Schicksal einer Unbekannten beschäftigen, beständig die binsenschlanke Gestalt vor sich sehen und dieses Gesicht, das sich ihm in der Schönheit einer Meduse gezeigt hatte.

Medusenschönheit war's. Das war der rechte Ausdruck. Beauchamp war froh, ihn gefunden zu haben. Etwas von einer Meduse lag in diesen großen Zügen, in dem Blick der düstern Augen. Es war das Antlitz der Meduse, ehe sie starb. Aber schon jetzt lag darin etwas Entgeisterndes: eine Schönheit, die kein Mann schauen konnte, ohne davor ein Grauen zu fühlen, und deren Zauber er dennoch erliegen mußte.

Wie er sich ihre Gestalt und ihr Gesicht malte, so stellte er sich ihren Gang vor. Eine Priesterin des Altertums mußte, wenn sie ihrer Gottheit diente, solchen feierlichen Schritt gehabt haben. Welche Haltung sie hatte! Als ob ihr selbst gewebtes Schleiertuch ein Purpurmantel sei.

Wie war der Klang ihrer Stimme? Wie im Traum lauschte Beauchamp, ob er ihre Stimme wieder hören konnte? Es blieb jedoch still. Seltsam, daß es ihm unmöglich war, ihrer Stimme sich zu erinnern. Je mehr er sich vergeblich bemühte, um so mehr quälte es ihn.

Er wollte die weiße Stadt nicht wieder besuchen. Was hatte er bei den Toten zu tun? Er, der sich sehnte, das Leben wie ein schönes Weib an seine Brust zu reißen. Diese Existenz auf einem verfallenden Fort hoch über zwei Wüsten mußte bald ein Ende nehmen. Er würde nach England zurückberufen werden, nach London. Dann wollte er von neuem genießen, schwelgend in Freuden, die Wonnen sein konnten.

Als er am nächsten Tag seinen gewohnten Ausritt unternahm, fand er sich plötzlich wieder auf der Karawanenstraße, hatte er das Spukbild der weißen Stadt wieder vor sich.

Er riß sein Pferd zurück und stürmte in entgegengesetzter Richtung davon ...

Aber es ließ ihm keine Ruhe: er mußte wieder hin! Mußte durch den gespenstischen Tamariskenwald wieder einreiten in die weiße Residenz der Toten inmitten der Arabischen Wüste, durch die lang sich hinziehenden, von Gestorbenen bewohnten Gassen; über die von gekuppelten Scheichgrüften umgebenen Plätze, hin zu dem Hause, das gleichfalls ein Mausoleum war, und aus dem bei seiner Ankunft die in leuchtendes Blau gehüllte verschleierte Frauengestalt trat. Sie würde ihn nicht grüßen; würde zu der in den Wüstensand eingegrabenen Amphore treten, das Schöpfgefäß nehmen, den Becher mit Wasser füllen und dem Reiter überreichen, als vollziehe sie ein Opfer, indem sie den Durstenden tränkte, den Verschmachtenden erquickte. Denn als vollzöge sie einen Kultusdienst, vollbrachte sie damals die einfache Handlung. Während er trank, sah er sie unverwandt an. Aber unter der Umhüllung des Hauptes konnte er nur ihre Augen erspähen, die von der blauen Schwärze einer Wüstennacht waren, wenn der Chamasin alle Gestirne umwölkt. Wie Beauchamp Browne niemals solche Frauenherrlichkeit gesehen hatte, so niemals aus Menschenaugen solchen Blick. Um solchen Blick zu haben, mußte der Mensch, fern von allen Lebenden, unter Toten hausen, unter Heerscharen von Gestorbenen.

Aber – weshalb, weshalb?

Immer die nämliche Frage, immer das nämliche Unverständliche, Unheimliche.

In seinen Vorstellungen und Träumen befragte er sie beständig nach dem einen, sie flehentlich um des Rätsels Lösung bittend: »Weshalb dieses trostlose Dasein an der grauenvollen Stätte? Weshalb dieses Büßeramt? Du bist so jung und schön. Wundersam schön bist du! Und du begräbst deine Jugend und Schönheit unter Leichnamen. Lebe, Essahrah! Weißt du, was Leben ist? Lieben, Essahrah! Von jungen Lippen sich küssen, von jungen Armen sich umschlingen lassen; vergehen in Wonnen ohne Ende; bereits auf Erden selig sein – in der Liebe, Essahrah!«

So sprach er in seinen Träumen zu dem jungen Weibe, welches seine Sinne gefangen hielt, wie ihm zuvor niemals geschehen war, wie ihm seiner Natur wegen eigentlich gar nicht geschehen konnte: ihm, für den die Liebe bis dahin Tändelei und Spiel gewesen, eben nur »Episode«.

Aber niemals, daß er in seinen Träumen auf seine angstvollen Fragen eine Antwort erhielt. Niemals sprach sie zu ihm, noch vernahm er ihre Stimme, die solchen dunklen Wohllaut besaß. Zu dieser Frauengestalt gehörte die Stimme, wie ihr Blick, ihre Haltung und Gebärde; wie der feierliche Schleier und das schleppende Gewand zu ihr gehörten.

»Essahrah« ...

Auch ihr Name wollte ihm nicht aus dem Sinn. Namen konnten symbolisch sein. Ihr Wüstennamen war wie ein Zeichen: »Hüte dich! Die Wüste ist Vernichtung. Eine Vernichtung, wie es eine furchtbarere nicht gibt. Stürze dich lieber von einem Felsengipfel in den tiefsten Abgrund; finde eher bei einem Orkan im Ozean Untergang, als dich von der trockenen roten Flut des Sandmeers verschlingen zu lassen. Hüte dich vor Essahrah!«

So warnte den jungen Offizier eine innere Stimme. Zugleich lockte es ihn, wie einen kühnen Bergsteiger ein ferner Gipfel, wie den Wüstenwanderer eine Oase mit Palmenhainen und fließendem Wasser. Und die Lockung erwies sich machtvoller als jenes ahnungsvolle Grauen vor der weißen Stadt und ihren unheimlichen Bewohnern, zu denen die verhüllte Frau und der wahnsinnige Jüngling gehörten. Also entschloß er sich nach einem letzten Kampf: »Du gehst wieder hin! Du siehst sie wieder! Nicht eher ruhst du, als bis du wissend geworden. Das wirst du erst, wenn sie dich geküßt hat: erst eines Weibes Kuß lehrt den Mann das Weib kennen. Und dieses Weib« –

Er dachte den Gedanken nicht aus. Wozu denken, wenn man jung ist und wenn es den Kuß eines schönen Weibes gilt? Noch niemals hatten seine Lippen so heiß nach einem Frauenmund gedürstet; noch niemals seine Seele solche mystische Sehnsucht nach dem Schlag eines Frauenherzens empfunden, welches an das seine sich preßte.

Aber – eine Episode sollte auch diese Wüstenliebe sein; und wäre sie so schön und so schrecklich wie die Wüste selbst.

6

Und Beauchamp Browne kam wieder und wieder in die weiße Stadt der Toten, sah das wunderschöne Weib wieder und wieder.

Sie hob für ihn nicht den Schleier und blieb ihm ein Rätsel in ihrer ganzen Existenz, die auf Erden ohnegleichen war. Alles, was er darüber mit allerlei Listen der greisen nubischen Dienerin Meleke und dem nicht minder uralten Ali entlockte, steigerte nur seine Verwirrung: eher hätten die Granitfelsen der arabischen Wüste von Essahrah reden können, als daß er von den verschwiegenen Lippen jener Sklavenseelen Wahrheit über die Herrin vernommen.

Bereits die Eltern der Geschwister hatten in der Totenstadt gelebt, Hüter der Scheichgrüfte, neben denen sie hausten; und bereits als Kind hatten sich bei dem Knaben Jussuf Zeichen eines religiösen Fanatismusses gezeigt, der sich allmählich zu hellem Wahnsinn auswuchs. Er hielt sich für einen Auserwählten Allahs, für einen Sohn des Propheten, den »Mahdi«, dessen Ankunft jener den Gläubigen des Islam verheißen hatte. Aber nicht unter die Lebenden ging der sonderbare Schwärmer, sondern er verkündigte seine Mission den Toten. Da der ungeheure Friedhof, zu dem man einstmals von weither aus den Dörfern die Gestorbenen führte, längst nicht mehr benutzt ward, hatten schweifende Beduinen viele Grüfte erbrochen und die Leichname beraubt. Man sah die Verwesten auf ihren letzten Ruhebetten, wenn sie nicht herausgezerrt und ihre Gebeine umhergestreut waren. Jussuf sammelte sie, versuchte die Gebeine zusammenzufügen und neu zu bestatten, welches unheimliche Werk er unter großen Zeremonien und feierlichen Reden vollzog. Wie eifrig er auch mit diesem Totengräber- und Priesterdienst beschäftigt war, so blieben der aus aufgebrochenen Grüften herausgerissenen Leiber immer noch viele.

Auch das erfuhr Beauchamp, daß der Sinnlose über seine Schwester eine dämonische Gewalt besaß. Er beherrschte ihre Seele, wie seine eigene von seinem Wahn unterjocht ward. Was immer der Narr von dem Mädchen forderte, das tat sie. Beauchamp hatte die Empfindung: hätte der Verrückte seiner Schwester befohlen, einen Mord zu begehen, so – würde sie morden. Morden hätte sie müssen! Ihr Geist stand unter des Wahnsinnigen Willen wie unter einer Hypnose. Deshalb haßte Beauchamp den unheilvollen Toren und fühlte sich auch von ihm gehaßt. Dennoch wurde er bei jedem seiner Besuche von dem unheimlichen Gesellen empfangen, als ob dieser ihn erwartet und sein Kommen voraus gewußt hätte. Und jedesmal meldete Jussuf seiner Schwester den fremden Gast an, die ihm jedesmal aus dem Grabhause entgegentrat und für ihn den Becher füllte, ihm den Zaubertrunk reichte.

Auch Datteln brachte sie heraus in einer altertümlichen Silberschale von der nämlichen edeln Form wie das Trinkgefäß, und runde flache Kuchen aus Durrahmehl mit Honig vermengt. Sie ließ für ihn einen Teppich ausbreiten, darauf ein König hätte ausruhen können, und behandelte ihn überhaupt wie einen hohen Herrn. Aber niemals forderte sie ihn auf, das Haus zu betreten, durch dessen Pforte er hinter einem engen dunkeln Gang in das Grabgewölbe blickte, auf die verblaßten Seidenbehänge und die in Mekka geweihten Stücke alten Brokats, die böse Gewalten von den heiligen Ruhestätten abwehren sollten. Auch für sein Pferd ließ sie den alten Ali sorgen, der das edle Tier tränken und mit feingeschnittenem Durrahstroh füttern mußte. Alle diese Dinge verrichtete sie nahezu schweigend, zumeist durch Gebärden befehlend, in einer Haltung, als geböte eine Königin. Wenn der Offizier dann abstieg und auf dem schönen Gewebe lagerte, so blieb sie wohl eine kleine Weile vor dem Hause, schaute mit einem Blick, dafür er den Ausdruck nicht fand, aus ihrer Umhüllung auf ihn; sprach mit leiser verschleierter Stimme einiges Gleichgültige; schritt davon und zurück in das Haus, dessen Pforte sich sofort hinter ihr schloß. So ereignete es sich jedesmal. Nicht ein einziger Besuch brachte Aufklärung; brachte mehr; brachte das Heißersehnte, welches einmal geschehen mußte. Deshalb kam der junge Mann wieder und wieder den weiten Weg von seinem Fort durch die Granitbrüche auf der Karawanenstraße bis zu dem Tamariskenwald und in die weiße Stadt. Längst hatte er erkannt, daß es nun einmal nicht anders sei und er wieder und wieder kommen müsse ...

Es war Sommer, Sommer in der Wüste. Die Erde brannte und es waren Ritte durch lodernde Gluten.

Es sollte auf der Welt Gewölk, sollte Regen geben ... Wie das sein mußte, wenn diese erbarmungslose Sonne, diese himmlische Mörderin, hinter Wolken sich barg, wenn Regenfluten niederrauschten, um den Wüstenbrand zu löschen. Denn Fluten würde es bedürfen, um den Flammen ein Ende zu bereiten. Die Erde mußte aufzischen, als würde Wasser auf feuriges Eisen geschüttet.

Wie der Hungrige an köstliche Speisen, der Durstige an eine kühle Quelle denkt, so gedachte der Feuerreiter eines nordischen Regenhimmels und der Londoner Nebeltage. Das waren wonnige Länder, waren glückliche Völker! Dennoch ließ er immer wieder seinen Abdallah satteln, stürmte immer wieder durch die erhitzten Granitfelsen und über die brennenden Sandflächen zu dem weißen Schimmer am Horizont, der eine Stadt war.

Mitunter geschah es, daß der Offizier auf der Karawanenstraße Kamelzügen begegnete. Es waren zumeist Händler – da die Mekkapilger nur zu den heiligen Zeiten wallfahrten. Die Kaufleute kamen aus dem Innern Nubiens und des schwarzen Sudans, von den Ufern des Blauen und Weißen Nil. Sie zogen mit den Produkten ihrer Länder zu den Küsten des Roten Meeres und der Sinaihalbinsel und kehrten mit den Erzeugnissen jener Fernen, mit Gewürzen, Weihrauch und kostbaren Hölzern in ihre Heimat zurück. Vorzüglich war es das goldgelbe glänzende Ambra, mit dem sie erfolgreichen Handel trieben, da die Frauen ihres Volkes damit in langen schweren Ketten sich schmückten. Unter diesen Männern befanden sich Gestalten, die in den weißen wallenden Umhüllungen wie Könige der Wüste auf ihren hohen Tieren thronten; andre dagegen hatten wilde Züge und Mörderblick.

Wenn Beauchamp vor dem Hause Rast hielt und von Essahrah sich erquicken ließ, war er häufig Zeuge, wie andern Wüstenwanderern das nämliche Labsal zuteil ward. Sie kamen vom Süden und zogen gen Osten; kamen von Osten und zogen gen Süden. Vor dem gekuppelten Scheichgrabe hielten sie an. Essahrah trat heraus und füllte für sie den Becher, während der wahnsinnige Jussuf unverständliche Worte raunte, die er mit tollen Gebärden begleitete. Alle erwiesen dem Narren eine Ehrfurcht, als sei er ein Heiliger; und alle schauten auf seine Schwester mit einem Blick heißen Begehrens, der dem Offizier das Blut zu Kopf trieb. Wie durften jene Menschen wagen, die Wunderschöne mit den Augen eines Lüstlings zu betrachten? War sie doch unberührbar, unnahbar! Für keinen dieser Männer würde sie jemals den Schleier heben – da sie es nicht einmal für ihn tat, über dessen Seele sie mehr und mehr eine Macht gewann, der in Wahrheit einem Zauber gleichkam. Auch jener frechen Blicke mußte der junge Mann viel denken. Er träumte sogar davon, wurde alsdann im Traum von Wut ergriffen und erwachte mit lautem Aufschrei. Solcher Art fühlte er sich unaufhaltsam einer Empfindung zugetrieben, die seinen Zustand nachgerade unerträglich machte, so daß er das Dasein eines Schwerkranken, von Delirien Gepeinigten führte. Er selbst aber nannte seine tolle Verliebtheit: »Wüstenfieber«.

7

Dieses Mal kam er abends an. Als er durch den Tamariskenhain ritt, dunkelte es bereits so stark, daß das staubbedeckte graue Gehölz einem der versteinerten Wälder glich, wie deren besonders in der arabischen Wüste viele anzutreffen sind.

Noch niemals war Beauchamp zu so später Stunde angelangt. Sie brachte den Gluten keine Kühlung; nicht der Hauch eines erquickenden Nachtwindes wehte. Über der schwülen Regungslosigkeit stand ein Sternenhimmel von einer Klarheit und einem Glanz, der die Wüstenwelt als nicht von dieser Erde erscheinen ließ.

Die weiße Stadt bei Nacht – bei einer solchen Nacht!

Über dem westlichen Horizont breitete sich noch immer ein Streifen der schwindenden Abendröte von schwärzlichem Purpur, während im Osten ein feierliches Sternbild aufstieg, das jeder Wüstenwanderer, ob Muselmann oder Christ, als Himmelszeichen grüßte: Das Kreuz des Südens!

Schwärme weißer Eulen und Fledermäuse flatterten auf, streiften lautlosen Fluges des Reiters Haupt, und zwischen den Grüften huschte es hin und her: Schakale, die bei den längst vermoderten Toten vergeblich nach Beute suchten, und doch von Hunger getrieben, Nacht für Nacht geschlichen kamen ...

Was war das?

Als der Offizier dem Hause der Geschwister sich näherte, vernahm er durch die Kirchhofsstille der Nacht die bekannten Klänge der Handtrommel, jenes Musikinstruments, das bereits in den Gräbern der alten Ägypter auf den Wandgemälden dargestellt ward, von jungen Sklavinnen geschlagen, eine Musik von solcher Eintönigkeit, daß sie wie Hypnose wirkt. Beauchamp hielt sein Pferd an und lauschte.

Es war jedoch keine Täuschung seiner fiebernden Sinne. Deutlich erkannte er die eigentümliche Weise. Sie konnte nur aus dem Hause der einzigen Bewohner der Stadt der Gestorbenen tönen, das Schweigen der Stätte wie eine Geisterstimme durchdringend.

Da Jussuf ihm nicht auflauerte, und in dem tiefen Sande kein Hufschlag hörbar war, blieb die Ankunft des späten Gastes unbemerkt. Der Reiter stieg ab, schlang den Zügel durch einen in die Mauer eingelassenen Eisenring und näherte sich der Tür.

Wie weiß das Haus dalag!

Vor dem Hause lagerten Kamele. Also war er nicht der einzige, der zu so später Stunde kam. Wer konnte noch sonst gekommen sein?

Da das Gebäude kein Fenster, sondern als einzige Öffnung den gewölbten Eingang besaß, und dieser erst auf jenen in die Scheichgruft mündenden Gang führte, so verriet kein Lichtschein, daß die Bewohner noch wachten. Wie seltsam diese Musik war! Während Beauchamp stand und darauf lauschte, mußte er die Gesellschaft sich vorstellen: die zwei Uralten, der wahnwitzige nackte Jüngling und – Essahrah! Plötzlich versagte seine Phantasie, verschwand das Bild. Er war nicht imstande, sich vorzustellen, wie die geheimnisvolle Frauengestalt bei diesen Klängen – sie hatten bei aller Eintönigkeit etwas Bacchisches, geradezu Orgiastisches – sich benahm? War sie dabei fröhlich, wie andre Frauen es waren? Denn schließlich macht der Mensch Musik, um vergnügt zu sein. Eigentlich hätte er sich freuen sollen, daß auch diese – daß selbst diese Frau harmlos heiter sein konnte. Er vermochte es sich nicht zu denken. Nun, er würde es gleich sehen.

Und Beauchamp Browne sah aus dem Dunkel des Ganges –

Er blickte in ein Gemach, dessen Wände schöne alte Gewebe umhüllten, dessen Boden prächtige Teppiche bedeckten. Der schwüle Wohlgeruch verbrannten arabischen Räucherwerks erfüllte den Raum. Das duftende Harz war auf glühende Kohlen gestreut, die in Kupfergefäßen brannten, und deren rote Glut die einzige Beleuchtung bildete.

Den Schalen entstieg zarter bläulicher Rauch.

Über einem der Kohlenbecken bereitete der greise Ali den braunen Lieblingstrank der Orientalen, während die alte Dienerin beschäftigt war, ihre Herrin mit Ketten zu schmücken – mit Ketten zu umwinden, Haupt, Hals, Arme, Leib, und das Geschmeide war aus Ambrastücken von seltener Größe gebildet. Ein fließendes Gewand von einer Seide, die den Hauch blasser Rosen hatte, glänzte unter dem Goldgelb der Behänge, darin die schlanke Gestalt förmlich eingewickelt war, als müßte sie die Pracht des Orients an sich tragen. Sie war schleierlos, das blauschwarze Haar aufgelöst und gleichfalls mit dem zu Stein gewordenen kostbaren Harz des Roten Meeres durchschlungen.

Der junge Offizier wußte, daß sie schön war. Er hatte sich ihre Schönheit mit dem verklärenden Pinsel des Liebenden in den leuchtendsten Farben gemalt; und nun erbebte er bei dem Anblick ihrer Frauenherrlichkeit, als erblickte er sie zum erstenmal.

Essahrahs Arme und Füße waren entblößt und schienen keinem Menschenwesen, sondern einem Bildwerk anzugehören, einer jener überschlanken Gestalten, wie sie auf den Mauern und an den Säulen der Tempel des alten Reichs in den Stein geschnitten sind, Königinnen und Göttinnen darstellend.

Der Tolle schlug die Handtrommel; er saß in der kauernden Stellung aller Orientalen an der Wand, auch jetzt nur mit dem blauen Schurz bekleidet. Sein die Sinne einschläferndes Spiel und der betäubende Duft all der brennenden Wohlgerüche mußten Ursache sein, daß seiner Schwester Gesicht dieses verzückte Lächeln, ihre Augen solchen visionären Blick hatten.

Und der Liebende sah –

Die vier Bewohner der weißen Stadt waren nicht allein: sie hatten Gäste zur Nacht. Es waren Beduinen aus dem Stamme der Ababdeh, die die Wüste zwischen dem Roten Meere und dem Nil bewohnen. Drei dieser Nomaden mußten aus ihren fernen Zelten gekommen sein, stolze Erscheinungen, die in ihren Burnus wie in einen Fürstenmantel sich hüllten. Sie lagerten auf den Teppichen, neben sich den Tschibuk und betrachteten das schöne Weib mit jenem Blick, davon der Verliebte träumte und der ihn mitten aus dem Traum mit einem Schrei auffahren ließ.

Für diese Männer hatte die Verhüllte sich entschleiert; für diese Männer hatte sie das Festgewand angelegt; für diese Männer ließ sie sich schmücken.

Und für diese Männer tanzte sie jetzt.

Das geheimnisvolle wundersame Frauenwesen, welches in der weißen Stadt des Todes mit einem Wahnsinnigen ein Grab bewohnte, war eine Bajadere der Wüste.

8

Beauchamp trat zurück. Niemand hatte sein leises Kommen in dem dunkeln Gang bemerkt, niemand bemerkte jetzt sein Entweichen. Er erreichte den Ausgang, schwang sich auf sein Pferd, ritt davon, langsam, ganz langsam, als sei er plötzlich kraftlos, seine Seele gelähmt worden.

Es mußte alles ein Traum sein! Diese gespenstische Gräberstadt mit ihren vielen aufgerissenen und ausgeplünderten Grüften, ihren weißen Eulen und Schwärmen von Fledermäusen, ihren nach Beute suchenden Schakalen. Ein Traum diese ganze schaurige Wüstenwelt mit den Bildnissen und Inschriften von Pharaonen, eingegraben auf purpurfarbenen Granitfelsen mit den von der Sandflut überschwemmten Obelisken, die noch zum Teil in dem stahlharten Gestein steckten, dem sie einst entrissen werden sollten. Ein Traum jenes Weib, welches vor den Beduinen tanzte wie Salome vor dem König, als sie für ihren Tanz das Haupt des Täufers fordern wollte: ebenso sündhaft herrlich, so satanisch berückend, so ganz unwiderstehlich.

»Unwiderstehlich« – – Nun, er hatte widerstanden! Er hatte geschaut, was ungestraft kein Mann erblicken konnte; hatte durch den matten Schimmer der rosenfarbenen Seide ihren Leib leuchten sehen, daß vor seinem inneren Blick alle Hüllen sanken und sie vor ihm stand nur von dem Glanz ihres Ambrageschmeides umwoben. Aber widerstanden hatte er doch!

Denn er hätte in das mit Teppichen behangene, von Kohlenglut erleuchtete, von Arabiens Wohlgerüchen durchströmte Gemach treten können wie einer von jenen, die durch die Wüste gekommen waren, um Essahrah geschmückt zu sehen; hätte sie für sich von Ambra umwinden, für sich tanzen lassen können – was sie hätte tun müssen, da es nun einmal ihr Beruf war.

Am Tage reichte sie vor dem Gräberhause ermatteten Wüstenwanderern die gefüllten Becher, verhüllten Gesichts übte sie den Dienst der Barmherzigkeit. Brach die Nacht herein, so warf sie Schleier und Gewand von sich; salbte sich mit Düften; entfesselte ihr Haar, entfesselte ihre Leidenschaften; und es wandelte sich die angehende »Heilige« zur –

Was wohl geschehen wäre, wenn er sich nicht davon geschlichen hätte? Wenn er eingetreten wäre, seinen Ring mit der großen Perle vom Finger gezogen, den Reif hingeworfen, ihr zu Füßen, und sie angeherrscht hätte: »Tanze für mich! Ich bezahle dich dafür!«

Aber – er hatte der Versuchung widerstanden ...

Erst jetzt bemerkte Beauchamp, daß sich das Wetter plötzlich vollkommen geändert hatte, verwandelt, wie die Essahrah des Tages in die Essahrah der Nacht. Südwestwind hatte sich erhoben: Chamasin.

Der noch vor kurzem strahlende Himmel war verschwunden, war gleichsam erloschen, und von dichtem Dunst bedeckt. Es war jedoch kein Gewölk, sondern Sand, Staub – Atem der Wüste, den der Wind aufwirbelte, emporjagte, bis zum Himmel steigen ließ. Wäre heller Tag gewesen, so würde dieser verdunkelt worden sein. Denn der Wüstensturm brachte die Sonne der Wüste um ihren flammenden Glanz; und ward der Chamasin zum Samum, zu dem großen Grausen der Wüste, so zitterte jedes Geschöpf wie vor Todesnähe.

Der aufgewühlte Sand peitschte des Reiters Gesicht gleich glühendem Hagel. Er atmete den erstickenden Staub, atmete Gluten. Richtung und Weg nicht mehr erkennend, ritt er mit geschlossenen Augen vorwärts und vorwärts, unwissend wohin und sich ganz seinem edlen Tier überlassend. Vielleicht fand sich auch dieses nicht zurecht? Dann würde er durch den Wüstenwind vorwärts und vorwärts reiten, bis das Roß mit dem Reiter sank; bis Roß und Reiter verschmachteten, und die rote Sandflut über ihnen zusammenschlug. Das war dann das Ende ...

Andern Tags, gegen Abend, stießen die ausgezogenen, ihren Leutnant suchenden Soldaten auf den Schimmelhengst Abdallah.

Mit schwindenden Kräften näherte sich das Pferd dem Fort.

Es war reiterlos.

9

Selbst Abdallah, das edle Wüstenroß, hatte bei dem wilden Wetter Richtung und Weg so vollkommen verloren, daß es beständig im Kreise gegangen und schließlich zu der weißen Stadt zurückgekehrt war. Hier geschah das Unglück: der Reiter war aus dem Sattel geglitten und bewußtlos liegen geblieben, und hier entdeckte den Ohnmächtigen der alte Ali, ganz nahe bei dem Hause der Herrin.

Diese war nun wieder wie einstmals das Weib aus Samaria gewesen. In ihrem blauen feierlichen Gewand waltete sie um den Fiebernden, den Schwerkranken. Lautlos schritt sie über die feinen Matten des Bodens zu dem Lager, das sie selbst aus aufgehäuften Teppichen bereitet und mit weißem weichem Linnen bedeckt hatte; lautlos verrichtete sie alle Dienste einer treuen Pflegerin; lautlos weilte sie halbe Tage, halbe Nächte lang an dem Bette. Da der Kranke sie nicht sah, selbst wenn er mit offenen Augen dalag, blieb ihr Gesicht unverhüllt. In diesem unsäglich schönen Gesicht regte sich keine Miene, so daß es mehr als je dem Antlitz einer wandelnden Bronzestatue glich. Regungslos blieben die Züge auch dann, wenn ihr Pflegling in seinen Phantasieen ihren Namen rief, immer wieder und wieder und wieder. Bald ward ihr Name gerufen in heißem Haß, bald in glühender Liebe, in verzehrender Sehnsucht und in wütendem Schmerz: »Essahrah! Essahrah! Essahrah!«

In seinen Phantasieen nannte er sie die Wüste, das Schönste und zugleich Schrecklichste der Erde; die Wüste mit dem Antlitz der Meduse, welches entgeisterte; die Wüste, welche die Mörderin der Menschheit war. Denn kein Leben konnte sein, wo die Wüste – wo Essahrah war.

Die lautlos Lauschende verstand nicht die Worte; aber es schien, als erriete sie deren Sinn. Niemand hätte sagen können, welchen Eindruck dieses Erraten auf das Gemüt der Rätselvollen machte. Sie scheuchte jeden der drei Mitbewohner des Scheichmausoleums aus der Kammer, vor deren geschlossener Türe sie leidenschaftliche Auftritte mit dem Verrückten hatte. Dieser forderte in seinem religiösen Wahn etwas Furchtbares: das Leben des Ungläubigen, das Allah in seiner Schwester Hand gelegt, und überhäufte sie mit Schmähungen, die zu Verwünschungen wurden, weil Essahrah sich weigerte, dem Gebot des Fanatikers Folge zu leisten und dem Gott des Propheten das Menschenopfer darzubringen.

Nur um so sorgsamer bereitete sie aus getrockneten Heilkräutern die Tränke, geheimnisvolle Mittel der Wüstenbewohner. Sie stammten aus uralten Zeiten, und waren zugleich das einzige, was der Kranke zu genießen vermochte. Aber selbst, wenn sie sein Haupt sanft aufrichtete und ihm den wundertätigen Saft einflößte, erkannte er sie nicht. So blieb sein Zustand geraume Zeit.

Während all der Wochen wurden die Beduinenscheichs, die bei Anbruch der Nacht auf ihren Kamelen von weit her aus den Zeltlagern kamen, um der Göttin der Wüste kostbare Ambraketten zu opfern, vor dem Hause abgewiesen. Nicht ein einziges Mal trat Essahrah zu ihnen heraus. Wenn sie nach dem Wüstenritt erquickt werden wollten, reichte ihnen die alte Dienerin den Trunk. Unwillig wandten sie ihre Kamele. Häufig lief ihnen der Wahnsinnige nach, und versuchte, sie mit tollen Gebärden zurückzurufen, wobei er wilde Drohungen gegen seine Schwester und deren Pflegling ausstieß.

Dieser war ein Verleugner Allahs, des alleinigen Gottes; war ein Verleugner des göttlichen Propheten, ein Ungläubiger und Christ, also ein Feind seines allerheiligsten Glaubens ...

Es kam die Zeit, wo die Wirklichkeit dem Erkrankten wie die Bilder eines wirren Traums, wie Visionen deuchte. Er hatte in seinem Traum die Erscheinung Essahrahs, jenes fürchterlichen Weibes, das die Verkörperung der Wüste war, und das er zuletzt in seiner ganzen satanischen Herrlichkeit geschaut hatte, in der Farbe der Rosen von Schiras gekleidet, von Ambraglanz umwunden; mit gelöstem durchleuchtetem Haar, bloßen Füßen und Armen. Ihr Leib strahlte durch den Rosenschimmer, als sei er von Morgenröte umhüllt. So hourihaft sah er sie nun mit seinem inneren Blick; und so, als Verführerin, Versucherin, Verderberin rief er in seinen Fieberphantasieen sie an: sie sei der Geist der Wüste und wolle seine Seele! Seine nach Liebe und allen Wonnen des Lebens lechzende Seele ...

In jenen Erscheinungen, die in seinem aufdämmernden Bewußtsein allmählich vor seine noch dumpfen Sinne traten, erblickte er das dämonische Frauenwesen wieder. – Aber war sie es denn? War diese in feierliches Blau gekleidete priesterliche Gestalt jene zum Tanz, zur Orgie geschmückte Bacchantin, der er seine Perle hatte vor die Füße werfen wollen, wie man einer Hetäre den Lohn hinwirft: »Tanze für mich!«

Er sah sie an sein Lager treten und ihm Trank und Speise reichen, mit einer solchen Gebärde demütigen Dienens, als sei sie seine Leibeigene: zugleich in so feierlicher Weise, als verrichte sie eine heilige Handlung. Er sah sie vor seinem Bett auf der Matte kauern stundenlang, regungslos wie ein Steinbild. Unverwandt schaute sie auf ihn, mit einem Ausdruck in ihrem jetzt stets unverhüllten Gesicht, einem Blick, wie jene Essahrah, die er zu den hypnotisierenden Klängen der Handtrommel in Ekstase sich beugen und neigen sah, gar nicht haben konnte. Er sah sie Nacht für Nacht Wache halten, unermüdlich, als gäbe es für sie keine Ermattung; sah sie lautlos um ihn beschäftigt, in Wahrheit eine Samariterin, eine jener mildtätigen heiligen Frauen, die sie nach dem Märchen der alten Dienerin sein sollte: sie, die doch eine Priesterin der Liebesgöttin war.

Allmählich begriff Beauchamp Browne seine Lage, was mit ihm geschehen war, wo er sich befand, wem er seine Rettung, also die Erhaltung seines Lebens zu danken hatte: Dieser – dieser!

Sein erster klarer Wunsch war, das unheimliche Haus zu verlassen, der weißen Stadt und seiner Pflegerin zu entfliehen. Sein erstes in arabischer Sprache gelalltes Wort lautete: »Fort!«

Dabei richtete er sich auf und machte eine Bewegung, als wollte er sich von seinem Lager erheben; als wollte er hinaus und davoneilen. Im nächsten Augenblick sank er bewußtlos zurück ...

Als er dann von neuem sein Leben empfand und die Dinge erkannte, war sie nicht mehr bei ihm. Statt der Herrin betreute ihn die Dienerin. Diese blieb fortan seine Pflegerin: Essahrah sah er nicht wieder.

Nun blickte er beständig nach der geschlossenen Tür in der Erwartung, diese werde sich öffnen und die hohe Frauengestalt zu ihm eintreten. Wie er jedoch harrte, sie kam nicht. Da ergriff ihn unendliche Sehnsucht nach ihrem Anblick, nur nach ihrem Anblick.

Sie sollte mit ihrem langsamen lautlosen Schritt durch das Gemach gehen; sollte in der Haltung einer Souveränin an seinem Lager vorüberschreiten, ohne ihn eines Blickes zu würdigen; sollte schweigend sich wieder entfernen. Nur, daß er sie wiedersah!

Aber sie kam nicht ...

Von der Uralten erfuhr er, wann und wo er aufgefunden, daß er auf den Tod gelegen, daß sogleich Nachricht nach dem Fort geschickt worden war, daß er dorthin zurückgebracht werden sollte, sobald ein Transport ohne neue Lebensgefahr möglich sei.

Kein Wort von Essahrah. Aus dem welken Mund kam nicht ein einziges Mal der Wohllaut ihres Namens, so gespannt er darauf lauschte.

Als er es nicht länger ertrug, nannte er selbst ihren Namen. Er tat es stockend und zaudernd; aber er tat es.

»Deine Herrin hat mich gepflegt. Ihr danke ich, daß ich lebe, ihr, Essahrah ... Was sagst du?«

»Herr, nichts.«

»Weshalb kommt sie nicht? Wo bleibt sie, da sie doch sonst immer bei mir war.«

»Herr, wer?«

»Essahrah! Essahrah! Essahrah!«

Es war, als könnte er sich in dem Ausrufen des geliebten Namens kein Genüge tun. Da die Dienerin auch jetzt stumm blieb, rief er sie an: »Warum redest du nicht? Rede! Ich fragte dich nach deiner Herrin Essahrah.«

Ihm ward erwidert: »Herr, du weißt, daß sie einen kranken Bruder hat. Allah suchte den jungen Jussuf heim, erfüllte ihn mit seinem Geiste.«

»Wahnsinn nennst du Gottes Geist?«

»Herr, ja. Wir ehren ihn hoch. Er wird einstmals ein heiliger Mann sein. Gegenwärtig wird er von neuem schwer heimgesucht: er rast in frommem Wahn. Seine Schwester ist bei ihm und versucht, seinen bei Gott weilenden Geist auf die Erde zurückzuführen.«

»Gelingt es ihr?«

»Allah hält Jussufs Geist in seinen göttlichen Händen. Wir müssen warten, bis er zu uns zurückkehrt. Seine Schwester wartet darauf Tag und Nacht.«

»Sage ihr ... Melde deiner Herrin ... Bitte Essahrah –«

»Herr, was?«

»Nichts.«

Und sie kam nicht.

10

In dem Grabhause längst verstorbener Scheichs, dessen Hüter bereits die Eltern der beiden einander so unähnlichen Geschwister gewesen waren, ging etwas vor; etwas Geheimnisvolles, Dunkles.

Was mochte es sein?

Es war ein beständiges Hin und Her, ein leises Schleichen und Huschen. Gerade das Lautlose machte den Zustand unheimlich. Jeden Sinn in einer Weise geschärft, wie es nur die verfeinerten Organe eines eben vom Tode Auferstandenen sein konnten, horchte der Rekonvaleszent darauf. Das seltsame Treiben im Hause mehr ahnend, als wissend.

Außergewöhnlich war auch folgendes: Eines Tages zeigte die alte Magd solch befremdliches Wesen, daß es dem immer noch sehr geschwächten Patienten auffiel und er seine Wärterin fragte: »Was ist dir?«

»Herr, wie?«

»Ich will von dir erfahren, was in diesem verdammten Hause vorgeht. Denn etwas geht darin vor! Du kannst mich nicht belügen. Also sage die Wahrheit.«

»Herr, ich verstehe dich nicht.«

»Du verstehst mich sehr wohl.«

»Herr, du irrst.«

»In meinem Rock wirst du drei Goldstücke finden. Nimm sie und sage es mir.«

Die Augen des Weibes funkelten vor Gier. Dennoch behauptete es: »Ich verstehe dich nicht, ich weiß von nichts.«

»Nimm das Gold.«

Das Weib blieb unbeweglich.

»Nimm das Gold!«

Anfänglich wollte das Weib das Gold auch jetzt nicht nehmen. Doch die Gier nach dem Golde erwies sich schließlich als stärker. Es zauderte, kämpfte, erlag der Versuchung; nahm das Gold; verbarg es mit zitternden Händen am Leibe.

»Jetzt sprich!«

»Herr, frage mich. Was willst du von mir armem unwissendem Weibe erfahren?«

»Weshalb tanzt deine Herrin vor den Beduinen?«

»Das weißt du?«

»Das weiß ich ... Rede also!«

»Herr, ihr Bruder befiehlt es.«

»Aus welcher Ursache?«

»Essahrah soll ...«

»Nenne nicht ihren Namen! Sprich von ihr, ohne ihren Namen zu nennen!«

»Ihr Bruder will, sie soll schon hier eine der seligen Houri sein.«

»Eine der seligen ...«

Er verstummte. Nach einer Weile fragte er weiter: »Sie gehorcht ihrem Bruder auch darin?«

»Herr, ihr Bruder wird von Allah heimgesucht. Allah lebt in ihrem Bruder. Er redet durch seinen Mund zu meiner Herrin, und Allah befiehlt ihr, bereits auf Erden eine selige Houri zu sein.«

»Und sie muß Allahs Gebot folgen?«

»Herr, sie muß.«

»Gut. Ich danke dir. Ich verstehe. Das heißt: ich verstehe nichts – nichts ... Sage mir weiter –«

»Herr, befiehl über mich.«

»Was geht vor in dem Hause?«

»Ich weiß nicht.«

»Du weißt es. Denke an die drei Goldstücke. Du nahmst sie. Mit den drei Goldstücken kannst du dich von deiner Herrin freikaufen. Denn du bist doch wohl Sklavin?«

»Die Eltern kauften mich. Aber –«

»Nun?«

»Ich will nicht frei sein. Wir wollen alle nicht frei sein. Nicht ein einziger. Die Engländer wollen uns freimachen: aber wir wollen nicht.«

»Das ist eure Sache. Jetzt sprich!«

»Was im Hause vorgeht?«

»Ich will es wissen.«

»Wir sollen fort.«

»Fort?«

»Ich und der alte Ali und – – Und Essahrah.«

»Auch sie?«

»Gerade sie.«

»Wer soll bleiben und die Gräber bewachen?«

»Herr, Jussuf bleibt, und es bleibt –«

»Und wer sonst noch?«

»Und du bleibst.«

»Ich allein mit dem Wahnsinnigen! Wurdest du selbst toll?!«

»Jussuf will es so. Allah will es so. Jussuf ist nur sein Mund – gelobt sei er!«

Und sie verneigte sich nach Medina und Mekka – nach Osten und Westen.

Es dauerte eine Weile, bis der Offizier weiter fragte: »Wann wollt ihr fort?«

»Heute noch.«

»Wohin sollt ihr?«

»Ich weiß nicht. Irgendwohin. Es ist gleichgültig.«

»Deine Herrin will nicht fort?«

»Herr, nein.«

»Weshalb will sie nicht fort?«

»Du weißt es, Herr.«

»Sie will mich nicht allein lassen mit dem Verrückten?«

»Nicht allein.«

»Meinetwillen will sie bleiben?«

»Du weißt es, Herr.«

» Meinetwillen ...«

Er fragte nicht weiter.

 

Nun lag er nachts auf seinem Schmerzenslager, welches ohne Essahrah sein Totenbett geworden wäre. Er lag mit geschlossenen Augen; konnte keinen Schlaf finden; dachte beständig das eine; vermochte nichts andres zu denken, als: »Meinetwillen ... Meinetwillen.«

Mit seinen geschärften Sinnen glaubte er in der Stille der Nacht zu hören, wie im Hause zusammengepackt, wie es leise und heimlich verlassen ward.

»Ob auch Essahrah ging?«

Und was geschah, wenn auch Essahrah gegangen war, wenn er mit dem Wahnsinnigen wirklich allein blieb? Er versuchte, sich zu erheben; fühlte seine Schwäche, seine Hilflosigkeit; sank mit einem erstickten Stöhnen zurück: »Bleiben mußte er!«

In halber Bewußtlosigkeit gewahrte er bei dem gedämpften Lichtschein, wie die Tür geöffnet ward. Auf der Schwelle stand Essahrah. Er wollte sich aufrichten, wollte ihren Namen rufen; wollte seine Arme nach ihr ausstrecken. Aber neben ihr stand ihr Bruder. Ihm war, als deutete sie auf ihn, mit einem Blick, einer Gebärde, als wollte sie dem Verrückten sagen: »Ich ziehe meine Hand von ihm und überlasse ihn dir. Er sei dein.«

Das mußte jedoch eine Fieberphantasie sein; denn er fühlte plötzlich, daß er noch immer nicht fieberfrei war. Als er wieder hinschaute, war die Tür geschlossen.

11

Beauchamp wußte nicht gleich, ob er eingeschlafen sei und träume.

Es war immer noch tiefe Nacht und Essahrah war bei ihm. Sie stand an seinem Lager, hielt eine Öllampe hoch empor und leuchtete ihm ins Gesicht.

Der Schein weckte ihn. Also war es kein Traum.

Sie trug auch jetzt ihr Gesicht unverhüllt, und dieses wunderschöne Gesicht hatte einen Ausdruck, wie Beauchamp darauf niemals gesehen; wie er solchen nicht für möglich gehalten hatte: so weich, so hingegeben, so voll zärtlicher, leidenschaftlicher Liebe.

Beauchamp regte sich nicht. Er sah in das bestrahlte, unsäglich schöne Antlitz und sprach nach einer langen Weile leise, als könnte ein lauter Ton das holde Bildnis zerfließen machen: »Du kommst zu mir? ... In der Nacht? ... Ich liebe dich ... Essahrah, Essahrah, ich liebe dich!«

Sie schwieg und schaute ihn an mit jenem wundersamen Ausdruck unendlicher Zärtlichkeit. Da sprach er weiter.

»Weshalb tatest du mir das an? ... Essahrah, ach Essahrah, weshalb tatest du dir selbst das an? Wie kann ein Götterbild sich selbst vom Altar stürzen?«

Sie blieb auch jetzt stumm. Und wiederum sprach er weiter zu der Schweigenden, der Regungslosen: »Ich liebe dich und litt um dich. Wüßtest du, wie ich dich liebe und wie ich um dich litt! Je gewaltiger meine Liebe war, um so mächtiger mein Leid. Wußtest du das nicht?«

Da sprach sie: »Ich wußte es, wußte alles; wußte alles von Anfang an.«

Er stöhnte: »Und doch konntest du vor jenen Männern tanzen? Essahrah, o Essahrah.«

»Still. Sei still.«

»Aus übermächtiger Liebe und übermächtigem Leid wurde ich krank. Aus übermächtiger Liebe und aus übermächtigem Leid wollte ich sterben. Aber du ließest mich nicht.«

»Nein.«

Es kam von ihren Lippen wie ein Hauch.

Da fragte er sie: »Warum ließest du mich nicht sterben? Essahrah, ach Essahrah, warum?«

Darauf gab sie keine Antwort. Sie sah ihn nur an. Ihr Blick sprach zu ihm; und er verstand die stumme Sprache.

»Du ließest mich nicht sterben; rettetest mich vor dem Tod, weil du mich liebst. Du liebst mich unsäglich. Du liebst mich, wie mich niemals ein Weib geliebt hat; liebst mich über jeden Ausdruck. Du liebst mich, daß du für mich sterben könntest und selig wärst ... Was sagst du?«

»Ich liebe dich, daß ich für dich sterben könnte und selig wäre.«

»Essahrah! Essahrah! Küsse mich! ... Wie? Du willst mich nicht küssen?«

Sie schwieg, sah ihn nur an. Er rief: »Nicht einmal küssen willst du mich?«

Sie schüttelte das Haupt mit solch feierlich abwehrender Gebärde, daß er kein zweites Mal sie bat.

 

Sie ging; kam sogleich wieder zurück; brachte ihm einen Trunk; reichte ihm den Becher.

Er trank, rief aus: »Was war das? Gift? Bringt mir deine Liebe den Tod?«

»Das Leben.«

»Es flammt in mir, als hättest du mir Feuer zu trinken gegeben.«

»Der Trunk wird dich wundersam stärken.«

»Geliebte Zauberin!«

»Still. O sei still!«

Wieder klang es wie ein erstickter Wehruf. Alsdann die Frage: »Wie fühlst du dich?«

»Wie du sagtest: wundersam gestärkt. Wie plötzlich gesund.«

Sie erklärte ihm: »Die Wirkung währt nur kurze Zeit, kaum einige Stunden. Danach fällst du wieder in deine Schwäche zurück. Doch es wird die Schwäche der Genesung sein.«

Und sie lächelte ihn an. Fast lieblich stand sie vor ihm, daß er sie anstaunte, als sehe er sie zum erstenmal. Er stammelte: »Du bist das Schönste auf Erden, wie du für mich das Liebste bist ... Ich möchte dir etwas sagen.«

»Sage mir's.«

»Du darfst dabei lächeln. Dein Lächeln kleidet dich wundersam, als trügst du einen Rosenkranz.«

»Also sage mir's.«

»Ich habe niemals ein Weib geliebt, bevor ich dich sah; ich werde niemals ein Weib lieben außer dir.«

Sie sprach ihm nach: »Außer mir ... Du wirst leben, leben.«

Wie seltsam sie das sagte. Wie einen Hymnus.

Nun forschte er.

»Und du?«

»O ich –«

Er rief: »Ich sorge mich um dich; ich leide um dich; ich liebe dich!«

»Lieber!«

»Wirst du bei deinem Bruder bleiben?«

»Nein.«

»Du gehst von ihm? Fort von dem Verrückten; fort von den Toten; fort von dieser schrecklichen Stätte?«

»Ja.«

»Wann? ... Essahrah, wann?«

»Sehr bald.«

»Wohin gehst du? Doch dahin, wo ich dir folgen kann?«

»Einmal gewiß.«

»Sage mir nur noch das eine, das letzte.«

»Frage mich.«

»Wirst du wieder vor Männern tanzen?«

»Nein, nein, nein.«

Sie sagte es dreimal.

»Nie wieder?«

»Ich gelobe dir's bei deinem und meinem Gott, die nun ein Gott sind ... Wie fühlst du dich jetzt?«

»Wie ich dir sagte: gesund.«

»So höre.«

»Wenn nur du zu mir sprichst; wenn ich nur deine Stimme hören kann! ... Wie ist es nur möglich?«

»Was?«

»Daß ein Mann so lieben kann? Ein Mann wie ich! Eine Zauberin bist du eben doch ... Und du willst mich wirklich nicht küssen? Nicht ein einziges Mal?«

Wieder schüttelte sie feierlich ihr Haupt; versagte sie sich ihm. Dann berichtete sie: »Mein Bruder und die beiden andern schlafen. Nichts wird sie fürs erste wecken. Frage nicht. Du mußt sogleich aufstehen und dich ankleiden. Deine Sachen liegen bereit. Vor dem Hause findest du ein Kamel. Du mußt diesen Ort verlassen, ohne umzusehen, ohne zurückzublicken. Es ist eine helle Nacht und du wirst deinen Weg finden.«

»Ich soll dich verlassen?«

»Wir nehmen nicht Abschied.«

Aber zum zweitenmal rief er: »Verlassen soll ich dich?«

»Wir werden uns wiedersehen.«

»Wann, wo?«

»Dein und mein Gott wissen es.«

»Wann und wo? Nicht eher scheide ich von dir, bis ich es weiß; und sollte dein toller Bruder mich töten. Denn jetzt weiß ich, weshalb ich fliehen muß.«

»Frage nicht.«

»Sage mir, wann wir uns wiedersehen werden?«

Die Zeit drängte. Deshalb sagte sie es ihm.

»Ich werde zu dir kommen.«

12

Aber sie kam nicht ...

Von seinen Getreuen war er als ein Wiedergefundener, ein vom Tode Auferstandener mit Jubel begrüßt worden, als das Kamel ihn glücklich mit dem sanft wiegenden Gange dieser lebendigen Schiffe der Wüste zurückgebracht hatte. (Ein Knabe aus dem Stamme der Bescharinbeduinen holte das Tier Tags darauf ab.) Die Soldaten berichteten: Nachdem sie ihren geliebten Leutnant bereits für verloren gaben, sei plötzlich – gleichfalls durch einen jungen Beduinen – die Nachricht gekommen, der Leutnant lebe, sei jedoch schwer krank, werde bestens gepflegt und sicher gerettet werden. Sie wollten wissen, wie und wo? Doch erfuhren sie nichts weiter. Nun hofften sie, warteten sie. Ein Unteroffizier übernahm einstweilen das Kommando. Und jetzt war der Leutnant zurück!

Wie seine Pflegerin, die seine Retterin gewesen, vorausgesagt, dauerte die Wirkung jenes Trunks nur kurze Zeit. Tödliche Schwäche befiel den Wiedergekehrten. Er achtete ihrer nicht; dachte nur an das eine: daß Essahrah ihn liebte! Fühlte nur das eine: daß sie durch ihre Liebe eine Entsühnte sei. Wußte nur, daß er lebte und auf sie wartete ...

Denn sie hatte beim Scheiden zu ihm gesagt: » Ich werde zu dir kommen

Er versuchte, den Klang ihrer Stimme sich vorzustellen, mit dem sie die glückverheißenden Worte gesprochen hatte; es war solch weicher, solch zärtlicher Klang gewesen! Und er versuchte, zu dem Klang ihrer Stimme ihr Gesicht zu malen, das er jetzt so gut kannte und das beim Abschied einen Ausdruck hatte – Noch auf seinem Sterbebette würde er ihres Lächelns, ihres Scheideblicks gedenken, und würde alsdann selbst mit einem seligen Lächeln hinüberdämmern in ein Nichtsein, das ewig sein sollte.

Trotz dieser Stimme, dieses Lächelns, dieses Blicks hatte sie ihn auch beim letzten Abschied nicht geküßt.

Aber sie wollte ja kommen; und dann – Er wußte nicht, was dann geschehen würde. Etwas Unaussprechliches, Unirdisches, dafür die Sprache keine Worte hatte.

Aber – sie kam nicht ...

Wie er auf sie wartete! Als er von seiner Krankheit noch so geschwächt war, daß er nur mit Anstrengung aufstehen und ohne Unterstützung keinen Schritt tun konnte, schaute er schon nach ihr aus. Er hätte für ihre Ankunft, für dieses große Fest seines Lebens gern Vorbereitungen getroffen. Nicht einmal mit einer Blume konnte er sie willkommen heißen; und er hätte doch zu ihren Füßen einen Frühling ausbreiten mögen. Es würde sein, als käme eine Königin zu einem Bettler.

Eine Königin. – Sie war eine Königin der Schönheit, eine Majestät der Wüste. Und sie war –

Gewesen war sie es. Auch der Gottessohn, welcher der Ehebrecherin vergab, hätte ihr nach ihrer großen heiligen Sühne, die ihre große heilige Liebe war, verziehen. Dennoch; ach, und dennoch –

Selbst ihren Kuß hatte sie ihm versagt. Also fühlte sie –

Nicht anrühren würde er sie. Sie würde sich von ihm auch nicht anrühren lassen. Nur sie wiedersehen; den Klang ihrer Stimme wieder hören; ihr wieder in die Augen schauen. Nichts anderes wollte er als hören und schauen. Hörend und schauend würde er glücklich sein, erfüllt von jener Empfindung, die den Menschen über die Erde erhebt; die ihn läutert, ihm eine Weihe gibt: die Weihe einer entsagenden Liebe, die aller Liebe höchste ist.

Als ein Tag um den andern verging und sie nicht kam, bemächtigte sich seiner eine Unruhe, die Angst ward. Er ließ seinen Sessel hinaustragen an einen Platz, von wo aus er die Umgegend überblicken konnte: Wüste, nichts als Wüste, unendliche, fürchterliche! Fürchterlich in all ihrer Herrlichkeit. Sie war in beidem ohnegleichen auf Erden; und nur Essahrah, nur das Weib, welches ihren Namen führte, konnte damit verglichen werden.

Bereits im Morgengrauen begab er sich auf seinen Warteposten, den er erst bei anbrechender Dunkelheit wieder verließ, von Tag zu Tag sehnsuchtsvoller, angstvoller – verzweifelter.

Ihr Bruder, der ihn haßte, der sein Verderben, seinen Tod gewollt hatte, würde sie nicht fortlassen. Bewachen würde sie der Tolle. Sie gab ihm ein Versprechen, das sie nicht halten konnte.

Sie ein Versprechen nicht halten können? Sie, Essahrah! Durch alle Schrecken der Wildnis würde sie den Weg zu ihm finden. Kein Wahnsinn würde sie abhalten. Ihre Liebe besiegte ganz anderes als das. Stärker als der Tod war ihre Liebe. Denn sie liebte ihn – liebte ihn – liebte ihn!

Er hätte es hinausjubeln mögen durch die Wüste, ihr entgegen auf dem Wege, den sie kommen mußte.

Jede Stunde konnte sie eintreffen.

Aber – sie kam nicht.

 

Daß sie ihm nicht einmal einen Boten schickte – da sie Gründe haben mußte, ihr Kommen aufzuschieben: nur es aufzuschieben! Trotz aller Furcht vor dem Wahnwitzigen war der alte Ali seiner Herrin sklavisch ergeben. Also hätte wenigstens dieser kommen und Beauchamp das Zaudern der Geliebten erklären können. Es kam jedoch auch kein Bote von ihr.

Sobald er im Sattel sich aufrecht halten konnte, ließ er sich auf das Pferd helfen, auf seinen Abdallah, ein völlig Verwandelter. Seine ganze wolkenlose Heiterkeit, die wie ewige Jugend war, hatte er verloren. Ein bleicher, tiefernster Mann, saß er mit mühsamer Haltung zu Pferde und trabte langsam davon. Seine Soldaten schauten ihm nach; steckten die Köpfe zusammen; flüsterten über ihn: »Der Wüstenspuk hat ihn behext!« Der Unteroffizier folgte ihm heimlich; denn alle hielten ihn noch immer für krank. Auch geistig – da sie von der Seele eines Menschen nicht viel wußten.

Beauchamp ritt in der Richtung, die zu ihr führte: zur weißen Stadt. Die Stadt des Todes war für ihn zur Stätte alles Lebens geworden.

Er ritt so weit, bis er zu der Karawanenstraße gelangte, bis er vor sich am Horizont den geisterhaften Glanz aufleuchten sah. Hier hielt er sein Pferd an und starrte hinüber; starrte auf den Weg, den sie kommen mußte; blieb so lange, bis er fühlte, daß seine Kräfte zu schwinden begannen.

Sie kam nicht, und er kehrte zurück.

Wenige Tage darauf ertrug er's nicht länger. Er ritt weiter, immer weiter: Er mußte sie wiedersehen!

Fragen mußte er sie: »Weshalb kommst du nicht? Du hast es mir ja doch beim Abschied versprochen? Und was du versprichst, das hältst du ... Ich will dich ja nicht mehr bitten, mich zu küssen; will dich nur sehen, nur sehen! Sieh mich doch an! Ich verzehre mich in Sehnsucht nach dir; sterbe an meiner Sehnsucht. Du hast mir ja doch das Leben gerettet. Wozu das, wenn du mich jetzt sterben lässest? Sieh, ich halte vor deinem Hause. Gib mir zu trinken; fülle für mich den Becher; erquicke mich; rette mich. Essahrah!«

So wollte er zu ihr reden ...

Unterwegs dachte er an nichts anderes als an sie. Er dachte nicht, wie alles so wundersam gekommen war; es mußte eben so kommen. Nicht an sein vergangenes Leben dachte er. Nicht an alle die jungen und schönen Frauen, die ihn, den Jungen und Schönen, so willig geküßt hatten. Er hätte es kaum zu begehren brauchen.

Doch was kümmerte ihn seine Vergangenheit? Was kümmerten ihn alle jene – Weiber?

Nur Essahrah! Sie war für ihn Gegenwart und Zukunft, Liebe und Leben, alles Glück des Lebens, welches Seligkeit war, wenn er sie lächeln sah, wie sie gelächelt, als er ihr damals zugeflüstert hatte, daß er sie liebte.

Jetzt befand er sich unterwegs zu ihr, und sein Abdallah mußte beweisen, von welch edler Art er war: mußte seinen Reiter in Windeseile zu ihr tragen.

Das prächtige Tier stürmte dahin.

13

Der Tamariskenwald!

Grau, regungslos, starr, ein Totenhain.

Hätte wenigstens ein Zweiglein sich geregt, ein Vöglein gezwitschert.

Dieser schweigende Wald flößte Grauen ein.

Wiederum nichts als Gräber, Grüfte, Katakomben, Straßen auf, Straßen ab, über Plätze und weite, öde, grabumgebene Strecken.

Die aufgemauerten Behausungen der Toten gewaltsam geöffnet, das Gebein herausgerissen; zerfetzte Leichenhemden und Knochen über den Sand verstreut.

Und diesen Anblick konnte sie noch immer ertragen? Diese Welt war auch jetzt noch ihre Heimat, ihr Zuhause?

Doch nun nicht länger mehr!

Was geschehen sollte, wußte er nicht; er wußte nur, daß etwas geschehen würde.

Und jetzt langte er an.

Verschlossen, verlassen das Haus. Vier kahle fensterlose Mauern mit der Kuppel der Scheichgräber. Nichts andres. Nicht eine Menschenseele. Vor der verschlossenen Türe standen noch bis zur Hälfte in Sand gegraben die großen Wassergefäße. Sie waren leer.

Beauchamp sprang ab; kümmerte sich nicht um sein Pferd; pochte an der verschlossenen Pforte; rief; schrie.

Es war so unsinnig, vor dem toten Hause solchen Lärm anzuheben. Er sah ja doch, daß das Haus von seinen Bewohnern verlassen worden war. Trotzdem pochte er; rief er; schrie er.

Er rief ihren Namen. Immer wieder und wieder ihren Namen, bis ihn vor dem Ton seiner eigenen Stimme ein Grausen anwandelte. In dem Grabesschweigen klang der Ton nicht wie Menschenlaut.

 

Niemals wurde ihm bewußt, wie es geschehen war, daß er mit seiner Waffe die verschlossene Pforte des toten Hauses sprengte. Genug, er tat es; öffnete; drang ein.

Im Hause fand er die Spuren eines eiligen Aufbruchs; es schien in jäher Hast ausgeräumt und wie auf der Flucht verlassen worden zu sein.

Alle Räume standen offen, waren leer. Nur die Kammer, darin er auf den Tod gelegen hatte, war gleich der Haustür verschlossen.

Weshalb nur dieses Gelaß?

Auf dem dunkeln Boden des Ganges schimmerte etwas Weißes. Es war ein Papier, wie in Wut zerknittert und fortgeworfen.

Beauchamp hob das Papier auf und glättete es. Es war mit ungeschickten arabischen Schriftzügen bedeckt, mit dem bläulichen Schwarz, womit die arabischen Frauen die Augenlider zu färben pflegen, mühsam bemalt.

Der Finder versuchte, die rätselvolle Schrift zu entziffern. Nach großer Mühe gelang ihm, folgendes zu lesen:

»Da du den Fremdling in meiner Kammer eines fürchterlichen Todes sterben lässest – ihn lebendig begräbst; und da ich es geschehen lassen muß, so trenne ich mich von dir und deinem grausamen fanatischen Haß, gehe hin, wo keine irdischen Augen mich wiedersehen werden.

Ziehe du mit den beiden Alten davon, die dich nicht verlassen sollen.

Allah, der alleinige Gott, möge dir und mir gnädig sein; denn ich habe Sünde getan.

Gnädig wird er mir sein, meiner Liebe willen, die alle Flecken von mir tilgen wird.«

 

Beauchamp las und verstand nicht; las wieder und verstand nicht.

Er verstand nur eines: sie war fort von dem Fanatiker; hatte sich für immer von dem Wahnsinnigen getrennt; war entwichen an einen Ort, an dem »keine irdischen Augen« sie wiedersehen konnten.

Und zu ihm war sie nicht gekommen? Nicht zu dem Mann, von dem sie sich unsäglich geliebt wußte, den sie liebte, wie nur sie zu lieben vermochte?

Wohin war sie geflohen? Wo konnte er sie suchen?

Denn er mußte sie finden!

Aber an einem Ort, wo keine irdischen Augen –

Es war Wahnsinn, davon er plötzlich befallen ward.

In jener Kammer wollte der Verrückte ihn einschließen, und dann das Haus mit den Seinen verlassen; »lebendig begraben« wollte ihn der Unmensch in dem Grabe.

Sie war mit ihrem Bruder auf der Schwelle gestanden und hatte ihm sein schlummerndes Opfer gezeigt.

Nicht hindern konnte sie ihn; geschehen lassen mußte sie die schreckliche Tat.

Also hatte der Verrückte geglaubt, sein Opfer sei wirklich von ihm eingeschlossen worden?

Dann war er sogleich entflohen, nachdem er den Brief seiner Schwester gelesen und –

In dem Wahnsinn seiner plötzlichen Vorstellung, sprengte Beauchamp die Kammertür, und – da sah er sie wieder.

Auf seinem Lager lag sie. Sie hatte den Teppich über ihr Haupt gezogen. So war sie gestorben.

Die trockene Wüstenluft hatte ihren Körper vor Verwesung geschützt, so daß sie selbst im Tode noch schön war.

Lebendig begraben hatte sie sich für ihn, eine große Sünderin, die sie gewesen war, hoffnungslos in ihrer großen Liebe zu ihm. –

Eine Märtyrerin, eine Heilige war sie geworden: durch ihre große Liebe zu ihm, dessen Leben fortan dem Andenken an diese Tote gehörte, deren Seele Cherubime in den offenen Himmel emporführten.


 << zurück weiter >>