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Voltaire weiß nichts von Selbstgestaltung: er kennt nur Weltgestaltung. Sein widerspruchvolles, physisches Sein ist belanglos. Zäher Jahrhundertklatsch, der sich ethische Wertung zu nennen wagt, zerfällt vor dieser Erkenntnis in nichts. Voltaire gab sein Ich an die Welt. Jedes Erleben formt er zum Welterleben: das große Urerlebnis Religion, den englischen Bildungsrausch, das preußische Abenteuer. Selbst die erotische Freundschaft mit der gelehrten Marquise du Châtelet hat keine andere Folge als die Geburt der Geschichtsphilosophie.
Dieser mystische Mensch geht als Ekstatiker des Verstandes durch sein Jahrhundert. Die Welt hallt von seinen rationalistischen Taten. Er verschreibt dem matten Europa – in den Lettres philosophiques und der Métaphysique de Newton – die aufpeitschende Arznei englischer Naturphilosophie. Er schenkt den Franzosen das Toleranz-Epos: die Henriade; der Welt den Essai sur les mœurs und die Enzyklopädie: Taten stärkster aufklärerischer Energie.
Sein tiefster Zorn gilt der Kirche. Fast ein Jahrhundert sprüht diese ungeheure Vitalität im Kampf gegen religiösen Fanatismus.
Der Sinn dieses heilig-unheiligen Seins: er weiß Gott als innerste Notwendigkeit; er wirft seinen Haß auf alles, was Gott verdunkelt. –
Sein harter Leitsatz: Écrasez l'infâme, ist nichts als das Konzept zu der Inschrift am Tor der Kirche, die er in Ferney erbaut: Deo erexit Voltaire.
Es ist die Verbeugung eines selbstsicheren Helfers vor Gott.
Es ist der Gruß des Kämpfers der Calas, Sirven und de la Barre, jener Opfer kirchlichen Aberglaubens. –
Das Jesuitenkolleg lehrt ihn den Unterschied zwischen Adels- und Bürgersöhnen. Voltaire ist Bürgersohn. Er begreift: Adel und Priester, das ist die Macht. Mit brennendem Willen greift er früh zur erlauchtesten Waffe im Kampf gegen gesellschaftliche Abschließung: zur Dichtkunst.
Kühne Strophen entreißen ihn schnell dem Dunkel. Sie bringen festliches Leben auf Schlössern; Verbannung; Freundschaft der Großen und ihre Launen. Mit vierundzwanzig Jahren sitzt Voltaire in der Bastille. Er dichtet. Eine Tragödie: Ödipus. Ein Epos: die Henriade. Klassizistische Formungen; in der Idee zukunftsträchtig. Der Beginn einer Reihe von Dichtwerken, die strahlenden Jugendruhm, Überlebtheit im Alter, Vergessen bei der Nachwelt bedeuten.
In dieser Zeit stürzt eine Prügelaffäre Voltaires Seele in flammendes Minderwertigkeitsgefühl. Ein Adliger stäupt ihn durch seine Diener. Ein paar Schläge auf den Rücken eines Einzelmenschen. Das ist alles. Aber sie fallen ein halbes Jahrhundert später in unerbittlicher Vergeltung zurück auf ein ganzes Geschlecht.
Die Contes philosophiques sind überwältigende Spiegelungen einer empörten Natur. Zeugen unerhörter Gedankenweite. Hinreißendste Synthese gallischer Kultur.
Man kennt Voltaire, wenn man seine Romane kennt. Religion, Staat, Philosophie, Kunst – jedes Problem, das diese Skepsis erschüttert, wird in knappem, leuchtendem Stil zum Gipfel gespitzt.
Kristallenes Licht fällt auf Voltaires Beziehung zum Menschen. Sie gleicht seiner Beziehung zu Gott. Er scheint zu hassen und kämpft inbrünstig für das Gehaßte. Die Canaille, das ist Voltaires Objekt stärkster Verachtung und verborgener Liebe.
In den Romanen enthüllt sich dieser beißende Feind des theoretischen Optimismus als Tat-Optimist. Candide, Zadig, Freind, der Harmlose sind Typen lautersten Menschentums. Auf dem dunkeln Gang durch die menschliche Abgründigkeit strahlt ihre Reinheit tröstend wie Urlicht. Die Nähe Rousseaus zuckt auf. Zugleich seine tiefste Ferne. Voltaire ist kein Revolutionär. Er liebt die bourbonische Kultur. Ist – in der unsagbaren Grazie seiner Geistigkeit – selbst kostbarste Frucht des Rokoko.
Die Zwiespältigkeit seiner Weltanschauung bricht durch im sarkastischen Schluß des Ingénu: das aufklärerische Lebensziel scheint völlig verschüttet.
Im Zadig verspottet er Wunder und Vorsehung. Er selbst ward dämonische Vorsehung.
Das Mystische seiner Berufung ist es, das von dem Rationalisten Voltaire einzig noch lebt. –