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Up Park ...
Weite, saftiggrüne Wiesenflächen, durchrieselt von silberhellen, murmelnden Bächen. Schattige Baumgruppen, die ihre Blätterkronen flüsternd im Winde bewegten: Kiesbestreute Pfade, die in geschlungenen Windungen von der nahen Küste heraufsteigend sich in den waldigen Hügeln von Sussex verliefen ...
Immer wieder, wenn Emma auf dem hohen Söller des Schlosses stand, weitete ihr das Entzücken über den Rundblick das Herz.
Aus leichten Dunstschleiern hob sich im Westen die bunte Häusermasse von Portsmouth mit ragenden Kirchen und glitzernden Dächern, während sich im Süden jenseits der Wiesen das Meer breitete. Sanft stieg die Küste zu ihm hinab, über wellige, mit graugrünem Seegras bedeckte Dünenhügel, das zarte Gelb ihres Saumes unmerklich in das gekräuselte Weiß der langen Schaumkämme mischend. Dahinter die dunklen Wogen der Enge von Spithead, bedeckt mit den Segeln dahingleitender Schiffe, die blitzende Furchen in den tiefgrünen Grund pflügten. Mit ihren donnernden Kanonenschüssen schienen sie den Strand der Insel Wight zu grüßen, die aus der Flut hervorleuchtete, wie ein kostbares Juwel aus der Krone eines Königs.
Das Meer! Das rätselhafte, wunderreiche, mit geheimnisvollen Stimmen rufende Meer!
Wieder stieg die Sehnsucht ihrer Kinderjahre in ihr auf.
Sie lief zum Strande, tauchte die nackten Füße in die Flut, spielte mit ihr wie mit einem Gut, das ihr gehörte. Dann bettete sie sich in den Sand und starrte in den blauen Himmel hinauf, der dem Auge immer neue, unermeßliche Bahnen zu öffnen schien.
Oder sie beobachtete das Leben der Tiere. Mit lautlosen Flügelschlägen fuhren die Seeschwalben dahin; langsam zog der schwarzweißrote Austernfischer vorüber, mit melodischem Ruf herabgrüßend; unbeweglich stand die Silbermöwe in der klaren Luft, scharf auf die Ruhende spähend, um dann plötzlich in sausendem Sturze zu ihr herabzustoßen. Emma meinte, das Wehen der Fittiche auf der Wange zu spüren.
Trunken von Luft und Sonne kehrte sie dann ins Schloß zurück.
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Sir Harry machte in Up Park ein großes Haus; eine Schar von Gästen füllte das Schloß, den Park, die Wälder mit lautem Leben. Üppige Schmausereien wechselten mit Jagdausflügen, Parforceritte mit Sportspielen und Pferderennen, bei denen Unsummen verwettet wurden. Die Nächte beherrschte das Spiel.
Bald war Emma die Königin des Kreises. Sir Harry selbst lehrte sie reiten und schenkte ihr das edelste Pferd seines Stalles. An der Spitze der jauchzenden Lords flog sie nun hinter der Meute her, die den Fuchs durch Wiesen und Felder jagte. Vor keinem Hindernis schreckte sie zurück, setzte über die höchsten Zäune und die breitesten Gräben; und das alles lachend, mit blitzenden Augen und frischgerötetem Gesicht, auf dem auch das waghalsigste Unternehmen kein Bangen, kein Zögern hervorzurufen vermochte.
In den Nächten leitete sie die Trinkgelage, ohne jemals Zeichen der Ermüdung zu geben. An den Spieltischen verlor sie das Geld, das Sir Harry ihr verschwenderisch zusteckte, mit der Ruhe eines Lord Baltimore, und beteiligte sich an den Gesprächen der Männer über Jagd und Sport, als sei sie im Sattel aufgewachsen und auf den Spielplätzen der vornehmen Jugend groß geworden.
Und unerschöpflich war sie in der Erfindung neuer Belustigungen. Die französischen Hirten- und Schäferspiele, von denen ihr Sir Harry erzählt hatte, ahmte sie nach und bevölkerte die Bosketts und Gänge des großen Parks mit verliebten Paaren, die zu den Sternen seufzten und den Mond ansangen. An der Spitze eines lärmenden Zuges brach sie dann aus dem Walde hervor, inmitten einer kläffenden Hundemeute, gefolgt von Satyrn und Faunen, die Fackeln in den Händen schwangen und die Sommernacht mit kicherndem Geschrei und ausgelassenen Tänzen erfüllten. Reynolds und Romney, von Sir Harry nach Up Park geladen, sahen sie hier in der roten Glut der Fackeln und wetteiferten, den jungen Liebreiz der »Bacchantin« zu malen, die ihnen als das Symbol unverwüstlicher Lebensfreude erschien.
Der Ruf dieser Feste verbreitete sich über ganz Sussex und Hampshire. Anfangs kamen nur die jungen Kavaliere, Freunde und Schulgenossen Sir Harrys, während ihre Damen sich ängstlich von jeder Berührung mit der »Hebe Vestina des Göttlichen Bettes« fernhielten. Aber auch ihr Widerstand gegen die Lockung des Vergnügens schwand allmählich, als sie von dem streng in den Grenzen des Anstandes sich haltenden Benehmen Emmas hörten. Nie hatte jemand auch nur die geringste Gunstbezeugung beobachtet, die Sir Harry von ihr erfahren, nie jemand gewagt, ihr anders als mit der tiefsten Ehrerbietung zu nahen. Und den letzten Rest des Widerstrebens brach Sir Harry selbst an dem Tage, da er öffentlich erklärte, daß man in Emma die künftige Lady Fetherstonehaugh zu sehen habe.
Als man es ihr sagte, lächelte sie. So hatte sie es gewollt. Willig beugte er sich ihrem Joche, zählte ungeduldig die Stunden, die ihn von der Zeit schieden, da er ihre Schönheit ganz sein Eigen nennen durfte.
Und das alles hatte sie erreicht durch ein lachendes Gesicht und ein kühles Herz. Ohne den Schatten einer Lüge.
Circe, die Zauberin.
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Nur einer von Sir Harrys Nachbaren lehnte hartnäckig jede Einladung nach Up Park ab. Lord Halifax war früher unter den jungen Lebemännern der Grafschaft der tollste und übermütigste gewesen, in der letzten Zeit aber hatte er sich mehr und mehr von den Schwelgereien seiner Standesgenossen zurückgezogen. Er stand ganz unter dem Einflusse seiner Gemahlin, die so stolz auf ihren Adel war, daß niemand Zutritt erlangte, der nicht eine Reihe von mindestens acht untadeligen Ahnen aufzuweisen hatte.
Sein Fernbleiben hatte Lord Halifax damit entschuldigt, daß Lady Jane sich nicht wohl fühle.
Sir Harry schien es für Wahrheit zu halten. Emma aber glaubte es besser zu wissen.
Lady Halifax ... Jane Middleton ...
Von Mitte Juli ab fanden auf einem weiten Felde bei Up Park täglich kleine Wettrennen statt. Hier trainierten die Sportliebhaber ihre Pferde, die das große Derby von Epsom im August mitlaufen sollten. Der gesamte Adel der Umgegend nahm an diesen Übungen teil. Auch die Damen erschienen und sahen von ihren Equipagen aus zu. Nachher lagerte man sich am Rande des Waldes zum Picknick, lachte, liebelte und trieb allerlei Kurzweil, bis die sinkende Sonne zum Aufbruch trieb.
Emma mied alle diese Veranstaltungen. Sie machte es, wie Lady Halifax, und schützte Unpäßlichkeit vor. Aber sie litt nicht, daß Sir Harry ebenfalls fortblieb; sie trieb ihn auf den grünen Rasen, um die Ehre seines Stalles zu wahren. Allabendlich berichtete er ihr dann die kleinen Ereignisse des Tages. Und was Emma erwartet hatte, traf endlich ein: die Halifax waren erschienen und hatten für den folgenden Tag ihr Wiederkommen zugesagt.
Emma schlief in dieser Nacht nicht. Frühmorgens trieb sie Sir Harry auf den Rennplatz hinab, während sie scheinbar leidend sich in ihre Zimmer zurückzog. Kaum aber war er fort, als sie befahl, eine Equipage anzuschirren, und sich von ihren Dienerinnen ankleiden ließ. Sie wählte ein kostbares Kleid, als gälte es einen Empfang bei der Königin. Einen Reitknecht schickte sie auf den Rennplatz. Eilig sollte er ihr Nachricht bringen, sobald Lady Halifax dort erschien.
Aber als sie angekleidet war, war er noch nicht zurück.
Ungeduldig ging sie in den Hof hinab, bestieg die wartende Equipage. Fiebernd vor Erwartung zählte sie die Minuten.
Endlich kam er. Keuchend von dem schnellen Ritt vermochte er auf ihre heftige Frage nur zu nicken. Schon peitschte der Kutscher die Pferde ...
An der Reihe der haltenden Wagen angekommen, ließ sie die Eile mäßigen. Langsam fuhr sie hinter ihnen entlang, lässig zurückgelehnt, lächelnd die Grüße der Bekannten erwidernd. Mit verstohlenem Suchen glitten ihre Augen über die Gesichter, die Equipagen, die Pferde.
In der Mitte der Reihe erblickte sie die gesuchten Farben.
Auf dem hohen Bock des Wagens neben dem Kutscher saß Lord Halifax in grauem Rock, die Zügel haltend. Im Fond ein Herr, der Emma den Rücken kehrte und mit ausgestreckter Hand auf die startenden Reiter des Feldes deutete. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Sie achtete auch nicht auf ihn. Aus brennenden Augen starrte sie auf die zierliche Gestalt der Frau an seiner Seite, die ihm ihr hübsches, stolzes Gesicht zuwandte. Unter dem breiten Hut mit den wehenden Schleiern sah es lächelnd zu ihm auf.
Jane Middleton ...
Neben Lord Halifax' Equipage war ein Raum frei. Auf Emmas Befehl lenkte ihr Kutscher dorthinein. Beim Einfahren stießen die Räder der beiden Wagen aneinander. Alle wandten sich zu Emma um.
Hochaufgerichtet, sich gegen den Stoß an der Lehne des Kutscherbocks haltend, stand sie im Wagen, die flammenden Augen auf das Gesicht der Lady heftend.
Plötzlich erblaßte sie und sank zitternd auf ihren Sitz zurück. Unwillkürlich schloß sie die Augen, wie geblendet.
Dieses Antlitz des Mannes dort drüben neben Jane Middleton ...
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Das Geräusch knirschender Räder weckte sie aus ihrer Erstarrung.
Lord Halifax zwang seine Pferde, die Equipage zurückzuschieben, ohne Emmas Wagen zu berühren. Lady Jane lag zurückgelehnt im Fond, sich eifrig mit Overton unterhaltend, der Emma breit den Rücken kehrte. Wie absichtlich. Im Vorbeifahren glitten Janes Augen achtlos über Emma hinweg, als sähe sie sie nicht. Um ihre Lippen lag wieder der hochmütige Zug, mit dem sie einst bei Mrs. Barker jene Fragen an Emma gestellt hatte...
Herr Lyon war ein Holzknecht,
Ein Holzknecht in Nordwales ...
Alles um sich her vergessend sprang Emma auf.
»Warum ergreifen Sie die Flucht, Lady Halifax?« rief sie laut mit schneidendem Gelächter. »Sind Sie so feige, sich vor mir zu fürchten?«
In den steifen Mienen drüben verriet kein Zucken, daß die Worte gehört waren. Mit derselben kalten Ruhe plauderte Jane weiter, kehrte Overton Emma den Rücken, lenkte Lord Halifax die Equipage zurück. Er fuhr hinter der Wagenreihe entlang zum Startplatz.
Dort hielt er.
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Durch Bekannte benachrichtigt, kam Sir Harry freudestrahlend herbei, um Emma zu begrüßen. Inmitten einer Schar von Fremden, die den Wagen umdrängten und die zukünftige Lady Fetherstonehaugh mit ihren Huldigungen überschütteten.
Lächelnd hörte Emma zu, antwortete mit munteren Scherzreden. Wirre Gedanken fuhren ihr dabei durch den Kopf, rote Flammen zuckten ihr vor den Augen. Sie hörte nicht, was ihr Mund sprach, sah nicht, was vor ihr war.
Aber als ein neues Rennen die anderen fortrief und sie mit Sir Harry allein war, sank sie plötzlich in sich zusammen. Und während er sich erschreckt über sie beugte und nach der Ursache der jetzigen Veränderung fragte, brach sie in ein lautloses Weinen aus. In die Kissen zurückgeworfen lag sie, bleich, regungslos, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Dann, da er nicht aufhörte, in sie zu dringen, sagte sie ihm alles.
Er biß die Zähne aufeinander, ein Blitz des Zornes brach aus seinen Augen. Dann stieg er auf den Kutscherbock und lenkte den Wagen, zum Startplatz. Lord Halifax sah ihn kommen und wollte ausweichen, indem er abermals die Reihe verließ. Aber Sir Harry war schneller. Mit einem jähen Peitschenschlag auf die Pferde brachte er seinen Wagen quer vor die Equipage des Lords.
»Hallo, Sir Fetherstonehaugh!« schrie Lord Halifax. »Belieben Sie zu scherzen? Oder sind Sie nicht Herr über Ihre Tiere?«
»Herr über sie und mich!« erwiderte Sir Harry, während er vom Bock stieg und Emma aus dem Wagen half. »Ich wünsche nur die Gelegenheit nicht zu versäumen, Mylady in Miß Emma Hart meine Braut vorzustellen. Und ich erhoffe von Myladys bekannter Güte einen freundlichen Empfang! Voilà ce que j'espère!«
Er hatte Emma an den Schlag der Equipage geführt und machte Lady Jane eine feierliche Verbeugung, einen festen Blick auf sie richtend.
Aber sie beachtete ihn nicht. Emma starr ansehend saß sie in die Kissen zurückgelehnt und spielte wie zerstreut mit dem Taschentuch, das sie in der auf dem Schlag ruhenden Hand hielt.
Plötzlich entfiel es ihr und flatterte zu Emmas Füßen nieder in den Sand.
Dann sah Lady Halifax wie erstaunt zu ihrem Gatten auf.
»Miß Emma Hart? Wie ist mir denn, Augustus, hieß sie früher nicht anders? Erinnern Sie sich des hübschen kleinen Dienstmädchens, das uns in Hawarden den Truthahn nachtrug? Ich schenkte ihr dafür einen Schilling!«
Ein dumpfer Laut kam aus Sir Harrys Brust.
»Mylady!«
Sie nickte ihm lächelnd zu, als sähe sie ihn jetzt erst.
»Ah, Sir Harry, willkommen! Wie geht es Lady Fetherstonehaugh, Ihrer verehrten Frau Mutter?« Und ohne seine Antwort abzuwarten, wandte sie sich zu dem neben ihr sitzenden Herrn. »Wissen Sie nicht, Greville, wo ich mein Taschentuch gelassen habe? Ach, es ist aus dem Wagen gefallen! Da, vor der Kleinen liegt es! Heben Sie's doch auf, Emma!«
Und sie streckte die Hand nach ihr aus, die Finger bewegend, die Augen voll Bosheit.
Lord Halifax' unsicheren Blinzeln mit einem flammenden Blick begegnend, ließ Sir Harry Emmas Hand los, hob das Taschentuch auf und überreichte es Jane.
»Euere Herrlichkeit gestatten, daß ich für das kleine Dienstmädchen eintrete!« sagte er mit kalter Würde und winkte seinem Kutscher, die Pferde zur Seite zu lenken, »Mylord Halifax, der Weg ist frei!«
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Greville? Warum nannte Jane ihn Greville...?
Sir Harry sprach mit einem Freunde noch ein paar Augenblicke, dann fuhr er mit Emma nach Up Park zurück. Während des kurzen Weges saßen sie schweigend nebeneinander.
Nur einmal unterbrach er sein Sinnen.
»Sie schenkte Ihnen einen Schilling?« fragte er. »Darf ich erfahren, was das bedeutet?«
Sie suchte sich aufzuraffen, um ihm antworten zu können. Sie wußte selbst kaum, was sie sagte. Was kümmerte sie der Schilling, was Jane Middleton!
Greville? Warum nannte Jane ihn Greville ...?
Sie erschrak, als sie die eigene Stimme hörte. Hatte sie im Grübeln die Frage laut ausgesprochen?
»Greville?« wiederholte Sir Harry. »Warum fragen Sie?«
»Ich glaubte ... Führte er früher nicht einen anderen Namen?« stammelte sie verwirrt. »Hieß er nicht Overton?«
Er schüttelte den Kopf.
»Soviel ich weiß, niemals! Greville ist ein Sohn des verstorbenen Lord Brooks, des ersten Grafen Warwick. Mütterlicherseits ist er ein Enkel von Lord Archibald Hamilton, dem Gouverneur von Jamaika. Sein Onkel, Sir William Hamilton, ist Gesandter am Hofe von Neapel. Greville stammt also aus einer hochgestellten Familie, aber als jüngerer Sohn ist er arm. Er soll nach einer reichen Heirat suchen. Bei Lord Halifax ist er seit ein paar Tagen zu Besuch. Böse Zungen sagen, er macht Lady Jane den Hof. Aber was redet der Klatsch nicht alles!«
Er zuckte die Achseln.
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Lag ein Nebel vor ihren Augen?
Sie sah die Hand kaum, die Sir Harry ihr beim Aussteigen bot. Und während sie zu ihrem Zimmer hinaufstieg, war es ihr, als ob die Wände, die Treppen, die Türen weit von ihr zurückwichen. Todmüde fiel sie in den Kleidern aufs Bett.
Mitten in der Nacht fuhr sie plötzlich auf. Mit einem furchtbaren Schrei.
Romeo ...
Da, in ihrem Schoß, lag sein Kopf ... sein Gesicht war gespenstig bleich ... seine Augen starrten glasig zu ihr auf ...
Romeo war tot.