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Als Agathe in meinen Bekenntnissen so weit gekommen war, geriet eine so mächtige Bewegung über sie, daß es ihr unmöglich wurde, weiter zu lesen.
Eine Ahnung wurde ihr zur Gewißheit. Aber zur 404 Freude über diese verheißungsvolle Gewißheit gesellte sich sogleich, wie ich aus ihren Randbemerkungen zu meiner Erzählung herauslese, das quälende Mitleid mit dem, den sie durch ihr Mißtrauen von der Höhe eines wohlverdienten Glückes in neues Elend hinausgetrieben hatte.
Und doch und doch: wie die Lerche sich am ersten warmen Lenztag an ihrer eigenen Lust aus dem feuchten Ackerboden in das wonnige Lichtbad emporwirft, so rang sich jetzt ein glückbebender Jubelruf aus ihrer Brust los:
»Endlich, endlich bist du mein! Endlich darf ich dir gehören! Komm an mein Herz und sage mir, was du um meinetwillen gelitten hast, damit ich dir die Tränen der Bitternis von deinen Augen küsse und die brennende Schuld in meinem Herzen damit lösche . . . Wie will ich es dir vergelten, daß du meinetwegen um deine Würde gerungen hast . . . Nun stehst du vor mir, wie ich dich in jungen Träumen sah, in deinem eigenen wohlerworbenen Werte wie der lichte Tag, der alle Schatten der Nacht, die ihn umfangen hielt, in schwerem Kampfe von sich abgeschüttelt! . . .
Nun ist's dein Eigentum, da du es selbst erworben. Komm, laß an deiner Brust mich seiner freuen! An meiner Freude sollst du ganz genesen!«
Schritte ertönten vom Gange her. Hastig verbarg sie die Handschrift unter den Lagerdecken. Schlüssel klirrten. Der Gefangenwart öffnete die Tür und herein trat ich, von einem Offizier der kaiserlichen Leibwache begleitet.
Agathe schien die beiden Männer, welche ihr Amt hierhergeführt hatte, nicht zu beachten. Im 405 Überschwang des Glücksgefühls, das sie in diesem Augenblick die Enttäuschungen eines ganzen Lebens vergessen ließ, warf sie sich mir an die Brust und schluchzte, schluchzte.
In wortlosem Schweigen umfing ich die Geliebte. Mir war die seltsame Erregung unerklärlich. Ich ließ sie gewähren, bis sie ihre Ruhe wieder gewann. Aber sie vermochte die Augen nicht zu mir zu erheben, als sie nun Worte fand, und, den Kopf an mich lehnend, vor sich hinklagte und in flehendem Tone die bange Frage an mich richtete:
»Kannst du mir verzeihen, Heinrich?«
»Was soll ich dir verzeihen, Agathe? Daß ich dich, die Seele meiner Seele wiederfand?«
»Nein, daß ich dich verließ in dem Augenblick, da dir die Krone des Lebens winkte, daß ich dir mißtraute, nachdem dich mein Vertrauen durch alle Fährnisse deines schweren Daseins hindurchgerettet . . . O, wie hab' ich lange Nächte für dich gebetet, daß du dich wiederfinden, nein, das entdecken möchtest, was in dir gut und stark war und eines Tages hervorbrechen mußte, wenn die Sonne kam . . . Und als sie kam, stellte ich mich vor dich hin und verhängte sie mit dem Mantel meines Mißtrauens, und wieder standest du in Nacht.«
»Nein, Liebstes. Ich hatte mein eigenes Licht und ich hätte dich irgend einmal gefunden, wenn auch erst nach Jahren, und ich hätte dich gesucht, weil ich mir nie so schuldlos vorkam wie damals. Du mußtest mich hören . . . Aber du kamst mir zuvor. Und nun bist du da, und alles wird gut.«
»Aber du mußt wissen, daß jenes verhängnisvolle 406 Mißtrauen, das zu unserer Trennung, zu meiner Abreise führte, seinen Ursprung nicht in meiner Seele nahm. Du selbst hattest mich aufgefordert, mich über deine Lebensführung zu erkundigen. Ich tat es mit Zagen; allein du weißt, was zwischen uns vorgefallen war, und mußt mich hierin entschuldigen. Mein Brief an deine Freunde in Brighton brachte eine entsetzliche Antwort, die mir den Verstand zu nehmen drohte. Es hieß darin, daß man nach einem anfänglich schönen Zusammenleben sich in dir gründlich getäuscht habe. Man habe mit größtem Bedauern wahrnehmen müssen, daß du nächtlicherweile dich entferntest, um deinem alten Laster, der Trunksucht, zu frönen; aber noch viel schlimmer als das sei dein leidenschaftlicher Verkehr mit den Frauen; keine Dirne sei dir zu schlecht. Wie man in Erfahrung gebracht habe, sei dir bereits aus diesen Gründen deine schöne Stelle gekündigt worden, und die Tage deines Verbleibens seien gezählt. Man warte nur, bis du irgendwo Unterkunft gefunden habest.«
»Und von wem war der Brief unterzeichnet?« fragte ich ungestüm.
»Ich hatte an Herrn Harrison geschrieben. Die Unterschrift war kaum lesbar; aber nach dem Charakter der Züge zu urteilen, mußte eine Frau den Brief geschrieben haben.«
»Gewiß, eine Frau!« rief ich aus. »Der alte Harrison, mein bester Freund, mein Retter, konnte so nicht schreiben. O, unseliges Verhängnis!«
»Beruhige dich, Heinrich, ich bitte darum!« flehte Agathe. »Als ich England verlassen hatte, wuchs die Unruhe in mir von Tag zu Tag. Die Überlegung, 407 welche der Bestürzung folgte, sagte mir, daß du auf keinen Fall eine Erkundigung veranlaßt haben würdest, wenn du dir einer solchen Schuld, wie sie der Brief dir vorwarf, bewußt gewesen wärest. Ich schrieb nochmals von Frankreich aus, erhielt aber keine Antwort. Da stiegen in mir fürchterliche Zweifel an der Echtheit des Briefes auf. Nach Wochen der Unruhe und der Selbstanklage, die mich nicht mehr schlafen ließen, reiste ich eines Tages nach Brighton, wurde empfangen, freundlich angehört, stieß aber mit meinen Fragen und Darlegungen auf kopfschüttelndes Unverständnis bei den alten Leutchen. Endlich, als ich den Brief vorzeigte, schien ihnen plötzlich ein Licht aufzugehen . . .«
»Ihre Tochter hatte deinen Brief abgefangen!«
»So ist's!«
»Und beantwortet?«
»Ja. Und nun kann ich mir erklären, weshalb ihre Auskunft über dich so ausfallen mußte, nachdem ich dein Erlebnis mit ihr gelesen habe.«
»Was sagten die Harrison dazu?«
»Sie verloren kein Wort über das Verfahren ihrer Tochter, erklärten bloß, daß sie unzurechnungsfähig und deshalb in einer Geistesheilanstalt untergebracht sei; sie bedauerten herzlich mein Unglück, dein Unglück, und anerboten sich, alles zu tun, um es gut zu machen. Ihr Mitleid mit uns war aufrichtig und peinlich ihre Verlegenheit. Endlich fanden sie den einzigen Ausweg aus derselben, indem sie mir Geld anboten, mehr als genug, um dich in St. Petersburg mit Hilfe der Behörden ausfindig zu machen. Allein in Paris riet man mir davon ab, die Polizei in 408 Anspruch zu nehmen, wegen der nihilistischen Umtriebe in der russischen Hauptstadt.
Da entschloß ich mich, dich selber zu suchen. Ich reiste hierher und suchte dich . . . suchte dich zehn Monate lang . . . und du fandest mich!«
»Und du hast alles im Stich gelassen, um mir zu folgen! Jetzt erkenne ich meine Agathe wieder!« rief ich mit bebender Freude. Der Druck, der auf meinem Gemüte noch gelastet hatte, fiel von mir ab; die Aufklärung über den rätselhaften Abfall Agathes befreite mich von allem Argwohn und ich umschloß sie mit meiner Seele, als ich sie immer und immer wieder in die Arme nahm, sie von mir stieß, um sie von neuem zu umfangen, wie es das Leben auch getan hatte, und endlich sie herzte und küßte, um sie nie mehr zu verlieren. Die beiden Beamten konnten das Wiedersehen zweier Menschen, die sich so ganz aneinander verloren, nicht ohne Rührung mitansehen, sie gingen still hinaus und schritten wartend vor der Türe auf und ab.
»Und nun,« rief ich, »da uns das Schicksal, das uns lange genug getrennt hielt, auf seltsame Weise von sich aus verband, wollen wir fest zusammenhalten. Willst du mein Weib sein, Agathe?«
Sie drückte mir wortlos die Hand. Nach einem Augenblicke sagte sie: »Und weißt du, wen wir in diesem Augenblicke nicht vergessen wollen? Ich bin zugleich Mutter!«
»Ja, das bist du, Agathe. Denn weißt du, das Beste, was ich meinem Söhnchen mit ins Dasein gab, hab' ich von dir – die Seele! Du hast mich der Hölle des Lebens entrissen und hinaufgeführt in 409 den Himmel des Gefühls und des Gedankens, aus der gemeinen Knechtschaft der Sinne in das Herrentum des Geistes.«
»So wollen wir fortan unsere eigenen Herren sein!« rief Agathe.
»Ja, ist dir nicht, wir seien es schon? Fühlen wir es nicht, obschon die Mauern des Gefängnisses unsere Schritte hemmen? Nun komme, was da wolle! Sind Mann und Weib verbunden, trotzen sie der Welt; denn diese ist nie mit sich selber eins.«
Wir schwärmten von unserer Zukunft in diesem Bewußtsein, als die Tür aufging und der Beamte des Gefängnisses uns Trennung befahl. Da gewahrte ich in dessen Händen meine Handschrift. Ich erbat sie zurück, indem ich sie als mein Eigentum ansprach. Allein der Beamte entgegnete, daß er sie im Lager der Gefangenen versteckt gefunden und an die Untersuchungsbehörde abzuliefern habe.
Darüber empörte ich mich.
»Es ist mein Eigentum!« rief ich. »Ich will es beweisen. Lassen Sie mich etwas schreiben, und meine Schriftzüge werden Ihnen zeigen, daß ich jene Papiere beschrieben habe. Sie enthalten nichts anderes als die Darstellung meines Lebens.«
»Nitschewo!« entgegnete der Beamte mit kühlem Gleichmut. »Darüber entscheiden andere Leute. Die Papiere gehen mit.«
Ich wollte dem Unerbittlichen in den Arm fallen, ihm die Papiere entreißen, da ich wohl wußte, mit welcher Nachlässigkeit die russischen Beamten solch »nichtiges Zeug« behandelten. Da legte sich der Gardeoffizier ins Mittel und erklärte sich bereit, die 410 Wegnahme zu bezeugen. Zugleich werde er der Zariza davon Meldung machen.
Jetzt war ich beschwichtigt und ließ den Dingen ihren Lauf. Am folgenden Tage feierten wir ein ruhigeres Wiedersehen. Agathe hatte das Gefühl, daß ihre Neigung männliche Erwiderung fand, daß die Leidenschaft der lodernden Jünglingsjahre bei mir einer reinen Liebe gewichen war, die der kindlichen Zuneigung, durch welche sie einst mit mir verbunden gewesen, näher stand als je. Zugleich hatte sie aus meinen Aufzeichnungen gelesen, wie sie nie von mir vergessen worden war, wie sich in mir eine Wandlung vollzogen hatte, die so ganz dem entsprach, was sie je und je von mir geträumt und gehofft hatte. Das stille Werk, das sie an mir getan hatte, auch wenn wir auf tausend Meilen voneinander getrennt waren, trug nun Früchte, die sie mitgenießen durfte. Die Arbeit war mir lieb, war mir Bedürfnis geworden, und wie der Geist sich nur durch Arbeit entwickelt, durfte sie erwarten, daß er bei meinen guten Anlagen, die immer nach Entfaltung gedrängt hatten, sich zu einer Lebensmacht auswachsen werde, groß genug, um sich auf die Dauer meiner Erdentage die Herrschaft über die Sinne zu sichern. Diese waren während meines nomadenhaften Daseins in den verschiedensten Klimaten, Lagen und Tätigkeiten so geschärft und gefördert worden, hatten mir eine so ungewohnte Menge Kenntnisse durch die Erfahrung vermittelt, daß diese bei einiger Seßhaftigkeit ihres Besitzers nun von selbst als unerschöpflicher Quell hervorsprudeln mußten.
Und ich war seßhaft und unter den Menschen 411 heimisch geworden. Das zeigt ihr die Freude, mit welcher ich von den Menschen redete, die Teilnahme, welche ich für meine Schüler hatte, der Erfolg, der meiner Tätigkeit beschieden war. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß ich binnen zweier Jahre in gutgeführten Familien Petersburgs auf die Empfehlung der Frau Professor Homen Zutritt gefunden und mir die Gunst meiner Gönner zu erhalten gewußt hatte? Mit welcher Dankbarkeit gedachte ich jetzt meiner ehemaligen Lehrer, denen ich als Junge so manchen Schabernack gespielt! Sie erschienen mir als die eigentlichen Götter der Menschen, die mir gegen meinen Willen, aber mit fruchtbarem Nachdruck, das nötige Rüstzeug gegeben hatten, um mich aus dem entsetzlichen, scheinbar ziel- und zwecklosen Wirrwarr bloßer Tagesnotbeschäftigung hindurchzuringen zu einer ordentlichen Bildung, die zu einer dauernden und stetig wachsenden Selbstbefreiung unerläßlich ist.
»Aber wahrhaftig,« so schloß ich die Betrachtung meiner Irrungen, aus denen mir, zuerst dunkel und verschwommen, dann heller und bestimmter ein aufwärts gerichteter Werdegang entgegenglänzte, »dies alles scheint mir undenkbar ohne eine große Hoffnung, welche uns die Jugend schon ins Herz gelegt hat, ohne ein großes Vertrauen, das, wenn man von seinen Nächsten preisgegeben wird, wenigstens ein Mensch uns entgegenbringt, ein Vertrauen, ohne das es kein Selbstvertrauen, und damit kein Wollen, keine Kraft und keine Entfaltung gibt . . . Ohne dich, Agathe, wäre mir dies alles undenkbar.«
Ich zog ihr liebes Haupt an meine Brust und 412 betrachtete mit wehmütiger Freude die leidverklärten und glückverjüngten Züge meiner Braut. Dann staunte ich lange hinaus durch das enge, vergitterte Fenster mit dem Blick auf das ungeheure flimmernde Dächermeer der Weltstadt, aus dem da und dort vergoldete Kuppeln ragten, und schüttelte bewegt den Kopf: »Undenkbar, unmöglich . . . wie das höchste, reinste Glück zweier Menschen . . . an solchem Ort!«
»Vergiß nicht der Guten, die dich zu sich heraufgezogen, nicht der Starken, die dich in ihre Zucht genommen haben!« mahnte Agathe.
»Gewiß nicht! Aber ich hätte es nie gewagt, mich ihnen zu nähern, ohne den Glauben an mich, den du mir gabst! . . . Und nun, was bleibt uns Besseres zu tun übrig, als die große Liebe, die wir erfahren haben, weiterzugeben und andere zu ihrem Beruf durch Güte und Stärke emporzuziehen?«
»Ja!« antwortete sie, »das sei unser beseligender Lebenszweck!«
Nun erst hatten wir uns gefunden, und so war es ein schweigendes Abschiednehmen voll Glück und Hoffnung und Zukunftsfreude. Unser Unschuldsbewußtsein trug uns hinweg über die Not der Gegenwart.
Als ich nach Hause kam, zog ich, wie ich denn häufig meine Erfahrungen in Kernsätzen niederschrieb, die Schlußbilanz aus meiner Unterhaltung mit Agathe. »Es ist ein verhängnisvoller Wahn, wenn unsere modernen Dichter und Philosophen behaupten, das Leben erziehe den Menschen. Das Leben ist grausam, rücksichtslos und kümmert sich nicht um den einzelnen. Die Guten sind es, die uns durch ihr 413 Entgegenkommen den Glauben an uns selbst, das Gefühl unserer Würde geben und damit die besten Kräfte in uns wecken; und die Starken sind es, die uns zwingen, den richtigen Gebrauch davon zu machen. Diese Wahrheit ist erlebt!«
Eine Anzahl solcher Sprüche stellte ich noch am gleichen Abend für Agathe zusammen. »Kurzfutter« hieß ich sie in launigem Übermut, obschon ich sie mit der Hälfte eines gesegneten Menschenalters bezahlt hatte, und steckte sie beim nächsten Besuch insgeheim meiner Verlobten zu.
Einige Tage darauf wurde ich zur Audienz bei der Zariza befohlen. Ich hatte von ihrem Adjutanten vernommen, daß sich die Majestät persönlich mit dem Schicksal Agathes beschäftige, und so durfte ich hoffen, von ihr einen befreienden Machtspruch entgegenzunehmen. Diesmal bebte mir das Herz vor freudiger Erwartung, als ich vorgelassen wurde.
Einer der Kammerdiener führte mich vor die Kaiserin. Zum Erstaunen der ganzen Umgebung reichte sie mir die Hand, die ich voll Ehrfurcht küßte. Dann schritt sie auf eine einfach gekleidete Frau zu, die ich bisher nicht bemerkt hatte, ergriff ihre Hand und legte sie in die meinige.
»Es macht mich glücklich,« sagte die Zariza, »Ihnen keine Enttäuschung bereiten zu müssen. Die Unschuld Ihrer Verlobten hat sich nach abgekürztem Verfahren herausgestellt. Sie ist frei.«
»Majestät!« hob ich an, um der edlen Fürstin zu danken. Allein sie schnitt mir das Wort ab und sagte ernst: »O, keinen Dank! Was bin ich Ihnen nicht alles schuldig!« 414
Eine der Hofdamen überreichte der Kaiserin auf deren Wink die Papiere, auf welchen ich meine Schicksale aufgezeichnet hatte. Im gleichen, gemessenen Tone fragte die Fürstin mich: »Sie haben dies geschrieben?«
»Ja, Majestät!«
»Nun denn, so glauben Sie an den Segen der Arbeit und eine schönere Zukunft der Menschen?«
»Majestät, es ist eine erlebte Wahrheit, von der ich mich nie mehr trenne. Wir bauen Werke, die uns um Jahrtausende überleben.«
»Sie beide haben Liebe zu vergeben, Sie lieben die Jugend und verstehen ihre Bedürfnisse?«
»Das glaube ich im Namen beider bejahen zu dürfen, Majestät.«
»Wohlan, ich will Ihren Kräften ein Ziel geben, nach dem Sie sich sehnen. Sie sollen sich dabei vollständiger Freiheit erfreuen und Ihre eigenen Herren sein. Daneben versichere ich Sie meines persönlichen Schutzes in allen Dingen, die Sie aus Liebe zur Sache, die eine heilige ist, unternehmen werden.«
»Geruhen Majestät mir Ihren Willen zu nennen. Meine Zukunft soll eine Sühne sein für meine Vergangenheit. Noch stehe ich in der Mitte des Lebens und schaue begierig nach schönen Taten aus.«
»Ich kenne Ihr Leben aus Ihrem Buche, Ihre Gesinnung aus Ihrer Wirksamkeit in unserer Stadt. Sie haben mein Vertrauen.«
»Dann mögen Majestät ganz über mich verfügen!«
»Nochmals, Ihrer unbeeinflußten Entscheidung stelle ich es anheim. Sie wissen, daß bereits große Summen zur Erstellung einer prunkvollen 415 Gedächtniskirche für meinen verstorbenen Gemahl gesammelt worden sind. In seinem Sinn und Geist liegt eine andere Stiftung, zu der ich bereits die Entwürfe von Sachverständigen veranlaßt habe. Wir gründen zu seinem Gedächtnis eine Anstalt für hundert Waisenkinder, die vom zehnten bis zum fünfzehnten Altersjahr Aufnahme, Bildung und Erziehung finden sollen. Nun fehlt mir ein Elternpaar, in dessen Hut ich die Verwaisten stellen möchte. Sie, Manesse, mit Ihrer Braut habe ich auserkoren. Sie kennen das Leben und seine Bedürfnisse; Sie kennen den Hunger der Unmündigen nach Glück und Befriedigung in einer den Anlagen sich anpassenden Tätigkeit. Sie können den Verwaisten nachempfinden und sie darum am gerechtesten beherrschen. In der Milde und Menschenliebe, die in dieser Anstalt unter Ihrer Leitung walten soll, wird die Gesinnung meines lieben Gemahls lebendig bleiben.«
Sprachlos standen wir da. Dann faßten wir einander bei den Händen und neigten uns, vom Gefühl der Dankbarkeit überwältigt, vor der hohen Frau.
»Reden Sie, Herr Manesse! Wollen Sie?« fragte die Zariza.
»Majestät,« flüsterte ich bewegt, »es soll die Krönung unseres Lebens sein!« . . .
*
Das Alexanderstift ist keine Musteranstalt geworden, aber eine wirksame Bildungs- und Erziehungsschule. Stark und groß wurde dort die junge Welt durch tägliche Anstrengung des Körpers wie des Geistes. In der Ausbildung des Willens zum Guten erkannten 416 sie den Himmel auf Erden; das war die einzige Einheit, die von oben stammte und sich in der Vielheit der Anlagen, Neigungen und Tätigkeiten der Waisen aus dem Alexanderstift Geltung verschaffte. Zur innern Freiheit durch die Selbstzucht, zur Herrschaft durch die Brauchbarkeit, zur Seligkeit durch die Reinheit des Willens – das blieb unsere Losung.
Ende.