Adolf Vögtlin
Heinrich Manesses Abenteuer und Schicksale
Adolf Vögtlin

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9. Das Wiedersehen.

Bis zur Kirchgasse war's nicht sehr weit. Allein, um Berlinger irre zu führen, mußt' ich einen jener Richtung entgegengesetzten Weg einschlagen. Ich wollte nicht nochmals mit ihm zusammentreffen; auch war es mir unsäglich eng und weh ums Herz geworden, und ich fühlte das Bedürfnis, mich in der frischen Luft zu beruhigen, ehe ich vor Agathe hintrat.

Als ich eine Stunde später, um mich spähend, die Kirchgasse hinaufging, kam ich, mir selber unbewußt warum, vor einem bescheidenen Laden zum Stillstehen. Ruhige Freude floß mir durchs Herz, als hätte ich, nach langer Irrfahrt, nach Sturm und Wetter, ein schützendes Heim gefunden.

Ich sah durchs Fenster in den Raum hinein, der durch eine große Lampe in der Mitte erhellt war. Und wie sich mein Auge an das Licht gewöhnt hatte, entdeckte ich in der Tiefe hinter dem Ladentisch sitzend, den edlen Kopf sanft über eine Strickarbeit gebeugt, 183 ein Frauenbild, das meiner Agathe glich. Nur waren ihre Haare, die sie glatt zurückgestrichen trug, so daß bloß an den Schläfen noch einige Kräusel das Naturkind verrieten, seltsam nachgedunkelt. Oder war es die Blässe ihres Antlitzes, die ihr rötliches Blond vertiefte? An ihrem Mundwinkel hing ein Zug von Schmerz und Enttäuschung. Wenn sie es war, was mußte das gute Kind gelitten haben! Aber ich sah die freie Stirn und die kraftgeschwellten Lippen und das schön ausgeprägte Kinn: sie mußte es sein!

Nun blickte sie von der Arbeit auf, wandte das Gesicht zu mir herüber, schaute mich mit vollen Blicken an, starrte und starrte, bis das Weiß ihrer geöffneten Augen den Ring des Entsetzens um die lieben dunkeln Sterne schloß. Nie mehr vergeß ich diesen Blick!

»Agathe!« schrie es aus mir heraus.

Ich stürzte zur Tür hinein. Da war sie auch schon aufgestanden und mir entgegengeeilt. Und wie ich sie mit beiden Armen umschlang, da ließ sie es geschehen und wehrte es mir nicht, als ich ihr geliebtes Haupt an meine Wangen preßte.

Aber kein Gruß, kein armer Laut kam aus ihrem Munde.

Auf einmal war mir's, als fiele ihr Kopf nach rückwärts; ein Schüttern ging durch ihren Körper, und aus der Tiefe ihrer Seele erhob sich ein qualvolles Schluchzen.

»Heinrich! Heinrich!« wimmerte sie wie ein sterbendes Kind. Ich führte sie zu einem Sessel, reichte ihr ein Glas Wasser und setzte mich zu ihr. Da erholte sie sich, sah mich wieder und wieder mit vollen Blicken an und überließ mir ihre Hand. 184

Ach, diese gute Hand, die mir einst weh getan, wie konnte ich sie jetzt lieben und küssen; denn ich fand keine Worte vor Glück: Ich wußte, daß ich geliebt war.

»Warum hast du mir das angetan?« fragte sie fast tonlos, aber voll unsäglichen Leides.

»Was meinst du?« Ihre Frage war mir unverständlich.

»Das mit dem Vermächtnis!«

Jetzt ging mir ein Licht auf. Mein bubenhafter Übermut hatte alles verschuldet. Meine Geldspende aus Smyrna mußte nach dem Stand der Dinge von Berlingers als das wirkliche Vermächtnis eines Gestorbenen aufgefaßt worden sein, obschon sie keinerlei amtliche Nachricht erhalten hatten. Was für ein unüberlegter Torenstreich meine Sendung gewesen, ersah ich jetzt an dem Verhalten meiner geliebten Agathe.

Sie drehte sich in dem Lehnsessel in banger Unruhe von einer Seite auf die andere und langte mit den Händen in die Luft, als wollte es ihr den Atem versetzen. Aus ihrem Angesicht war der letzte Blutstropfen gewichen. Plötzlich sagte sie angstvoll: »Ich glaube, mein Mann kommt; geh, Heinrich!«

»Laß ihn nur kommen,« entgegnete ich ruhig. »Es muß doch alles zwischen uns klar werden. Wie stehst du mit ihm?«

»Ach, er ist recht und brav . . . . Doch ich bekannte es ihm . . . . vor der Heirat, ich wolle mit ihm zusammenleben . . . . und für ihn arbeiten, aber mein Herz . . . . sei mit dir begraben.« Das brachte sie nur keuchend und stoßweise hervor. Die Schritte, die wir auf der Treppe gehört hatten, gingen über 185 den Hausflur und verloren sich draußen auf der Gasse.

»Es soll neues Leben gewinnen, Agathe. Jetzt weiß ich, daß du mich liebst und kann alles für dich tun.« Es warf mich neben sie auf die Knie und bettete mir, ich wußte nicht, wie es kam, den Kopf auf ihren Schoß.

Ich fühlte, wie sie mir mit der Hand sanft über die Haare strich. Sie hatte, selbst erschüttert, noch Mitleid für mich übrig, und ich weinte wie ein Kind. Was ich dann von ihr vernahm, als wir unsere Fassung wiedergewonnen, zeigte mir, wie sie immer an mich gedacht und geglaubt hatte, daß das Schicksal mich aus der wilden Brandung des Lebens, in das ich mich begeben, herausreißen und ihr gestärkt und geläutert wieder zuführen werde. Dem Drängen der Eltern, den Schuster zu heiraten, war sie erst nachgekommen, als ich mir durch jenes Vermächtnis, das mir so große und reine Freude bereitete, wider meine bessere Absicht den Totenschein ausgestellt hatte.

Dem alten Berlinger war mein Torenstreich zupaß gekommen. Er konnte ihm, den unerfahrenen Frauenzimmern gegenüber, mit dem Schein der Harmlosigkeit die ihm gerade passende Deutung geben, mich als verstorben erklären und die Gelegenheit benützen, sich rasch eines Schwiegersohnes zu versichern, bei dem er, einmal wetterundicht geworden, unter Dach stehen und sein Gnadenbrot verzehren durfte.

Was für eine leere Aussicht bot ihm dagegen der abenteuerliche und arbeitsscheue Heinrich Manesse! Der gemeine Schmarotzer, der nicht einmal seine 186 notdürftige Kleidung mit Recht sein eigen nannte. Er, der Vagabund, der Bettler?

Ich hatte wieder Anlaß, vor mir selber klein zu werden, vor mir selber zu versinken; das um so gründlicher, als ich die Sehnsucht meiner Natur bei verschiedenen Gelegenheiten verspürt hatte, mit guten Menschen in Berührung zu kommen und zu bleiben, um endlich die edlere Triebkraft in mir auszulösen. Mitten in diese dunklen Betrachtungen fiel die schüchterne Frage Agathes: »Was fang' ich nun mit meinem Leben an?« und schuf eine plötzliche Helle in meinem Innern, wie etwa von fernen Höhen der Lichtstrahl eines Scheinwerfers jäh in ein nächtliches Tal fällt. Auf einen Augenblick sah ich eine Welt voll Licht vor mir.

Die Sache war für sie also nicht erledigt! Gott, wie klang ihr trauriges Wort verheißungsvoll! Sie hatte mich nicht verworfen. Sie konnte es sich nicht vorstellen, wie sie weiterhin ihrem Mann angehören sollte, nachdem sie mich am Leben wußte.

Es lief mir heiß den Rücken hinauf; das Mark fing mir in allen Wirbeln an zu glühen. Jetzt erhob sich Agathe und lehnte ihren Kopf an meine Brust, und ich umhalste sie und küßte sie unter leidenschaftlichen Beteuerungen. »Agathe, du mußt mein werden. Ich kämpfe um dich. Ich schwöre dir, daß es anders mit mir wird, nun ich weiß, daß deine Seele mir gehört.«

»Was willst du tun?« fragte sie mich ängstlich.

»Vieles ist zu tun, bis ich guten Gewissens um dich werben darf. Geschehenes kann ich nicht ungeschehen machen; aber ein neues Leben, ein neues Leben!« 187 – ich reckte mich vor Glücksgefühl – »das liegt in der Möglichkeit! Wenn nur du mir hilfst!«

In diesem Augenblick ging die Tür auf. Berlinger kam herein, und hinter ihm sein Schwiegersohn.

Engel sah mich eine Zeitlang grimmig an, schlug dann die Augen nieder und drückte sich auf die Seite wie ein Hund vor einem Stück Fleisch, in welchem er Gift wittert. Wahrhaftig, so kam es mir vor.

»Heinrich, ich glaube, du bist hier überzählig,« bemerkte Berlinger trocken.

»Das fragt sich noch, Berlinger«; das früher üblich gewesene Wort »Vater« fiel mir nicht ein; »nach dem Buchstaben freilich gehört sie dem da; aber es gibt eine Zusammengehörigkeit, die stärker ist als alle Gesetze!«

Ich sah, wie Engel unauffällig ein Schustermesser von der Wand abhängte. »Laß es nur hängen, Engel, ich geh' schon!« sagte ich ruhig und wandte mich der Tür zu. »Nicht etwa, weil ich mich fürchte. Der da dankst du es, daß ich gehe. Sie dauert mich. Aber wenn ich erfahre, daß du sie meinetwegen ungut behandelst . . . . nimm dich in acht!«

Es war mir ernst mit der Obhut, in welche ich Agathe im stillen nahm; und als ich in die Straße hinaustrat, hatte ich das Gefühl, als ob mein Rückgrat fester und straffer würde.

Dieses Gefühl hielt auch am folgenden Tag noch an. Ich glaubte das Bild des hinter mir liegenden Lebensabschnittes zu sehen, als ich, von der Macht der Erlebnisse überwältigt, gedankenlos einem Gärtner zusah, wie er in einem blühenden Obstgarten ein schwankes Bäumchen, das der Sturm übel zerzaust 188 hatte, an einem währhaften Pfahl festband, um ihm den nötigen Halt und die Ruhe zu geben, ohne welche trotz angeborner Gesundheit keine Früchte reifen können.

Ja, an starke Menschen mußte ich mich anlehnen, wenn ich es endlich lernen wollte, aufrecht durchs Leben zu gehen; bis dahin hatten mich meine Schleichwege durch Knick und Dornbusch geführt – und mein Leib war mit Narben bedeckt worden, ohne daß ich irgendeinen bedeutenden Kampf mit einem entschiedenen Feind von Angesicht zu Angesicht ausgefochten hätte. Wie weit ich zurückblickte, überall hatte ich mich mit schlauen Kniffen durch Wirrnisse hindurchgedrückt. Agathe hatte von demjenigen, den sie liebte, eine ganz andere Vorstellung. Ahnte sie eine in ihm schlummernde Kraft?

Solche und ähnliche Überlegungen und Hoffnungen gaben mir wieder einiges Selbstbewußtsein.

Ich suchte Arbeit, um mit Menschen in Fühlung zu kommen, nach deren Umgang ich mich immer wieder sehnte, wenn ich der guten Leute gedachte, die mich in meinen Knabenjahren eine Zeitlang behütet hatten.

Wieder suchte ich die näheren Bauplätze ab. Da führte mich das Glück auf der Baustelle der Hochschule mit dem ersten staatlichen Bauführer zusammen, in welchem ich einen ehemaligen Freund erkannte. Hetzel hieß er. Eben wurden die Sgraffitomalereien an der Nordfassade des monumentalen Gebäudes in Angriff genommen. Hetzel gab mich als Diener und Handlanger den beiden Dresdener Professoren bei, welche diese Arbeiten nach den Plänen des berühmten 189 Architekten Schlenther, dem man die Neubelebung dieser Kunst verdankt, auszuführen hatten.

Ich fand mich sehr leicht in die saubere Arbeit, die aus Handreichungen, Kommissionen, sowie aus Kopieren und Pausieren von Zeichnungen bestand, hinein und genoß eine freundliche Behandlung, die meinem wunden Herzen wohltat. In Frühlingsschauern durfte es sich baden, und schöne Entschlüsse keimten und sproßten darin auf, so reich und farbig und frisch wie die Blumen auf den Wiesen.

Ich sah in eine neue Welt hinein und öffnete meine Augen weit, als sollte meine ganze Seele darin untertauchen. Nach und nach lernte ich alle Vorbereitungsarbeiten pünktlich auszuführen, so daß sich die Professoren auf mich verließen.

Ich stellte den schwarzen Mörtel her, dessen sie bedurften, indem ich Steinkohlenschlacken zu feinem Staub zerrieb, diesen zerstoßene Holzkohle beimengte, um den nötigen Glanz zu erzeugen, und das Ganze mit dem besten Wetterkalk verband. Der Mörtel wurde als Verputz auf die Mauer aufgetragen und hernach sauber geglättet, ehe er hart geworden war. Der schwarze Verputz wurde mit einer dünnen Schicht Wetterkalk überzogen und sobald diese Schicht etwas angezogen hatte, rief ich die Künstler herbei. Sie pausierten die Figuren, die sie ins Papier gelocht hatten, indem sie mit einem Beutel, der mit Holzkohlenstaub gefüllt war, darüberstrichen; und dann begann die eigentliche Arbeit, die ausgeführt werden mußte, ehe der Kalk hart wurde. Mit eisernen Griffeln hoben sie, der Zeichnung entsprechend, die Kalkschicht weg, so daß die herzustellenden Bilder auf 190 schwarzem Grund erschienen, klar sich abhebend vom weißen Kalk, unverwüstlich jeder Witterung Trotz bietend. Die Einfassung der Kreuzstöcke und Gurten wurde mittels Blechschablonen statt Papierzeichnungen hergestellt.

Das war nun gerade keine Hexerei, und eines Mittags, da sich meine Meister auf einem Ausflug befanden, unterstand ich mich, einen Kreuzstock mittels dieser Schablonen zu zieren. Ich war allein mit meiner Kunst. Gegen die zudringliche Sonne und die nicht minder neugierigen Augen der Menschen hatten wir Tücher gespannt, hinter denen ich mit wahrem Schöpfungsfieber meiner stillen Arbeit mit dem eisernen Griffel oblag, wie in einem sicher verschlossenen Paradiesgärtlein.

Plötzlich hörte ich, wie zwei Männer das Gerüst heraufkamen und einer zum andern sagte: »Wir haben's getroffen! Wir finden die Herren an der Arbeit!« Ich kratzte nur um so emsiger drauflos. Jetzt krochen die beiden unter dem gespannten Tuche durch. Es war der Präsident der Baukommission und – Doktor Hart, mein »Vater«. Ich mochte eine schadenfroh-spöttische Miene aufgesetzt haben: Doktor Hart erbleichte und mußte sich an einer Gerüststange halten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er wollte gleich umkehren, mußte aber, um sich nicht zu verraten, doch einige Erklärung über die Malerei hinnehmen und zuhören, wie der Präsident die genaue Arbeit seines Sprößlings, den er nicht anerkannte, freundlich lobte.

Er mochte sich fragen, wie oft er mir wohl noch begegnen werde und was alles aus mir noch werden 191 möge. Ich freute mich im stillen: »Gott, es gibt noch ein heimliches Gericht und eine oberste Gerechtigkeit, der kein Frevler entrinnt: das Gewissen.«

Als am folgenden Morgen Professor Schönherr, der eine meiner Prinzipale, mit dem andern, seinem Schwager Walther, aufs Gerüst stieg, schaute er ganz verwundert meine Arbeit an und rief dem Schwager zu: »Du, Karl, wann hast du diese Einfassung gemacht?« Dieser antwortete: »Ich habe nie allein gearbeitet; du wirst sie wohl selber gemacht haben.«

Eine Weile stritten sie hin und her; jeder hatte den andern im Verdacht einer freundschaftlichen Scherzleistung. Endlich fragte mich Walther, ob ein Fremder da an der Arbeit gewesen sei, was ich verneinte. »Es muß jemand dagewesen sein,« polterte Schönherr heraus, »diese Garnituren da haben weder ich noch mein Schwager gemacht.«

»Aha,« bemerkte ich nun, »wollen die Herren entschuldigen, da hab' ich gestern ein wenig das Kratzen probiert.«

»Was, Sie?« platzte Schönherr nun voll Verwunderung heraus. »Das ist ja ganz tadellose Arbeit!«

Er rief seinen Schwager herbei. Sie untersuchten meine Leistung genau und besprachen sich halblaut.

Dann kam Schönherr auf mich zu und fragte mich, ob ich bereit wäre, die Ausführung sämtlicher Garnituren zu übernehmen. Ich schlug natürlich voll Freude ein, und wurde nun bald das Hätschelkind der beiden Männer, die froh waren, diese schablonenmäßige Arbeit auf meine Schultern abladen zu können.

Fast täglich kam Professor Schlenther und entwarf 192 neue Figuren und Ornamente mit Kohle auf einen an der Wand ausgespannten Bogen, wobei ich ihm handlangernd zur Seite zu stehen, u. a. auch die Zigarre anzuzünden hatte. Oft kam es vor, daß er 2 bis 3 Stunden in einem Zug zeichnete und das Mittagessen darüber vergaß. Zuweilen geschah es denn auch, daß er die mit vieler Mühe entworfene, für mein Empfinden prächtig geratene Zeichnung von der Wand riß, sie auf die Erde warf, ein paarmal darauf herumtrat und sich dann schleunig, unzufrieden mit seinen Leistungen, brummend und scheltend entfernte. War er guter Laune, erzählte er gerne aus seinen Studienjahren. Er hatte zu den Schülern Alexander von Humboldts gezählt, der wie Schlenther ein richtiger Pulverteufel gewesen sein muß. Besonders konnte er es nicht ertragen, wenn jemand von seinen Zuhörern plauderte, unaufmerksam war, oder seinen Vortrag mit Zwischenfragen unterbrach. Er liebte es, mit seinen Jüngern in der freien Natur zu wandern. Einmal erzählte er auf einer solchen Wanderung von seinen Reisen im fernen Indien und erwähnte dabei auch die Elefanten. Da erlaubte sich ein Dämchen die Frage: »Bitte, Herr Professor, wie fängt man denn einen Elefanten? Das möcht' ich gar zu gerne wissen!« Humboldt wandte sich um und schrie ihr in die Ohren: »Man nimmt ihn! Und hält ihn! Und legt ihm einen Strick um den Hals! Und bindet ihn an einen Baum! Und läßt ihn so lange angebunden, bis er zahm ist. Dann führt man ihn nach Hause – und ich gehe jetzt wild nach Hause! Guten Morgen!« Schlenther lachte aus vollem Halse, als er dies erzählte und meinte: »Ja, ja, die großen 193 Geister haben auch ihre kleinen Schwächen! Besonders ist ihnen Ungeduld eigen!«

Es dauerte nicht lange, so geriet Schlenther eines Tages über eine Zeichnung, die ihm nicht auf den ersten Strich gelingen wollte, in helle Wut. Er warf sie auf den Boden und stampfte darauf herum. Da konnte ich mich eines Lächelns nicht erwehren, und als er den Hut aufsetzte und das Gerüst verlassen wollte, fand ich die Kühnheit, ihm zu bemerken: »Der Herr Professor will also auch wild nach Hause!«

Schlenther gaffte mich einen Augenblick in maßloser Verwunderung an; dann lachte er einen großen Brocken, zog den Kittel aus, hängte ihn samt dem Hut an einen Nagel auf und sagte schnurrig zu mir: »Es wird ein neuer Bogen aufgespannt!« Alsbald warf er sich mit glühendem Eifer auf die Arbeit, und siehe: sie gelang.

Von diesem Tage an keimte eine fast freundschaftliche Vertraulichkeit zwischen uns auf; und als die Dresdener Professoren verreisten, hatte ich an ihm einen Herrn, der nur zu gütig gegen mich war. Tagelang durfte ich mich auf den nahen Hügeln sonnen, auf dem See rudern gehen oder im freien Feld den Schmetterlingen und anderen Dingen nachjagen.

An solchen Tagen schwoll mir das Herz in Liebe und ich begab mich wohl nie zu Bette, ohne stundenlang die Kirchgasse auf- und abpatrouilliert zu haben, in der Hoffnung, einen Blick von Agathe durch das Fenster abzufangen. Allein das Spionieren ward mir mit jedem Mal unerträglicher. Wenn ich sie nicht zu sehen bekam, lag es mir wie heißes Blei in 194 der Brust und quälte mich. Und um das Weh zu vergessen, ging ich hin und trank.

Gelegenheit gab es wieder in alter Fülle; da mich Schlenther mit einer Anzahl junger Bauzeichner bekannt gemacht und ich mich als brauchbaren Gesellschafter, der etwas zu erzählen wußte, ausgewiesen hatte, durfte ich oft an ihren abendlichen Gelagen teilnehmen, die nicht selten bis in den Morgen hinein dauerten.

Das ging, so lang es eben gehen konnte. Schlenther drückte ein Auge zu, sofern ich nur pünktlich zur Arbeit kam; auch wenn er mich etwa eingeschlummert antraf, brummte er nur vor sich hin: »Da hat wieder einer nicht genug geschlafen!« Freilich gönnte er mir nach einem solchen Begebnis am gleichen Tag nicht nur kein freundliches, sondern überhaupt kein Wort mehr. Allein, da das, was ich tat und ließ, unter Berufsleuten üblich war, ließ ich mir kein graues Haar wachsen.

An einem Montagvormittag war ich zur Arbeit unfähig; um Mittag geriet ich in die bekannte Reuestimmung, faßte den Entschluß, doch wenigstens meinen Willen zur Arbeit zu bekunden und begab mich auf den Bauplatz, obschon mir die Welt vor den Augen hin und her schwamm. Mit Mühe erklomm ich das Gerüst. Da sah ich, wie unter der Anleitung Schlenthers ein anderer meinen Dienst verrichtete, und wollte aufbegehren. Der Professor aber kam mir zuvor, stand auf und schrie mich an: »Sie Lump, machen Sie, daß Sie schleunig mit heiler Haut vom Gerüst herunterkommen! Auf dem Bureau lassen Sie sich den Monatslohn ausbezahlen und dann können Sie sich zum Teufel scheren!« 195

Der Respekt vor dem Manne fuhr mir in die Beine, und ich machte mich, über meinen Zustand beschämt, davon. Anstatt mein Geld einzukassieren, stürmte ich den nahen Hügel hinauf; von sinnloser Wut über mich selbst erfüllt, bis es mich irgendwo auf den Rasen hinwarf. Dann kam ein mächtiges Weinen über mich, das ich nicht zu bändigen vermochte. Ich schluchzte und schluchzte, ohne mir deutlich bewußt zu werden, warum. Ich fiel in tiefen Schlaf. Als ich gegen Abend erwachte, hatte ich einen benommenen Kopf, aber ein freies Herz. Der Entschluß war da: Fort von hier!

Im See nahm ich ein erfrischendes Bad, ging nach Hause, zog mein gutes Kleid an und glaubte, wie ich im Spiegel in tadelloser Haltung und sauberer Gewandung vor mir stand, so könne die Menschwerdung, von der ich schon oft geträumt hatte, an mir ihren Anfang nehmen. Wahrhaftig, ich glaubte, es sei etwas Neues mit mir los.

In jener aufgeräumten Stimmung, welche jeder gute Entschluß in uns hervorbringt, fand ich den Weg zur Kirchgasse.

Agathe saß, mit einer Strickarbeit im Schoß – ich glaube, es waren Säuglingskleidchen – hinterm Ladentisch. Ihr Gesicht war blaß, ihre Züge entstellt; aber soweit das Lampenlicht es beschien, lag Friede darauf. Sie war eine von jenen Naturen, die auch aus schweren Konflikten heraus rasch ihre Besonnenheit und Ruhe wiedergewinnen, indem sie unablässig eine schwere Pflicht erfüllen. Und nun stand die größte vor ihr und heischte ihre ganze Hingebung: die Mutterpflicht. 196

Ich hatte das Gefühl, als dürfe ich in diesen Frieden nicht einbrechen, und nahm mir vor, so ruhig als möglich von ihr Abschied zu nehmen. Das mußte ich und das durfte ich. Und so trat ich ein und wünschte ihr guten Abend.

Sie fuhr auf, warf ihre Arbeit auf den Tisch und flüsterte: »Heinrich, laß mich in Ruhe; ich bitte dich!«

»Ich komme, um dir die Hand zum Abschied zu drücken, vielleicht zum letztenmal. Aber ich möchte die deine noch einmal in der meinen haben, damit ich weiß, daß ich nicht ganz verloren bin.«

»Du gehst wieder fort von hier?« fragte sie ängstlich.

»Ich muß fort!«

»Du mußt? Was hast du denn angestellt?«

»Nicht so!« wehrte ich ab. »Ich muß fort von hier, wenn ich nicht untergehen soll. Hier gibt's zu viel Trinkgelegenheit. Das zieht mich hinab, hinab, neben all dem anderen, das auf mir lastet.«

»Was ist es denn?«

»Du fragst!«

Agathe schlug die Augen nieder und errötete leicht. Sie hatte einen schlimmern Grund für meine Abreise vermutet.

»Agathe kommst du mit mir?« fragte ich schüchtern. »Für dich kann ich arbeiten; für mich allein nicht.«

»So zeig' es doch einmal!«

»Komm mit mir übers große Wasser!«

Da sah sie mich mit großen Augen an: »So, wie ich bin?«

»Oder dann später, wenn ich dir schreibe?« 197

»Du siehst, was ich erwarte. Ich muß doch erst wissen, wer meines Kindes würdiger ist.«

»Du liebst mich, Agathe?«

»Liebe allein gibt uns allen nicht zu leben, Heinrich. Ich bin über die Schwärmerei hinaus. Um deutlich zu sein: wenn ich die Wahl habe zwischen zwei Männern, so wähle ich den in allen Dingen tüchtigeren Menschen.«

Da schwieg ich beschämt; aber das Wort tat nicht weh. Sie hatte recht. Hundertmal hatte ich mir gesagt: »Du bist nichts!« . . . Allein den Mut der Verzweiflung hatte ich noch nicht gefunden, mir zu sagen: Du wirst nichts! Ich ergriff ihre Hand, um den Abschied kurz zu machen. Ich wollte noch sprechen, wußte aber nicht, was. Plötzlich schrie es aus mir heraus: »Agathe, glaubst du noch an mich?«

Da wurde die hintere Ladentür aufgerissen, und mit gezücktem Schusterkneif stürzte Engel auf mich los. Eh' ich mich zur Abwehr rüsten konnte, hatte sich Agathe zwischen uns gestellt, bereit, den Stoß aufzufangen. Engel hielt an sich und Agathe schrie ihm, mit gebieterischem Schrecken, die Augen weit aufgesperrt, zu: »Laß ab von ihm, er ist gekommen, um Abschied zu nehmen. Leg' dein Messer weg!«

Allein ihr Mann, von wilder Eifersucht erregt, schob sie wortlos beiseite und zückte den Schusterkneif gegen mich.

Ich sah, daß es mein Leben galt. Mit meinem linken Arm den Stich abweisend, stieß ich ihm die rechte Faust mit aller Wucht in die Magengegend, daß er rückwärts taumelte, zusammenbrach und eine 198 Zeitlang Atem und Kraft nicht mehr fand. Rasch entwand ich ihm das furchtbare Messer und wollte ihm auf die Brust knien, um den Wütenden ganz zu zähmen.

Doch Agathe riß mich herunter und schrie: »Nichts da! Das duld' ich nicht!« Ich fühlte mich ihr gegenüber willenlos und ließ von Engel, der totenblaß dalag, ab. Wie ich mich erhob, konnte ich ihre Hand küssen.

Aber nun kam der Siegesrausch über mich und machte mir den Kopf wirblig. Ich riß Agathe an mich, umschlang sie mit beiden Armen und bedeckte ihr Hals und Wange mit den Küssen einer Liebe, die ich keinem zweiten Wesen geben konnte. Und sie ließ es geschehen und flüsterte erschauernd: »Leb wohl, leb wohl, Heinrich!«

»Ja,« sagte ich, »nun kann ich wohlleben, wenn deine Liebe mit mir geht. Entweder siehst du mich nie wieder oder dann . . . als einen anderen.«

Als ich die Ladentür hinter mir ins Schloß warf, war mir, als trete ich in ein neues Leben hinaus. Erhobenen Hauptes schritt ich die Gasse hinunter, auf zum Himmel blickend. Jenseits des Sees, hart über dem dunklen Grat des langgestreckten Berges, glomm am Himmel in vollem Glanze der Abendstern. Eben sank er unter, um einer anderen Welt zu leuchten.

Eine behagliche, freudige Unruhe hielt mich die ganze Nacht wach. Eine neue Fahrt ins Leben wurde geplant. Eine neue Kraft spannte mir die Muskeln dazu. Ich sah in der Ferne ein glänzendes Ziel, zu dem sich der Wettlauf lohnen sollte. 199

Wie ich am Morgen, das Herz voll Zukunftsfreude, die Kirchgasse hinunterging, waren Agathes Schaufenster zu; an der schwarzen Ladentür hing ein weißer Zettel. Darauf las ich: Wegen Todesfall geschlossen.

Ein Schreck fuhr mir durch die Glieder. Sollte Engel durch mich . . .? Ich vermochte es nicht auszudenken. Ein Schustergeselle, der in Hemdsärmeln, sonntäglich dunkel gekleidet, vor der Haustür stand, kam auf mich zu und fragte mich, was mir fehlte, ob ich etwa ein Verwandter Engels sei.

»Nein,« entgegnete ich, »wohl aber ein ehemaliger Freund . . . Wer ist denn hier gestorben?«

»Der Meister.«

»Er war doch nicht krank!«

»Vielleicht doch!« Der Geselle deutete mit dem Zeigefinger auf seine Stirn. »Er hat sich ein hänfenes Halsband angelegt.«

»Warum denn?« fragte ich noch immer bestürzt.

»Was weiß ich? . . . Er hat den gewöhnlichen Kragen nie recht leiden mögen . . .«

Der krause Humor des Gesellen paßte mir nicht besonders, und wie ich ihn weiter anstarrte, fuhr er von selbst fort: »Sie sagen, es habe ihn einer bei der schönen Frau Agathe ausgestochen! Eifersüchtig war er ja immer. Unnötigerweise! Sie ist eine Brave.«

Dieses Wort tat mir wohl und gab mir die Fassung wieder. Ich schüttelte dem Gesellen die Hand und sagte: »Danke! Adieu!« Der trockne Mensch hatte mich mit seinem Humor angesteckt. Jetzt sah's in meiner Brust so leicht und wohlig aus wie in einer 200 Schusterstube am Sonntag, wenn die Lehrlinge aufgeräumt und alles blitzblank herausgeputzt haben und die milde Sonne hereinscheint.

»Den Engel hast du überwunden,« sagte ich in stillem Jubel zu mir, »und solltest nicht mit dir selber fertig werden?«

 


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