Clara Viebig
Simson und Delila
Clara Viebig

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Simson und Delila.

Auf der Landstraße von Manderscheid nach Kyllburg, eine halbe Stunde von der Neumühle im Grund, knarrt langsam ein Wagen bergan.

Es ist heiß, Hochsommer.

Auf dem Rücken des Pferdes kleben Schmeißfliegen, sie bohren sich ordentlich in das braune Fell ein. Das geplagte Tier schlägt ungebärdig nach rechts und links und wirft den langen Schweif über die Stränge.

»Hott – harrüh!« Der verschlafene Fuhrmann ist abgestiegen und fuchtelt nun mit der Peitsche durch die Luft. »Harrüh, Brauner! Vermaledeites Schmeißzeug! Jeß, es dat en Hitz!«

»Jao, jao!« Sein Begleiter, ein Eifeler Bäuerlein im blauen Leinenkittel, die Hotte auf dem Rücken, wischt sich mit der flachen Hand den Schweiß ab, der ihm, mit Staub vermengt, grau und langsam übers Gesicht sickert. »Waor maacht Ihr heit, Mittler? Noach rum nach Kyllburg? Dat es en heiß Dour for Eier Peerd!«

»Hoa, hoa!« Der Kutscher ist, ohne zu antworten, plötzlich gesprungen und hat den Braunen fester am Zügel gepackt. »Willste ruhig giehn, dau Beest, wat michste for Fisimatenten?!«

Das Pferd hat einen Satz zur Seite getan, daß die schweren Säcke auf dem Wagen durcheinander fallen, als seien sie Bälle, und das Mehl, mit dem sie gefüllt sind, wie Puder durch alle Poren der groben Leinwand stäubt.

»Brr, Alder, brr!« Mit Anstrengung zerrt der Fuhrmann das Gefährt vom Rand der Straße zurück, denn steil geht's zur Rechten hinunter; man sieht in ein Meer von grünen, breitästigen Wipfeln, ohne Weg und Pfad zieht sich ein Gewirr von Buchen und Tannen hinan.

Dort hat's gerauscht! Aber kein Hase, kein Reh – ein großer, breitschulteriger Mann in Förstertracht steht plötzlich auf der Straße und lacht, daß es durch die stille Mittagsluft dröhnt:

»Seht Ihr, Mittler, das kömmt dervon, wenn wer sich verschwätzt und net Obacht gibt! Net viel gefehlt und der Gaul hätt' probiert, wie et da unten is – Schlafmützen, paßt doch auf! Wenn Ihr im Winter Holz stehlt, könnt Ihr de Augen besser aufsperren!«

»Dän Hähr Fechter!« Die beiden reißen die Mützen vom Kopf: »Guden Dag, Hähr Fechter!«

Der Angeredete rührt lässig mit der Hand an den Jägerhut, zieht den Riemen der Flinte fester an und schreitet ohne weiteren Gruß mit starken Schritten über die Straße; jenseits im Gebüsch verschwindet er.

Der Fuhrmann ballt die Faust hinter ihm drein:

»Dau Schinner – dau Schinnaos! E su de Leit zo erschrecken –« Und dann das Pferd klopfend: »Ruhig, Alder, ruhig!«

»Jao, jao, e su es hän!« Das Bäuerlein seufzt und nickt kummervoll mit dem Kopf: »Uns Könner därfen net mieh in de Wald giehn, for Beeren zo sochen; dän alde Fraleiten, de Streisel raffen, schmeißt hän de Hotten om on om, se kennten wat Onrechs drein verstoch haon! Mer darf och ke bißche Gras mieh for de Ziegen afschnieden – on su es hän alleweil, alleweil kujoneren! Unsen alden Hähr Fechter, dän waor anners – jao, jao, e su en Kreiz!«

»Laoßt sin.« Der Fuhrmann legte dem Seufzenden die Hand auf die Schulter: »Laoßt nor sin, dän Pantenburg, dän krit sin Afzahlung, su waohr ech Johann Mittler heeßen – dat Söhnche, dat Söhnche, dat gitt naoch ebbes! E su ne Jong han ech noach net gesiehn! De gans Dag es hän im Wald; statts in de Schul zo giehn, strawätzt hän erum, ke Boom es em zo heih. Sei'm Vatter stritzt hän de Hasen für der Naos fort on schenkt se de arme Leit; dän Hubert kann ald dat Schießen so gud als dän Alden sälwer, on e su forsch es hän – on e su – ech weeß net wie! De Mädercher kucken als noach em, on hän es noach net gefirmt. Aogen haot hän e su schwarz wie Vogelkierschen. Letzt haon ech em gesiehn ze Himmerod on ze Großlittgen, hän es öweral bekannt. Mit sei'm Vatter duht hän sech net verdraogen; dän haot em ald su geschlaon, dat hän net mieh stiehn kunnt, äwer da Jong es net zo ännern. Dat es en Mosjeh! Aewer mer haot em doch e su gären – et soll mech wunnern – dat gitt noach ebbes – hoa, harrüh!«

Man war auf der Höhe, der Weg teilte sich in zwei Straßen. Geradeaus die breite Chaussee, zu beiden Seiten von Hochwald gesäumt, führte nach Kyllburg; hier links stand ein Wegweiser: »Abtei Himmerod« und darunter in kleinerer Schrift: »Forsthaus«.

»Lao wohnt hän,« sagte der Fuhrmann und wies mit dem Peitschenstiel hinüber zu dem Tannenbestand, der sich tiefdunkel nach links erstreckte.

»Jao, jao.« Der andere nickte; dann ging's mit Hott und Harrüh die breite Siraße entlang. Noch knarrte der Wagen, noch knallte die Peitsche, dann war's ganz still im mittäglichen Wald.


Die Wipfel der hohen Tannen stehen in Glut getaucht, wie goldene Tränen sickert Harz am Stamm nieder; auf dem Fußpfad aber, der sich unter den breiten Behängen durch smaragdgrünes Moos schlängelt, ist kühlste Dämmerung. Eidechsen huschen über den Weg, ein Eichkater lugt mit klugen Augen vom Ast. Kein Menschenlaut, kein Hüttenrauch, auch kein Vogellied; Singvögel sind selten im Eifelland, nur die bräunlichen Häher mit leuchtend hellblauen Flügelbinden jagen einander mit mißtönendem Schrei um die Stämme.

Eine große Einsamkeit!

Schier endlos scheint der Kunowald, der sich von Manderscheid nach Himmerod und weiter gen Wittlich zieht – Buchen, Eichen, Tannen, vielhundertjährige! Bäume, Bäume, nichts als Bäume – und Hügel, Hügel, rundgewölbte Eifelhügel, wie Kuppen auf das Hochplateau gesetzt. Das Auge verliert sich im Gewirr von duftig blauen Schluchten und waldigen Bergrücken, hin und wieder ein Stück Heideland, mit rötlichem Teppich gedeckt. Nichts rührt sich, das Wild hält sich versteckt, die Tannen strecken die breiten Äste ab, keine Nadel fällt.

Horch, eine Kinderstimme! Sie singt:

»Heija, bombaija –
Wann annere Könner spiele giehn,
Moß ech bei der Wiege stiehn:
De Wieg' gieht nor:
Rube – de – bub, rube – de – bub –«

»Ha, ha – ha, ha, ha!«

Der Gesang hatte geendet, ein lustiges Lachen folgte, hell und übermütig klang es durch die Stille, dann rief eine Knabenstimme: »Noach ehs, Suß, sing noach ehs!«

Der Gesang hub wieder an:

»De Wieg' gieht nor:
Rube – de – bub, rube – de – bub –«

»Rube – de – bub!« Beide Stimmen nahmen den Refrain auf, dazwischen ein Lachen, als wollten die Kehlen ersticken.

Schräg blinzelten die Sonnenstrahlen hinter die dichte Wand von jungen Tannen. Dort in der kleinen Mulde, halb verdeckt von riesigen Farnwedeln, saß ein Mädchen, ein schlankes, halbwüchsiges Ding. Der grobe Rock hing ihr zerfetzt um die braunen, mageren Beine, den wildsträhnigen Kopf hatte sie an einen Stamm zurückgelehnt, grüngoldene Lichter huschten über das lachende Gesicht. Sie wiegte sich hin und her, daß der Bube in ihrem Schoß sacht geschaukelt wurde; seinen zerzausten Lockenkopf hielt sie in den Armen.

»Rube – de – bub, rube – de – bub – pardauz!« Sie warf die Beine plötzlich heftig auf die Seite, daß der Knabe von ihrem Schoß zur Erde kollerte; im Nu saß er wieder aufrecht und riß die Lachende an sich.

»Rube – de – bub!« Er faßte sie um den Hals und zog ihr Gesicht an das seine.

»Rube – de – bub! –« Sie hielten sich umschlungen, und hin und her wiegend, küßten sie sich. Immer wilder wurde das Wiegen, immer stürmischer das Küssen, sie lachten wie die Tollen. Der Schweiß lief ihnen über die glühenden Gesichter – nun hatte es ein Ende, sie konnten nicht mehr. Der Bube ließ das Mädchen fahren und warf sich mit einem tiefen Seufzer der Länge nach ins Gras: »Ah!« Er verschränkte die Arme unterm Kopf und starrte mit den schwarzen Augen hinauf zum tiefblauen Himmel.

»Suß, erzähl noach ebbes!«

»Ech weeß neist mieh!«

»Willste mer gleich ebbes erzählen – willste; Suß, dau frech Dingen, ech kößen dech sons mausdud!«

»Ne – e, ne – ha, ha!« Ihr Rock flog schon um den nächsten Stamm. »Feng mech, Hubert, feng mech!« Die nackten braunen Füße huschten durchs Gras, die wilden Haare wehten ihm dicht vorm Gesicht – nun war sie weg, er ihr nach, zwischen den Tannen durch ging die Jagd. »Feng mech, Hubert, dau kriehst e Kußchen!«

Husch, die Farnwedel knickten – nun war sie hier – nun dort! Hinter jenem Stamm blitzten ihn ihre kecken Augen an – da – ihr Rock hing fest – mit einem Jubelschrei sprang er auf sie los:

»Halali!« Schon streckte er die Arme aus – plötzlich wurde ihr lachender Blick scheu, sie hob warnend die Hand – ein Ruck, ein paar Fetzen hingen am Gestrüpp sie selbst war im Buschwerk verschwunden. Vor dem Knaben stand die hohe Gestalt des Försters.

»Marsch fort, nach Haus, Rumtreiber! Wer war das Mädchen, das eben fortlief?« Die Stimme des Vaters grollte, er packte den Sohn am Kragen und stieß ihn vor sich her. »Wer war das? Sag!« Die kräftige Faust schüttelte den Buben. Keine Antwort. »Willste et gleich sagen?«

»Nein!« Der Knabe stieß es zwischen den Zähnen hervor.

»So, du Strolch, denkste, ich weiß et net? Ich sag' der, treff' ich dich noch emal mit der Susanna Endenich, ich schlag' der alle Knochen im Leib entzwei un ihr auch. Dat sollt' mer fehlen, mein Jung sich mit dem Bettelmensch herumtreiben – haste mich verstanden?«

Der Bube senkte den Kopf, eine tiefe Röte war ihm langsam in die Stirn gestiegen, seine niedergeschlagenen Augenlider zuckten, aber er sagte nichts.

»Haste mich verstanden? Antwort!« Ein ermunternder Puff traf den Knaben in den Rücken.

»Ne – de Susanna Endenich is ke Bettelmensch!«

»Kein Bettelmensch?« Der Vater lachte rauh. »Hör einer! Wer hat kein Brot im Dorf, wem fällt das Dach überm Kopf zusammen, wer geht in den Wald und stiehlt Holz? Da heißt es gut: mer suchen Besenreis! Wer legt Schlingen für de Hasen? Wer läuft in Lumpen? No, sag!«»

Se sein arm!«

»Arm – ha, ha – arm?! Bettelpackasch sind se all zusammen, der alte Endenich, sein Madam samt der kleinen Brut – das hat jetzt en End! Hubert, ich sag' der in allem Ernst, du gehst mer net mehr zum Besenbinder Endenich – und das Mädchen läßte laufen, sonst –« Der Förster mäßigte plötzlich die erhobene Stimme: »Gut, daß de zu Micheli gefirmt wirst, ich bring' dich rum nach Wittlich zu Kaufmann Kortz in de Lehr – dann hat die Lumperei überhaupt en End!«

»Mech – mech?« Der Sohn hob den Kopf, wie Todesangst flog es über sein Gesicht. »In de Lehr – in de Stadt – fort aus em Wald?!« Er atmete tief mit einer heftigen Bewegung griff er nach der Hand des Vaters. »Net in de Stadt, net in de Stadt – ech giehn net daor! Ech will net an Kortzen!« Des Knaben Lippen zitterten, er preßte seine beiden Hände fest um die schwielige Faust. »Ech duhn ales dir zo lief, nor laoß mech hei, laoß mech Fechter gänn!«

»Nix da!« Der Mann machte sich unsanft los. »Fürderhand bin ich das, ich allein; en unnützen Brotfresser brauch' ich net im Haus. Was da, Förster?! Du denkst wohl, das is weiter nix als im Wald erum ze lungern? Du wärst der rechte, da hätten die Holzdieb alle Tag Kirmes un mit den Wildrern wärste gut Freund – ne, mein Sohn, du gehst nach Wittlich, Kortz wird dir schon Konduiten lehren bei de Siropfäffer – punktum, sag nix mehr – punktum!«

Das letzte Punktum dröhnte durch den Wald, wie ein Echo hallte es aus den Tannen wider. Vor des Knaben Augen schwankten die grünen Bäume hin und her, sie winkten ihm. Wie war die Sonne so golden, die Luft so köstlich! Seine Brust dehnte sich, als wollte sie zerspringen – und das alles lassen? Nie, nie! Sein Fuß stampfte heftig den Boden, seine Augen blitzten, er stemmte beide Fäuste in die Seiten und warf den Kopf zurück. So stand er dem Vater gegenüber.

»Nie – ech giehn net an Kortzen, ech bleiwen im Wald – schlao mech dud!«

»Du gehst net? No wart – heilig Kreuzdonnerwetter, verfluchtes Luder!« Die Ader auf der Stirn des Försters schwoll, der Jähzorn übermannte ihn; er stieß den Sohn, daß er zur Erde taumelte, er trat ihn mit dem Fuß in die Seite, er drückte ihn mit dem Knie nieder und zerrte ungestüm am Riemen seiner Büchse, der wie gemacht war, dem Widerspenstigen eins aufzuzählen. Der Junge, die Zähne aufeinander gebissen, gab keinen Laut von sich, der Schweiß perlte ihm auf der Stirn, er war totenbleich. Schon schwang der Vater den Riemen – da – ein blitzschnelles Sichumwenden, ein Kollern über den Boden – die geschmeidige Gestalt rollte den dichten Gebüschen am Abhang zu – nun richtete sie sich auf die Füße – ein Rieseln, ein Rutschen im Schiefergeröll – ein Rascheln im Laub – ein Brechen von Ästen – fort war sie!

Der Förster stand allein. Mit wutverzerrtem Gesicht, auf der Stirn die Ader wie ein glühender Streifen, starrte er dem Flüchtling nach. Das war zu viel! Das sollte er büßen!


Über acht Tage waren es, seit Hubert Pantenburg nicht heimgekommen. In der Försterei war's stiller denn je zuvor. Wie ausgestorben lag das weißgetünchte Haus am Waldrand, an der Fahrstraße, die über Kloster Himmerod nach den Dörfern Großlittgen und Eisenschmidt führt. In früherer Zeit war es hier belebter, da rollte zweimal täglich die Post vorüber, der Postillon blies das Horn, Fremde stiegen aus, um den Waldpfad ins Salmtal hinunter zu wandern und die Ruinen der Abtei Himmerod anzustaunen. Jetzt hat der Postverkehr einen andern Weg genommen, nur wenige Fußgänger, noch weniger Wagen kommen vorüber. Die Frau Försterin hatte weiter nichts zu sehen als die Ebereschenbäume zu Seite der Straße mit ihrer Last brennend roter Beeren.

Sie saß hinter den Scheiben und nähte, den sauber gescheitelten Kopf tief auf die Arbeit geneigt. Nun ließ sie die Hände mitsamt dem Stück Weißzeug in den Schoß sinken, sie seufzte tief, und eine Flut brennender Tränen schoß ihr jäh über die Backen. Erschrocken blickte sie um sich – Gott sei Dank, er hatte es nicht gesehen! Verstohlen wischte sie die Tränen ab und hielt sich die Näherei dicht vor die Augen.

»Heulste schon wieder?« Wie spöttisch und hart die Stimme des Försters klang! Er saß am Tisch, ein großes liniiertes Eintragebuch vor sich. Nun legte er die Feder so unsanft nieder, daß sie spritzte und ein Regen schwarzer Perlchen über das Papier sprühte. »Daß de Weiber alleweil flennen müssen – spar dein' Tränen for was Besseres – dän frechen Lümmel wird schon heimkommen, wann ihn der Hunger treibt!«

»Ach Jesses, Willem, red net so!« Die Frau wandte das leidvolle Gesicht ihrem Mann zu. »Red net e so! Du has ja selber Angst!«

»Ich?!« Pantenburg sprang auf, daß der Stuhl hinter ihm zu Boden polterte. »Mag der – der Rumtreiber im Wald liegen un verfaulen, ich rühr' kein Finger, un kommt er heim« – er griff sich heftig in den langen schwarzen Bart, und ein drohendes Licht flammte in seinen tiefliegenden Augen auf – »dann – dann –«

»Willem, Mann,« – Annamargret Pantenburg legte ihre verarbeitete Hand auf den Arm des Zornigen – »sei gut – kuck, ich vergehen vor Angst!« Sie brach in ein schmerzliches Weinen aus.

Der Mann brummte etwas Unverständliches und schob mit einem rauhen Griff ihre Hand von seinem Arm. Sie faßte wieder danach, ihre Stimme klang flehend: »Willem! Et is unsen einzigen, denk dadran! Du bis auch emal jung gewest, er hat was von dir – aber er hat e so en weich Herz, en Herz wie Butter, ich kennen et – wann dän Jung sich en Leids antut – Willem, da begrab mich nur gleich, ich mag nimmeh leben!« Sie warf die Arme über den Tisch und den Kopf darauf, ein jammervolles Schluchzen erschütterte ihre schmächtige Gestalt.

Mit starken Schritten ging der Förster in der kleinen Stube auf und nieder, sein düsterer Blick traf die Weinende. Ja, da lag sie über dem Tisch, das gebrechliche Weib, ein Schatten von dem, was sie einst gewesen! Vor des Mannes Gedanken tauchte das frische, blonde Mädchen auf, das er vor sechzehn Jahren gefreit – noch gar nicht solang' her und die abgezehrte Heulliese daraus geworden! Er zuckte die Achseln und legte dann die Faust hörbar auf den Tisch: »Jetzt mach en End, Frau! Ich versprech der, kömmt den Hubert heut oder morgen heim, ich tu' ihm nix.«

Die Weinende antwortete nicht – eine Pause – dann fuhr er fort und versuchte seiner Stimme einen versöhnlichen Klang zu geben: »Annamargret, was meinst du, wenn mer de dreitausend Taler, die du zu Wittlich hast, auf meinen Namen einschreiben ließen? Et wär' sichrer – ich bin bang, wann den Hubert in Wittlich is un Wind dervon kriegt, der Jung wär' imstand, ließ se sich auszahlen un macht da dermit nach Amerika. Et is klüger, Frau, se schreiben das Geld auf mich, da kann nix passieren – was sagste, hm?«

»Ne, ne,« – die Frau richtete sich auf und strich mit den zitternden Händen die zerstörten Haare glatt – »dat Geld is dem Hubert –«

»No, natürlich,« unterbrach sie der Mann hastig, »das versteht sich, aber ich mein' nur wegen der Sicherheit –«

»Ne, laß nur, das Geld is ganz gut e so eingeschrieben, ich will nix ändern.«

»Wie de willst – Weiber sind allemal dumm!« rief der Förster grob und griff nach der Türklinke; schon im Hinausgehen wandte er sich noch einmal um: »Also, wann dein Hubert heut oder morgen kömmt, soll et vergessen sein, aber sonst –.« Er machte eine bezeichnende Handbewegung und warf krachend die Tür hinter sich ins Schloß.

Die Frau war allein. Sie sank auf den nächsten Stuhl und faltete die Hände ineinander, mit brünstigem Flehen richtete sich ihr Auge nach oben: »O, du mein Heiland, mit deinen blutigen Wunden, du süßes Herz Jesu, erbarm dich mein um deiner hochgebenedeiten Mutter willen! Meine Brust ist zerrissen, als seien sieben Schwerter drein – o Jesus, Maria, Josef, mein Kind, mein Kind! Wo is er, was tut er? Ich such' ihn mit Tränen. Maria, Mutter Gottes, laß du mich ihn finden! Ich gelob' der eine Wallfahrt nach Kloster Buchholz, ich geloben der zwei Wachskerzen so dick wie en Arm – Hubert, Hubert, wo biste? Komm zu mir!« Sie streckte sehnsüchtig die Arme aus. »O, du mein Schmerzenskind, komm wieder, komm zu deiner armen Mutter! Hubert, Hubert!« Die ausgestreckten Arme fielen ihr schlaff herunter, sie sank in sich zusammen; so saß sie lange.

Nichts regte sich im Zimmer, nur die Uhr tickte, an der Scheibe summte eine verflogene Biene. Graue Schatten krochen die Wände entlang, es ward dämmerig. Wieder ein Abend da – und er kam nicht!


Das Abendessen im Forsthaus war vorbei, schweigend hatten sich die Eheleute gegenüber gesessen.

Der Mann hatte wacker zugelangt, der Frau quollen die Bissen im Munde.

Nun waren Suppe und Kartoffeln abgetragen, der Förster saß im Lehnstuhl, das Kreisblatt vor sich, und schmauchte; die Stube war mit blauem Dunst gefüllt.

In der Küche wusch die Försterin die Schüsseln, sehnsüchtig glitt ihr Blick dabei durch das kleine Fenster; es schaute hinaus in den Wald, der sich hier unmittelbar an die Rückseite des Hauses drängt. Da drinnen war er wohl. »O, Hubert!« Ein leises Pochen an der Scheibe ließ sie zusammenschrecken – war das ein Vogel, der vorüberstreifte? Ein Rascheln, ein Knistern draußen! Sie näherte ihr Gesicht dem Fenster und schreckte zurück: zwei glänzende Augen hatten in die ihren geschaut, zwei Reihen blendender Zähne sie angelacht. Wer war das?

Sie öffnete, eine leichte Gestalt schwang sich aufs Fensterbrett; im Mondlicht, das zitternd hereinbrach, sah sie in ein sommersprossiges, keckes Mädchengesicht – war das nicht die wilde Suß aus Großlittgen, dem Besenbinder Endenich seine?

»Pst, pst!« Das Kind schwang sich vollends hinein und faßte nach der Hand der Frau: »Kummt, Eier Hubert es hei, hän will Eich sprechen!«

»Mein Hubert – wo – wo?!« Die Försterin riß die Schürze herunter, wie verwirrt fuhr sie sich am Leibe auf und nieder. »Kind, wo is hän, wo?«

»Kutt nor!« Die Kleine wies nach der Küchentür, hastig schob die Frau den Riegel zurück; sie standen draußen auf dem schmalen Höfchen, zwischen Wald und Haus. Im Stall grunzte das Schwein, die Ziegen meckerten dumpf – die Försterin blieb stehen und sah sich zitternd um. Wenn er es merkte!

»Kutt nor, mer giehn eloa eröwer,« drängte das Mädchen und zeigte auf den kunstlosen Stangenzaun. Wie eine Katze kroch es hinüber, schwerfälliger folgte die Frau.

Nun standen sie im Wald – Gott sei Dank, drüben im Haus alles ruhig! In der Küche brannte die Lampe im offenen Fenster, sie flackerte ein wenig im Zugwind. Welch eine Nacht! Der Himmel voll unzähliger Sterne, wie große, leuchtende Augen blickten sie nieder, und der Mond, als volle, runde Scheibe, goß ein wunderbares, blauzitterndes Licht über die Erde. Selbst im dicksten Wald war's nicht ganz dunkel, deutlich erkennbar huschte die Gestalt des Mädchens den schmalen Fußpfad entlang; die Försterin folgte, die Hände auf das klopfende Herz gedrückt. In den Büschen rauschte allerlei Getier, ein Kauz rief vom nächsten Baum: »Kiwitt – kiwitt!« Suß lachte und antwortete leise, halb rufend, halb singend: »Komm met – komm met!« dann sprang sie weiter.

Jetzt waren sie eine Viertelstunde gegangen, lautlos, ohne ein Wort miteinander zu reden; die Försterin kannte den Schleichweg nicht. Plötzlich blieb das Mädchen stehen – eine Lichtung im Wald – strahlendes Mondlicht über dem Rasengrund – mitten darauf, wie ein Zauberspuk, die Ruinen der Abtei Himmerod! Mit einem »Ah!« hielt die Frau den Schritt an, selbst das sorgende Mutterherz vergaß für Augenblicke seine Ungeduld.

»Gel, dat es scheen?« Suß wies mit einer stolzen Gebärde auf den Wunderbau. »Dat haot Ihr noach net e su gesiehn, Madam? Jao, wann dän Hubert on ech Geld haon, dann kaufe mer ons dat Klösterche vom Heiljen Bernhard, äwer mer maache en Schloß daodraus on dän Wald wächst ringsom! Hui!« Sie stieß einen lustigen Pfiff aus und hüpfte von einem Bein aufs andere; wie ein Kobold tanzte sie im Mondschein.

Frau Annamargret schlug ein Kreuz: »Heilige Mutter Gottes, bewahr du meinen Hubert an Leib un Seel!« Fast widerwillig folgte sie dem Mädchen. Immer massiger tauchten die Ruinen auf, ungeheuer groß lagen sie im verklärenden Schimmer; sie waren der Försterin noch nie so erschienen. Da war das Riesenportal, frei, ohne jede Stütze stand es im Rasen; über der Tür die Steinurne, daraus ein flammendes Herz lodert, über den Wappenschildern zur Rechten und Linken statt des Kreuzes kecke Tannenbäumchen. Aus den Ritzen und Fugen der Quadern lange Weidenzweige, wie wehendes Haar. An jedem Blatt, an jedem Hälmchen silberne Tautropfen gleich tausend Juwelen. Fernab rauscht die Salm – ringsum der Wald, eine dunkle Riesenmauer – als Dach über allem der Himmel, groß und weit!

»Jao, da sitzt hän als en Frech im Keller on laustert!« Das Mädchen kicherte in sich hinein und faßte die Hand der Frau: »Ech moß Eich eweil föhren!«

Es ging durchs Portal rechts ab, hohes Gras reichte den vorsichtig Schreitenden fast bis zum Knie – jetzt ein paar Trümmerhaufen – Schutt, Geröll – man rutschte, man kletterte – und nun hohe Steinbogen, ein langer, wohl erhaltener Gang, durch dessen schöne gotische Fensterhöhlen das Mondlicht flutete und der Nachtwind säuselte. Die Försterin schauerte, bis hierher war sie sonst nie geraten.

»Wo sind wir?« Sie erschrack vor der eigenen Stimme, die unheimlich von den Bögen widerhallte. »Was is das?«

»Dän Kreizgang,« sagte die Führerin gleichmütig, »on nau böckt Eich, eweil haot hän en End, mer müssen nau ebbes krabbeln!« Niedergleitend zog sie die Försterin vor ein Loch in der Wand, unheimliche Finsternis gähnte ihnen entgegen, eine schaurig kalte Luft strömte heraus. »O Jesses!« Frau Annamargret schauderte zurück. »Da drin is den Hubert?«

»Jao, jao – Ihr haot keen Angst nedig, hän duh schlaofen, sunst wär' hän als hei!« Die Kleine kauerte auf die Füße und duckte sich, sie riß die Zögernde mit hinab – ein Rutschen und Rieseln von Erde und Steinchen – ein Wirbel von Staub. »Wuptich!« lachte Suß. Unten waren sie. Wenig tastende Schritte im Dunkel, zur Seite stieß man an rauhe Wände, es roch nach Moder und Schimmel – jetzt hob sich das Gewölbe, sie standen ln einem weiten, luftigen Keller. Ein Feuer brannte in der Mitte, daneben auf Moos und Heu eine Gestalt am Boden.

Das war er! Mit pochendem Herzen stürzte die Mutter vorwärts – da lag ihr Junge, den hübschen Krauskopf behaglich ins Heu geschmiegt, und schief so sanft und fest wie daheim in seinem Bett. Die Röte der Gesundheit glühte ihm auf den Wangen, die vollen Lippen spitzten sich vergnügt, die kräftige Brust hob und senkte sich gleichmäßig.

»Hubert!« Es zitterte etwas Unbeschreibliches durch das Mutterherz – halb Schreck, halb Freude – sie fiel neben dem Schläfer auf die Knie: »Hubert!«

Der Knabe öffnete sofort die Augen, sie glänzten freudig; mit einem Laut des Entzückens schlang er beide Arme um die Knieende und drückte seinen Kopf an ihre Brust: »Modder, mei Modder!«

Mit zitternden Händen streichelte Annamargret Pantenburg die verwilderten Locken ihres Sohnes, dann schob sie ihn sanft von sich: »O, Hubert, was machste uns for en Kummer!«

»Uns?! Ne, Modder, dir! O, mei Modder, ech sein e su bang naoch der gewest – mein Modder!« Heiße Küsse brannten auf ihren Lippen, ihren Wangen, ihren Augen, dann richtete sich der Knabe plötzlich auf und sah ihr halb bittend, halb trotzig ins Gesicht: »Aewer, Modder, dau durfs mech net verraoden, dau durfs em net saon, wuh ech sein! Ech kommen nimmeh häm.«

»Hubert, Hubert!« Entsetzt hob sie die Hände: »Böses Kind, red net e so dumm Zeug, was willste hier, was soll aus dir werden?«

»Noa, ebbes sehr Scheenes,« er lachte sorglos, »en Jäger, Modder!« Dann verfinsterte sich seine Miene: »Hau haot gesaot, ech mößt nach Wittlich an Kortzen – ech kann net, ech kann net, ech ersticken hinner der Thek.« Der Junge griff sich nach dem Hals, als würge ihn dort etwas, seine Augen bekamen einen wilden, geängsteten Ausdruck wie ein Tier, das man in die Enge treibt. »Ech kommen nimmeh häm, hörste, ech kommen nimmeh häm!« Eine unbeugsame Entschlossenheit brannte in seinen Augen, fast männlich stark klang seine Stimme: »Ne, nimmeh! On wann ihr mech haalen duht, ech laafen doach widder weg!«

Annamargret Pantenburg sagte gar nichts; ihre Lippen bewegten sich nur, als murmelten sie die letzten Worte mit, ihr Blick hing unverwandt an dem Gesicht des Sohnes. Er gab diesen Blick zurück, trotzig, herausfordernd, ein noch tieferes Rot färbte seine frischen Wangen. Plötzlich zuckte er, die Mutter sank in sich zusammen und drückte wimmernd ihr Gesicht in die Hände: »Da begrab mich erst, Hubert – dann kannste gehn!«

»Modder!« Er griff nach ihren Händen und zog sie herunter, seine Augen füllten sich jählings mit Tränen: »Modder, Modder, hör uf, ech kaonn dech net weine siehn – Modder – lief goldich Modderche!«

»O, Hubert, du bis mein Einziges auf der Welt, was hab' ich denn sonst? Alle Sonne geht weg mit dir, un ich bin wie im Grab. Hubert, du brichst mir et Herz! Hubert, komm heim, sei gut, vertrag dich mit em Vater – mein Jung – mein Hubert, hör, was dein arme Mutter dich bitt!«

Sie streckte stehend die Hände aus, der Knabe schluchzte laut; über sein Gesicht jagten sich die wechselnden Empfindungen – Liebe, Furcht, Trotz, Verlangen – aber die Liebe siegte.

»Modder« – stockend kam es ihm von den Lippen – »werd dän Fechter mech schlaon?«

»Nein, nein!«

»Gewiß net?«»

Ne, ne, gewiß un wahrhaftig net!«

»Modder, äwer an Kortzen –«

»Laß jetzt Kortzen!«

»Äwer an Kortzen giehn ech net, ech giehn net!« Er zitterte.

»Ne, ne, du sollst ja net, es findt sich alles! Komm nur nach Haus – o, du mein Jung, was hab' ich for Kummer um dich!« Sie zog ihn an sich, halb widerstrebend, halb sehnsüchtig folgte er, wie betäubt lehnte sein Kopf an ihrer Schulter. Sie küßte ihm die geschlossenen Augenlider und machte das Zeichen des Kreuzes über ihn, dann strich sie ihm zärtlich mit sanfter Hand die wilden Locken aus der Stirn; Moos und Heu hafteten drin. »Mein Hubert, wie siehste aus – so schmutzig – das Wams zerrissen – mein armer Jung – wart nur, ze Haus tuste dich rein an, ich leg' der dein Sonntagszeug an't Bett, derweile flick' ich das andere – mein gutes Kind – un denk' der, Hubert, wie wird sich der Waldes freun un de Diana! Die Hund haben net fressen mögen, seit du fort warst – gelt, Hubert, du freust dich?« Die Försterin sprach hastig, ohne Atem, dazwischen murmelte sie Liebesworte, unablässig streichelte ihre Hand seine Backe.

»Laoß, Modder!« El machte sich frei und schritt dem Ausgang zu. »Komm!«

Eilig folgte Frau Annamargret und drängte sich dicht hinter den Sohn; plötzlich wandte dieser, wie suchend, den Kopf, seine Augen spähten in die dunkeln Winkel des Kellers: »Suß!« Er streckte die Hand aus: »Suß, wuh biste? Adjüs!« Keine Antwort. Unruhig blickte er umher: »Modder, woar es dat Suß gangen?«

Die Försterin schüttelte den Kopf: »Ich weiß net, ich hab' net auf sie geacht. Komm jetzt, komm!«

»Ne, ech moß et noach sieh«. Suß, Suß!« Laut hallte der Ruf von den Wänden wider. »Et is net mieh hei!« Hubert ließ enttäuscht den Kopf sinken, dann folgte er der Mutter.

Kaum hatten die beiden das Gewölbe verlassen, so regte sich's dort am Boden, im entfernten Winkel. Hinter einem bröckligen Mauerrest kroch das Mädchen vor; es sprang zum Feuer und stieß die Brände auseinander, daß sie, Funken sprühend, verlöschten.

»Dän – dän–« Suß knirschte mit den Zähnen, ihre Augen schielten böse. »Hän haot ke Korasch net – dän Schmachtlapp – dän –« Sie faßte mit beiden Fäusten in ihre wilden Haare und riß sich wütend daran; in ihrem Gesicht zuckte es, als wollte sie weinen, gleich darauf lachte sie schadenfroh und krallte mit gespreizten Fingern in die Luft. »Hän kömmt widder!« Triumphierend nickte ihr Kopf, dann tastete sie beim letzten Verglimmen des Feuers zum Keller hinaus.

Hubert Pantenburg war zu Gnaden angenommen. Was die Flüche des Vaters nicht vermocht, vermochten die Tränen der Mutter. Frau Annamargret ließ nicht nach. Alle Abende trat sie ans Bett des Sohnes und flüsterte: »Mein Hubert, gelt, du bis gut, du tust dem Vater den Willen?« Am Morgen saß sie schon wieder da. »Mein Hubert, gelt, du tust deiner Mutter was zulieb?«

Kortzen und Kortzen und wieder Kortzen! Sie bettelte und weinte.

Die Seele des Knaben ward wund und müd. Er mochte kaum mehr in den Wald; er saß unter den Ebereschenbäumen an der Straße und sah mit brennenden Augen den Schwalben zu, wie sie sich auf den Telegraphendrähten sammelten. Die kamen von weit her, vom Rhein, aus den Tälern der Mosel; sie zogen über die Eifel auf ihrem Flug, sie enteilten in andere Länder. Die roten Ebereschen fielen, matt vom Reif, nieder auf die kotige Straße, der Wind zauste die Blätter – Herbst!

Hubert Pantenburg kannte sich selbst nicht mehr. Nun war er gefirmt, nun war er ein erwachsener Mensch, sagte der Kaplan; und doch hätte er weinen mögen wie ein Kind. Da kollerte ein braunes Blatt über den Weg, der Wind trieb es dem Walde zu – ja, ach ja, dahin hätte auch er gemocht! Nun kam ein zweiter Windstoß – das braune Blatt ward zurückgetrieben, hin wirbelte es, die Chaussee entlang, über die schmutzige, öde Landstraße.


»Unsen Hubert ist so verändert,« klagte die Försterin. Zitternd stand sie zwischen Vater und Sohn, bewachte jedes Wort, belauerte jede Miene; unzählige Gebete stiegen zur Mutter Gottes empor.

»Ich werd' ihn schon klein kriegen; siehste, er gibt als nach,« sagte der Förster triumphierend und scheitelte mit der Rechten den krausen schwarzen Bart.

Die Eheleute waren miteinander in der Schlafkammer; das Lämpchen brannte matt unterm Spiegel, vor dem Annamargret stand und die Nadeln zur Nacht aus den Flechten zog. Der Mann lag bereits im Bett, sein dunkler Kopf hob sich wie ein Fleck von den blau und weiß karrierten Bezügen; mit halb geschlossenen Augen folgte er den Bewegungen der Frau. Sie hatte reiches Haar von einem sanften, fahlen Blond; nun ihr die langen Zöpfe über den Rücken hingen, sah sie mit der schmächtigen Gestalt fast aus wie ein junges Mädchen. Das Lampenlicht flackerte über ihre milchweißen Arme.

Der Mann im Bett machte eine Bewegung, er richtete sich halb auf – draußen pfiff der Herbstwind und rüttelte an den Läden – solch eine Nacht war's gewesen, als er mit seinem jungen Weib zum erstenmal im Forsthaus schlief! Damals hatte sie ihm am Halse gehangen, mit schüchternen Lippen seine Küsse erwidert – damals – ja, da war der vermaledeite Bengel nicht, mit dem sie tat wie eine Verrückte! Seit der Bub in der Wiege gelegen, war's aus. Früh verwelkt, unlustig zu ehelicher Zärtlichkeit, hatte sie nur Gefühl für den. Und ihr Geld?! Warum hatte er sie eigentlich geheiratet? Ein zynisches Lächeln glitt über sein Gesicht – es gab hübschere Mädchen mit heißeren Sinnen! Ja, ihr Geld, das hatte sie dem Bengel verschrieben, der ihm täglich das Blut in Wallung brachte, der alle Anlagen zum Strolch in sich trug! Förster Pantenburg war ehrgeizig, er hielt auf Reputation wie keiner. Der Sohn, der wie ein Zigeuner draußen herumlungerte, der mit des Besenbinders Tochter Freundschaft hielt, ging ihm gegen die Ehre – das mußte geändert werden! Und das Geld? Starb sie, ging er, der Mann, leer aus. Donnerkreuz, das mußte geändert werden!

»Annamargret!«

Die Frau vorm Spiegel fuhr zusammen, sie hatte die Zöpfe gestrählt, dabei mit allen Sinnen gelauscht, ob droben auf der Bodenkammer nicht wieder die Füße des Sohnes ruhelos hin und her wanderten.

»O Jesses, er is e so verändert,« seufzte sie.

»Wer?«

»Nun, den Hubert! Ach, Willem,« fuhr sie mit plötzlichem Entschluß fort und drehte sich dem Bett zu, »Willem, gib doch den Gedanken mit Kortzen auf! Et bricht mir 't Herz, wenn ich mei'm Kind immer zureden muß un seh' doch, ich stoß' ihn aus aller Freud – gib doch den Gedanken mit Kortzen auf, ich bitt' dich hundertmal!«

»Annamargret« – der Förster dämpfte seine Stimme zu einer ungewohnten Weichheit – »komm emal her!«

Verwundert folgte sie; er zog sie mit dem starken Arm näher heran zu sich auf den Bettrand.

»Was du for schönes Haar hast!« Er strich ihr mit der freien Hand über den glatten Scheitel und den Rücken hinunter. Verwirrt wollte sie aufstehen, eine tiefe Röte stieg in ihr bleiches Gesicht – das war so ungewohnt!

Der Mann zog sie wieder nieder, jetzt legte er gar den Arm um ihren Leib.

»Annamarget, is denn der Jung alles un alles, machste dir denn gar nix mehr aus mir? Es hat doch en Zeit gegeben, da war dir der Förster Willem net gleichgültig – weißte, es war en Abend wie heut, da haben mer hier zum erstenmal – hier am selbigen Platz –« Er faßte sie fester um den Leib und sah ihr mit einem Lächeln in die Augen, das ihr das Blut von neuem in die Wangen trieb. Sie atmete beklommen. »Gelt, Frau, du hast et auch net vergessen?!«

»Ich – ich –« Sie stotterte, sie schlug die Augen nieder – wie war er nur heut? Trunken war er nicht – aber sonst so grob, heut so freundlich?!

»Komm, Alte!« Er gab ihr einen herzhaften Kuß, sie bebte unter der ungewohnten Zärtlichkeit. »Siehste, laß den Jung nur erst zu Wittlich sein, dann sind wir wieder allein, dann ist's wie zu Anfang. Wann ich net ewig gereizt werd', bin ich en ganz trätabler Mann, du sollst et sehen, Annamargret!«

»Ach, Willem« – seine Freundlichkeit gab ihr Mut – »ich tu' ja, was du willst, ich red' dem Hubert Tag un Nacht zu, aber et is mir e so schrecklich – laß den Jung doch Förster werden, weswegen denn net?« Sie faßte bittend seine Hand.

»Das verstehste net!« Pantenburgs Gesicht verfinsterte sich, aber die Stimme behielt den überredenden Klang; so redet einer einem Tier zu, wenn es aus der Hand fressen soll und mag nicht. »Glaub nur, ich durchschau den Hubert klarer wie du. Er hat den Hang zum Lungern, un der Wald is sein Unglück. Der is net gemacht, den Holzdieben auf de Finger zu passen un den Wilddieben eins aufzubrennen, der macht selber mit. Er muß weg, et is Ehrensach for mich!«

»Ach, den armen Jung!« Die Frau weinte.

»Heulliese!« schwebte es auf den Lippen des Mannes, aber er bezwang sich. »Ho, ho, wein net!« Mit der muskulösen Hand fuhr er ihr übers Gesicht und preßte dann ihren Kopf fest an seine Brust, unwiderstehlich fest, sie konnte sich nicht mehr aufrichten. Wie ein geknickter Weidenzweig hing ihm das Weib in den Armen. Er flüsterte ihr was ins Ohr – sie zitterte – sie schauerte.

Am Morgen war es beschlossene Sache, in acht Tagen kam Hubert nach Wittlich. Frau Annamargret wagte den Blick nicht aufzuschlagen; sie kam sich vor wie der eine, der den Heiland verraten hat.


Es war der letzte Tag vor der Abreise. Hubert Pantenburg schlenderte den oft gegangenen Weg nach Großlittgen. Er blieb viel stehen und sah sich um. Da waren der Wald und die Berge, da war die Abtei mit ihrem Schlupfwinkel – Nebel drüber und blasser Himmel. Hubert wanderte mit finsterem Gesicht. Gestern, zum letzten, hatte es noch einen Tanz mit dem Förster gegeben. ›Vater‹ sagte der Knabe nie. Beim Mittagessen war's, Mutter und Sohn saßen schon wartend am Tisch; rauh lachend war Pantenburg eingetreten und hatte die Tür hinter sich zuknallen lassen: »Den haben mer!«

»Wen?« fragte die Förstenn, halb erschreckt.

»No, den Stehler, den Endenich! Hab' ich doch den Kerl ertappt, wie er oben am Kaisergarten mit der hochbepackten Schiebkarr voll Laub daherkömmt! Die Sach schien mir gleich verdächtig, ich schmeiß' em den Krempel um – richtig, liegt drunter Klafterholz un en junger Has'! Der Kerl war wie vom Donner gerührt, auf den Knien hat er gelegen un geheult – das feige Luder! Zahlen kann er die Buß net – no, das Holzstehlen und den Jagdfrevel wollen wer ihm schon eintränken. Der verfluchten Wirtschaft muß mer en End machen. Auf das Gewinsel von ›krankem Weib, hungrigen Kinder, kein Brot, keine Arbeit‹ kann unsereins bei Ehr un Pflicht net hören – mer kennt die Pallasch!«

Unruhig war die Försterin auf ihrem Stuhl hin und her gerutscht; sie sah, wie eine dunkle Röte dem Sohn ins Gesicht stieg.

»Dat is grausam,« sagte Hubert plötzlich und sprang auf.

»Was?!«

»Du bis grausam – de Leit haon recht, wann se ›Schinner‹ for dech saon!«

»Hubert – Hubert!« Die Mutter versuchte dem Knaben den Mund zuzuhalten. Er machte sich unsanft frei.

»Schinner!« Seine Augen sprühten, wie zwei Kampfhähne standen sich Vater und Sohn gegenüber; auch der Förster war aufgesprungen. Seine mächtige Hand langte über den Tisch – klatsch – eine Ohrfeige fiel – klatsch – noch eine! Mit einem verächtlichen: »Du Biwak!« drehte der Mann sich um und verließ die Stube.

Mit geballten Fäusten stand der Knabe. Er wollte ihm nachstürzen, seine Zähne bissen sich aufeinander, er zitterte vor Wut; die Mutter hing sich an ihn.

Ja, so war es gewesen! Das war gestern, und heute schritt Hubert nach Großlittgen zum Haus des Besenbinders. Suß hatte er lange nicht gesehen. Sie lief vor ihm fort, sie war ihm böse. Einmal hatte er sie getroffen, wie sie am Wegrain saß und Äpfel schmauste.

»Gelt, scheene Appel?« hatte sie gesagt und mit den festen Zähnen in einen hineingebissen, daß es knackte. »Ech haon dech eweil net mieh nedig; Schommers Hanni, dän es naoch menem Ehs – on Äppel haot dän!« Sie hatte sich lachend auf den Leib geklopft und ihn herausfordernd angesehen. In eifersüchtiger Wut hatte er ihr den Apfel aus der Hand geschlagen und ihren Arm hin und her gerüttelt. Sie war ihm entwischt, sie war davongerannt wie der Wind, er hörte sie noch schreien: »Bleiw mer daodannen, dau Schmachtlappes – dau Schmachtlappes!«

Heut wollte er ihr doch Lebewohl sagen. In Huberts Seele war eine große Traurigkeit, ein dumpfer Druck legte sich ihm auf die Stirn. Nun war er an des Besenbinders Hütte, sie lag abseits vom Dorf, ein verfallenes, elendes Steinhäuschen mit einem tiefhängenden dunkelgrünen Moosdach drüber. Er stieß die Tür auf, drinnen war es halb dunkel; durch das blinde, spinnverwebte Fensterchen fiel ungenügend Licht. Der eine Raum war alles in allem – Koch-, Schlaf- und Wohnstätte.

Ein elendes, aber nicht häßliches Weib stand an dem rohen Steinherd und fachte mit dürrem Reisig eine spärliche Flamme an; bei dem Anblick des jungen Burschen ließ sie das Gestrüpp fallen und brach mit heiserer Stimme in Verwünschungen und Klagen aus:

»Dän Schinner, dat Schinnaos! Unsen Vadder haon de Schandarmen ald gestern awend afgenommen, Gott weeß, wanneh hän widderkemmt – o, ech arm Dier!« Sie spuckte aus. »Soll em de Kränk in de Bein faohren, däm Fechter, däm Schinner! Wat soll ech duhn?! De Könner schreien for Brud, ech sälwer sein e su elendig« – sie hustete erbärmlich – »ech kaonn neist mieh verdeenen! Ech haon als e su vill gekrisch – Jeßmarijusep – ech arm Dier – o Jemmich, Jemmich!«

Sie rang die Hände und weinte bitterlich, ein Klagegeheul antwortete; in allen Winkeln wurde es lebendig, mit unheimlicher Geschwindigkeit kamen zwei größere Kinder angestürzt: »Modder, zo äßen, Modder!« Auf krummen Beinen kam ein drittes angewackelt, ein viertes kroch auf allen Vieren heran. »Modder, zo äßen, Modder!«

Das war ein Geschrei, ein Zerren an den Falten des armseligen Rocks, ein Geheul, ein Gestank nach Lumpen und Elend – Hubert schüttelte sich, sein Herz krampfte sich zusammen. Er zog den Taler aus dem Sack, den ihm die Mutter als Taschengeld zugesteckt, und legte ihn auf den Herdrand; schüchtern fragte er: »Is dat Suß net derhäm?«

»O, dat Mensch, de Dussel« – Frau Endenich schüttelte drohend den Arm – »ech weeß net, woar et gangen es.«

»Adjüs!« Hubert drückte sich zur Tür hinaus.»

Pst – dau!«

Er horchte auf – neben ihm, an der halb verfallenen Hauswand, lehnte die Suß, die Arme untergeschlagen; mit trägen Augen blinzelte sie ins Licht.

»Suß, ech giehn fort – morjen. Adjüs!« Er hielt ihr die Hand hin. Sie sah ihn einen Augenblick starr an, dann hielt sie ihre gespreizten Finger an die Nase und streckte ihm lang die Zunge heraus.

»Bäh!« Sie sprang ins Haus und klatschte die Tür zu.


Zu Trier in der Meerkatzkaserne war sonntägliche Nachmittagsruhe, die Treppen und Flure wie ausgestorben.

Leise durch die Zähne pfeifend, rekelten sich ein paar Soldaten in Drillichjacken zum Fenster heraus. Draußen auf der Straße nicht viel zu sehen, ein paar Kinder spielten, kein hübsches Mädchen ging vorüber – alles ausgeflogen, was Unterröcke trug. Sommersonnenschein prallte auf die Pflastersteine.

Laut gähnend streckte der eine in Drillich die Arme empor:

»Jesses, wie langweilig! Kein Urlaub, nix ze amüsieren, nix ze poussieren – mer möcht' gleich der Meerkatz überm Kasernentor eins auf de Schnauz geben – da soll doch einer! Nich emal en Droppen ze drinken hat mer – un jetzt geht dat verfluchte Gebimmel los – sechs Uhr!«

Vom nahen Dom fingen die Glocken an zu läuten; ernst und feierlich dröhnten die Klänge über die schmale Domgasse, übers bischöfliche Palais, herüber zur Kaserne und dem staubigen Exerzierplatz dahinter. Die Glocken der Liebfrauenkirche fielen melodisch ein.

»Bim-bam-bum,« brummten die Soldaten mit. Sie hingen mit halbem Leib über die Fensterbrüstung, sie lachten; nach jedem »Bim-bam-bum« spuckten sie hinunter aufs Pflaster. Es war ein großes Sonntagsvergnügen.

»Pst!« Unten knarrten die Torflügel, es ging einer weg. »Pst! Adieu, Pantenburg, viel Pläsier!«

Der schlanke Mensch unten auf dem Pflaster sah herauf, er legte die Hand an die Mütze, dann schritt er mit elastischem Schritt der nächsten Straße zu. Die Sonne blitzte auf seinen spiegelblanken Knöpfen, die Uniform warf keine Falten in dem schmalen Rücken, über der breit gewölbten Brust; der Säbelgurt war fest zusammengezogen.

»Ein Staatskerl, der Pantenburg,« meinten die beiden im Fenster; der eine spie kräftig aufs Pflaster. »Donnerwetter, hat der en Glück bei de Mädcher, an jedem Rockschlip eine!«

Hubert Pantenburg schritt die Domgasse hinunter, den nächsten Weg, quer durch die alte Stadt, der Mosel zu; es drängte ihn hinaus ins Freie. Je näher er dem Fluß kam, desto mehr Spaziergänger begegneten ihm; geputzte Mädchen schielten ihn von der Seite an, als er vorüberschritt, den dunkelblonden Schnurrbart keck aufgedreht, die Augen blitzend vor Lebenslust.

Es behagte Hubert Pantenburg bei den Soldaten; nach den zwei entsetzlichen Jahren zu Wittlich, nach dem ebenso entsetzlichen zu Bernkastel und dem noch gräßlicheren zu Prüm dünkte ihn die Abwechslung ein Paradies. Nun war seine Dienstzeit bald um, im Herbst kam er los. Seine Vorgesetzten hatten ihm zwar den Vorschlag gemacht, beim Militär zu bleiben – aber nein, das wollte ei doch nicht! Immer Drill und Drill und Drill – nein, beileibe nicht! Frei sein war die Parole, frei werden um jeden Preis!

Die arme Mutter daheim kränkelte, der Doktor sprach von Abzehrung – wie lange noch, dann würde er sie begraben, und dann hielt ihn nichts mehr. Er ließ sich sein mütterliches Erbteil auszahlen, dann fort damit nach Amerika, in die Prärie, in den Urwald, als Farmer, als Jäger, wer weiß was! O, dieses Leben! Die Lippen des jungen Mannes öffneten sich, seine Nasenflügel blähten sich wie die Nüstern eines edlen Renners. Freilich, die Heimat war's nicht, keine Eifelberge, keine Eifelluft!

Mit einem Seufzer ließ sich Hubert auf eine Bank im Grünen fallen; er war nun in den Anlagen, die sich außerhalb der Stadt der Mosel zuziehen. Die roten Felsen des gegenüberliegenden Ufers lugten über das niedere Gebüsch der nächsten Umgebung, dahinter stiegen blaue Berghöhen auf, fern und duftig; zerstreut glitt sein Blick über die schöne Landschaft. Er kramte in seiner Tasche und brachte einen zerknitterten Brief zum Vorschein; mit gerunzelter Stirn las er:

»Teurer Hubert! Vergißt Du mich auch nicht bei die Soldaten? Ich denke an Dich alle Tag. Ich habe mein schwarzseiden Kleid wie neu mache lassen, die Schneiderin hat drei Tag dran gesessen. Auch einen weißen Hut mit einer langen Feder hab' ich mir gekauft. Jetzt ist Deine Zeit beim Militär bald um, sowie Du kömmst, fahren wir zu Deinen Eltern. Dein Vater hat mich gestern besucht, er ist sehr zufrieden, daß Du mich kriegst, und sagt, Deine Mutter wär' auch e so froh, das glaub' ich wohl. Meine Papieren sind in Ordnung, teurer Hubert, sowie Du kömmst, können wir Hochzeit machen. Die Hippethek hab' ich gekündigt; das Geld liegt parat, für einen Laden zu kaufen. Mein geliebter Hubert, ich kann die Zeit nicht erwarten, ich umarme Dich in Gedanken und küsse Dich tausendmal. Ich habe mich für Dich abnehmen lassen, anbei erhällst Du die Fotografie. Uns kann der Tod nur scheiden. Es grüßt Dich

Deine liebe Braut

verw. Frau Katharina Hoppe.«

»O Jeß!« Der junge Mensch fuhr sich durch das kurze Haar, das sich trotz des militärischen Schnitts an den Schläfen und im Nacken kräuselte; mit einem verlegenen Gesicht starrte er auf die Photographie in seiner Hand. Eine hübsche Dreißigerin mit Grübchen in den Wangen und kleinen, verliebten Augen. Wie stattlich sie auf dem Sammetsessel dasaß! Der Photograph hatte ihr die eine Hand aufs Herz gelegt, mit der andern hielt sie ein Sträußchen künstlicher Blumen. Warum schüttelte sich der Gefreite nur, sprang auf und ging mit starken Schritten vor der Bank auf und nieder? Himmelkreuzelement, wie kam er da heraus?!

Zu Wittlich war's gewesen in den beiden ersten schrecklichen Jahren bei Kortz, da hatte die hübsche Witwe, die bei Kortzen den ersten Stock bewohnte, ihn oftmals hereingerufen und ihn mit Kaffee und Kuchen traktiert. Er ließ sich's schmecken. Als im dritten Jahr Hubert eine Stelle in Bernkastel annahm und Frau Katharina Hoppe Lebewohl sagte, warf sie ihm einen langen Blick unter halb gesenkten Lidern zu – der Junge war ein Jüngling geworden.

Ehe Hubert, zwei Jahre später, zum Militär abging, besuchte er seine Mutter; bei der Gelegenheit kam er durch Wittlich und stieß unversehens auf Frau Hoppe. Sie lief mit einem kleinen Schrei auf ihn zu, sie ließ nicht nach, er mußte in ihre Wohnung. Dort schleppte sie herbei, was sie Gutes besaß, und als der schöne Mensch das Glas erhob: »Auf Ihr Spezielles, junge Frau!« schlug sie ihm auf die Finger und lehnte sich an seine Schulter. Ihm ward beklommen. Die unmittelbare Nähe des Weibes stieg ihm zu Kopf, ihr warmer Atem wehte ihn an; halb fortgerissen, halb verwirrt drückte er einen leichten Kuß auf ihre gerötete Backe. Da – sie schlang die Arme um seinen Hals und sank ihm auf den Schoß!

»Donnerwetter!« Der Gefreite hemmte seine Schritte und ließ sich wieder auf der Bank nieder. »Is das en Bredullich!« Nun hatte sie sich mit dem Vater in Verbindung gesetzt – natürlich, dem war's recht! Unheimlich freundlich war er gewesen, als der Sohn das letzte Mal vor sechs Monaten auf Urlaub daheim war; die Kämpfe der Knabenjahre schienen vergessen. Eine Strecke vorm Haus war der Förster ihm schon begegnet.

»Hubert,« hatte er gesagt, »du mußt net erschrecken, wann du die Mutter siehst; se hat sich recht verändert. Der Doktor is net zufrieden. Wir tun ja alles, was er sagt; nix is mir zu teuer, aber keine Medizin schlägt an – der Husten – der Husten!« Des Försters Gesicht hatte dabei einen wehleidigen Ausdruck angenommen, der nicht zum Blick seiner Augen paßte; die waren herumgeglitten, als spürten sie im Dickicht ein Wild. Der Sohn sah das nicht, er fühlte nur den Schrecken über die Krankheit der Mutter; zum erstenmal in seinem Leben blickte er den Vater freundlich an, dann eilte er ins Haus.

O Gott, wie sah Frau Annamargret aus! Bebend wie Espenlaub stand sie in der Stubentür und reckte dem Sohn beide Arme entgegen; mit einem Laut, halb Seufzer, halb Jubelruf, sank sie an seine Brust: »Daß du nun da bist – daß du nun da bist!« Sie strich ihm über die Haare, mit feuchtkalten Händen nestelte sie an ihm herum, dann eilte sie geschäftig hin und her, ein Frühstück aufzutragen, vom Wandschrank zum Tisch und hinaus in die Küche; dort hörte er sie lang' und pfeifend husten. Endlich saß sie ihm gegenüber; sie lächelte und hatte rote Backen vor Glück, aber die Augen waren matt und eingesunken, die magere Gestalt hing nur noch in den Kleidern.

Des Sohnes Herz krampfte sich zusammen, er streckte die Hand über den Tisch.

»Mei goldig Modderche,« sagte er. Da ging die Tür, der Förster kam schon zurück.

Geräuschvoll lachend hatte er seine Frau in die Wange gekniffen.

»Gelt, wie sie jetzt blüht, Hubert? Das macht alles die Freud über den Sohn – ja – ja – ich freu' mich ja auch – no, und wenn mer gar erst en Schwiegertochter kriegen! Brauchst net rot zu werden, Hubert, wir haben 't schon läuten hören, wenn du auch nix gesagt hast. Ich gratulier', die Witwe Hoppe is kein' schlechte Partie; auf 'm Geldsack sitzt se, un hübsch is se auch. Was der Jung for en Glück hat! No, Annemargret, Schwiegermutter! – was kaufste dir for en Hochzeitskleid?«

»So weit sind wer noch lang net!« hatte Hubert gesagt und war hastig aufgesprungen.

»No?« Der Förster zog die Brauen in die Höhe. »Keine Fisematenten, Jung! Denk dran, uns is die Braut recht, un der Mutter machst du de größte Freud; sie spricht Tag un Nacht dervon – gelt, Annemargret?« Er hatte die Frau angestoßen und dann ihren Kopf an sich gedrückt. Seine muskulöse Hand umspannte das zarte Genick, es sah aus, als wollte er's brechen. Der arme Kopf lag geduckt an seinem Rock. »Frau, so red doch – ja!«

»Ja,« sprach das Weib.

»Da hörst's, Hubert! Ja, das Gered geht alleweil. Nu wollen wer aber vergnügt sein! Wart, ich hol en Schoppen aus em Keller, den Glückspilz müsse mer doch begießen – ha, ha!«

So war es den ganzen Tag gegangen und den folgenden auch, der Vater überaus freundlich und immer zu Haus; erst am dritten, dem letzten Urlaubstag, wurde er gegen Abend abgerufen. Da saßen Mutter und Sohn endlich einmal allein, sie auf ihrem Platz am Fenster, der große Mensch ihr zu Füßen auf dem niederen Holzschemel, wie einst als Knabe.

»Mutter,« hatte er angstvoll gesagt und ihre Hand ergriffen, die matt im Schoß ruhte, »sag, geschieht auch alles for dich? Du hust so!«

»O ja! Pantenburg macht oft nach Wittlich, un einmal is der Doktor auch selber hier gewesen – ein sehr lieber Herr – er hat was zum Einnehmen verschrieben, ich mein' auch, es hätt' mer als sehr gut getan, aber Pantenburg meint, es hätt' gar nix genutzt; da haben mer et net mehr mache lassen.«

»Aber sons, is er gut zu dir – is er gut?« Der Sohn drängte.

»Ja, ja, sehr gut!« Frau Annamargret sprach es hastig und lugte dabei scheu im Zimmer umher, dann flüsterte sie: »Sag, Hubert, wie is et mit dir un der Frau in Wittlich? Pantenburg hat mer verzählt, daß du gar e so viel Liebschaften hältst – überall en Mädchen – is das wahr?«

»Jeß, Mutter« – der Sohn vergrub die Finger in den krausen Haaren – »die Mädcher sind eben – aber weißte, Mutter, so lieb wie dich hab' ich noch keine gehabt, das is was ganz andres!«

Die Frau lächelte schwach und strich ihm mit den kalten Fingern über die Backe, dann beugte sie sich nieder und legte ihre brennend heiße Stirn auf die seine.

»Hubert,« flüsterte sie fast unhörbar, »hüt dich! Wann keine Lieb' in der Eh' is – o – dann is et furchtbar!« Ein Schauer lief über sie hin, noch leiser, kaum verständlich, fuhr sie fort: »Ich – ich werd' bald sterben, Hubert, ich bin sehr schwach und krank –«

»Mutter!«

»Ja, ich – doch hör, Hubert, der Vater – der Vater will, ich soll –« Ein furchtbarer Hustenanfall erstickte ihre Worte, sie keuchte und blutiger Schaum trat ihr auf die Lippen. Angstvoll hielt der Sohn sie im Arm und blickte ratlos um sich. Da ging die Tür! Der Förster trat rasch ins Zimmer; geschickt stützte er der Leidenden den Kopf, flößte ihr heiße Milch ein und trug, als der Anfall vorüber, die vollständig Erschöpfte aufs Bett. Behutsam und sorgfältig war er mit ihr umgegangen; Hubert hatte ihm im Herzen manches abgebeten, und der Abschied am andern Morgen war herzlicher ausgefallen, denn je zuvor.

Ja, der Abschied! Noch heute im warmen Sonnenschein, auf der Bank im Grünen, fühlte Hubert Pantenburg ein gewisses Frösteln. Mitten in aller Lebensfreudigkeit stieg ihm das Bild des Todes auf – die arme Mutter! Die Blicke des jungen Mannes trübten sich – wie mochte es ihr gehen? Sechs Monate waren seit dem Abschied vergangen. Besser war es gewiß nicht geworden, die Nachrichten kamen spärlich.

»Liebe Mutter!« sagte der Gefreite Pantenburg plötzlich laut vor sich hin, dann zerknüllte er mit einer heftigen Gebärde den Brief in seiner Hand. »Ne, die heiraten ich net!«

Regungslos blieb er eine Weile sitzen und blickte unverwandt auf seine glänzende Stiefelspitze. Es war ganz still um ihn, kaum ein Windhauch regte die Blätter; ein wenig schwül war's, ein wenig beklommen. Die letzten Spaziergänger waren längst vorbei, alle hinüber zur andern Moselseite; die Anlagen wie ausgestorben.

Da – schlendernde Schritte! Ein Mädchen kam des Wegs. Sie streifte langsam längs des Gebüsches hin, mit den Händen schlenkerte sie lässig. Einen hurtigen Seitenblick warf sie auf die einsame Gestalt des Soldaten, und mit einem »Eckskusört!« setzte sie sich auf das andere Ende der Bank.

Der Gefreite faßte an die Mütze: »Bitte, Fräulein!« Dann schwiegen sie beide.

Es war so still wie zuvor. Kein Atemzug verriet die Nähe eines zweiten Menschen, die Bank ward nicht von der leisesten Bewegung erschüttert, und doch fühlte sich Hubert beengt, beobachtet. Ihm war, als seien fortwährend zwei Augen auf ihn gerichtet, als zöge ihn eine unsichtbare Gewalt zum andern Ende der Bank. Der hohe Kragen würgte ihn – es war heiß!

Unmutig hob er den Kopf. Richtig, das Mädchen sah ihn unverwandt an! Ihre schmalen dunkelgrauen Augen hatten einen seltsamen Blick, nicht gerade frech, aber eindringlich. Hinter den langen, schön gebogenen Wimpern lagen sie wie blanke Steine. In die Stirn hing ihr ein Wust hellbraunen Haares. Der junge Mann räusperte sich und zwirbelte seinen Schnurrbart – das Mädchen zog die Mundwinkel herab; wie eine Art Lachen war's, aber doch anders! Verhöhnte sie ihn, was?!

Das Blut stieg Hubert in die Schläfen, keck rückte er näher: »Fräulein, so allein! Gehn Sie net zu Tanz?«

Sie sah ihm einen Augenblick starr in die Augen, dann lachte sie ihm ins Gesicht. Er blickte sie verwundert an; sie lachte, daß sie sich schüttelte, den Oberkörper hintenüber geworfen. Beleidigt stand er auf: »Das is mir zu dumm – adieu, Fräulein, lachen Sie for sich allein!«

Er schlug die Hacken zusammen, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen. Plötzlich fühlte er sich am Rock gefaßt: »Hubert, dummer Jong, kuck mech nor an – kennste mech net mieh?« Sie war auch aufgesprungen, nun stand sie vor ihm, reckte sich auf den Zehen und zog ihn an dem Umformknopf auf seiner Brust ganz dicht zu sich heran, so dicht, daß sich ihre beiden Gesichter fast berührten. »Dau Schmachtlappes,« sagte sie langsam, »kennste nau dat Suß?«

»Suß!« Wie ein Blitz durchfuhr es ihn. Ja, das war sie! Das war wieder wie daheim im Wald – er fühlte wieder den Eifelhauch, er hörte Tannen rauschen. »Suß, du frech Dingen!« sprach er glückselig. Er faßte nach ihrer Hand, sie schmiegte sich an ihn, dicht nebeneinander setzten sie sich auf die Bank. »Suß, wo kömmste her, was tuste hier?«

Sie gab ihm mit der Schulter einen kleinen Puff: »Noa, wenn ech nau saogen däht: ech kommen for dech – wat?!« Sie lachte, daß man die zwei Reihen spitzer, gesunder Zähne sah, sie blitzten im Licht. »Ne, ne, dat brauchste net zo denken! Ech sein im Dienst; erscht waor ech zo Bittburg, seid em halwe Jaohr sein ech hei.«

»Un geht es dir gut?«

Sie zuckte die Achseln: »Ech haon e su e kle Malör gehaott derhäm – on dao –«

»Was for en Malör?« Er sah sie fragend an, sie hatte den Kopf auf die Seite gelegt und blinzelte ihm mit halb geschlossenen Augen zu.

»Noa, ech will dech net befautelen, Hubert, ech waor for en Amm ze Bittburg gewest!«

»Was – was« – er stieß sie von sich – »laß de Dummerei!«

»Ech duhn dech net für en Naor haalen, bei Gott net, Hubert!« Sie fing plötzlich an zu weinen: »O Jesses, ech arm Dier!«

Sie schlug die Hände vors Gesicht; so sehr sie vorher das Lachen geschüttelt hatte, schüttelte sie nun das Weinen. Die Tränen tropften ihr zwischen den bräunlichen Fingern durch. Er rückte von ihr ab und starrte sie finster an. Wie durch einen Schleier, den ihm das rote, zornige Blut vor die Augen gelegt, sah er ihre Gestalt – sie wurde kleiner, jünger – das Gebüsch ringsum ward zum Waldrand – sie saß am Wegrain im zerlumpten Rock, mager, hungrig! Mit Zähnen wie ein junger Wolf biß sie in den rotbackigen Apfel, den ihre Hand hielt. »Gelt, scheene Äppel?« Und da tauchte die erbärmliche Hütte auf – den Vater führten die Gendarmen weg – am Herd stand die elende Mutter – die Geschwister schrien vor Hunger – aus allen Ecken grinste die Not!

Das heftige Schluchzen neben ihm gab dem jungen Menschen einen Stich durchs Herz. Er kaute unschlüssig an seinem Schnurrbart, langsam rückte er dem Mädchen wieder näher.

Sie fuhr fort zu weinen; der Strohhut mit dem kirschroten Band war ihr in den Nacken geglitten, Hubert schob ihn ihr nach vorn, dabei berührte seine Hand ihr Haar. Wieder schoß es ihm durch alle Adern.

»Suß,« sagte er leise. Sie rührte sich nicht. »Suß!« Er versuchte ihr die Hände vom Gesicht zu ziehen, umsonst, ihre Finger hielten fest wie Klammern – plötzlich gaben sie nach, aber blitzgeschwind drückte sie ihr Gesicht gegen seine Schulter. Der Strohhut flog zur Erde, ihr Haar lag wie dunkles Gold auf seinem Uniformrock; er sah darauf nieder, auf den bräunlichen, festen Nacken, er fühlte die ganze kernige Fülle ihrer Gestalt an der Brust. Unwillkürlich, fast wider seinen Willen, schob sich sein Arm um die Taille des hellen, buntgeblümten Sommerkleides – das war keine Seide, wie bei der zu Wittlich, billiger Waschstoff, aber wie ließ er ihr!

Seine Hand drückte fester; sie legte beide Arme um seine Schultern, eine feurige Glut strömte in ihn über. Und nun begann sie sacht mit ihm hin und her zu wiegen.

»Wann annre Könner spiele giehn,
Moß ech bei der Wiege stiehn;
De Wieg' gieht nor:
Rube–de–bub, rube–de–bub –«

Ihre Stimme klang dumpf von seiner Brust zu ihm herauf, er mußte laut lachen. Als hätte sie nur darauf gewartet, so hob sie jetzt das Gesicht und sprang empor – keine Spur von Tränen mehr! Eine strahlende, ausgelassene Heiterkeit sprühte aus ihren Augen.

»Rube–de–bub, rube–de–bub!« Sie riß ihn an beiden Händen in die Höhe. »E su, nau küß mech, Hubert – ech küß dech sons mausdud!«

Das frische, lachende Gesicht hob sich ihm entgegen, es flimmerte ihm vor den Augen; er preßte seine Lippen auf ihren halb geöffneten Mund – ein unersättlicher Durst überkam ihn – noch ein Druck – sie ließ los und stieß ihn zurück: »E su, nau giehn mer danzen!«


Über der Mosel liegt Nacht; leise glucksen die Wellen ans Ufer.

In den kleinen Häusern diesseits des Stroms sind die Lichter erloschen, nur auf der Fähre am Fluß brennt die Laterne; wie ein Glühwurm glimmt sie durchs Dunkel, bald hüben, bald drüben. »Hol üwer!« johlt es immer wieder.

Sonntag abend gegen Mitternacht. Der Fährmann Heinrich hat viel zu tun; drüben zu Pallien ist Tanz. Das Dorf liegt still; wie dunkle Wächter nicken die Berge drüber hin, doch im Wirtshaus »Zur Moselblume« Licht, Musik! Sie tanzen!

Die Musikanten sitzen in einer Ecke, sie können kaum sehen vor Staub und Hitze. Die Fenster sind geöffnet, aber keine Spur von Kühlung weht herein. Die Sterne am Himmel haben sich verkrochen, kein Mondschein, eine Wand schwarzer Wolken im Westen, über den fernen Eifelbergen wetterleuchtet es.

Der Baß kratzt, die Violinen fiedeln; dunstiger Qualm schwebt im Saal. Schweiß steht auf der Stirn, die Augen blicken trüb, die Brust keucht, alle Pulse klopfen, die Paare wirbeln, die Kleider flattern – eins-zwei-drei, eins-zwei-drei – rechts herum – links herum – ha, die Lust!

Der Gefreite Pantenburg saß an einem der Tische, die längs der Wand stehen. Sein Rücken lehnte sich schwer gegen die Stuhllehne, die Beine hielt er von sich gestreckt. Das Seitengewehr hatte er abgeschnallt, es lag auf dem Tisch zwischen den zwei gefüllten Weingläsern und den geleerten Schoppenflaschen; auch Bierseidel standen dazwischen. Das hübsche Gesicht des jungen Mannes war aufgedunsen, er fühlte es selbst, er hatte genug – das wilde Tanzen – das hastige Trinken – und doch! Mit vortretenden, gierigen Augen stierte er auf die Gestalt im hellen, buntgeblümten Kattunkleid, die sich jetzt inmitten des Saales im Wirbel drehte.

Sie erschien ihm schön. Wie ihre Backen glühten, ihre Augen funkelten – wie sie jetzt lachte! Ihr Tänzer beugte sein Gesicht nah zu dem ihren, er schien ihr etwas Komisches zu sagen; mitten durch die Musik und das Gestampf hörte Hubert ihr schmetterndes Lachen. Alle Männer blickten nach ihr hin.

Eine eifersüchtige Wut überkam den Dasitzenden. Er sprang auf, das Paar wirbelte an ihm vorbei, er hielt sie am Kleide fest: »Suß!«

Sie tat, als höre sie nichts; sie wirbelte weiter, aber nur bis zur nächsten Ecke, dort verabschiedete sie ihren Tänzer. Sie trat zu ihm an den Tisch, legte die Hand auf seinen Ärmel und sah ihn von unten herauf mit einem lauernden Blick an: »Noa?!«

»Mer gehn jetzt,« sagte er kurz und faßte nach der Brusttasche, dort knitterte sein Urlaubszettel – bis zwölf, länger nicht. »Punkt zwölf muß ich in der Kasern' sein!«

»Warom net gaor?« lachte sie und warf den Kopf zurück. »Eweil is et graod e su scheen! Ech giehn noach net.«

»Du gehst!« Er faßte kräftig ihr Handgelenk, mit einem Ruck machte sie sich los und sah ihn an, als wolle sie ihm ins Gesicht springen.

»E ne!« Ihr Fuß stampfte den Boden. »Gieh dau, ech bleiwen hei; dän dao« – sie wies mit dem Daumen über die Schulter nach ihrem vorigen Tänzer – »dän danzt met mer de ganz' Nacht!«»

Suß!« Er biß sich auf die Lippen und sah sie zornig an.

Sie hielt seinen Blick aus, plötzlich senkte sie die Lider, hob die Hand und streichelte ihn sacht rechts und links über die Backen.

»Mein Hubert,« flüsterte sie zärtlich, »komm, danz met mer – noach en eenzigmaol – dann giehn mer – komm!« Ihre Hand fühlte sich weich an, sie strich ihm übers Gesicht hin und her. Er stand und sagte kein Wort. »Komm, drink noach emaol, Hubert!« Er leerte das Glas auf einen Zug.

Das Mädchen lehnte sich schwer auf seinen Arm: »Komm!«

Er umschlang sie, die Musik setzte ein – Rheinländer – er schwenkte die helle Gestalt, daß ihre Röcke flogen, er tanzte wild, ohne Pause den ganzen Tanz zu Ende. Vor seinen Blicken schwamm alles Licht wie ein rotes Meer, der Saal schwankte, aus weiter Ferne, dumpf, klangen Stimmen – er sah, er hörte, er fühlte nichts, nur sie – sie. – Die Musik schwieg.

Zu Ende. Sie gingen.

Langsam schritten sie der Fähre zu, mit geöffneten Lippen sogen sie durstig die Nachtluft ein. Hubert ging wie im Traum, Suß hing an seinem Arm. Er schreckte zusammen, als sie nun sprach.

»Et licht',« sagte sie und zeigte hinauf zum dunklen Himmel. Richtig, hinter den fernen Eifelbergen ein Blitz! Ganz von weitem dumpfes Grollen.

Schweigend stiegen sie in die Fähre; der Heinrich war solche Pärchen gewohnt, nur wunderte ihn die Uniform so spät bei Nacht. Lautlos, fast unmerklich, glitten sie übers Wasser; schwarz schwamm die Flut, kein Stern spiegelte sich drunten, nur der Widerschein der Laterne gaukelte wie ein Irrlicht. Die Luft war schwül, kein Windhauch drin. Das Haar klebte den beiden an der Stirn, als sie nun der Stadt zuschritten.

Wie sie durch die Porta nigra, das alte römische Stadttor, traten, schlug eine Turmuhr. Pantenburg zuckte zusammen, er zählte – da war nicht viel zu zählen, ein einziger schwerer Schlag – eins! Herrgott! Eine augenblickliche Ernüchterung kam über ihn – der Urlaub – die Kaserne – ein Uhr – er rannte fast und ließ das Mädchen zurück. Die Simeonsstraße hinunter, über den Markt, vorbei am Dom, an der Liebfrauenkirche, durch die totenstille Domgasse – querüber – jetzt, da war die Kaserne, alles dunkel drin! Vor dem Tore ging die Schildwache auf und ab.

Pantenburg stand regungslos, in den Schatten der Häuser gedrückt und starrte hinüber – Anschnauzen des Vorgesetzten – Necken der Kameraden – Urlaubsentziehung – Arrest – Arrest! – Alles schwirrte ihm durcheinander.

Da fühlte er sich am Ärmel gezupft, sie stand hinter ihm: »Wat nau?«

Er schüttelte ratlos den Kopf: »Ich weiß net!«

»Hubert,« flüsterte sie heiser und legte die Hand wie eine Klammer um seinen Arm, »mein Hubert, dau kömmst nimmeh in de Kasern', äwer am Morjen in aler Frieh, dann es dat Dohr offen – on eweil – eweil –« sie rieb die Backe an seiner Schulter; ihr rascher Atem ging hörbar.

Er beugte sich zu ihr nieder und küßte sie, ihre Arme strickten sich um seinen Hals: »Mein Hubert!« Was er sagte, war nicht zu verstehen, es ging unter in einem halb trunkenen Murmeln.

Wie eine Katze, geschmeidig huschend, zog sie ihn um die Ecke.


In der Nacht hatte es gedonnert und geblitzt, ein starkes Gewitter war niedergegangen.

Auf' dem Hof der Meerkatzkaserne zwischen riesigen Tümpeln und Pfützen, stand die Mannschaft in Reih' und Glied zum Mittagsappell. Eine bleiche Sonne spiegelte sich in den Wasserlachen und huschte über die Gesichter der Leute.

»Jonas!« – »Hier!« – »Eberlein!« – »Hier!« – Müller!« – »Hier!«

Der dicke Feldwebel rief auf und notierte mit wichtiger Miene in sein Taschenbuch, während Hauptmann von Dümchen mit starken Schritten die Front abging; das Schmutzwasser spritzte ihm an die Hosen, und die blank gewichsten Stiefel trübten sich. Jetzt blieb sein umherrollendes Auge auf dem rechten Flügel haften; dort stand der Gefreite Pantenburg. Der Blick wurde starr: »Gefreiter Pantenburg, treten Sie vor!«

Das bleiche Gesicht des Angeredeten wurde noch fahler; er trat vor, seine Haltung war nicht die ihm sonst eigene.

»Mensch, stehen Sie nicht so schlottrig!« Der Hauptmann nahm einen strengen Ton an: »Pantenburg, Sie haben den Urlaub überschritten! Sie haben sich bisher ordentlich geführt, in Anbetracht dessen ist Ihnen nur Urlaubsentziehung für sechs Wochen zuerkannt, im Wiederholungsfall drei Tage Arrest. Mensch, schämen Sie sich! Bleiben die ganze Nacht aus und stehlen sich am Morgen wie ein Dieb auf die Stube – pfui!« Dümchen spuckte aus. »Das ist ja eine ganz verfluchte Wirtschaft! Leider Gottes nimmt der Verfall der Sitten in allen Ständen zu, aber wer des Königs Rock trägt, sollte wenigstens allezeit seiner Pflicht eingedenk sein. Statt der Mannschaft mit gutem Beispiel voranzugehen, muß ich Sie hier öffentlich reißen – Pantenburg, Sie sind nicht wert, die Gefreitenknöpfe zu tragen – pfui!«

Hauptmann von Dümchen hatte sich in Wut geredet; der Gefreite Pantenburg blickte ihn starr an, keine Muskel in dem totenbleichen Gesicht regte sich.

Der Offizier wendete sich zur Seite: »Feldwebel, notieren Sie, der Gefreite Pantenburg bekommt sechs Wochen keinen Urlaub.« Er machte eine Handbewegung: »Lassen Sie wegtreten!«»

Weggetret'n!«

Die Soldaten machten stramm kehrt; ihre gleichgültig stumpfen Gesichter mit den runden Augen wendeten sich nach den Kasernenfenstern herum, nun setzten sich so und so viel schmutzbespritzte Hosenbeine in Bewegung. Es kribbelte wie ein Ameisenhaufen durcheinander, auf das Gebäude zu. Nun verschwand eine Drillichjacke nach der andern – da, eine schlanke Gestalt löste sich von dem Schwarm ab, stand einen Augenblick zögernd, drehte dann um und kam langsamen Schrittes zurück. Es war der Gefreite Pantenburg; er stand vor dem Feldwebel und sprach halblaut.

Herr von Dümchen hatte inzwischen, den übermäßig zugespitzten Schnurrbart zwirbelnd, bald den Himmel, bald seine Stiefelspitzen gemustert; er drehte den beiden andern den Rücken. Nun räusperte sich der Feldwebel stark, der Hauptmann sah um, grenzenloses Erstaunen lag in seinem Blick: »Donnerwetter, was will denn der Pantenburg noch hier, habe ich nicht gesagt ›wegtreten?‹ Was – was will der Kerl noch, Feldwebel?!«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann.« Bonekamp trat unruhig von einem Bein aufs andere und zwinkerte verlegen mit den wasserblauen Äuglein. »Verzeihen, Herr Hauptmann, der Mann sagt: seine Mutter wäre krank – Brief bekommen! Hm« – der Dicke trat näher zu dem Vorgesetzten und dämpfte die Stimme. »Er sagt: wird bald sterben – noch mal sehn! Er – er bittet um Urlaub, Herr Hauptmann!«

»Was, Urlaub? Jetzt Urlaub?! Der Kerl ist wohl verrückt? Pantenburg!« Der Gerufene stand in strammer Haltung, die Hände an der Hosennaht. »Was wollen Sie – Urlaub jetzt? Sie, Sie – Maul auf – was wollen Sie?!«

»Herr Hauptmann, ich bitte um drei Tage Urlaub!« Die Stimme des Soldaten war klanglos, ohne jede Modulation; man merkte es, sie kam aus zugeschnürter Kehle. »Ä – ä – was, drei Tage?« Dem Hauptmann stieg die Röte ins Gesicht, er blickte sich einen Augenblick wie hilfesuchend nach dem Feldwebel um, aber der sah verlegen geradeaus.

Einen Augenblick vollkommene Stille, man hörte nur zitterndes unterdrücktes Atemholen; es kam aus der breiten Brust des Gefreiten. Der bleiche Sonnenschein spielte nicht mehr auf den Pfützen, ein plötzlicher Windstoß jagte eine düstere Wolke über den Kasernenhof.

Jetzt schrie Dümchen los: »Unverschämtheit – Urlaub? – Haha! Sie sind besoffen, Kerl, besoffen!« Er winkte energisch mit der Hand: »Ab, wegtreten!«

Pantenburg rührte sich nicht, er stand wie angenagelt. Mechanisch wiederholte er: »Drei Tage Urlaub! Ich bitte um Urlaub, meine Mutter ist todkrank. Herr Hauptmann« – die klanglose Stimme begann plötzlich zu zittern – »drei Tage nur, Herr Hauptmann!« Es war, als wollte er die Hände falten, sein Kopf neigte sich näher zu dem Vorgesetzten; wie ein erstickter Hauch kam es aus seinem Mund: »Lassen Sie mich gehen, Herr Hauptmann!«

Die Züge des jungen Menschen waren todblaß und schmerzlich verzogen. Über Dämchens Gesicht flog eine weichere Regung, da traf ihn der glühende Hauch aus dem Munde des andern; er fuhr zurück: »Pfui Teufel, Kerl, Sie stinken ja nach Schnaps – reiner Fusel – ä, nichts wie Schwindel, kennen wir schon – die Geschichte mit der Mutter – Schwindel! Will sich draußen herumtreiben, nichts wie herumtreiben! Nichts da, kennt man schon – Schweinereien – besoffen, einfach besoffen!«

»Ich bin nicht betrunken, ich –«

»Ä was, Maul halten!« Der Hauptmann schrie, daß es über den Platz hallte, und wandte sich wütend zum Gehen. An den nächstliegenden Fenstern der Kaserne tauchten verstohlen grinsende Gesichter auf und lugten neugierig herüber.

Der Gefreite stand noch immer, die Hände an der Hosennaht, aber sie ballten sich langsam zu Fäusten; ein Zittern lief über seine Gestalt, er schwankte wie ein vom Wind gerüttelter Baum. Seine Lippen preßten sich aufeinander, seine Augen funkelten. »Ich bin nicht betrunken, ich – Urlaub – Herr –«

»Schockschwerenot noch emal, Kerl!« Bonekamp drängte sich an ihn heran und raunte ihm aufgeregt zu: »Unglücksmensch, halt's Maul! Pantenburg!«

Der junge Mann hörte nicht, kräftig stieß er den Dicken von sich, mit ein paar mächtigen Schritten hatte er den Offizier eingeholt. Jetzt ging er neben dem her, im gleichen Tritt, das Gesicht verzerrt wie in peinigenden körperlichen Schmerzen. »Ich lüge nicht, Herr Hauptmann! Lassen Sie mich gehn! Urlaub – meine Mutter stirbt, sie stirbt! Urlaub – Urlaub – Ur – lau – – –!« Der keuchende Atem versagte ihm, er lallte wie ein Betrunkener.

»Besoffnes Schwein!« Der Hauptmann spuckte nach rechts und links aus. »Nichts da, Platz! Feldwebel, schaffen Sie den Kerl weg, oder –!« Er hob die Hand.

Pantenburg stieß einen unartikulierten Schrei aus und krümmte sich zusammen wie ein zum Sprung geduckter Tiger. »Urlaub!« Er schrie es laut.

Noch lauter schrie Dümchen: »Feldwebel, verhaften Sie den Mann – Gehorsamsverweigerung und Bedrohung! Ich werde species facti einreichen!«

Wie ein Vernichteter stand Pantenburg, die Arme fielen ihm schlaff am Leib herunter.


Es ging auf den Abend. Dumpfstöhnend saß Hubert Pantenburg in der Zelle des Arrestlokals. Er saß, die Knie heraufgezogen, das Gesicht in den Händen verborgen. So hockte er schon lange. Stunden waren vergangen, seit sie ihn hier hereingestoßen, seit sich die Zellentür kreischend hinter ihm geschlossen.

Gegenüber an der weißgetünchten Wand krochen die Sonnenstrahlen immer tiefer, hoch oben an dem vergitterten Fensterchen wob eine Kreuzspinne emsig ihr Netz. Nichts zu sehen als vier kahle, weißgetünchte Wände mit allerlei gekritzelten Inschriften, die harte Pritsche und der armselige Mensch darauf.

Wie spät es sein mochte? Er wußte es nicht. Draußen rasselte es, man brachte ihm einen Napf dampfender Erbssuppe, Brot und einen Krug Wasser. Der Schließer setzte alles nieder und entfernte sich stumm, nach einem mitleidigen Seitenblick auf den Arrestanten. Dieser rührte sich nicht. In düsterem Brüten stierte er vor sich hin. Der Kopf war ihm betäubt, in irren Bildern jagten sich Vergangenheit und Zukunft, das Gestern, das Heut und das Morgen. Das Gestern!

Er hörte wieder die Tanzmusik, er hielt Suß in den Armen und wirbelte mit ihr durch den Saal, ei fühlte, wie sie ihm am Halse hing, ihre Küsse ihn bis aufs innerste Mark durchschauerten – jetzt war es Nacht – was für eine Nacht! Wie ein toller, heißer Traum fieberte sie ihm noch durchs Blut – jetzt war es Morgen, jetzt stand er am Fenster seiner Stube in der Kaserne – die Kameraden lachten und schwatzten um ihn her – er hielt einen Brief in der Hand und suchte ihn blöden Auges zu entziffern.

»Mein lieber Sohn,« da stand es schwarz auf weiß, mit zitternden, kaum leserlichen Buchstaben. »Komm bald!« ...

»Urlaub, Urlaub!« Der Gefangene schrie auf, daß es von den kahlen Wänden widerhallte; er schlug sich mit geballten Fäusten wütend vor die Stirn und rannte wie ein wildes Tier in der Zelle umher. Immer auf und ab, hin und wider. Recht – Gerechtigkeit – Freiheit – Freiheit!

Ermattet sank er endlich auf die Pritsche. Es wurde Abend; die Weißen Wände überzogen sich mit grauen Schleiern, durch das Fensterchen wehte es kühler, kein Laut drang herein. In der stillen Zelle webte es in allen Ecken; ein geheimnisvolles Dämmern, ein Gewoge von Grau und Schwarz. Von dem dunklen Hintergrund lösen sich Gestalten ab – sie strecken die Arme aus – sie lachen – sie weinen – sie winken – Suß – die Mutter ...

»Der arme Teufel schläft!«

Wer sprach das?! Der Schläfer fuhr auf. Vor ihm stand Feldwebel Bonekamp, eine Laterne in der Hand; das feiste, gutmütige Gesicht glänzte wie der Vollmond.

»Feldwebel, Sie?« Enttäuscht rieb sich Hubert die Augen, er hatte so schön geträumt. »Ah!« Er dehnte sich, – da – Plötzlich fiel ihm die ganze alte Last wieder auf die Seele, sein Gesicht verzog sich schmerzlich, er stöhnte.

»Ja, ja, Pantenburg,« sprach der Besucher und ließ sich neben dem Arrestanten auf die Pritsche fallen. »Uff, Donner un Doria, hart! Sagen Se nur, Mensch, was is Ihnen eingefallen?«

Der junge Mann antwortete nicht, stillschweigend zerrte er ein Papier aus der Tasche und reichte es dem Fragenden.

Feldwebel Bonekamp riß die buschigen Brauen in die Höhe, rückte die Laterne hin und her, bis ihm der Strahl aufs Blatt fiel, und buchstabierte dann mühsam:

»Mein lieber Sohn! Pantenburg will net an Dich schreiben, er sagt – Un – was? – Uns – Unsinn, aber ich fühl', daß ich sterben tu'. Ich kann net ru–ruhig sterben, bis ich Dich noch einmal gesehen hab'. Ich bitt Dich tausendmal, ko–komm zu mir, so rasch wie's Du kannst. Ich hab' eine so – so – gro – große Sehnsucht nach Dir, komm bald! M–Mein Hubert, es küßt Dich – Deine Mutter.«

Bonekamp hatte stockend zu Ende gelesen, seine runden Augen zwinkerten und blickten verstohlen zur Seite. Da saß der Sohn, das Gesicht in die Hände gedrückt, stumm, ohne Regung.

Der Feldwebel schneuzte sich gewaltig.

»Pantenburg,« sagte er leise. Keine Antwort. Wieder ein dröhnendes Schneuzen, dann legte sich dem Arrestanten die breite Hand auf die Schulter: »Armer Junge!«

Mit einem unartikulierten Laut hob der das verstörte, schmutzbespritzte Gesicht, ein furchtbares Schluchzen brach aus seiner Brust, schwer ließ er den Kopf an die Schulter des Feldwebels sinken: »Mutter – Mutter!«

Eine Weile war's ganz still in der Zelle, nur das Schluchzen des Arrestanten hörbar. Bonekamp wagte sich nicht zu rühren, steif und ängstlich saß er auf der Pritsche; er hätte sich gern geschneuzt, er konnte nur nicht, der Kopf des armen Jungen lag ihm an der Brust. Täppisch strich er ihm über die krausen Haare.

»No, no, Pantenburg, alter Kerl, so schlimm wird's ja nich sein – ho, ho« – er klopfte ihn begütigend – »nur nich die Courasch verloren! De Mutter wird nich gleich abtreten. No, un was den Hauptmann anbelangt, der is innewendig doch en ganz guter Kerl – es wird nich so schlimm werden, mein Sohn! Bis ja sons immer en forscher Junge gewesen, da wird schon mal en Auge zugedrückt, mehr wie sechs Wochen Mittelarrest wird's kaum geben. Un siehste, mein Sohn, ich hab' doch auch en Wort mit dem Hauptmann zu reden. Heul dich aus, mein Junge, heul dich aus, das tut gut! Ho, hol«

Der trübe Laternenschein flackerte über die elenden Wände, die beiden Gestalten auf der Pritsche, über das runde, rotglänzende Gesicht mit den zwinkernden, farblosen Wimpern nebst dem martialischen Schnurrbart, und über den jungen, tiefgebeugten Kopf. Als rechte »Mutter der Kompagnie« legte Feldwebel Bonekamp den Arm um das verlorene Schaf seiner Herde und tröstete: »No, no, ho, ho!«


Drei Monate nach jenem Abend im Arrestlokal der Meerkatzkaserne schritt ein einsamer Wanderer auf das Haus des Försters Pantenburg zu. Es war der Sohn Hubert.

Bis Eisenschmitt war er mit der Post gefahren, von dort kam er über Großlittgen und Himmerod zu Fuß. Nur um Wittlich nicht zu berühren, hatte er den Umweg nicht gescheut; ihm graute vor der verliebten Witwe. Er sah bleich und mager aus, um den Ärmel seines grauen Rockes trug er eine Florbinde.

Die Mutter war tot. Sie war gestorben, zehn Tage nachdem er die letzten Zeilen von ihr empfangen; er saß damals im Arrest und konnte nicht zu ihr – o, diese Pein! Am zweiten Tag seiner Arretierung hatte er einen Brief an den Vater geschickt, von seinem Mißgeschick erzählt – das heißt, ohne Suß zu erwähnen, – und gebeten, der Mutter schonend davon Mitteilung zu machen; sowie er frei sei, würde er zu ihr eilen. Er hatte tief betrübt geschrieben, voll der innigsten Liebe; wie ein Sehnsuchtsschrei flössen ihm die Worte aus der Feder. Was war die Antwort?

Acht Tage später erhielt er die Todesanzeige. Ein kurzer Brief des Försters war beigefügt:

»Es hat Deine Mutter noch vor ihrem Tod schwer gekränkt, daß Du durch Deinen freventlichen Leichtsinn in Schande und Unehre geraten bist. Sie hat bittere Tränen über den ungeratenen Sohn vergossen; darnach aber hat sie den Gedanken an Dich abgetan und ist in meinen Armen sanft und gottselig entschlafen. Trotz Deiner schlechten Aufführung ist Deine vortreffliche Braut, Frau Katharina Hoppe, nach wie vor geneigt, Dir ihre Hand zu reichen.«

Mit Zähneknirschen hatte der Sohn den Brief zerrissen und die Fetzen umhergestreut. Die Fäuste hatte er geballt, Klagen und Verwünschungen ausgestoßen, dann war eine starre Gleichgültigkeit über ihn gekommen. Er aß, er trank, er schlief, er lachte sogar mit dem biederen Bonekamp, der ihn zuweilen aufsuchte.

Es erregte ihn kaum sonderlich, als der letzte Tag seiner Haft herangekommen. Den ihn freundlich begrüßenden Kameraden schüttelte er mechanisch die Hand; es wunderte ihn gar nicht, daß ihm zu Ehren am Abend auf der Stube eine heimliche Kneiperei veranstaltet wurde. Sie hatten ihn gern und wollten ihm ihre Freundschaft beweisen; drum schenkten sie ihm Wein, Bier und Schnaps ein. Er goß alles hinunter, er stieß an und wieder an; er wurde sinnlos betrunken.

Wie ein Automat brachte er seine letzte Dienstzeit zu; selbst der Blick des gestrengen Hauptmanns von Dümchen streifte zuweilen milder das verdüsterte Gesicht des Gemeinen Pantenburg; die Gefreitenknöpfe waren dahin. Er verließ die Kaserne nur noch im Dienst; waren die Kameraden in den freien Stunden aus, dann stand er am Fenster und blickte wie verloren auf die Straße. Sehr oft, fast täglich, ging drüben auf der andern Seite ein Mädchen auf und ab, das unverwandt nach der Kaserne heraufsah. Wenn sie ihn am Fenster erspähte, stand sie still, und ihre Blicke wurden brennend; er sah das wohl, er sah auch, daß sie winkte, aber er schüttelte langsam und verneinend den Kopf. Dann ging sie fort, mit einem bösen Ausdruck in den Augen.

So war das Ende der Dienstzeit herangekommen; ohne Bewegung nahm Hubert Pantenburg von den Kameraden Abschied, nur als er dem Feldwebel Bonekamp zum letztenmal die Hand schüttelte, stieg ein freundlicheres Licht in seinen Augen auf.

»Ich danke Ihnen, Herr Feldwebel,« sagte er weich.

Bonekamp war gerührt, obgleich er wetterte und polterte wie kaum je: »Himmelkreuzwetter, Bombenelement, Junge, halt dich brav! Donner un Doria, Junge, vertrag dich mit deinem Vater – so en verfluchter Bengel! In drei Teufels Namen, mach, daß de wegkommst!« Damit hatte er den jungen Mann an den Schultern zur Tür hinausgeschoben; Hubert hörte noch, als er schon draußen auf der Straße stand, das gewaltige Schneuzen und Prusten.

Jetzt war der Winter übers Land gekommen. Unten in Trier blühten zwar noch Astern in den Garten, und die roten Felsen am Moselufer blickten warm und sonnenbeschienen; hier oben auf der Eifel war's schon kalt. Hubert rieb sich die Hände, der Hauch vor seinem Munde tanzte wie ein leichtes Wölkchen durch die Luft. Zwischen den Tannen hingen zerrissene Nebelfetzen, Buchen und Eichen waren ganz kahl, das Heidekraut raschelte braun und dürr.

Eine große Ruhe lag über der Landschaft, eine hehre Müdigkeit. Von weitem blickte der Mosenkopf mit seinem ausgebrannten Kratergipfel; wie ein schlafender Riese mit traumschwerem Haupt schaute er herunter auf die niedrigeren Berge. Hubert blieb stehen und sah zu ihm empor. So wie der da einst gebrannt und getobt hatte, Feuer und Lava gespien, so war es in seinem Herzen auch gewesen, Jetzt war das auch so still wie der Mosenkopf. Die Heimatluft kam und strich mit lindem Finger über die wunden Stellen. Hubert fühlte eine große Freude in sich aufglimmen; ja, das war Eifelluft mit frischem, belebendem Wehen! Sie zerrte ihm an den Kleidern, sie fegte ihn durch und durch – und der Wald, der Wald, nur hier rauschte der so!

Mit einem Erlösungsschrei warf der Sohn der Eifel Ränzel und Stock von sich, mit ausgebreiteten Armen stürzte er nieder auf die feuchtkalte Erde und wühlte den Kopf ins raschelnde Laub. Vergessen waren Schmerz und Kummer, alles ging unter in dem einen großen Gefühl – Heimat! Gleich einem Trunkenen lallte er; er drückte das Gesicht an den geliebten Boden wie an die Brust der Mutter, er lag dann auf dem Rücken und starrte mit weiten Augen in das bleiche Grau des Himmels, er fühlte die Kälte nicht, die seine Glieder durchdrang.

Endlich sprang er auf, er rannte in den Wald hinein; er lief dort ziellos hin und her, er schlang die Arme um die dicken Stämme und preßte die Wange an die knorrige Rinde. Ein lange nicht gekanntes Wohlgefühl durchrieselte ihn, sein bleiches Gesicht rötete sich, sein Auge gewann Glanz. Das war die Heimat, der Wald seiner Jugend; hier war er umhergestürmt, hier kannte er auf Meilen jeden Pfad, jeden noch so versteckten Schlupfwinkel! Hier hatte er hinterm Busch das Wild belauscht, hier hatte er mit Suß im Gras gelegen und drüben in den Ruinen der alten Abtei sich mit ihr verkrochen vor jedem unberufenen Blick.

Suß! Ihre Gestalt war untrennbar verwoben mit dem, was er liebte; sie gehörte hierher. Für Augenblicke war es ihm, als müßte sie aus den Büschen treten und ihr lachendes Gesicht heiß und fest an das seine schmiegen. »Suß!« Er rief es laut, das Echo gab es zurück, verwirrt sprang er auf. Was wollte er doch?

Er hatte Trier verlassen, ohne sie aufzusuchen, ohne ihr Lebewohl zu sagen; im Groll war er gegangen. Wäre sie nicht gewesen, manches hätte sich anders gefügt! Er dachte ihrer mit Wut, mit geballter Faust; aber es war eine ohnmächtige Wut. Durch seine Adern schlich ein zehrendes Etwas, es ließ ihm keine Ruhe; er sah sie im Traum und mit wachen Augen, er glaubte sie zu hassen und verging vor Begehren.

»Suß!« Es raschelte im Busch! Der kräftige Mensch fuhr zusammen, mit einem seltsam erwartungsvollen Ausdruck starrte er zur Seite – war sie's? Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Es raschelte stärker, die Zweige teilten sich – »Suß?!« Ein junges Reh trat heraus und äugte verwundert den Eindringling an. Es stutzte, warf den seinen Kopf zurück, dann ein paar leichte Sätze – fort war es.

Wie aus einem Traum erwachend, schaute Hubert um sich. Es dunkelte; schwere Schatten lagerten sich im Wald, der Wind ging stöhnend durch die kahlen Bäume. Nun fühlte er die Kälte. Langsam tappte er auf den Weg zurück; die Freude war verflogen, fröstelnd zog er den Rock um sich.

Näher, immer näher kam er dem Elternhaus. Da blinkte schon Licht! Die Lampe brannte in der Stube, an deren Fenster die Mutter immer gesessen. Nun saß sie nicht mehr da! Ein ungeheurer Schmerz stieg jäh in der Brust des Sohnes auf; er blieb am Waldrande stehen, faltete die Hände und sah zu dem matten Schein hinüber, bis er ihm vor den Augen verschwamm. Dann sprang er mit wenigen Sätzen über die kotige Straße und öffnete das Gattertor, welches das Anwesen umschloß.

Mit wütendem Gekläff fuhr ein Teckel auf ihn los, doch das Bellen verwandelte sich in freudiges Winseln.

»Waldes, kennste mich?« Ja, der alte Hund kannte ihn! Mit einem seltsamen Zittern im Herzen hob der junge Mann das Tier auf den Arm und ließ sich willig von der kalten Hundeschnauze beschnobern. Er drückte die Haustür auf, der Flur war dunkel; er tastete die Wand entlang, bis seine Hand die wohlbekannte Klinke fühlte.

»Wer ist da?« riefs von drinnen.

»Ich!« Hubert stolperte über die Schwelle, geblendet vom plötzlichen Lichtschein.

Am Tisch saß der Förster, den Kopf über die Zeitung gebeugt; der starke Bart hing ihm fast bis auf die halbe Brust, er war noch schwarz, aber in das Haupthaar, die buschigen Brauen mischten sich weiße Fäden. In der Stube war's kalt und unwirtlich, die Geräte standen wie früher, aber verstaubt und schief gerückt; die Lampe war nicht gut geputzt, sie dampfte und schwelte.

Da saß der alternde Mann – ganz allein!

Eine sonst nie gekannte Weichheit kam über den Sohn; er hatte alles vergessen, es war ihm, als müsse er sich dem da an den Hals werfen und mit ihm um die Tote weinen.

»Vater!« sagte er unwillkürlich.

Der Förster maß ihn mit einem Blick vom Scheitel bis zur Sohle; erst flog's wie Erschrecken über sein Gesicht, seine Stirn rötete sich, dann sagte er kalt:

»Ah, Hubert, du bist et? Du kömmst ja wie der Dieb bei der Nacht!«

»Guten Abend!« Der Sohn trat näher zum Tisch und streckte die Hand aus, der Vater ergriff sie, und für einen Augenblick hielten sich die Hände der beiden Männer umschlossen, aber der Druck war kalt.

»Setz dich!«

Hubert setzte sich. Er tat es mechanisch, seine Augen glitten unruhig im Zimmer umher, als suchten sie jemand. Plötzlich sprang er auf – schon stand er am Fenster, und liebkosend fuhr seine Hand über den alten Polsterstuhl vor dem kleinen Nähtisch. Da hatte sie immer gesessen, alles stand noch hier – nur sie – sie –

Mit einem tiefen Seufzer kam er an den Tisch zurück und nahm dem Vater gegenüber Platz. Noch hatte er das Ränzel auf dem Rücken, Hut und Stock in der Hand, der Vater nötigte ihn nicht, abzulegen. Ein bitterer Geschmack wie Galle stieg ihm in den Mund.

»Nun,« sprach der Förster, der schweigend das Tun des Sohnes beobachtet hatte, »endlich kommste heim? Leg nur deine Sachen so lang' da auf den Stuhl! Viel hab' ich zwar net mit dir zu reden, dann kannste schon wieder gehn, oder willste de Nacht dableiben, is 't mir auch recht; besser wie im Arrestlokal wird et ja immer noch sein – du infamer Bengel!« Der Alte fuhr plötzlich auf und legte die Faust dröhnend auf den Tisch. »Was haste for Sachen gemacht?! Mein Sohn hat im Loch gesessen – mir soll das passieren, mir, dem königlichen Revierförster, mir, Wilhelm Pantenburg! Ich hab' immer gewußt, aus dir wird nix; hätt' das Weib net alleweil geflennt, ich wäl' dir längst anders gekommen, du miserabler L–!«

Er verschluckte das letzte Wort, der Sohn sah ihn düster an: »Sag et noch emal, das letzte Wort – was bin ich?«

Der Förster tat, als habe er nichts gehört, er sprach weiter:

»Aber nu hatte sie et endlich eingesehn. Ich kann dir keinen Gruß von deiner Mutter bestellen, sie hat nix mehr von dir wissen wollen. Und recht hat sie gehabt!«»

»Das es net wahr!« Hubert sprach es mit starker Stimme. »Meine Mutter nix mehr von mir wissen wollen?! Ha, ha« – er lachte bitter – »das glauben ich net – wer das sagt, der lügt – oder« – er beugte sich über den Tisch und starrte seinem Vater in die Augen – »Hast du ihr vielleicht e so Schönes von mir erzählt? Imstand wärste derzu!«

»Ich? Ich hab' erzählt, was wahr is – ich hab' sie noch geschont. Aber deine Braut, die Frau Hoppe aus Wittlich, is angefahren gekommen eines Tags un hat geschrieen und lamentiert. Mit ener hergelauf'nen Person, der Suß Endenich von hier, seiste tanzen gewesen, die ganze Nacht hättste dich mit der herumgetrieben; am andern Morgen erst wärste betrunken in die Kasern' gekommen, du hättst den Hauptmann angefallen un lägst nu im Arrest bei Wasser un Brot, de Gefreitenknöpf' hätten se der abgerissen. Ein guter Bekannter aus Trier hat ihr alles geschrieben.«

»Was – was?« Mit brennenden Augen, Schamröte auf den Wangen, lauschte Hubert; seine Fäuste ballten sich zornig, er stieß den Stuhl zurück und rannte wie ein Besessener im Zimmer umher. »Die Klatsche – das verliebte Mensch – ich – ich – ich könnt' sie erwürgen – die –« Er schwang die Fäuste.

»Ja, mein braver Sohn,« lachte der Förster höhnisch und strich sich den Bart, »die Wahrheit hört keiner gern. Aber du kannst et der Mutter net verdenken, wann ihr das doch zu arg war; mit dem Hätschelkind war et nu aus, sie hat –«

»Und du – und du?«

»No, ich hab' noch zum Guten geredt, obgleich du es net verdient hast. Die Katharina Hoppe hat sich denn auch zufrieden gegeben. Das is eine scharmante Frau, du hast en Glück sondergleichen. Sie will dir verzeihen un dich auf em Fleck heiraten. Du kannst de Nacht hier bleiben, morgen früh machste dann nach Wittlich un kommst mit ihr in die Reih. Die Hochzeit –«

»Die Hochzeit wird net sein,« sagte Hubert fest; seine Stimme klang ruhig, aber es war wie Windstille vor dem Sturm. »Nie – ich heirat' das Weib net!«

»So –« Des Vaters Augen stammten. »Un wenn ich sag', du heiratst sie doch?! Gott sollste auf den Knien danken, täglich, stündlich – du Hungerleider! So en miserabler Lump wie du, der keinen Pfennig hat, nirgendwo gut tut, Schand auf em Buckel hat, kriegt so e ne schöne, reiche Frau! Mensch, denk, du kannst der en Laden kaufen, du kannst –«

»Ich verkauf' mich net,« unterbrach ihn der Sohn kurz, »spar dein Red! Mir scheint, mer verstehn uns doch net – sei so gut und gib mer das Sparkassenbuch, worauf der Mutter ihr Geld zu Wittlich eingetragen is; dann will ich gehen.«

Der Ältere zuckte unmerklich zusammen, dann fragte er scheinbar erstaunt:

»Was for en Sparkassenbuch – was for Geld?«

»No« – der Jüngere trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch – »du weißt doch, das Geld, was mir nach em Tod von der Mutter gehört. Ich will et mir auszahlen lassen. Wo is das Buch?«

»Nur Geduld!« Der andere sah ihn einen Augenblick an und lachte ihm dann ins Gesicht. »Aha, so läuft der Has'! Ja, mein junger Herr, da irren Se sich! Denkste vielleicht, daß man so einem Mustersohn sein Geld hinterläßt – Geld, was ei'm zu heilig war, nur anzurühren – daß der es in alle Winde schmeißt un in e paar Jahren verjuchhet? Ne, so töricht war die Mutter net, die war bei aller Schwachheit doch ene kluge Frau – Buch? Geld? Du hast nix zu kriegen, als was ich der aus Gutherzigkeit geb'. Heirat du deine reiche Witwe, was brauchste mehr?!«

»Nein!« Der Sohn stampfte mit dem Fuß auf. »Laß de Fisematenten, ich will mein Geld!«

»Dein Geld? Verdien der welches, dann haste welches – un ich verbitt' mir solchen Ton. Laß das Trampeln! Was, du denkst, ich lüg'? Das is heut bereits das zweitemal – halt dein Maul, du frecher Lümmel! Hier, willste sehen?« Der Förster eilte zu dem Bureau an der Wand und riß ein Schubfach heraus, er hielt dem Sohn einen großen Bogen unter die Nase. »Da steht et! ›Ich, Annamargret Pantenburg, geborene Heid, vermache meinem Ehemann, dem Revierförster Wilhelm Pantenburg zu Himmerod, mein Gesamtvermögen, bestehend in der Summe von neuntausend Mark – sistiert auf der Sparkasse zu Wittlich – und einer Hypothek von sechstausend Mark ebendaselbst. Ich wünsche, daß er uneingeschränkt und sofort nach meinem Tode in Besitz der Erbschaft tritt.‹«

Vor Huberts Augen flimmerte es.

»Und ich – und ich?« stammelte er.

»Ja, siehste nu, da steht es – hier der Name der Erblasserin – hier der Notar und die Zeugen« – der Förster wies mit dem Zeigefinger – »da stehn sie!«

Mit einem hastigen Griff riß ihm der Sohn das Blatt aus den Händen:

»Her den Fetzen, ich pfeif' drauf, ich –«

»Zerreiß du et nur.« Der Vater ließ ihm gleichmütig das Papier. »Immer zerreiß du et – aber dann geh nach Wittlich auf 't Gericht, da liegt noch e so en zweiter Fetzen hinter Schloß un Riegel, das is der richtige. Ich möcht' dir net raten, den zu zerreißen – dies, dies hier is nur de Abschrift. Ha, ha!« Er lachte kurz und gezwungen.

Wie vernichtet ließ der Sohn das Blatt zur Erde fallen. Er schloß die Augen, als ob ihn schwindle, und lehnte sich schwer an das alte Zylinderbureau.

»Mutter – Mutter!« stöhnten seine erbleichten Lippen.

Mit einem triumphierenden Blick maß ihn der Alte:

»No, was sagste nu – lüg' ich?«

Keine Antwort. Man hörte die Uhr ticken und den Holzwurm unter der Diele schraben. Eine Weile blieb es so.

»Hubert,« tönte jetzt wieder die rauhe Stimme, »du dauerst mich eigentlich. Was willste anfangen? Geh in dich, heirat die Hoppe, werd en ordentlicher Mensch, un ich bin net dawider, dir von dem Geld emal was vorzuschießen.«

»Von meinem Geld?!« Der Jüngere lachte gellend.

»Von meinem Geld, meinste,« verbesserte der Ältere; »erst nach meinem Tod wird et sich finden, ob 't wieder dein Geld ist. Aber es hat noch Weile bis dahin! So bald gedenk' ich noch net abzufahren,« schloß er höhnisch und reckte seine kräftige Gestalt. »No – was meinste – was?«

Er lauschte, er verstand das Murmeln des andern nicht – plötzlich ein Wutschrei, der Sohn packte ihn an der Brust und rüttelte ihn wild hin und her:

»Du Dieb! Betrüger!«

»Laß los, Lump infamer!« Der Förster wehrte sich – vergebens!

Mit Riesenkraft hielt ihn der Jüngere fest und drückte ihn gegen die Wand.

»So – und nu sag noch einmal: ›Lump infamer!‹ – ich will dir jetzt sagen, wer der Lump is – du, du, du!« – er stieß ihn mit der geballten Faust vor die Brust – »du!«

Zornbebend schlug der Alte um sich, Hubert packte seine Handgelenke und drückte ihm die Arme an den Leib.

»Das Kind haste mißhandelt, den Mann haste betrogen – ich bin dein Sohn net mehr. Ich betret' net mehr dein Haus. Aber sagen will ich der, was ich von der denk'. Ruhig, strampel net so! Die Mutter hat dich gefürcht', solang' ich denken kann, du hast er das Testament abgeluxt, du hast er noch auf dem Totenbett die Feder in de Finger gezwungen – still, red kein Wort! Still!« In furchtbarer Wut schrie Hubert: »Ich will auch gar kein Geld, et is besudelt von dir! Du hast mer aber mein Mutter genommen, das verzeih' ich der net – net in Ewigkeit – du hast« – krampfhaft schluckte er und rang nach Atem – »du hast mich elend gemacht! Wunder dich net – du – du« – er rüttelte den sich Sträubenden – »du hast emal Rechenschaft abzulegen vor Gottes Thron – wart, wir begegnen uns noch! Ich will mich net versündigen, sonst –-« Seine Augen blickten wild.

»Schlügste mich tot!« brüllte der Förster, über dessen kreideweißes Gesicht Wut und Haß in jähem Wechsel jagten. »Ich fürcht' mich net. Schlag nur – meinen Fluch haste – tausendmal meinen Fluch – nu schlag zu!«

»Ich schlag' net.« Hubert ließ den Vater plötzlich los und taumelte an den Tisch zurück, er sank auf den nächsten Stuhl und schlug den Kopf hart auf die Tischplatte. »Mutter – Mutter!«

Der Förster stand mit verzerrtem Gesicht, es sah aus, als wollte er sich auf den Sitzenden stürzen. Nun sprang der auf. Hubert sah mit verstörten Augen um sich und ergriff Ränzel und Hut. Seine Rechte nahm den Stock und stieß ihn wuchtig auf den Boden, er wollte noch sprechen, aber die Worte versagten ihm; er drehte sich rasch um und ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen.

Nun tappte er über den Flur – nun ging die Haustür, sie kreischte in den Angeln – nun ward sie zugeschlagen – der Förster lauschte mit vorgebeugtem Oberkörper. Draußen winselten die Hunde. Nun war alles still. Er war fort.

Mit einem Seufzer der Erleichterung ergriff der Zurückgebliebene die Lampe, seine Hand zitterte doch. Er leuchtete hinaus in den Flur, dann öffnete er die Haustür und rief die Hunde. Draußen schwarze Nacht. Er machte die Runde ums Haus, dann ging er wieder hinein und schloß sorgfältig mit Ketten und Riegeln, vor die Fensterläden legte er die eisernen Stangen.

»Morgenden Tags nehm' ich mir den Jagdgehilfen in 't Haus,« murmelte er und sah sich scheu um, »un eine Dienstmagd muß auch her – ich will net allein sein.«

Hui! Draußen pfeift der Wind und heult schon wie Wintersturm, die Wipfel der Bäume biegen sich, am Himmel jagen Wolkenballen. Nun prasselt Regen nieder – eine böse, menschenfeindliche Nacht!


Zu Wittlich standen die Leute auf dem Marktplatz und guckten mit neugierigen Gesichtern nach den Fenstern von Kaufmann Kortz. Warme Frühlingswinde wehten über die Straße, um die weißgetünchten Giebel der einstöckigen Häuser tanzte Sonnenschein, der Himmel zeigte ein wolkenloses Blau.

Mai war's.

Die Männer standen schon hemdärmelig vor den Türen, die Schürzen der Weiber wehten im lauen West, man feierte trotz des Vormittags; alle lachten.

»Ene, su wat,« sagte Flickschneider Bonz und blinzelte pfiffig mit den Augen, »wat ich dat Kortzen gönn'! En Mordskerl, dän Hubert Pantenburg! Ha, ha – ha, ha – wat sech dän Kortz wohl geärgert haot! Mondag üwer Nacht sein uff emaol al sein Hemder, al sein Boxen, al sein staatsche Kledasch weg, on heit morjen krieht hän en Kaart per Post:

›Die Hemden und die Hosen sitzen famos! Dies zu Ihrer Beruhigung.

In alter Anhänglichkeit

H. P.‹«

»Dän Kortzen es ganz onüwel gäwen für lauter Gall – ne, ne, e su en Filu!«

»Meister,« fragte ein junges Mädchen, »es et dän Pantenburg och sicher gewest? En annern kennt jao nor e su geschriewen haon!«

»Es et der ald schuns bang for dän scheenen Hubert?« lachte der Alte und kniff das hübsche Ding in die Backen. »Jao, jao, bei de Mädercher haot dän alleweil Glück! Ech kurantören der, Traut, dän kriehn se net, dän kennt al de Versteck in der ganzen Eifel. Duh kann de Polizei lang suchen!«

»Haot ihr et schuns geheert?« mischte sich der lahme Steffen ein, der im erbärmlichsten Häuschen zu Wittlich wohnte und vom Bettel lebte. »Dän alden Pantenburg es onbännig wild öwer de Unducht von sei'm Sohn! Al Nacht duht dän en annern Utz mit em dreiwen, hän schießt em dai Wild für der Diehr. De Regierung haot als dem Fechter geschriewen, hän sollt' dem Öwelstand uphelfen, sunst däht hän versetzt gänn; duh haot dän Alden gesaot, de Schand öwerlewt hän net, ehnder sullt dän Himmel off de Erd faalen, als dat hän dem Hubert weichen däht – on geflucht haot hän! Jeßmarijusep, paßt uf, dat gitt en onüwle Saach!«

»O, dän!« Die hübsche Traut warf die Lippen auf. »Dat es en alden Schinner!«

»Jao, jao« – ein Bauerweib mit einer Hotte auf dem Rücken tippte die Sprecherin auf die Schulter – »dat Könd haot recht. Wißt, ihr Hähren, wann dän Fechter senen Jong net so onüwel traktert hätt', dat wär' eweil net e su en Onverläjenhaat – dän Hubert es ganz gud. Ech sein von Großlittgen derhäm, letzt waor hän bei mer, hän haot duh gesäß on gekrisch; mer mößt en Dauer met em haon, et es em zo üwel metgespellt gänn!«

»O Jeß!« Die junge Dirne hatte mit offenem Mund zugehört, nun seufzte sie und senkte den Blick.

»Lao gieht hän!« flüsterte Steffen plötzlich und stieß sie an.

»Wän – wuh – wuh?« Wie elektrisiert fuhren alle Köpfe herum.

»Noa drüwen – dän Alden!« sagte der Lahme bedächtig, nahm langsam die Pfeife aus dem Mund und wies mit dem kurzen Stiel nach der andern Seite des Marktplatzes.

Richtig, da ging Förster Pantenburg! Er war in der Sonntagsuniform, mit dem Hirschfänger an der Seite, der lange Bart hing ihm, glänzend pomadisiert, auf die Brust. An seinem Arm, selbstbewußt um sich blickend, schritt Frau Katharina Hoppe. Ihr schwarzseidenes Kleid rauschte und fegte den Straßenschmutz zusammen, der weiße Hut mit der weißen Straußenfeder saß auf den Hinterkopf geschoben und wippte bei jedem Tritt. Sie sah zufrieden aus – warum auch nicht? Konnte es der Sohn nicht sein, war's wenigstens der Vater! Seit Heiligdreikönigtag waren Förster Pantenburg und Frau Katharina Hoppe miteinander versprochen, heute kamen sie vom Standesamt, sie warteten das Trauerjahr nicht ab.

Ein greller Pfiff ertönte, als die beiden über die Gasse schritten; die Buben dort auf dem Geländer der Rathaustreppe machten sich ein Hauptvergnügen, sie pfiffen schneidend hinter dem Paar drein, jetzt schrien sie gar: »Vill Pläsier, Hähr Fechter – grüßt dän Hubert – on Kortzen däht scheen danken! Oa lau – oa lau!«

Der Förster wandte sich um, wie von einer Natter gestochen, seine düsteren Augen unter den buschigen Brauen sprühten ordentlich, mit einer Verwünschung und erhobener Hand fuhr er auf die Knaben los: »Wollt ihr wohl, verf–« Mit lautem Gekreisch stoben sie von dannen, sie rannten wie gepeitscht, aber schon wieder an der nächsten Straßenecke tönte das Johlen: »Oa lau – oa lau!«

»Laß doch, Pantenburg!« Die behäbige Braut zupfte den Bräutigam am Ärmel und hing sich von neuem an seinen Arm. »Warum willste dich ärgern? Et is nix als Neid von den Leuten – nix als Neid!« Sie warf den Kopf wieder stolz hintenüber und rauschte mit ihm ab; unter den Zuschauern auf der Gasse entstand ein halblautes Gelächter.

»Wie sech dat Framensch pärscht! Ne, kuckt lao dat Klaad, wat haot se sech ufgedonnert! On dän Alden, wat es hän falsch gänn! Jao, vom Hubert kaonn hän net gud hieren!«

»Hän haot nau ales,« sagte Flickschneider Bonz und zuckte die Achseln, »äwer – Geld haot hän on en neie Fra – äwer ech mechten net in sener Haut stechen – ene!« Die anderen nickten Beifall, eifrig ging die Unterhaltung weiter; jetzt wurde sie unterbrochen.

Eine Frauensperson trat auf die Gruppe zu, langsam war sie die Häuser entlang geschlichen, niemand hatte sie kommen sehen; nun stand sie plötzlich vor den Schwatzenden.

»Met Verlöw,« fragte sie leise und bescheiden, »waor dat dän Fechter Pantenburg?«

»Jao, jao – waorom?« Die Leute sahen erstaunt und neugierig die Fremde an; die war nicht vom Ort, zu Wittlich kannten sich alle.

»Oa jao« – sie zupfte an ihrem ärmlichen Rock und wies auf ein Bündel in ihrem linken Arm – »ech sein e su weid här, ech giehn naoch Trier for en Dienst; ech haon schuns en weiden Weg gemaach on öweral haon ech vom Fechter Pantenburg verzällt krieht, ech sein ald ganz neigierig gänn – on dat eloa waor hän wirklich?«

»Jao.« Die Männer lachten; der Flickschneider, dem kein hübsches Gesicht entging, schaute dem Mädchen unter das Kopftuch, das tief beschattend in die Stirn hing. »Noa, gelt,« sagte er mit gutmütigem Blinzeln, »dän Alden es net e su scheen? Äwer den Jongen, dän Hubert, dat es en feinen Kerl, dän mußte emaol siehn!«

»Ene, ene« – die Fremde erhob abwehrend die Hände – »es hän hei?« Sie schien sich zu fürchten und schaute verstohlen um sich. »O, ihr Hähren, ech haon e su en Forcht, hän kennt mer ebbes duhn, wann ech su allein dorch de Wald giehn – hän es doach net hei erum?« Ihre Augen fuhren unruhig umher.

»Kuckt eloa de Bangbüx!« Der Schneider amüsierte sich köstlich. »Ne, ne, de brauchst net angst zo sin, de scheene Mädercher duht hän neist! Mondag es hän ze Wittlich gewest – duh haot hän hei en Geschäft gehaot,« – er stieß den Steffen in die Seite und blinkte ihm zu, die anderen kicherten – »äwer nau es hän lao erunner!« Er wies mit dem Arm hinter sich.

»Es et och waohr?« Das Mädchen ergriff ängstlich den ausgestreckten Arm. »Ihr duht mech net für en Naorr haalen?«

»O Jeß, Mädchen, wat bis dau angst – ne, dän es eweil rum nach Daun gangen; gestern haut em dän Postellon uf der Chassee vun Manderscheid nach Daun gesiehn, hän haot em gekennt.«

»On es hän alleweil for sech alleen?«

»Mer saot, hän haut se Mädchen bei sech in de Wald geholt; et es en liederlich Framensch, dat Suß Endenich aus Großlittgen, et – nao, Ihr müßt et doach kennen,« wandte sich der Sprecher an die Bauerfrau, die, mit ihrer Hotte auf dem Rücken, offenen Mundes dastand, »Ihr seid doach lao derhäm!«

Ein lauernder Blick der Fremden schoß zur Seite, sie drehte schnell das Gesicht ab.

Die Bäuerin schüttelte den Kopf:

»Ne, ech kennen dat Mädchen net mieh; als Könd haon ech et oft gesiehn, äwer nau es et schuns e su lang von derhäm. Dän alden Endenich es als dud, de Fra met de annre Könner es weg – ech weeß net, woar se sein!«

»Se sull en scheen Perßon sein,« meinte Steffen und paffte eifrig, »dän Hubert es ganz doll naoch er, hän es Wachs en ere Fingren.«

»Maant Ihr?« Die Fremde lachte kurz; unbezwinglicher Spott zuckte um ihren Mund, in den schmalen, langbewimperten Augen blitzte eine heimliche Lust, aber gleich darauf sanken die Lider. In völlig verändertem Ton sprach sie: »Äwer nau adjüs, ihr Hähren! Ech danken eich scheen, ech muß eweil laafen, dat ech weider komm' – adjüs!«

»Häh, Mädchen, willste net ebbes äßen? Duh bimmelt schuns de Middagsglock!«

»Ne, ne, ech danken eich« – sie schüttelte verneinend den Kopf – »ech sein net hongrig, ech sein ganz saat vun eirer Red!« Sie lachte wieder, daß ihre gesunden weißen Zähne blinkten, dann machte sie ein gezwungen ernsthaftes Gesicht und schlug schüchtern die Augen nieder wie vordem.

»Adjüs!« Sie nickte und schritt rasch von dannen; die Leute sahen ihr wohlgefällig nach, bis die nächste Straßenbiegung ihre Gestalt verdeckte.


Solange die Fremde in den Gassen von Wittlich den Blicken ausgesetzt war, schritt sie dahin, wie eben ein sittiges Eifeler Mädchen schreitet, mit den Nägelschuhen derb auftretend, den Kopf gesenkt. Kaum lagen die letzten Häuser hinter ihr, so veränderte sich ihr Wesen. Sie schaute mit blitzenden Augen um sich – niemand zu sehen! Im Sonnenglanz lag das Städtchen, alles zum Mittagsmahl in den Häusern.

Sie stieß ein halblautes Lachen aus und winkte mit der Hand höhnisch zurück: »Ihr Schaofsköp!« Dann schlüpfte sie behend in den Heckenweg, der sich hinter den Scheunen und Gärten hinzieht. Oft blieb sie stehen und hielt vorsichtig Umschau; sie ging in derselben Richtung, aus der sie gekommen, wieder zurück auf die Landstraße nach Großlittgen und Himmerod.

Sie schritt wacker zu, jetzt war die Chaussee erreicht – in flimmernder Luft lag Wittlich weit zurück, weiß und staubig schlängelte sich die Straße bergan – da war auch schon Wald, wie eine undurchdringliche Mauer schoben sich Tannen vor, dazwischen Laubbäume mit zartgrünem Schleier.

Wieder hemmte das Mädchen den eiligen Schritt und hielt die Hand über die Augen, die scharf und funkelnd Landstraße, Felder, Nähe und Ferne überflogen.

»Ke Mensch,« sagte sie triumphierend, sprang leicht wie ein Reh über den Grabenrand und verfolgte mit Sicherheit einen kaum erkennbaren Pfad mitten durchs Dickicht.

Sie ging jetzt langsamer. Ihre Lippen spitzten sich, übermütig begann sie vor sich hin zu pfeifen, wie Vogelgezwitscher klang es. Das Kopftuch war ihr in den Nacken geglitten, sie riß es vollends herunter, ungehindert spielte das grüngoldene Licht um ihre gebräunte Stirn. Gezweig streifte ihr Haar, ab und zu verfing sich ein Reis in ihren wirren Zöpfen und raufte drin, sie hatte es nicht acht. Wie eine Schlange wand sie den geschmeidigen Leib durchs Buschwerk.

Eine halbe Stunde war wohl verstrichen, jetzt begann die Wandrerin aufmerksam nach rechts und links zu spähen, ihr Pfeifen ward lauter – da – ein antwortender Pfiff – darauf ein Brechen und Knicken von Asten – ein Rascheln im Unterholz – die Zweige schnellten auseinander, ein schlanker Mann setzte heraus mit ungestümem Sprung.

»Suß!« Er umfing sie mit beiden Armen und küßte sie wild und stürmisch.

»Laoß!« Sie stieß ihn zurück und hielt ihn auf Armslänge von sich ab, ihre Blicke liefen über die kräftige Gestalt in der jägerähnlichen Kleidung, über das schöne Gesicht mit dem krausen blonden Bart – sie weidete sich dran. Ihre Pupillen vergrößerten sich, ihre geschmeidigen Glieder duckten sich wie zum Sprung, nun tauchte ihr Gesicht mit den zitternden Nasenflügeln dicht vor dem seinen auf – ein Kuß und ein Biß brannten auf seiner Wange.

»Kotz Donner, Suß!« Er rieb sich die Backe.

»Ech haon dech freßlief,« murmelte sie zwischen den Zähnen, »dao – dao!« Noch einen Kuß rechts und links, dann schnellte sie zurück wie das Reptil, das seinem Opfer den giftigen Stich versetzt hat. Sie lachte hell auf: »Oa lau, Hubert, kuck net e su dumm!«

»Maach!« Er drohte ihr scherzend, aber seine Augen leuchteten leidenschaftlich; mit einem unterdrückten Schrei preßte er sie an sich, hob sie mit den starken Armen vom Boden und hielt sie für Sekunden über sich in der Schwebe. »Du, – o du!«

Sie lachte auf ihn herunter.

»Dau bis schwer!« Er ließ sie zur Erde, der Schweiß war ihm auf die Stirn getreten.

»Glöwen ech – äwer nau hör, Hubert« – sie zog ihn weiter – »mer haon ke Zeid zo verlieren; dein Vadder met sener Madam haon ech ze Wittlich gesiehn – schwind, mer laafen naoch Himmerod! Hän es noach net derhäm, mer kennen em emaol düchtig beluchsen!« Ihre Augen funkelten schadenfroh. »Ke Mensch denkt an dech – de Schaofsköp – se mannen al, dau wärst rum naoch Daun gangen – ech hätt' bal de Plaatz krieht for Laachen!«

»Haste em gesiehn,« fragte er hastig, »on de Hoppe och?«

Sie nickte; ihr Gesicht verfinsterte sich, sie ballte die Hände. »Dat Mensch! En seiden Klaad haot et an – on dän Fechter – oa dän – dän! Ales vun dei'm Geld, Hubert, laad et net – dau darfst et net laaden – kujoner em – plaog em« – sie zischelte – »ons es dat Geld, wat se verduhn, ech mößt dat Klaad haon, on dau mößt Fechter gänn – oa dän Stehler, dän Hallunk! Kennten ech em nor kriehn, ech wullt em –«

»Suß, bis still!« Er legte ihr die Hand auf den Mund, zornig machte sie sich frei:

»Dau Schmachtlappes, dau has ke Korasch! Gang doach liewer on gratelier em noach zo der Madam – Dein Modder selig däht sech noach em Grab omdrehn! En halw Jahr es se erscht dud, de arm Fra!«

»Dau has recht!« Eine tiefe Röte stieg ihm in die Stirn, ein schmerzlicher Ausdruck kam ihm rasch in die Augen. »Mutter!« murmelte er, dann drückte er dem Mädchen die Hand. »Suß, dau bis e su klug!« Er sah sie bewundernd an.

»Jao« – sie klopfte ihm die Backe – »duh nor stracks, wat dat Suß sät! Noach es et net ganz verspellt – Korasch, Hubert! Denkste, et micht mer Pläsier, de ganz Zeid em Wald ze laustern on mech lao zo verstechen? E su hammer net gewett! Mer sein eweil seid Benediktus hei erum, mei haon gehongert on gefror; wann ech net mannigmaol ebbes mitgeholt hätt', wat dann? Ne, Hubert, dat moß sech ännern – mer mössen dän Alden zo Kreiz kriehn – mer müssen – on dann – juchhäh!« Sie machte einen Sprung und schüttelte den Kopf, daß ihr die wilden Zöpfe über den Rücken fielen.

Mit einem Gemisch von Liebe und Scheu sah der junge Mensch auf sie.

»Et duht mer laad for dech,« sagte er gedrückt, »ech waoren su froh hei – e su froh« – seine Brust weitete ein tiefer Atemzug, aufleuchtend schweifte sein Blick durch das Waldgrün, gleich darauf sank ihm die Stimme, wie Angst klang es hindurch: »Äwer – Suß – dau wirst mech doach net im Stich laossen, dau giehst net fort? Saog, Mädchen – dau giehst net fort – Suß! Suß?!« Er haschte nach ihrer Hand und drückte sie heftig bis zum Schmerz. »Ech kaonn net lewen ohne dech – saog!«

»Oa Jeß!« Suß zuckte die Achseln und schlenkerte seine Hand zur Seite. »Autsch!«

Weiter gab sie keine Antwort; die Brauen zusammengezogen, die kurze Oberlippe aufgeworfen, so schritt sie vor ihm her. Er faßte sie rauh am Arm, sein Gesicht war bleich geworden.

»Mädchen, laoß de Dummheiten – saog, dat de mech net verlaossen duhst! Suß!«

»Ech haon et lao bal saat,« murrte sie trotzig, »schaff ons Geld – sons –«

»Suß!« Er seufzte. Sie drehte den Kopf halb nach ihm um – es lag etwas Verächtliches in der Bewegung, ein häßliches Wort schwebte ihr auf den Lippen – da – wie er sie ansah!

Seine dunklen Augen ruhten traurig auf ihr, Zorn und Kümmernis stritten in seinen Mienen; nun wurde seine Stimme bittend.

»Suß!« Seine kräftige Gestalt beugte sich zu ihr nieder – sie sah ihn einen Augenblick starr an, ihr böser Blick ward weicher – dann lächelte sie pfiffig, spitzte den Mund und schloß die Lider.

»Köß mech!« sagte sie langsam.

»Suß!« Mit einem Jubellaut drückte er seine Lippen auf die ihren; sie rührte sich nicht, mit geschlossenen Lidern hing sie an ihm.

»On eweil dähste bei mer bleiwen, och wanneh –«

»Jao, jao, jao!« Sie schrie es ihm in die Ohren, sie riß die Augen weit auf und brach in schallendes Gelächter aus. »Ha, ha – on nau, mein Jong – ha, ha – eweil gitt et strawätzt, suns es dän Alden schuns derhäm!«

Sie machte sich los, faßte ihn an der Hand und zerrte ihn hinter sich drein, immer durch Gestrüpp und Buschwerk, mit unfehlbarer Sicherheit. Durch das zarte Laubdach fielen ihr die Sonnenstrahlen mitten ins Gesicht, ohne zu blinzeln richtete sie den Blick fest geradeaus. Sie schien keine Müdigkeit zu kennen, ihre Sehnen waren von Stahl, ein heimliches Frohlocken schwellte ihre Gestalt. Er folgte ihr auf den Fersen.


Tief dunkle Spätsommernacht lag über den Höhen und Gründen des Kunowaldes. Nichts regte sich.

Im Forsthaus brannte kein Licht mehr. Frau Katharina Pantenburg, verwitwete Hoppe, schlief. Die Zahl der Hunde war noch um drei vermehrt; auch sie lagen im Schlaf, die Nase auf die Vorderpfoten gedrückt. Kein Laut.

Die Stille beängstigte den Förster, er allein lag im Bett und konnte nicht schlafen. Die Fenster waren mit den Läden fest verschlossen, eine dicke dumpfe Luft brütete in der Kammer.

Pantenburg lag mit offenen Augen, sie brannten ihm; der Mund war ihm ausgetrocknet. Er warf sich ungestüm von einer Seite zur andern, in den Adern floß ihm kein Blut – nein – Feuer, Feuer! Er riß die Decke ab und richtete sich halb auf – o, dieser Ärger! Wenn der Lump, der Strolch, der Vagabund nicht wär, konnte er ruhig schlafen! Jetzt keine Ruhe.

Der Förster stöhnte, er lauschte auf die Atemzüge seiner Frau. Wie sie schlief – das dicke, dumme Mensch! Jetzt schnarchte sie gar. – »O!« Pantenburg tastete im Dunkeln nach den Kleidern auf dem Stuhl vorm Bett; er konnte das Schnarchen nicht mehr hören, es dröhnte ihm in den Ohren, es machte ihn rasend. Sie war ihm widerwärtig, alles war ihm widerwärtig – alles ärgerte ihn – das war ein Hundeleben!

Während er geräuschlos die Kleider überzog, tobten ihm die Gedanken. Der Rock schlotterte ihm um die Schultern – ja, er war abgemagert, gelb im Gesicht vor unterdrückter Galle; die Augen lagen ihm tief und blutunterlaufen im Kopf. Das waren Sommermonate! Von der Forstverwaltung ein Verweis nach dem andern; die Leute lachten hinter ihm drein – o, er sah's wohl, wenn sie's auch heimlich taten! Sie freuten sich, sie gönnten es dem »Schinner«! Wilddiebstahl über Wilddiebstahl. Zwei, drei Nächte hintereinander hörte er die Schüsse fallen; war er links, dann knallte es rechts – war er auf dem Berg, dann war's unten im Tal – der Kerl hatte Wind von jedwedem.

Sie steckten alle unter einer Decke – ha, das Luderzeug! Selbst dem Jagdgehilfen war nicht zu trauen. Und in seiner Hochzeitnacht, welch ein Skandal! Ein höllisches Pfeifen, ein Johlen, ein Lärmen war vor den Fenstern erklungen – ein Trommeln, dazwischen Hohngelächter, Quieken, Kreischen, als ob das wilde Heer durch die Luft zöge. Wütend war der Hochzeiter vor die Tür gestürzt – nichts zu sehen! Kaum war er drinnen, donnerte ein Hagel von Steinen gegen die Läden, das höllische Toben verstärkte sich – so ging's bis zum Morgengrauen. Frau Katharina zeterte und heulte und beschwor ihren Mann, sich versetzen zu lassen. Zornig fuhr er sie an: »Das sollt' fehlen, ich dem Lump weichen – ich! – Schweig mir!« Seither wagte sie nichts mehr zu sagen, sie wandelte ohnehin nicht auf Rosen.

»Wann ich hän krieg, den Kerl, den vermaledeiten –« der Förster war jetzt angezogen und tappte zur Kammer hinaus – halt – fiel da nicht ein Schuß? – Nein, nichts! Es war das Blut, das ihm in den Schläfen pochte, in den Ohren rauschte. So ging es alle Nacht, er lag im Bett und lauschte, und das überanstrengte Gehör närrte ihn.

»Ich werd' verrückt!« Pantenburg hielt sich den Kopf mit beiden Händen. Er biß die Zähne aufeinander: »Hätt' ich ihn totgeschlagen als Jung – pah – besser damals, als jetzt, – denn wann ich ihn treff' –« Eine lange Pause, dann ein heiseres, zitterndes Gemurmel: »Einer von uns muß weg – ich ertrag' die Schand und den Spott net – ne, un wenn 't mich die Seligkeit kost' – haha, die is ohnehin verspielt!«

Er lachte bitter und sah sich dann schaudernd um – alles finster; er tastete zum Tisch, auf dem Feuerzeug stand. Ein klägliches Flämmchen flackerte auf, um gleich wieder zu erlöschen – noch ein Streichholz – noch eins, – mit einem Fluch warf der Förster die ganze Schachtel auf den Tisch. Alles gegen ihn, alles ihm zum Possen!

Er riß Gewehr und Patrontasche von der Wand, seine Hand fühlte nach dem Drücker; noch war scharf geladen. Er tappte zur Tür – nur heraus, heraus, die Luft drin war zum Ersticken! – Er schlorrte durch den Flur, schob den Riegel zurück und hakte die Kette los – vor dem eigenen Sohn so verrammelt – nein, nicht bloß vor dem Sohn; da waren Gestalten, ein ganzes Heer, schwarz und finster, allezeit bereit, über ihn herzufallen!

»Ah!« Der Förster riß die Knöpfe des Rockes auf und hielt die Brust der Nachtluft entgegen – das kühlte! Luft!

Mit schwerem Tritt machte er die Runde ums Haus. Die Nacht war still, kaum ein Rauschen in den Wipfeln – noch immer nicht Kühlung genug. – Ob er wohl hier herum im Wald war? – Pantenburg fühlte nach dem Gewehr; heut wär's eine Lust gewesen, ihm eins aufzubrennen. – »Ha!« – der Förster faßte sich nach dem Hals, es würgte ihn ordentlich da, eine namenlose Wut trieb ihm jäh das Blut zu Kopf, vor den Augen rotes Geflimmer – er hätte ihn morden können – morden – den –

»Was – was willst du?!« Er schrie plötzlich laut auf und streckte die Hände vor sich – auf dem Pfad schimmerte eine helle Gestalt – sie glitt vor ihn hin – jetzt –

»Annamargret!« Dem Mann schlugen die Zähne zusammen. »Fleisch von deinem Fleisch, Blut von deinem Blut –«

Wer hatte das geflüstert?

Es säuselte in den Büschen, mit einem Ächzen hob der Förster den Gewehrkolben – nichts – der weiße Stamm einer Birke löste sich hell aus der dunklen Umgebung.

»Ich werd' verrückt! O –«

Wie ein Trunkener taumelte er tiefer in den Wald, er irrte umher; wie lange? Wer weiß. Nach Mitternacht mußte der Mond aufgehen – richtig, da war er! Seine halbe Scheibe warf nur ein unsicheres Licht.

Mitten im Wald wanderte Pantenburg, vielmehr er lief, als ob ihn jemand jage; er hätte zerschmettern mögen, was ihm in den Weg kam, er hätte – ja, was hätte er nichts alles gemocht! – Da – wer war das?! Wer?!

Dort am Ende der Schneise, die hinunter zur Salm führt, tauchte eine Gestalt auf – sie schritt heran – ein großer schlanker Mensch! Er ging achtlos, er kam näher, – die zitternden Mondstrahlen leuchteten ihm ins Gesicht.

»Halt,« brüllte der Förster, »halt, im Namen des Gesetzes!«

Der Angerufene zuckte zusammen; er wendete sich halb zurück, als wolle er in eiliger Flucht sein Heil suchen; er zögerte – nur einen Augenblick, dann schritt er ruhig noch näher.

Jetzt standen sie auf zehn Schritte einander gegenüber – Vater und Sohn. Sie standen für Augenblicke regungslos, die Blicke bohrten sich ineinander – ein Blatt wehte vom nächsten Baum, man hörte es fallen.

»Brauchst net e so ze schreien,« sagte Hubert mit einem tiefen zitternden Atemzug, ein geringschätziger Zug huschte um seinen Mund, »ich steh' schon. Wann ich gewollt hätt', wär ich ja längst weggerannt. Ich han dich kommen sehn – et is mer lieb, daß ich dich treff'. Ich han zwar gemeint, ich hätt' mit dir nie ebbes mehr zu reden – ich han mich getäuscht. Es muß en End werden mit uns – hörste, en End!«

»En End,« wiederholte der Förster; weiter sprach er nichts. Seine Rechte fingerte unruhig am Kolben der Büchse.

Der junge Mensch in dem verlumpten Jagdrock, in den Stiefeln, aus denen die Zehen sich vorbohrten, holte wieder unruhig Atem. Eine finstere Entschlossenheit lag auf dem Gesicht mit dem verwilderten Bart. Hubert Pantenburg sah sehr heruntergekommen aus, hager, elend, seine Augen umgrenzten bleifarbene Schatten. Seine Stimme klang heiser. »Ich bin en elender Lump,« sagte er, »du bis auch elend, un en Lump biste auch – warum sollen sich zwei Lumpe net verdragen? Gib mer de Hälfte von dem Geld, un ich schwör' der, ich kehr' um, ich werd' noch en ordentlicher Mensch!«

»Wer 't glaubt!« Der Förster lachte höhnisch. »Ich hab' mit dir nix zu schaffen – du Vagabond – du Dieb! Du has so viel Unehr über meinen Namen gebracht, es kann net schlimmer werden – halt, ich verhafte dich im Namen des Gesetzes!« Er streckte den Arm aus.

Mit blitzenden Augen sprang Hubert einen Schritt zurück, seine Hände rissen die Büchse von der Schulter: »Rühr mich net an, sonst – ich bin so elend, daß ich nix mehr scheu'! Weißte, was et heißt, sich verstechen von früh bis spät, auf der Hut sein alleweil, von Gestohlenem leben; weißte, was et is, wann ei'm dän eignen Vadder betrügt, wann mer sei'm Schatz nimmeh traut un de Modder, de einzig, de ei'm lieb gehatt hat, ei'm auch genommen is, net nur vom Tod, auch e so – du weißt schon – sag, wän is hier dän größten Dieb? – Du gibst kein Antwort? O, dich kennen mer, du fürchtst dich vor mir! Du weißt e so gut wie ich, daß du de Modder umgebracht has! Fahr net zusammen un lang net nach der Büchs – ja, du has se erstickt in der Furcht vor dir, du has se zu Boden gedrückt mit deiner Faust, un als se zerbrochen war an Leib un Seel, da haste gefrohlockt wie en Teufel. Da haste dem Sohn noch das letzte gestohl', das Geld, das em zukömmt – un hast em noch das allerletzte gestohl', den Segen von seiner Mutter! O, du vermaledeiter Schuft! – Un nu sag, daß de dat Geld gibst, freiwillig gibst, dann –« er schnitt mit der Hand durch die Luft– »sein mer fertig!«

Eine gellende Hohnlache antwortete ihm, widrig und schaurig gab der Wald sie zurück. »Nie, nie, nie – keinen Pfennig kriegste! Hast ja auch keinen Tropfen Blut von mir – warum hab' ich dich gehaßt? Ich hab' et lang net gewußt, jetzt weiß ich 't. Kann leicht sein, die Heulliese hat dich irgendwo aufgetrieben – die so fromm tun, sind alleweil die schlimmsten – se hat mich betrogen, du bis en Bankert – ja, en Bankert mußte sein, biste, du, du, du –«

»Hat de Maul!« Zitternd wie ein vom Wind geschütteltes Laub legte der Sohn die Flinte an die Backe. »Noch emal beschimpfste mein' Modder, ich schießen dich dod wie en dollen Hund!«

»Du –« der Förster legt ebenfalls an, seine Augen funkeln, maßlose Wut verzerrt sein Gesicht, der Lauf der Büchse schwankt hin und her – »Bankert!«

»Lügner!«

Zwei Schüsse knallen zu gleicher Zeit – der Sohn steht aufrecht, das Gewehr umklammernd – der Vater läßt mit einem gegurgelten Laut die Waffe fallen, er stürzt zu Boden, hintenüber, die Arme weit abgestreckt.

Tot! – Hubert steht regungslos, sein Herz setzt den Schlag aus, er wagt sich nicht zu rühren, er hält den Atem an; mit vorquellenden Augen starrt er auf den da am Boden.

Ein leises Rascheln geht durchs Gras, jetzt knicken die Äste – was flüstert im Gebüsch?! Ein Nachtvogel stiegt auf, er krächzt, andere Stimmen antworten – wieder Totenstille – und nun – nun?

Mörder! – Hubert macht einen Satz wie ein aufs Blatt getroffener Hirsch; er sieht sich nicht mehr um, er stürzt davon mitten durchs Gestrüpp – bergauf, bergab. – Schiefergeröll prasselt hinter ihm drein – immer weiter, weiter – immer wilder, wilder – nur fort, fort ...

Wohin er gerannt war, er wußte es nicht, mechanisch trugen ihn die Füße. Er war zu Tode ermattet, in Schweiß gebadet. Endlich rauschte die Salm, das Bewußtsein kam ihm wieder.

Er war im Grund; schwarz hoben sich die Mauern der Abtei Himmerod. Er schritt durch feuchten Rasen, kletterte mühsam zum Bach hinab und hielt die Hände in das perlende Wasser. Blut – Blut an den Händen, nicht zu sehen, und doch klebte es dran!»

Jesses Maria!« Verzweifelt fuhr sein Blick umher – dunkel der Wald, dunkel der Himmel, wenig ängstliche Sterne – er hätte beten mögen und fand keine Worte. Stöhnend schlug er sich gegen die Stirn – was hatte er getan? – Und doch –

»Er hat se beschimpft,« murmelte er, und ein trotzig wilder Ausdruck legte sich über sein bleiches Gesicht. Was nun – was würde geschehen – was würde Suß sagen? O, die! Eine namenlose Angst schnürte ihm die Brust zusammen; nicht die Angst vor dem Toten, der da oben im Wald lag und mit den verglasten Augen nach dem Mörder stierte, auch nicht die Angst vor der Strafe – nein, Angst vor der Lebenden, um die Lebende. Wenn sie ihn verließ?! Sie war herb und böse die letzten Wochen.

»Suß!« Er warf die Arme gen Himmel und ächzte in seiner Seelenpein, dann stürmte er vorwärts, den Ruinen zu. Sein Fuß berührte kaum den Boden.

Er durcheilte das Portal, den Kreuzgang, er stolperte über Schutt und Trümmer; der Weg war noch beschwerlicher wie vor Jahren, auch mit Absicht ungangbar gemacht. Er strauchelte, er stürzte; seine Stirn schlug gegen einen Stein, er fühlte, wie ihm das warme Blut die Nase entlang rann, er raffte sich auf – jetzt stand er an der halbverschütteten Öffnung der Wand, er kroch hindurch – jetzt war er unten. Alles dunkel.

»Suß, Suß!« Keine Antwort. Sie war nicht da – wo?!

Mit einem dumpfen Seufzer warf sich Hubert auf den Boden. Kein klarer Gedanke war mehr in seinem Kopf, alles wirrte durcheinander, eine betäubende Abspannung lähmte ihn; er fühlte, wie sie über ihn hinkroch, vom Scheitel bis hinab zur äußersten Fußspitze. Er konnte kein Glied mehr rühren. Er blieb liegen und schloß die Augen.

Ob er geschlafen hatte? Schwer und widerwillig öffneten sich jetzt seine Lider; es war hell in dem Gewölbe, ein Feuer brannte, und vor ihm an der Wand lehnte Suß, die Arme über der Brust ineinandergeschlagen. Der züngelnde Flackerschein warf phantastische Lichter auf ihr Gesicht, das wilde braune Haar über der Stirn schimmerte rotgolden.

Sie hatte den Schläfer mit dem Fuß in die Seite gestoßen: »Noa, dau schliefst jao wie en Ratz! Dech kennten se em Schlaof abnehme kommen, dau giefs dat net gewaohr!« Ihre verschlagenen Augen funkelten ihn boshaft an. »Maach, et es Morjen!«

»Morjen?!« Der Mann richtete sich taumelnd halb auf, er sah verstört ein paar Augenblicke um sich, dann schlug er mit einem lauten Schrei die Hände vors Gesicht: »Ech haon mei Vadder dodgeschoß – o!« Er stöhnte.

»Wat – wat – biste doll?« Sie beugte sich vor mit weit aufgerissenen Augen. »Wat? Dän Fechter dod – on dau – dau hättst em –«

»Jao, jao – heit nacht – owen im Wald – ech haon em um dat Geld gefraogt, dau haott'st doach gesaot, ech mößt et –«

»On es hän werklich dod?« unterbrach sie ihn hastig, »ganz dod?« Ihre Stimme klang heiser vor Erregung, ihre Nüstern blähten sich.

Ohne Wort nickte der Unglückliche. Plötzlich hob er das Gesicht aus den Händen, ein krampfhaftes, trockenes Schluchzen erschütterte seine Gestalt, er kroch über den Boden, er umklammerte ihre Knie, er schlug seine zitternden Finger in ihr Kleid.

»Suß, saog, dau verließt mich net! Suß, ech bringen dech om, wann de von mer giehst – Suß – Suß!« Er schrie es in verzehrender Angst und drückte sein Gesicht in die Falten des armseligen Rocks.

Sie sah auf ihn nieder mit einem rätselhaften Ausdruck, ihre Lippen hoben sich von den blinkenden Zähnen; es war ein grausames Lächeln, dann bückte sie sich langsam und kauerte neben ihm auf dem Boden nieder. Sie zog seinen Kopf in ihren Schoß und strich leise über sein zerwühltes Haar; immer über dieselbe Stelle, vom Wirbel bis zum Genick, immer wieder und wieder. »Laoß sin, Hubert,« raunte sie dazu, »dat es net e su schlimm. Dat es gud, dat hän dod es, dän Schinner! Eweil kriehste dat Geld – freu dech, Hubert, freu dech!«

Er gab keinen Laut von sich.


Im Forsthaus war die Stube verdunkelt; es roch nach Karbol und allen möglichen Medikamenten. Der Jagdgehilfe und die Magd schlichen auf den Zehen, die Hunde krochen mit eingezogenem Schwanz in die Ecken. Ihren Herrn hatte man nach Hause gebracht auf einer Bahre von Zweigen.

Fast vierundzwanzig Stunden hatte der Förster im Wald gelegen, ehe man ihn gefunden; die Fliegen saßen auf ihm. Er lebte noch, aber wie! Von Grausen und Wundfieber war sein Verstand umnachtet; er tobte, er schrie, er suchte den Verband abzureißen, er brüllte nach dem Gericht und wimmerte dann kläglich: »Annamargret, weg – was willste – weg!« Er schlug nach seiner Frau und schüttelte sich bei ihrem Anblick.

Auf diese wilden Stürme waren Tage der tiefsten Abspannung gefolgt, Tage, in denen mehr als einmal die schwache Lebensflamme zu erlöschen drohte. Der Förster lag auf dem Schmerzenslager, ein Schatten seiner selbst, zum Skelett abgemagert, das Haar völlig ergraut, die Augen eingesunken. Röchelnd ging der Atem aus der wunden Brust, die Lunge war von der Kugel durchbohrt. Er würde leben, ja, gewiß, aber – der Arzt zuckte die Achseln, als Frau Katharina ihn fragte. Sie brach in lautes Geheul aus. Das hatte ihr gefehlt – en alten Mann und noch dazu en kranken Mann, en Krüppel! Sie rang die Hände, aber es war mehr Wut wie Schmerz.

Die Gerichtskommission erschrak, als sie nach acht Tagen kam, um die Aussage des Försters zu Protokoll zu nehmen. Die Herren glaubten, dem Aussehen nach, einen Sterbenden vor sich zu haben, aber mit ungeahnter Kraft saß der Kranke halb aufgerichtet in den stützenden Kissen. Eine wilde Energie ließ ihn die Schwäche überwinden. Er machte seine Aussage klar und bestimmt, und was er nicht in Worten sagte, das sagten seine Blicke; ein tödlicher, unversöhnlicher Haß sprühte aus den matten, eingesunkenen Augen beim Namen des Sohnes.

»Er war es, Hubert Pantenburg! Er hat mich totschießen wollen – fehl gegangen – ah!«

Mit einem Seufzer der Befriedigung sank der Förster in die Kissen zurück und schloß die Lider. Als sich die Herren geräuschlos entfernten, schlief er den ersten ruhigen Schlaf.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von der Tat des jungen Pantenburg durch die Gegend. Die ganze Eifel war in Aufregung. Wo war er?

In den Dörfern läutete man Sturm, die Menschen rannten zu Hauf, die freiwillige Feuerwehr ward aufgeboten und suchte Berge und Schluchten ab – vergebens!

Aus den Flecken und Städtchen kam die Gendarmerie angerückt, mit Gerassel und Geklapper durchstreifte sie die Wälder – umsonst, alles umsonst!

Er war entwischt. Wohin? Keiner wußte es, und wer es vielleicht wußte, der schwieg. Kaufmann Kortz zu Wittlich wagte vor Furcht nicht, sein Haus zu verlassen, er verrammelte alle Türen, und manche andere machten's ihm nach, die Geld hatten, trugen's auf die Sparkasse – nur nicht im Hause behalten, keinen Pfennig; über Nacht konnte er kommen und alles wegholen. Ein dunkles Gerücht schwirrte durch die Luft, bald war es gewiß: er war nicht weit, er lauerte nur auf die nächste Gelegenheit, sich Geld zu verschaffen und damit über die Grenze zu flüchten. Während die zu Wittlich sich fürchteten, fürchteten die zu Manderscheid sich ebenso; die zu Daun, zu Gerolstein, zu Kyllburg, zu Hillesheim und so weiter erst recht. Überall sollte er sein. Man wagte sich nachts nicht mehr auf die Straße; wer durch den Wald zu wandern oder zu fahren hatte, tat's nicht allein. Der reiche Müller in der einsamen Neumühle zwischen Manderscheid und Himmerod ließ allnächtlich seine bewaffneten Knechte wachen. War Hubert doch gestern hier gesehen worden, vorgestern da – morgen war er dort – womöglich zur selben Stunde an sechs Orten zugleich! O, diese Angst!

Nur die Armen fürchteten sich nicht, sie wußten, was Hubert Pantenburg einst lachend gesagt hatte: »De Armen haon neist, on dän Reichen schaod et neist!« Sie hatten nichts zu verlieren.

Auf dem Marktplatz zu Wittlich sammelte sich das Volk; kaum zu denken, daß das kleine Nest so viel Menschen in sich barg. Das war ein Gesumme und Gewoge in dem Haufen, der sich vor der Rathausmauer drängte.

»Kuckt elao – dreihunnert Mark.«

»Hau! Hunnert Dahler – lao stieht et!«

»Is et menschenmielich? Ene, su wat! Könder, e su ebbes es noach net passert!« Sie lasen alle den Zettel, der an der Wand klebte. Mit großen deutlichen Buchstaben stand es darauf: »Belohnung! Dreihundert Mark Belohnung demjenigen, welcher den Aufenthalt des flüchtigen Hubert Pantenburg, der des Wilddiebstahls und des versuchten Mordes dringend verdächtig ist, anzeigt oder selbigen der Behörde überliefert.«

»Hau, dreihunnert Mark!«

»Dat es en Sündegeld,« brummte Flickschneider Bonz und schlug seinen Nebenmann auf den abgeschabten Rock »ech mechten et äwer net verdeenen – wat mannt Ihr, Steffen?«

»O Jeß, ech och net! Dat mech unsen Hährgott bewaohr!«

Die beiden steckten die Köpfe zusammen und flüsterten; es war nicht viel zu verstehen, nur die letzten Worte klangen deutlicher: »Se saon, wann se em net kriehn, laoßen se Zaldaoten kommen – dän armen Deiwel!«


Durch den Kunowald marschierte ein Zug Soldaten, Trierer Neunundsechziger, etwa zwanzig Mann. Sie sahen müde und verdrossen drein. Ihre Uniformen waren mit Schmutz bespritzt, die Knöpfe von Nässe blind, die Hosen steckten in den kotigen Stiefeln.

»Trab – trab« ging es die Straße hinan. Ein feiner Regen stäubte nieder, die Waldbäume ließen traurig die Blätter hängen. Noch alles scheinbar grün, aber schon ein Geruch von absterbendem Kraut; ein bitterlicher Geruch, der über den Boden hinkriecht und von dort wie Moder aufsteigt. Die Luft herb; sie schauerte einem bis aufs Mark.

Die Soldaten schlenkerten die Hände hin und her und schlugen sie dann zusammen – huh, kalt! Verdrießlich – nun schon acht Tage die Eifel abgerannt und den Kerl nicht gefunden! Wo waren sie nicht überall herum gekrochen?! Jeder harmlose Wanderer wurde aufgegriffen und ausgefragt; immer war die Antwort verschieden. Der wies nach Westen, der nach Osten – der nach Süden, jener nach Norden – so viel Köpfe, so viel Meinungen.

Heut morgen war's gewesen, da hatte man es ihnen aber gesteckt; der Pantenburg sei gar nicht weit, er halte sich im Kunowald zwischen Himmerod und Großlittgen verborgen, dort kenne er die Schliche am besten. Das war gut gesagt, aber der Wald war groß und dicht und dabei das Hundewetter, und die Leute sehnten sich nach ihrer Kaserne; mit ausdruckslosen Mienen und stumpfer Gleichgültigkeit tappten sie hintereinander drein.

»Halt!« Der Führer des kleinen Zuges blieb stehen und sah sich prüfend um. »Wo sind wir?« Er zog die Karte aus der Brusttasche und faltete sie auseinander. »Sie da, Krämer, machen Sie mal en krummen Buckel!«

Der Gerufene beugte den Rücken, die Karte wurde wie auf einem Tisch ausgebreitet, und nun neigte sich das dicke rote Gesicht des Vorgesetzten darüber.

»Aha – also hier sind wir,« er stemmte den Finger fest auf die Karte – ein Windstoß drohte sie wegzureißen – »wir sind auf der Höh! Gradaus geht's nach Großlittgen, links kommen wir nach Himmerod – wo, in drei Teufels Namen, gehn wir nu zuerst? – Zapperment noch emal, da soll doch – hm, hm!« Er schob die Mütze vom linlen Ohr aufs rechte und prustete gewaltig.

»Herr Feldwebel,« meinte ein Vorwitziger, »mer können uns ja teilen, zehn Mann gehn so erum, zehn Mann so. Steckt er hier, dann treiben mer ihn nach der Mitte; bei der Jagd macht mer et doch immer so!«

»Was hat Er zu reden? Maul halten, Er –« der Feldwebel schrie zornig den unberufenen Sprecher an, packte unwirsch die Karte zusammen und steckte sie in die Tasche. »Ja, ihn treiben wie ein gehetztes Wild, das wär' so was. – Kotz Zackerlot, der verfluchte Bengel – wer hätte das gedacht?!« Auf den kotigen Boden starrend, murmelte Feldwebel Bonekamp die Worte in sich hinein, und dann auffahrend: »No, was stiert ihr mich an? Voran – schnallt ab – hier wird Rast gemacht!«

Er wies auf einen runden Platz zur Rechten, einigermaßen geschützt von alten Buchen, die ihre breiten Äste wie einen Schirm ausstreckten. »Kaisergarten« stand an einer verwitterten Holztafel.

Verwundert wechselten die Leute Blicke – jetzt hier rasten, bei der Nässe, so kurz vorm Ziel? Ne, der Feldwebel war jetzt immer komisch! »Mer soll'n Bucheckern fressen,« flüsterte der Vorwitzige den Kameraden zu; einige grinsten, die anderen schimpften heimlich.

Ne, so niederträchtig wie die letzten acht Tage war der Feldwebel nie gewesen!

Kopfschüttelnd warfen die Leute die Tornister zur Erde und wickelten sich in ihre Mäntel; der Führer ging, etwas von ihnen entfernt, mit starken Schritten auf und nieder.

Ja, Feldwebel Bonekamp hatte es schwer! Mußte auch gerade der Sergeant krank liegen, als das Militär aufgeboten wurde! Aber ehe er dem Unteroffizier Knopp, dem rohen Kerl, die Sache in den Fingern ließ, übernahm er lieber selbst das Kommando.

»Aber, Bonekamp, es geht Sie ja eigentlich gar nichts an,« hatte Hauptmann von Dümchen gesagt, als er bei diesem die Instruktionen einholte.

»Zu Befehl, Herr Hauptmann, geht mich auch gar nichts an, aber –« das Weitere war in einem furchtbaren Prusten erstickt.

Bonekamps Herz war schwer; er hatte sich zu dem Kommando gedrängt, obgleich es ihm so bitter sauer wurde wie noch keins in seinem Leben. »Lieber Steine kloppen,« brummte er ingrimmig. Aber sie sollten den Jungen nicht so roh anpacken, sie sollten ihn nicht behandeln wie einen gemeinen Mörder – nein! »Lieber Herrgott,« seufzte der biedere Mann und warf einen vorwurfsvollen Blick gen Himmel, »du bist mannigmal ganz kurios!«

Er hatte sich seine Lebzeit nicht mit philosophischen Betrachtungen abgegeben, aber die acht Tage in der Eifel, ja die! So viel geflucht hatte er noch nie und so viel geprustet erst recht nicht.

»Er hat den chronischen Schnuppen,« sagten die Leute und lachten ihn aus. Was wußten die leichtsinnigen jungen Kerle, warum ihr Feldwebel prustete?!

»Schade – schade,« sagte Bonekamp laut vor sich hin, als er durchs nasse Moos auf und ab stampfte. Er sah nach seinen Leuten hinüber; sie hatten sich's unter den schützenden Buchen, so gut es ging, bequem gemacht, er hörte ihr gedämpftes Lachen und Sprechen. Eigentlich müßten sie hier doch ganz still sein – na aber – der Feldwebel seufzte.

Der Regen wurde stärker, im Genick war schon das reine Rinnsal; langsam und zudringlich rieselten ihm Tropfen zwischen Hals und Kragen den Rücken hinunter. Er schauderte. Grau war alles ringsum; dort zwischen den Stämmen, den Abhang hinunter, braute ein weißliches Nebelmeer, die Ferne wie mit einem Tuch verhangen.

Eintönig trommelte der Regen auf die Blätter, trostloses Vogelgekrächz in den Wipfeln; zwei Häher jagten sich, nun hatten sie sich gepackt und bissen aufeinander los, daß die Federn flogen. Der Einsame schreckte zusammen bei dem mißtönenden Gekreisch.

Und nun noch ein Laut – ein Tritt von nägelbeschlagenen Schuhen auf der steinigen Straße jenseits der Bäume! Wer kam da?

Bonekamp teilte die Büsche und streckte den Kopf vor – eine Frauensperson, ein Landmädchen, wie es schien, kam des Wegs; eilig schritt es durch den Regen, unter dem durchnäßten Kopftuch fuhren ein Paar funkelnde Augen unstet umher. Der abgerissene Rock schmiegte sich eng an die kräftigen Glieder, die Schultern deckte kaum eine zerfetzte Jacke.

»He, Mädchen, guten Tag! Woher kommste? Sag mal, hast du nicht –«

Er kam nicht zu Ende, sie sprang auf ihn zu und sah ihm forschend ins Gesicht. »Sein hei de Zaldaoten?« fragte sie hastig, ohne jeden Gruß; »seid Ihr dän Öwerschten?«

»Warum?« Er sah sie verwundert an, ihr bleiches Gesicht mit den zuckenden Lippen hatte ihm etwas Unheimliches – was wollte die Person? »Ja, der bin ich,« sagte er laut, »was willste von mir?«

Sie stieß einen undeutlichen Laut aus, dann trat sie ganz dicht an ihn heran, so dicht, daß er das Beben ihrer Gestalt spürte, und flüsterte: »Kommt, hän schläft!«

»Wer schläft?«

»Noa,« sie schob finster die Brauen zusammen, »dän Hubert Pantenburg! Elao es hän –« sie wies mit der Hand in das Nebelgewoge abwärts – »ech fiehren eich!« Sie langte nach seinem Arm.

»Du?!« Wie ein ekelhaftes Tier schüttelte er sie von sich. »Geh weg!«

»Ohoa,« lachte sie rauh, »ech duhn eich neist!« Sie trat wieder näher, ihre Augen blitzten ihn frech an. »Seid ihr et net, duht et en annern – Zaldaoten!« Sie erhob die Stimme ein weniges. »Soll ech se rufen?«

»Sei still!« Er packte sie derb am Arm und rüttelte sie; ruhig blieb sie stehen, nur ihre Blicke maßen ihn. »Mädchen, lügst du oder sagst du die Wahrheit – ist er wirklich hier?«

»Et is waohr« – sagte sie fest und ihr bleiches Gesicht wurde noch um einen Schein bleicher – »ech fiehren eich!«

»Und – und –« Feldwebel Bonekamp stotterte ordentlich – »warum – warum – verrätst du ihn?«

»Ech sein arm –« ein gieriger Glanz war in ihren Augen – »on ech –« die Stimme versagte ihr, sie biß die Zähne so fest auf die Unterlippe, daß ein Blutströpfchen herausquoll. »Laoßt sin –« zischte sie dann heiser und atmete wie ein Erstickender – »ech fiehren eich!« ...

Wenige Minuten waren vergangen, so eilten Feldwebel Bonekamp und einige der Soldaten zu Tal. Sie liefen geräuschlos, ohne ein Wort zu reden; vor ihnen her wie ein flüchtiger Schatten huschte das Mädchen, nur mit dem Finger die Richtung andeutend. Auf aller Mienen lag ängstliche Spannung, nur das Gesicht des Mädchens war undurchdringlich, wie von Stein.

Bonekamps Herz klopfte ungestüm, er rannte hinter der Führerin drein, eine seltsame Wut kochte in ihm und mischte sich mit einer großen Trauer; Schweiß und Regen liefen ihm gleich Tränen über die Backen.

Jetzt waren sie im Grund – da war Kloster Himmerod. Die Salm ging hoch und rauschte wild.

Sie stampften durch die feuchtkalte Wiese den Ruinen zu. Hinein ging's – durchs Portal – zwischen Trümmerhaufen – über Schutt und Geröll. Sie hatten nicht Zeit zu flüstern; warnend legte das Mädchen den Finger auf die Lippen.

Jetzt kam der Kreuzgang! Schaurig pfiff der Wind durch die hohen Bogen – es war schon dämmerig – und jetzt – jetzt – der Gang war zu Ende, ein dunkles Loch gähnte in der Wand. Die Führerin blieb stehen.

Langsam hob sie die Hand und wies auf die Öffnung: »Lao es hän!«


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