Clara Viebig
Simson und Delila
Clara Viebig

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Clara Viebig

Einleitung

von Ludwig Schröder

Es war im Dezember 1897, da las ich zum ersten Male etwas von der Dichterin Clara Viebig, das Bild aus der Eifel »Am Totenmaar«. Diese kurze Probe großen Könnens genügte, mein Interesse zu wecken. Ich fühlte, da war etwas, das zu großen Hoffnungen berechtigte, so etwas Urwüchsiges, ungemein Frisches, Bodenständiges. Besonders reizte mich auch die ausdrucksvolle Benutzung des Dialekts, nach den andern Dichtungen zu greifen. Und ich habe es nicht bereut ....

Heute, nachdem Clara Viebig schon in weiten Kreisen bekannt geworden, ist es ungemein schwer, über ihre Kunst etwas zu sagen, was von andern nicht schon gesagt worden wäre. Man hat nicht die Freude wie beim Hinweisen auf einen aufgehenden Stern; es fehlt einem das so Beglückende der Entdeckerfreude. Und doch freute ich mich, als mir der Verleger der Volks-Bücherei den Auftrag gab, diese Einleitung zu schreiben, weil ich damit eine Dankespflicht erfüllen kann gegen eine Dichterin, der ich so manchen echt künstlerischen Genuß verdanke.

Die Zahl der Werke Clara Viebigs ist jetzt schon so groß, daß ich gar nicht daran denken kann, alle, auch die Novellen, eingehend zu würdigen; ich will im allgemeinen nur den Gesamteindruck festzuhalten suchen, den sie bei mir hervorriefen. In ihrem ersten Werke, der Novellensammlung »Kinder der Eifel« erfreute ich mich an der Kraft, mit der die Dichterin die Menschen ihrer Heimat und diese Heimat selbst gezeichnet hat. Es war mir, als wanderte ich in dieser düsteren, an Stürmen reichen, einsamen, zum Sterben öden Landschaft, die aber auch wieder prangende Wälder hat und herrliche Ausblicke auf das Moseltal mit seinem wonnigen Leben, in dieser eigenartigen Gegend, die Clara Viebig so sehr liebt, in der ihr jedes Fleckchen vertraut ist, die sie kennt, wie ein Kind das Antlitz seiner über alles geliebten Mutter; es war mir, als ständen sie vor mir, die Menschen dieser Landschaft, voll schroffster Gegensätze wie ihre Heimat, ebenso elementar in der Liebe wie im Haß, die hier beide mit Naturgewalt hervorbrechen wie die tobenden unterirdischen Gewalten, die den Boden der Eifel geformt haben. In dem Roman »Rheinlandstöchter«, der kurz nach der Novellensammlung im Frühling 1897 erschien, sind das Beste die auf dem Boden und unter den Menschen der Eifel sich abspielenden Szenen. Sie hauchen einen kräftigen Erdgeruch aus und sind von packender Wirkung selbst auf den, dem der Roman mit seiner manchmal hastigen und abgerissenen Darstellung als Kunstwerk nicht genügt. Man merkt es diesem Romane an, daß ihn eine Anfängerin schrieb; aber es war eine Anfängerin von höchster Begabung, die es nur noch nicht gelernt hatte, die ungeheure Fülle von Stoffen, die auf sie eindrängte, die sie, mit ungemein scharfer Beobachtungsgabe begnadet, in sich aufgenommen hatte, künstlerisch zu verwerten. Berthold Litzmann betont in einem Aufsatze über Clara Viebig (Lit. Echo, III. Jahrg. Nr. 5), daß einzelne Partien Phantasie und Sympathie des Lesers vielleicht gerade deshalb völlig in den Bannkreis der Schöpferin des Romans »Rheinlandstöchter« ziehen, weil aus ihnen eine, vom streng künstlerischen Standpunkt genommen, zu stark ausgeprägte Subjektivität mit dem erschütternden Klang persönlichster Bekenntnisse spricht.

Schon im nächsten Jahre ließ die Dichterin zwei neue Bücher folgen, die Novellensammlung »Vor Tau und Tag« und den Roman »Dilettanten des Lebens«. Beide Werke haben keinen großen äußeren Erfolg gehabt; sie bedeuten aber auch für die Entwicklung der Künstlerin nicht so viel, wie manche Kritiker glauben machen möchten. Wohl waltet in dem Roman, in dem es sich wie in den »Rheinlandstöchtern« um Kämpfe handelt, die keinem Mädchen, keiner Frau unserer Tage erspart bleiben, die den starken und berechtigten Drang haben, alle in ihnen schlummernden Kräfte zur Entfaltung zu bringen, und die dabei auf Schritt und Tritt mit ihrer Umgebung und mit ihrem eigenen ungestümen Ich in tödliche Konflikte geraten, wohl waltet in diesem Roman schon eine straffere Einheit. Doch aber gab die Dichterin mit ihm noch nicht ihr Bestes, auch hatte sein Inhalt trotz Verlegung des Schauplatzes der Begebenheiten nach Berlin mit dem des ersten Romans zu viel Gemeinsames. »Wer Clara Viebig aus den beiden ersten Werken, den Bahnbrechern, liebgewonnen hatte, der begegnete zwar hier denselben sympathischen Zügen wieder, und vor allem in dem Roman offenbarte sich der tüchtige Kern ihrer Persönlichkeit, der Ernst und die Tiefe einer gesunden charakterfesten Frauennatur in einer Weise, die der Dichtung fast den Stempel einer Konfession aufzudrücken schien. Aber wenn auch technisch ein gewisser Fortschritt über die »Rheinlandstöchter« hinaus nicht zu verkennen war, so fehlte doch der neue Trieb, der ein inneres Wachstum und Reifen der künstlerischen Persönlichkeit bekundete.« Kurz gesagt: Der Roman wirkte wie ein Tritt auf der Stelle; er war kein Schritt vorwärts auf der so verheißungsvoll betretenen dichterischen Laufbahn. Und ähnlich war's mit der Novellensammlung, die trotz aller großen Vorzüge doch zu wenig neue Züge aufwies. Beide Bücher waren nur geeignet, den guten Eindruck, den Clara Viebigs erste Dichtungen hervorgerufen hatten, zu befestigen, weniger aber, ihn zu vertiefen.

Wie ernst Clara Viebig es mit ihrer Kunst nimmt, das bewies ihr nächster Roman. »Es lebe die Kunst!« ist ein Markstein ihrer künstlerischen Entwicklung. Aus dem geborenen naturalistischen Talent ist eine künstlerische Persönlichkeit geworden, die aber an Ursprünglichkeit und Frische nichts eingebüßt hat. Der im Frühling 1899 erschienene Roman ist ebenfalls ein Bekenntnisroman. Berthold Litzmann sagt über dies Werk in dem schon erwähnten Aufsatze kurz und treffend: »Es handelt sich nicht nur um das Bekenntnis einer sympathischen, tapferen, leidenschaftlich ringenden Frauengestalt, wie andere auch, sondern einer bedeutenden Frau, einer ernsten Künstlerin, die aus einer in strenger Selbstzucht erkämpften Welt- und Lebensanschauung heraus etwas zu geben und zu sagen hat, das bleibt.« Ein näheres Eingehen, wozu gerade dieser Roman ganz besonders reizt, muß ich mir leider versagen, weil ich die später geschriebenen Werke etwas eingehender würdigen mochte.

Wieder ein Schritt vorwärts und zwar ein ganz gewaltiger war der nun folgende Roman. Die Dichterin kehrte in ihm zur Heimat, zum Schauplatze ihrer ersten Bücher zurück. Nur wenige Romane aus dem letzten Jahrzehnt haben solch zahlreiche Angriffe erfahren, neben rückhaltloser Anerkennung auf der andern Seite wie der Roman »Das Weiberdorf«. Und während sich sonst der Streit der Meinungen auf literarische Kreise beschränkt, die breite Masse aber ganz gleichgültig bleibt, hat sich an dem Streite um das »Weiberdorf« sogar das Volk beteiligt, eben das Volk, aus dem die Dichterin Gestalten mit fester Hand herausgriff, um sie in ihr Buch zu bannen. Richard Maria Werner erzählt in seinem Buche »Vollendete und Ringende« (I. C. C. Bruns' Verlag, Minden i. W.) von einem Besuche, den er im September 1898 in der Eifel machte (nach dem Erscheinen des Romans im Feuilleton der Frankfurter Zeitung): »Noch zitterte die Erregung nach, in die Clara Biebigs »Weiberdorf« die Bevölkerung versetzt und fast zu gewalttätigem Eingreifen gegen die Verfasserin hingerissen hatte. Eine wilde Gärung muß geherrscht haben, die für einen Fernstehenden freilich nicht recht zu begreifen ist, aber zeigt, wie genau Clara Viebig den Charakter dieser Menschen studiert und erkannt hat. Das kühne, dem Leben abgelauschte Motiv erhebt sich zu jener Freiheit, die Anzengruber, mit Aristophanes wetteifernd, in seinen »Kreuzelschreibern« erreichte, und gibt abermals Zeugnis für das elementare Talent der Dichterin.« Berthold Litzmann nannte in der Bonner Zeitung den Roman ein gutes, ein tapferes Buch, geboren aus reiner Menschenliebe und großem Mitleid und gestaltet mit tiefem Ernst und der erhebenden und läuternden Kraft echter großer Kunst; S. Lublinski aber ging im Kunstwart scharf vor gegen das Werk und nannte es ein »Schulbeispiel des Naturalismus«, an welchem sich die innere Kunstwidrigkeit des Naturalismus offenbare, die auch durch das größte individuelle Talent und die größte plastische Kraft nicht beseitigt und nicht ausgeglichen werden könne. Schroffer können sich Urteile kaum gegenüberstehen, und deshalb habe ich sie hier auch nacheinander wiedergegeben. Anfang und Ende des Romans, dessen Inhalt ich hier nicht mit einigen nüchternen Sätzen wiedergeben mag, sind kraftvolle Darstellungen des Naturinstinkts. Die vielumstrittene Theorie von dem übermächtigen Triebleben des Weibes hat in Clara Viebig eine Verfechterin gefunden, und sie hat den Grundgedanken in einem düsteren Sittenbilde energisch, furchtlos durchgeführt. Mit herber Ehrlichkeit hat sie den Stoff verarbeitet, unbekümmert um die Anfeindungen, die sie bestimmt erwarten mußte. Nicht frivole Sensationssucht hat die Dichterin getrieben, den Roman zu schreiben, sondern reine Menschenliebe und großes Mitleid. Das größte Unrecht haben der Dichterin jene Kritiker zugefügt, die ihr Buch vom moralischen Standpunkt aus beurteilten, denn »für die Beurteilung eines wirklichen Kunstwertes kann es eine moralische Frage gar nicht geben, weil in ihm Moral und Unmoral nur als einzelne Elemente des großen Gesamtlebens auftreten«. Wohl hat Clara Viebig ein ungemein düsteres Bild aus ihrer Heimat gezeichnet; wie sehr sie aber diese Heimat liebt, das beweist die echte Eifelstimmung, die über dem Ganzen liegt, ja fast aus jeder Zeile zittert. Der Dialekt ist ganz besonders ausdrucksvoll benutzt, und ich freue mich, daß die Dichterin von diesem vornehmsten Charakterisierungsmittel, das auch durch die erdhaltigste Schriftsprache nicht ganz ersetzt werden kann, in den meisten ihrer Dichtungen so ausgiebig Gebrauch gemacht hat.

Ihr nächster Roman trug Clara Viebig nicht solch zahllose Angriffe ein, weil durch seinen Inhalt keine lokalen und konfessionellen Vorurteile und Bedenken, die das Urteil über den Roman aus der Eifel ungemein getrübt hatten, hervorgerufen werden konnten. Der Roman »Das tägliche Brot« ist ein echter Ausschnitt aus dem sozialen Leben Deutschlands in der Gegenwart. Er weist alle Vorzüge der früheren Dichtungen auf und ist frei von deren kleinen Mängeln. Sicher ist die Führung der schlichten, ernsten Handlung; von scharfer Beobachtung zeugt die Schilderung der verschiedenartigsten Verhältnisse; die Charakterzeichnung ist vortrefflich. Dabei vermeidet die Dichterin mit großem Geschick die gefährliche Klippe, einfache Menschen in gröbster Holzschnittmanier zu zeichnen, wodurch gewollte Charakteristik allzuleicht zu ungewollter Karikatur wird. Sie zeichnet vielmehr fein psychologisch, deutet oft nur mit wenigen Strichen an und schafft doch in jeder Figur etwas durch und durch Charakteristisches. Unter den Schülern Zolas in Deutschland nimmt Clara Viebig jetzt unzweifelhaft den ersten Platz ein. Sie hat vor kurzem in einem Gespräch den Einfluß Zolas, besonders seines Romans »Germinal«, auf ihr Schaffen zugegeben und ihre Novelle »Die Schuldige« in den »Kindern der Eifel« eine Frucht der Lektüre jenes Romans genannt. Einiges in dem Romane »Das tägliche Brot« ist von so großer dichterischer Gewalt, daß eine Steigerung dieser Kunst kaum denkbar ist. Und doch ist's nicht die große Kunst allein, die den Roman so wertvoll macht. Bleibenden Wert verleiht ihm die Liebe, aus der er geboren ist. Dieser Dienstbotenroman hat keine ausgesprochene Tendenz, denn er ist ein echtes Kunstwerk; und doch ist das Ganze auch wieder eine ernste Mahnung, die nicht unbeachtet bleiben kann, ein soziales Bekenntnis, ein Wert, in dem Clara Viebig ihre ganze Kunst und ihre ganze Menschenliebe für eine gute Tat der Versöhnung eingesetzt hat. Der Ausgang des Romans befriedigt in hohem Maße. Besonders von diesem Buche gilt ein Wort R. M. Werners: »Was geheimnisvoll und rätselhaft unsere Zeit bewegt, wofür wir nach einer Formel suchen, das durchzieht mit kräftigem Hauche die Werke der Dichterin, nicht aufdringlich, nicht tendenziös, nein, ahnend, wie mit zurückgehaltenem Atem.« Dem großen Romane ließ Clara Viebig unter dem Titel »Die Rosenkranzjungfer und anderes« eine Sammlung Novellen und Skizzen folgen. Die meisten bewiesen wieder das große Talent der Dichterin; nur wenige Stücke verrieten ein Nachlassen der dichterischen Kraft und machten den Eindruck nicht ganz auf der Höhe der früheren Geschichten stehender »Füllsel«. Mit fester Hand griff die Dichterin wiederum ins Leben; scharf umrissen stehen die Gestalten ihrer düsteren oder doch ernsten Geschichten vor uns. Wir sehen ihr Schicksal sich entwickeln aus eigener und fremder Schuld; hart, unerbittlich ist manches, aber fast alles voll tiefer, innerer Wahrheit. Und das ist's, was mich bei Clara Viebig immer wieder fesselt, auch da, wo ich dem behandelten Stoffe wenig Interesse entgegenbringe. Man fühlt, daß die Dichterin sich einem inneren Zwange fügt, wenn sie schreibt, daß sie so schreibt, wie sie muß, wie ihr Genius sie treibt. Nur so konnten diese ernsten, wahren Geschichten entstehen, die den Durchschnittsleser oft so gar nicht »befriedigen«. Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, wer mehr herauszuhören vermag, als das geschriebene Wort verrät, der liest auch aus vielen dieser Geschichten eine ernste Mahnung heraus, der hört den Schrei vieler zum Schweigen und Dulden verdammter elender Menschenkinder, in dessen Herzen weckt die schlichte, tendenzlose Darstellung Clara Biebigs die Gefühle, von denen das Herz der Dichterin beseelt war, als sie diese Geschichten niederschrieb. Aus reiner Menschenliebe und großem Mitleid sind auch die meisten Erzählungen dieser Sammlung geboren. Die Verschiedenheit der Stoffe, die dem Bauernleben in Posen, dem Leben in der Großstadt Berlin und auf einer Nordseeinsel entnommen sind, erschwert eine allgemeine Charakteristik der Sammlung, über die ich nur noch so viel sagen will, daß die Dichterin überall »zuhause« ist, daß ihr die Schilderung von Land und Leuten immer gelingt, ob sie nun die Menschen in den Ebenen Posens, im Gewühl der Großstadt oder im Nebel einer Nordseeinsel ihr Schicksal erleben läßt; daß sie nicht nur das Seelenleben des schlichten Mädchens aus dem Volke enträtselt und mit packender Kraft malt, sondern auch das der vornehmen Dame. Das Buch gab dem Bilde ihrer literarischen Persönlichkeit zwar keinen neuen Zug, aber die kräftigen Linien ihres dichterischen Charakterbildes erfuhren dadurch eine Verstärkung.

Ihren bis heute glücklichsten Wurf tat Clara Viebig mit dem nun folgenden großen Romane »Die Wacht am Rhein«. Im Sommer 1902 stand Düsseldorf im Vordergrunde des Interesses. Seine Ausstellung lockte viele Tausende; Festredner und Feuilletonisten priesen seine Gegenwart; in Bild und Wort wurde sein Ruhm verkündigt; Clara Viebig aber erwies der Stadt noch eine ganz besondere Ehre: durch sie bekam Düsseldorf seinen Roman, auf den es stolz sein kann. Die Ausstellung liegt nun schon wie ein Traum hinter uns, die Festreden und Feuilletons hat unsere raschlebige Zeit längst vergessen; der Roman »Die Wacht am Rhein« aber wird noch lange das Interesse für Düsseldorf wachhalten, denn dies kraftvolle Meisterstück wurzelechter und doch wiederum großzügiger Heimatkunst ist ein Werk von bleibendem Werte. Technisch konnte die Dichterin kaum noch gewinnen, auch bedeutet es in meinen Augen wenig, daß der Pessimismus, der in vielen der früheren Werke oft sich etwas gewaltsam auflehnend gegen die bekannte Schönfärberei der alten Romanschule hervortrat, in dem Roman »Die Wacht am Rhein« milder geworden ist. Was ihn über viele Romane unserer Zeit weit hinaushebt, das ist die Weite des Horizontes. »Die Wacht am Rhein« ist ein großes historisches Bild, eine Dichtung, in der mehrere Jahrzehnte deutscher Geschichte frisches Leben bekommen haben. Alles was schon anfing, für uns trockene Historie zu werden, bekommt in dieser Dichtung wieder Saft und Farbe; wir sehen die geschichtlichen Dinge durch die Augen der Zeitgenossen, die Schmerz und Freude von ihnen erfahren. Im ersten Dezemberheft 1900 der Halbmonatsschrift »Das literarische Echo« erschien eine autobiographische Skizze von Clara Viebig, in der sie von den zwölf Jahren, die sie als Kind in Düsseldorf verlebte, gar anmutig plaudert. Am Schlusse schrieb die Dichterin: »Es ist mein Wunsch, dies heitere Bild Düsseldorfer Lebens in einem nächsten Romane festzuhalten.« Der Roman »Die Wacht am Rhein« ist nun zwar vorwiegend von ernster Stimmung erfüllt; aber es fehlt auch nicht an farbenreichen Schilderungen des heiteren rheinischen Lebens der eleganten Gartenstadt, und man fühlt die innige Liebe der Dichterin zu ihrer zweiten Heimat, zum alten und zum neu werdenden Düsseldorf. Der Roman beginnt im Jahre 1830, als die Düsseldorfer sich noch als »Mußpreußen« fühlten. Der Held des ersten Buches ist der Feldwebel Rinke. Als Protestant und Preuße ist er ein Gegenstand zwiefachen Hasses. Er gewinnt zwar ein rheinisches Mädchen und wird ihr Mann; aber die Gegensätze zwischen ihm und seinen neuen Verwandten werden nicht überbrückt. Die Kluft zwischen preußischem Pflichtsinn und rheinischem Frohsinn ist zu groß. Das zweite Buch schildert den gewaltigen Zusammenstoß entgegengesetzter Anschauungen im Revolutionsjahre 1848. Feldwebel Rinke ist ein pflichtgetreuer, blind gehorsamer Diener seines königlichen Herrn, und gerade er muß es erleben, daß sein von der Mutter und deren Eltern gegen seinen Willen in schlaffer Disziplinlosigkeit auferzogener Sohn ihm als Barrikadenkämpfer entgegentritt, ein unreifer Freiheitsheld. Die Revolutionskämpfe sind mit großer Kraft, mit hinreißender Gewalt geschildert. Rinke, der seinen Sohn verschont hat, tötet sich. Nach seinem Tode tritt seine Tochter Josefine in den Vordergrund der Erzählung. Ihre Kinder-, Mädchen- und Frauenjahre hat der Leser der beiden ersten Bücher miterlebt und hat nun seine Freude daran, wie sie, früh verwitwet, den Kampf mit dem Leben aufnimmt und ihre Kinder gut erzieht. Josefine und ihr Bruder Friedrich, der sich vom einfachen Schlosser zum bedeutenden Eisenindustriellen emporarbeitet, bedeuten im Gegensatz zu dem »verlorenen Sohn« Wilhelm die Versöhnung. Sie haben das Beste von Vater und Mutter geerbt und beweisen, wie segensreich die Mischung preußischen und rheinischen Wesens sein kann. Aber nicht nur dieser Beweis ist sicher geführt; Clara Viebig zeigt im dritten Buche auch, wie unter dem gewaltigen Drucke weltgeschichtlicher Ereignisse die scheinbar unvereinbaren Elemente zu einem einheitlichen Ganzen werden. Der Krieg gegen Deutschland bricht aus. Wir erleben ihn aber nicht mit den Kriegern im Felde, sondern in Düsseldorf, wo man hofft und bangt um Väter und Söhne, Gatten und Brüder. Wir atmen den beklemmenden Geruch der Lazarette und sind Zeugen echter Opferfreudigkeit. Wir freuen uns mit den Fröhlichen und klagen mit den Betrübten. Dieser letzte Teil des Romans ist das Größte, was Clara Viebig bis heute schrieb. Die Begeisterung der Dichterin für den großen Gedanken der Einigung Deutschlands stammt oft hoch auf und reißt den Leser wahrhaft hin. Die schon oft bewunderte Kunst der Dichterin, durch Kontraste zu wirken, feiert auch in dem Roman »Die Wacht am Rhein« wahre Triumphe. Und wie schön sind ihre Schilderungen, ob sie nun den Einzug des Lenzes schildert oder von der Schönheit des Rheins redet, den sie als Rheinlandstochter in allen Stimmungen belauscht hat, den sie liebt mit ganzer Seele, oder ob sie das Leben in der Kaserne malt, ein Familienidyll, Barrikadenkämpfe, die Lust des rheinischen Karnevals. Immer spricht eine echte Dichterin, die klar angeschaut hat; und die Psychologie, die nicht nur die Außenseite der Dinge erfaßt, sondern den Menschen ins Herz sah, läßt nicht nur die prachtvollen Hauptgestalten, sondern auch fast gleichgültige Nebenfiguren als echte Menschen erscheinen. »Die Wacht am Rhein« ist eins jener seltenen Bücher, die lange im Leser nachwirken, zu denen man zurückkehren kann, ohne eine Enttäuschung zu erleben. Clara Viebig hat mit diesem Romane bewiesen, daß sie sich auch an ganz große Aufgaben heranwagen darf, daß ihre künstlerische Kraft mit der Größe ihrer Aufgabe wächst. Und darin liegt etwas ungemein Erfreuliches! Jedes neue Werk dieser Dichterin weckt berechtigte Hoffnungen auf ein noch vollkommeneres!

Damit soll nun nicht angedeutet sein, das neueste in Buchform vorliegende Werk Clara Viebigs »Vom Müller-Hannes« stehe höher als der soeben gewürdigte Roman. Es fordert in seiner Eigenart auch gar nicht zu einem Vergleiche mit ihm heraus, weil es sich den Eifeldichtungen anreiht. Mit der Novellensammlung »Kinder der Eifel« tat Clara Viebig den ersten starten Wurf; dies erste Werk war wie eine ausgestreute Saat, die im »Weiberdorf« ährenschwer aufging; und nun ist die Dichterin zum Schauplatz ihres ersten Buches zurückgekehrt. »Urwüchsig ist das Land,« schreibt Franz Diederich in der Einleitung zu einer Besprechung der Geschichte »Vom Müller-Hannes«, »herb weht die Bergluft über harten Boden, und urwüchsig und herb sind die Menschen, die ihn hart kämpfend bewohnen. In ihre Seele hat sich die Dichterin hineingelebt, und wenn sie von dem Lande und seinen Leuten spricht, so schließt sich zugleich die ganze Kraft ihrer Eigenart auf. Sie sucht die Wesen ihres eigenen Temperaments. Aus Stärke und Milde, Strenge und Zartheit ist ihr Inneres gemischt. Das gibt ihrer Leidenschaft Tiefe und Sonnigkeit und zielsuchende Ausdauer, und es bindet ihre Neigung an die Ringenden, die nicht verzweifeln. In der Eifel hat sie solche Menschen gefunden, und so wächst sie mit ganzem Herzen in ihren Eifelgeschichten mit ihnen zusammen.« – Sicher ist die Führung der schlichten, ernsten Handlung. Wir sehen den reichen Müller-Hannes von Stufe zu Stufe sinken durch eigene Schuld. Sein Frohsinn, das lustige Lachen, die Gutherzigkeit und die offene Hand, das Leben und Lebenlassen, das Vertrauen auf Treu und Glauben, alles schwindet allmählich aus seinem Leben, zuletzt bricht sogar sein Stolz zusammen. Auf den Niedergang folgt aber ein Aufstieg. Dem Sehenden blieb verborgen, was der erblindete Müller-Hannes nach langem Grübeln und Suchen klar erkennt: nicht andere Menschen, nicht die Verhältnisse, er selber, er ganz allein trägt die Schuld. Die letzten Kapitel der Geschichte sind von einer ganz wunderbaren Schönheit. Die Geschichte vom Fluch des Leichtsinns, der blinden Gutherzigkeit, der Trägheit, die viel vertut und nichts erwirbt, klingt aus in einen Lobgesang auf die Arbeit, auf die Willenskraft. »Nichts Geschenktes und nichts Ererbtes, nur was Erarbeitetes macht froh!« Franz, die Tochter des Müller-Hannes, ringt sich zu dieser Erkenntnis durch. Ihre Gestalt deutet in die Zukunft; ihre Liebe zu dem erblindeten Vater verklärt sein Bild auch in der Seele des Lesers. Er scheidet von dem Alten und seiner Willensstärken Tochter mit dem tröstlichen Gefühl: was der Alte gefehlt hat, die Junge wird's wieder gutmachen, ihr Geschlecht wird wiedergewinnen, was verloren wurde... Alle Gestalten auch dieser Geschichte sind vortrefflich charakterisiert. Von berückendem Zauber ist die Schilderung der Landschaft, die alles übertrifft, was Clara Viebig in dieser Beziehung bis jetzt geboten hat. In dem Roman »Die Wacht am Rhein« trat die Naturschilderung auffallend stark zurück; und nun hier diese farbensatten Bilder! Man fühlt's: Die Dichterin wurzelt doch am tiefsten im rauhen Eifelgebirge. Hier sieht ihr Auge noch viel schärfer als anderswo; sie wird nicht müde, dem Bilde ihrer Eifelheimat immer neue Züge hinzuzufügen, weil sie an ihr hängt mit allen Fasern ihres Herzens. Möchten recht viele den herben Eifelwind, der durch die Geschichte vom Müller-Hannes weht, einatmen; er ist erfrischend und gesund! In einem Gespräche mit Professor Necker (Clara Viebig in Wien. Neues Wiener Abendblatt vom 12. März 1903) hat die Dichterin bemerkt, daß sie den Stoff dem Volksmunde verdankt, aber ein wenig umgestaltet hat. »Mein Müller-Hannes liegt mir recht am Herzen. Ich weiß nicht, warum ich grad' diesen Roman so gern habe – vielleicht weil er in einer Zeit geboren ist, in der ich endlich dazu gekommen bin, das Hastige, Heftige abzutun, und lächeln kann, wo ich sonst geweint! – Die Leute in der Eifel, die Bauern und Müller um Manderscheid, haben mir die Geschichte des Müller-Hannes zugetragen – sie ist noch heute, obwohl zwanzig, dreißig Jahre vergangen, den Leuten frisch, als wäre sie gestern passiert – ich glaube, sie wird zur Sage werden.« Der kleine Aufsatz enthält auch manche interessante biographische Mitteilung, doch würde es zu weit führen, wollte ich alles hier nacherzählen. »Biographisches ist schwer von sich zu geben; das meiste, was man erlebt an Freud und Leid, steht ja zwischen den Zeilen der eignen Werke« schrieb mir die Dichterin vor kurzem. Deshalb hat sie in ihrer nun folgenden Selbstbiographie auch fast gar nicht von sich geredet, dafür aber desto eingehender von ihren drei Heimaten, von denen auch alle ihre Bücher erzählen.

»Ich soll etwas von mir selber erzählen, gleichsam in den Spiegel schauen, und, wie ich mich darin sehe, ehrlich beichten – es fällt mir schwer. Denn so ein einfaches Frauenleben, das am liebsten zwischen den Wänden des eigenen engumhegten Heimes dahinfließt, was kann das wohl an reichen Bildern zeigen?! Es wirft nicht Glanz noch Schimmer ins Spiegelglas; es gleicht der Flut in einer friedvollen Bucht, an der der müde Mann gern sitzt und ruht und lachende Kinder spielen.

Und das, was meine Augen nachdenklich gemacht hat und meinen Mund, trotzdem er gern herzlich lacht, ernst, das was ich innerlich erlebt, das steht ja alles in meinen Büchern; denn welcher Autor spänne nicht eigenen Faden auf seinem Webstuhl und knüpfte diesen an fremde Fäden an und schlänge ineinander und durcheinander, bis daß er selbst nicht mehr weiß, wo Eigenes aufhört und Fremdes anfängt.

Also von mir möchte ich nicht reden, wohl aber von dem, was meinem Herzen teuer ist: von meiner Heimat. Vielmehr: von meinen Heimaten. Mir geht's, wie es Onkel Bräsig ging – ich habe »drei Brauten«. Und wie ein Mann um die Liebste wirbt, so werbe ich um die drei; aber welche von ihnen meine Madame Nüßlern ist, die Heißgeliebteste und Ewiggeliebte, das verrate ich nicht.

Ich sehe in den Spiegel – – – da fließt klar und leis die liebe Mosel! Wie ein blaues Band schlingt sie sich grünen Bergen eng um die Füße, im schwärzlichen Schiefergestein wachsen Reben, Stock bei Stock, dicht gesetzt, wie im Plattland die Kartoffeln. Weiße Städtchen hüben und drüben, in denen der Frühling früher und goldner einzieht als anderswo, in denen großdoldiger lila Flieder in Bündeln über bunte Gnadenbilder hängt und tiefbrauner Goldlack und rote Federnelken – alles Farbe, alles Duft.

Und hinter den lachenden Rebenhügeln tauchen die runden Eifelkuppen auf, steil führen die Pfade hinan. Die Ebereschen, die den Chausseerand säumen, lassen weiße Mooszipfel im rauhen Regenwind flattern, ernste Maare ruhen schweigend im vulkanischen Bett, endlose Wälder schlagen die dunklen Wogen um einsame Dörfer, verlorene Heiden träumen im blendenden Sonnenglanz. Jungfräuliches Land noch, das im Dornröschenschlaf des erlösenden Kusses harrt – weltenfern, weltenweit das rührige Leben. Nur Kirchenglocken dröhnen durch die Stille, und der herbe Eifelwind trägt diesen einzigen Klang hierhin und dorthin, allüberall hin.

Die Glocke mit der mächtigsten Stimme hängt zu Trier; da ruft sie vom Dom, eine beredte Zeugin der uralt-eingesessenen, siegreichen Kirche. Und doch ist's nur ein Katzensprung von da zur Porta nigra; Christentum und Heidentum treten sich in Trier fast auf die Füße.

Ich habe mir just den schönsten Winkel der ganzen schönen Rheinlande zum Geborenwerden ausgesucht. In Trier, unweit der »Poort«, wie das Römertor im Volksmund heißt, stand meine Wiege; sie schaukelte im Takt mit den frommen Kirchenglocken, ich schlummerte süß bei deren Schall, und doch war ich ein Ketzerkind.

Meine Amme, die schwarze Anna, war eine echte Tochter der Eifel. Als sie in meiner Mutter Wochenstube, hinauf in den ersten Stock, geführt wurde, traute sie sich dort nicht von der Türe fort; es war nicht ländliche Schüchternheit, wie man anzunehmen geneigt war. Die schwarze Anna hatte noch niemals ein Haus mit mehreren Etagen betreten; nun, da die Dielen unter ihren Nägelschuhen knarrten, fürchtete sie, durchzubrechen, und zitterte für ihr Leben. Auch von der Reinlichkeit hatte sie merkwürdige Begriffe; es dauerte eine ganze Weile, bis man ihr abgewöhnte, auf einen Zipfel der Windel zu spucken und hiermit ihrem Pflegling das Gesichtchen zu waschen.

Mit der trefflichen Milch dieser schwarzen Anna habe ich schon die Liebe zu meiner ersten Braut eingesogen. Tief, tief bis ins Innerste erfüllt die mich, zäh ist sie mir im Herzen eingewurzelt, wie eine starke Tanne im Eifelhorst, fest ist sie, wie der festeste Stein der heimatlichen Felsen. Und wenn ich so ganz still für mich sitze, dann glaube ich oft die Glocken des uralten, heiligen Römertrier zu hören, wie sie voll und sonor über die uralte und doch jugendschöne Mosel schwingen und in den Eifelbergen verhallen. Ich höre sie, wo ich auch bin; ihr Klang kommt mir nicht aus den Ohren. Immer wieder rufen sie mich, Jahr um Jahr; ich glaube, sie läuten mir auch bis zum Ende.

Da ich anfing, die Schule zu besuchen, wurde mein Vater als Oberregierungsrat nach Düsseldorf versetzt. Das war eine Veränderung! Von der sanftgleitenden Mosel zum breitflutenden Rhein, aus der Stille des kleinen Trier, wo das Gras zwischen den Pflastersteinen wächst, in das heitere Leben der eleganten Gartenstadt!

Und doch war es nicht das schnellwachsende, großstädtische Düsseldorf der letzten anderthalb Jahrzehnte; man kannte noch jeden, der in der Straße wohnte. Man lief Stelzen und sprang Seilchen vor der Haustür, man kletterte über Gartenmauern und prüfte des Nachbars Birnen; man machte im Abenddunkel »Schellemännkes« und lauschte klopfenden Herzens, glühend vor Aufregung, hinter dem nächsten Hausvorsprung auf das Schelten der Magd, die, wütend über das Reißen an der Klingel, öffnete, und, fand sich niemand draußen, noch wütender zukrachte.

Noch flutete der Rinnstein neben dem Trottoir, der hochgeschossene Backfisch hat verschiedentlich nähere Bekanntschaft mit ihm gemacht, wenn er, entrückten Blickes in die Luft starrend, sich ein märchenhaftes Glück der Zukunft zurechtphantasierte.

Und all die Feste! St. Martins-Abend – »Lustig, lustig, trallerala, heut ist Martins Abend da!« – die ganze Stadt roch nach Puffertkuchen und wimmelte von Kürbissen und bunten Laternen. Keine Eltern so arm, daß sie ihrem Kind nicht ein buntes Papierballönchen gekauft hätten, in dem das Kerzchen flackerte. Und die Weckmänner auf St. Nikola, Korinthenaugen hatten sie und eine Tonpfeife im breiten Maul! Die Bratäpfel und Kastanien, die in der Herdröhre zischten und knackten, wenn der erste Schnee fiel! Das Suchen nach Sauerampfer und Veilchen auf den Hammer Wiesen! Das Rheinbaden in der primitiven Bretterbude an heißen Sommertagen! Und nicht zu vergessen: das Grundwasser, wenn der Rhein hoch ging!

Was den Eltern höchsten Ärger schaffte, war uns Kindern höchste Wonne. Eine dunkle Flut schwamm im Keller, wir mitten auf dem Weltmeer in einer Bütte, Holzscheite die Ruder: Robinson war nichts gegen uns. Und wenn gar der Rhein unterm Zolltor durchlief, die Straßen der Altstadt überflutete, dem alten Jan Willem auf dem Markt die Füße wusch, die Bewohner der anliegenden Häuser in die oberen Etagen jagte, wenn kreuzende Kähne die Flüchtlinge durch Eimer an der Stange mit Speise und Trank versorgten, dann kannte unser Jubel keine Grenzen.

Und noch lacht mir das Herz, wenn ich der Freuden gedenke, die, zwölf Jahre hindurch, die zweite Braut mir bot.

Mein lieber Vater starb; ich war eben erwachsen, das bisherige trat zurück. Meine Eltern stammten beide aus der Provinz Posen, daher, wo sich, wie man in dem von der Natur so bevorzugten Rheinland denkt, Hasen und Füchse Gutenacht sagen. Da kam ich nun hin.

Eisenbahn gab es nicht bis zum Gut der Verwandten, der Wagen wartete auf der kleinen Station; endlos ging's durch Sand und Korn und Rübenfelder, und weiter durch Rübenfelder, Korn und Sand. Rebhühner schwirrten auf, wenige Dörfer zeigten sich, die Räder holperten in ausgefahrenen Landweggeleisen, und der Himmel stülpte sich über das flache Land, wie eine Glasglocke über den Teller.

Hier soll ich bleiben?! Fast war's ein Angstruf.

Und doch, wie schön ist auch dieses flache Land! Inseln gleich liegen die Gutshöfe im Meer der Felder, abgeschlossene Reiche für sich, jeder Gutsherr ein König.

Weit schweift der Blick über die nährende Erde: hier wächst unser Brot. Goldene Ähren wiegt der Sommerwind, der Kiefernwald blaut in der Ferne; am Horizont der Ebene sieht man die Sonne aufsteigen und versinken, rosige Wolken schwimmen in verklärtem Glanz.

Meine dritte Braut ist keine Schönheit auf den ersten Blick, man muß sie näher kennen lernen. Und das habe ich getan. Polnisch und deutsch hat sie zu mir gesprochen. Die, freilich nur unoffiziell geschwungene Peitsche mit den verknoteten Lederriemchen, die so empfindlich die gebückten Rücken der Polaki trifft, habe ich ebensogut kennen gelernt, wie das gütig-patriarchalische Regiment, das noch auf dem, weit über hundert Jahre der Familie gehörenden, deutschen Stammgut geführt wird. Die Kostniery in Schlapphut und rotem Hemd traf ich im Feld und auch die deutschen Schnitter; fröhliche und verdrossene, aufrührerische und zufriedene, stupide und intelligente Arbeiter sind an mir vorübergezogen. Die Zeit ist mir nie lang geworden. Man bangt vor dem Gewitter und ersehnt tränkenden Regen für das verdorrte Land, man grämt sich wegen der Disteln im Acker und jauchzt jedem glücklich eingebrachten Fuder zu. Die Erntekrone wird dem Herrn vors Haus gebracht, »Nun danket alle Gott!« erklingt es von unmelodischen Stimmen; gleich darauf quiekt die Fiedel und parpt die Harmonika, der Knecht schwingt die Magd auf der Tenne im Erntetanz, derweil die Alten trinken.

Ich aber schlich mich von dannen, hinter die Scheuer, und weiter über die Acker bis in den blauen Kiefernwald. Da blieb ich stehen im Heidekraut. Harziger Duft umschwebte mich wie eine Wolke, und in der Wolke kam ein Gruß jener anderen Kiefern, jener rotstämmigen, knorrigen Gesellen, die auf Eifelheiden wachsen. Natur ist immer verwandt, und Bauer ist Bauer, und Mensch ist Mensch.

In West und Ost und am Niederrhein wohnen so meine drei Brauten. Einer jeden von ihnen gehört mein Herz, einer jeden danke ich viel Glück, allen zusammen aber mein Höchstes – meine Kunst.

Drei Brauten – und wenn ich's recht bedenke, bin ich Bräsigen doch noch über, ich habe eigentlich vier. Die vierte Braut ist Berlin. Aber nein, was sage ich denn?! Keine Braut! Mit Berlin bin ich – verheiratet!«

Clara Viebig lebt noch in Berlin; an der Seite eines ihr mit tiefem Verständnis ergebenen Gatten genießt sie das Glück einer schönen Häuslichkeit; das liebe Stimmchen ihres fünfjährigen Sohnes Ernst Wilhelm ist ihr die schönste Musik.

Nach dem bisherigen Entwicklungsgange der Dichterin steht fest, daß ihre Bedeutung auf dem Gebiete des Romans liegt. Deshalb notiere ich auch nur kurz, daß sie sich auch im Drama versuchte. Das Drama »Barbara Holzer« zeichnet sich aus durch vortreffliche Charakterzeichnung, hat sich aber ebensowenig wie die Komödie »Pharisäer« einen Platz auf der Bühne erobern können.

Ihr neuestes Werk, der Roman »Das schlafende Heer«, ist noch nicht in Buchform erschienen. Mitten in die politischen Gegensätze unsrer Zeit hineingreifend, entrollt Clara Viebig in diesem Werke, das im Oktober 1903 in der Zeitschrift »Über Land und Meer« zu erscheinen begann, farbenreiche Bilder aus dem Kampfe, den das Deutschtum mit dem Polentum in den Ostmarken unsers Vaterlands zu bestehen hat. Ich kann über dieses Werk noch kein abschließendes Urteil abgeben.

Clara Viebig ist eine jener wenigen erfreulichen Erscheinungen, die sich immer reicher entfalten, immer höher entwickeln im Gegensatz zu den Vielzuvielen, die mit einem Erstling große Hoffnungen erwecken, ihren Bewunderern dann aber mit jedem folgenden Werke eine neue bittere Enttäuschung bereiten. Ihr Stern stieg aufwärts, ihr Weg führte sie auf die Höhen der Kunst, sie ist eine Siegerin, die den Platz, den sie sich in so kurzer Zeit errungen hat, auch behaupten wird!

Über das Werk, das hier in einer neuen Ausgabe dargeboten wird, will ich mich nicht äußern. Es mag für sich selbst sprechen und wird hoffentlich viele Leser auch zu den andern Werten der Dichterin hinführen. Ein Wort Clara Viebigs über die Novelle möge den Schluß meiner Einleitung bilden. »Simson und Delila ist in meiner Heimat, oben in den Eifelbergen, entstanden. Die große Einsamkeit des Eifelplateaus in seiner eigenartig schwermütigen Schönheit läßt sich nicht beschreiben. Weite Heiden, über die der Wind hinseufzt – kahle Kratergipfel, im ausgebrannten Schlund ein unergründlich geheimnisvolles Maar – malerische Burgruinen in versteckten Tälern – forellenreiche Bäche und menschenleere Hochwälder – das ist Poesie!«

Iserlohn, im Januar 1904.

Ludwig Schröder.


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