Jules Verne
Zwanzigtausend Meilen unter'm Meer. Zweiter Band
Jules Verne

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Zwanzigstes Capitel

Unter 47° 24' Breite und 17° 28' Länge

In Folge dieses Sturmes waren wir östlich zurückgeworfen worden. Jede Hoffnung, auf die Landungsstellen von New-York oder St. Lorenz zu entrinnen, schwand. Der arme Ned, in Verzweiflung, entzog sich, gleich dem Kapitän Nemo, der Gesellschaft. Conseil und ich, wir blieben unzertrennlich.

Ich habe gesagt, der Nautilus sei in östlicher Richtung gefahren; genauer hätte ich gesagt, in nordöstlicher. Einige Tage lang fuhr er unstät, bald an der Oberfläche, bald unterhalb, mitten in den Nebeln, welche den Seefahrern so furchtbar sind. Sie entstehen hauptsächlich durch das Aufthauen des Eises, welches in der Atmosphäre eine ausnehmende Feuchtigkeit fortwährend unterhält. Wie viele Fahrzeuge gingen in diesen Strichen zu Grunde, als sie im Begriff waren, die unsichern Feuer der Küste zu erkennen! Welche Unglücksfälle werden durch diese dichten Nebel verursacht! Wie Manche scheiterten an diesen Klippen, deren Brandung vor dem Getöse des Windes nicht gehört wurde! Wie viele Fahrzeuge stießen zusammen trotz den Leuchtfeuern, trotz den Warnungen ihrer Pfeifen und ihrer Alarmglocken!

Daher bot auch der Meeresgrund hier den Anblick eines Schlachtfeldes, wo von Trümmern bedeckt die vom Ocean geforderten Opfer lagen, mit Schiff und Geräthe; Fahrzeuge aller Art, die mit Mann und Maus untergegangen, mit den Massen von Auswanderern an den gefährlichen Stellen, wie Cap Race, Insel St. Paul, Straße Belle-Isle, Mündung des St. Lorenz! Der Nautilus fuhr mitten durch diese Trümmer, als wie zu einer Todtenschau!

Am 15. Mai befanden wir uns am Südende der Newfoundländer Bank. Diese ist ein Product der Anschwemmung des Meeres, eine beträchtliche Anhäufung organischer Abfälle, welche theils durch den Golfstrom vom Aequator her, theils durch die längs der amerikanischen Küste laufende Gegenströmung kalten Wassers vom Nordpol herbeigeschwemmt werden. Hier häufen sich auch die durch den Eisgang beigeführten Treibeisblöcke; und es hat sich da eine ungeheure Todtenstätte für Fische, Mollusken oder Zoophyten gebildet, welche dort myriadenweise zu Grunde gehen.

Die Meerestiefe ist in dieser Bank nicht bedeutend, beträgt höchstens einige hundert Ellen. Aber nach Süden zu bildet sich plötzlich eine tiefe Einsenkung, ein dreitausend Meter tiefes Loch. Hier erweitert sich der Golfstrom. In dieser Ausbreitung seiner Gewässer verliert er an Geschwindigkeit und Temperatur, aber er wird zu einem Meer.

Ich übergehe hier die Menge der schönen oder seltenen Fische, welche der Nautilus in diesen Strichen aufscheuchte, um mich etwas bei dem Kabeljau aufzuhalten, der hier in unerschöpflicher Menge seinen Lieblingsaufenthalt hat.

Man könnte den Kabeljau einen Bergfisch nennen, denn Newfoundland ist nur ein unterseeisches Gebirge.

Als der Nautilus durch ihre dichtgedrängten Massen fuhr, machte Conseil die Bemerkung:

»Ei! die Kabeljaue! ich meinte, sie seien platt, wie die Klieschen und Seezungen?«

»Wie naiv!« erwiderte ich. »Die Kabeljaue sind platt beim Krämer, wo sie ausgenommen und zum Verkauf ausgelegt sind; aber im Wasser sind sie rund, wie die Seebarben.«

»Ich will's glauben, mein Herr,« versetzte Conseil. »Aber welch Gewimmel, welche Schwärme!«

»Ei! mein Freund, es gäbe deren noch weit mehr, hätten sie nicht die Menschen und die Seescorpionen zu Feinden! Weißt Du, wie viele Eier man in einem einzigen Weibchen gezählt hat?«

»Ich will einmal tüchtig rathen,« sagte Conseil. »Fünfhunderttausend.«

»Elf Millionen, mein Freund.«

»Elf Millionen! Das laß ich nicht gelten, wenn ich sie nicht selbst zähle.«

»Zähle nur immer, Conseil. Aber Du wirst schneller fertig, wenn Du mir glaubst. Uebrigens werden sie von Franzosen, Engländern, Amerikanern, Dänen, Norwegern zu Tausenden weggefischt. Man verzehrt sie in unglaublicher Menge, und wäre nicht die Fruchtbarkeit dieser Fische so erstaunlich, so wären diese Meere bald entvölkert. So sind allein in England und Amerika fünfundsiebenzigtausend Mann auf fünftausend Schiffen mit dem Fang des Kabeljau's beschäftigt. Jedes Schiff liefert deren durchschnittlich Vierzigtausend, das macht fünfundzwanzig Millionen. An den norwegischen Küsten dasselbe Ergebniß.«

»Gut,« erwiderte Conseil, »ich will mich auf meinen Herrn berufen, und das Zählen unterlassen.«

»Was denn?«

»Die elf Millionen Eier. Aber ich will die Bemerkung machen, daß, wenn alle diese Eier ausschlüpften, vier Kabeljauweibchen genug wären, um England, Amerika und Norwegen zu versorgen.«

Während wir am Grund der Bank von Newfoundland her fuhren, sah ich genau die langen, mit zweihundert Angeln versehenen Schnüre, welche jedes Boot zu Dutzenden auswirft. Jede Schnur, am einen Ende vermittelst eines kleinen Hakens fortgezogen, war durch eine Leine, die an einer Korkkoje befestigt wurde, an der Oberfläche festgehalten. Der Nautilus mußte inmitten dieses unterseeischen Netzes gut manoeuvriren.

Uebrigens verweilte er nicht lange in diesen bevölkerten Gegenden. Er fuhr bis zum zweiundvierzigsten Breitegrad hinauf, der Höhe von St. Jean de Terre Neuve und von Heart's Content, wo der transatlantische Kabel endigt. Von da an richtete er seine Fahrt östlich, als wollte er der telegraphischen Hochfläche folgen, worauf der Kabel ruht.

Am 17. Mai, als wir etwa fünfhundert Meilen von Heart's Content entfernt waren, bemerkte ich in einer Tiefe von zweitausendachthundert Meter den auf dem Boden liegenden Kabel. Conseil, dem ich nichts davon zum Voraus gesagt hatte, nahm ihn Anfangs für eine Riesenschlange. Ich belehrte ihn über die Sache näher, wie folgt:

Der erste Kabel wurde in den Jahren 1857 und 1858 gelegt; aber nachdem er etwa vierhundert Telegramme befördert hatte, hörte er auf zu wirken. Im Jahre 1863 verfertigten die Ingenieure einen neuen Kabel in der Länge von dreitausendvierhundert Kilometer, und viertausendfünfhundert Tonnen schwerer, welcher auf dem Great-Eastern eingeschifft wurde. Auch dieser Versuch scheiterte.

Am 25. Mai befand sich der Nautilus in einer Tiefe von dreitausendachthundertsechsunddreißig Meter, gerade an der Stelle, wo der Kabel gerissen war, sechshundertachtunddreißig Meilen von der Küste Irlands entfernt. Man gewahrte damals, um zwei Uhr Nachmittags, daß die Mittheilungen nach Europa unterbrochen waren. Die Sachverständigen an Bord beschlossen den Kabel zu zerhauen, und dann ihn wieder aufzufischen, und um elf Uhr Abends hatte man die beschädigte Partie wieder heraufgeholt. Man machte ein Gelenk und eine Splissung, und senkte den Kabel von Neuem unter. Aber einige Tage später zerriß er, und konnte in den Tiefen des Oceans nicht wieder aufgefischt werden.

Die Amerikaner verloren den Muth nicht. Der kühne Cyrus Field, welcher die Unternehmung zu Wege gebracht, und sein ganzes Vermögen dafür eingesetzt hatte, veranlaßte eine neue Subscription, welche sogleich mit Zeichnungen bedeckt wurde. Nun wurde unter den besten Bedingungen ein anderes Kabel gefertigt. Der Bund leitender, in einer Hülle von Guttapercha isolirter Drähte wurde durch ein Polster spinnbarer Stoffe in einer Metallfassung geschützt. Der Great-Eastern stach am 13. Juli 1866 abermals in See.

Die Operation hatte guten Fortgang, doch begab sich ein Zwischenfall. Einigemal hatten die Ingenieure beim Abwickeln des Kabels wahrgenommen, daß Nägel frisch eingeschlagen waren, um die Seele desselben zu schädigen. Der Kapitän Anderson berieth mit seinen Officieren und Ingenieuren, und sie machten bekannt, wenn sich der Thäter an Bord betreffen ließe, würde er ohne Weiteres in's Meer geworfen werden. Seitdem kam der sträfliche Versuch nicht weiter vor.

Am 23. Juli war der Great-Eastern nur noch achthundert Kilometer von Newfoundland entfernt, als man ihm von Irland aus die Nachricht vom Abschluß des Waffenstillstands zu Sadowa telegraphirte. Am 27. erreichte er mitten im Nebel den Hafen von Heart's Content, die Unternehmung war glücklich zu Stande gebracht, und das junge Amerika schickte dem alten Europa als erste Depesche zum Gruß die so selten verstandenen Worte: »Ehre sei Gott im Himmel, und Friede den gut gesinnten Menschen auf Erden!«

Ich hatte nicht erwartet, den Kabel in dem frischen Zustande, wie er aus den Werkstätten der Fabriken hervorgegangen war, zu treffen. Die lange Schlange, mit Muscheltrümmern bedeckt, war mit einem steinigen Teig überzogen, der sie gegen die durchbohrenden Mollusken schützte.

Sie lag ruhig, gegen die Bewegungen des Meeres gesichert, und unter einem Druck, welcher die Hinüberleitung des elektrischen Funkens, der in zweiunddreißig Hunderttheilen einer Secunde von Amerika nach Europa läuft, begünstigt. Der Kabel ist ohne Zweifel von unbegrenzter Dauer, denn man hat die Beobachtung gemacht, daß die Guttapercha-Hülle durch das dauernde Verweilen im Meerwasser besser wird.

Uebrigens ist auf dieser so glücklich gewählten Hochfläche der Kabel niemals so tief untergesenkt, daß er reißen könnte. Der Nautilus folgte ihm bis zum tiefsten Punkt seiner Lage, viertausendvierhunderteinunddreißig Meter, und hier lag er noch, ohne daß das Ziehen irgend anstrengte. Hernach kamen wir zu der Stelle, wo er im Jahre 1863 Schaden gelitten hatte.

Den Grund des Meeres bildete damals ein hundertundzwanzig Kilometer breites Thal, auf welches man den Mont-Blanc hätte stellen können, ohne daß sein Gipfel über den Meeresspiegel emporragte. Dasselbe ist im Westen durch eine steile Wand von zweitausend Meter geschlossen. Wir langten da am 28. Mai an, und der Nautilus war nur noch hundertundfünfzig Kilometer von Irland entfernt.

War der Kapitän Nemo im Begriff noch weiter aufwärts zu fahren in die Nähe der Britischen Inseln? Nein. Zu meiner großen Ueberraschung fuhr er wieder südwärts und kam in die europäischen Meere. Indem wir um die Smaragd-Insel fuhren, gewahrte ich einen Augenblick das Cap Clear und das Feuer von Fastenet, welches den Tausenden von Schiffen, welche von Glasgow oder Liverpool ausfahren, zur Leuchte dient.

Es stellte sich mir damals eine wichtige Frage: Sollte wohl der Nautilus wagen, in den Canal zu dringen? Ned-Land, der, seit wir uns dem Land näherten, wieder zum Vorschein gekommen war, fragte mich unablässig. Was konnt' ich ihm antworten? Der Kapitän Nemo ließ sich fortwährend nicht sehen. Nachdem er dem Canadier das Küstenland Amerika's zu sehen vergönnt hatte, wollte er's nun gegen mich mit der französischen Küste ebenso machen?

Indessen fuhr der Nautilus immer mehr südwärts.

Am 30. Mai bekam er Land's End zu sehen, zwischen der äußersten Spitze Englands und den Scilly-Inseln, welche er rechter Hand ließ.

Wollte er in den Canal einfahren, so mußte er grad ostwärts fahren. Er that's nicht.

Am 31. Mai beschrieb der Nautilus den ganzen Tag lang eine Reihe von Kreislinien, die mich lebhaft beunruhigten. Er schien einen Ort zu suchen, welchen zu finden ihm schwer wurde. Zu Mittag nahm der Kapitän Nemo die Lage selbst auf. Er gönnte mir nicht ein Wort; schien düsterer, wie jemals. Was konnte ihn so verstimmen? Etwa die Nähe der europäischen Gestade? Empfand er heimatliche Erinnerungen? Und was für Empfindungen waren es, Vorwürfe oder Sehnsucht? Solche Gedanken beschäftigten mich, als hätte ich eine Ahnung, daß mir der Zufall bald die Geheimnisse des Kapitäns enthüllen würde.

Am folgenden Tag, den 1. Juni, machte der Nautilus die nämlichen Bewegungen. Es war offenbar, daß er einen bestimmten Punkt des Oceans zu erkennen suchte. Der Kapitän Nemo kam, wie Tags zuvor, den Höhestand der Sonne aufzunehmen. Das Meer war schön, der Himmel rein. Acht Meilen östlich zeigte sich ein großes Dampfschiff am Horizont. Es wehte keine Flagge von seinem Mast, und ich konnte seine Nationalität nicht erkennen.

Einige Minuten, bevor die Sonne den Meridian durchschnitt, ergriff der Kapitän Nemo seinen Sextant und beobachtete mit äußerster Genauigkeit. Die vollständige Ruhe der Wellen erleichterte es ihm. Der Nautilus lag unbeweglich ohne Wanken und Schwanken.

Ich befand mich gerade auf der Plattform. Als der Kapitän seine Aufnahme gemacht, sprach er nur das einzige Wort:

»Hier!«

Er stieg wieder durch die Lucke hinab. Hatte er das Fahrzeug gesehen, welches seinen Lauf änderte und uns nahe zu kommen schien? Ich wußte es nicht zu sagen.

Ich begab mich wieder in den Salon. Die Lucke schloß sich, und ich hörte das Zischen des Wassers in den Behältern. Der Nautilus fing an in verticaler Richtung unterzusinken, indem die Bewegung der Schraube gehemmt war.

Nach einigen Minuten hielt er in einer Tiefe von achthundertdreiunddreißig Meter an und ruhte auf dem Grund.

Die Leuchte am Plafond des Salons erlosch darauf, die Läden öffneten sich, und ich sah durch die Fenster das Meer von den Strahlen des Fanal im Umfang einer halben Meile hell erleuchtet.

Ich blickte rechts und sah nichts als ruhiges Gewässer bis in unermeßliche Ferne.

Links zeigte sich auf dem Boden eine starke Erhöhung, die meine Aufmerksamkeit erregte. Man konnte es für Ruinen halten, die unter einer Decke weißlicher Muscheln wie unter einem Schneemantel vergraben waren. Als ich die Masse achtsam betrachtete, glaubte ich, etwas verdickt, die Formen eines Schiffes ohne Masten zu erkennen, das vorlängst untergesunken war. Das Unglück mußte schon vor langer Zeit sich begeben haben, wie aus der Verkalkung seiner Hülle abzunehmen war.

Was für ein Schiff war es? Weshalb besuchte der Nautilus seine Grabstätte? War das Schiff nicht durch Schiffbruch untergegangen?

Ich wußte nicht, was ich davon denken sollte, als ich an meiner Seite den Kapitän langsam sprechen hörte:

»Früher hatte dies Schiff den Namen Le Marseillais. Es wurde 1762 erbaut und trug vierundsiebenzig Kanonen. Im Jahr 1778, am 13. August, kämpfte es tapfer gegen den Preston. 1799 am 11. Juli war es mit dem Geschwader des Admirals d'Estaing bei der Eroberung Granada's. 1781 am 5. September nahm es am Kampf des Grafen de Grasse in der Bai von Chesapeak Theil. Im Jahre 1794 gab ihm die französische Republik einen anderen Namen. Am 16. April desselben Jahr schloß es sich zu Brest dem Geschwader von Villaret-Joyeuse an, welches eine Ladung Getreide aus Amerika zu escortiren hatte. Am 11. und 12. Prairial des Jahres II traf dieses Geschwader mit den englischen Schiffen zusammen. Heute ist der 13. Prairial, der 1. Juni 1868. Heute sind's gerade vierundsiebenzig Jahr, daß an derselben Stelle, unter 47° 24' Breite und 17° 28' Länge, dieses Schiff, als es nach heroischem Kampf seine drei Maste verloren, das Wasser in seine Räume drang, ein Drittheil seiner Mannschaft kampfunfähig geworden, sammt seinen dreihundertsechsundfünfzig Mann lieber sich versenkte, als sich ergab, und mit aufgepflanzter Flagge und dem Ruf: »Es lebe die Republik!« in die Tiefe sank.«

»Der Vengeur!« rief ich aus.

»Ja, mein Herr, der Vengeur! Ein schöner Name!« murmelte der Kapitän Nemo mit gekreuzten Armen.



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