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Präsident Barbicane hatte nicht allein behauptet, sein Ziel zu erreichen – und jetzt hatte er doch das nötige Kapital an der Hand, um alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen – sondern er würde ganz gewiß nicht die Kühnheit gehabt haben, Kapitalien zusammenzutrommeln, wenn er seiner Sache nicht sicher gewesen wäre.
Der Nordpol sollte also endlich durch das verwegene Genie des Menschen bezwungen werden.
Präsident Barbicane und sein Verwaltungsrat, das steht erwiesenermaßen fest, besaßen die Mittel, auf einem Boden, wo soviel andere gescheitert waren, mit Erfolg zu arbeiten. Was keinem Franklin, Kane, Nares oder Greely möglich gewesen war, das würden sie vollbringen; den 84. Breitengrad zu überschreiten, Besitz von dem bei der Versteigerung ihnen zugesprochenen Riesenstück des Erdballs zu ergreifen, dem amerikanischen Sternenbanner den 39. Stern des der Union annektierten 39. Staates anzufügen, dies alles würde für Leute wie Barbicane &. Co. Kleinigkeit sein.
»Windbeutel!« wiederholten die europäischen Delegierten und ihre Anhänger in der Alten Welt in einem fort.
Dabei war aber nichts wahrer und richtiger, und das praktische, logische, undiskutierbare Mittel, den Nordpol zu erobern – ein Mittel von einer Einfachheit, daß man es füglich hätte »Kinderei« nennen können – hatte kein anderer als J. T. Maston ihnen eingegeben. Aus diesem Hirn, worin es von Gedanken in einem fort brodelte und siedete, war das Projekt zu diesem großartigen geographischen Werke, wie auch die Art und Weise, wie es zu gutem Ende zu führen war, entsprungen.
Der Sekretär des Kanonenklubs, wie sich gar nicht oft genug sagen ließe, war ein großartiges Rechengenie. Die verwickeltsten Probleme der mathematischen Wissenschaften löste er spielend. »Schwierige Fälle« in der Größenlehre, also Algebra, wie in der Zahlenlehre, also Arithmetik, existierten für ihn nicht. Sehen mußte man es, wie er mit den »Symbolen«, den üblichen Zeichen für algebraische Ausdrücke, ob es nun Buchstaben des Alphabets waren als Ersatz für die Mengen oder Größen, oder Kuppel- oder Kreuzlinien als Zeichen für die Verhältnisse zwischen den Mengen und Rechnungen, denen man sie unterwirft.
Ach, die Koeffizienten, Exponenten, Radikale, Indices und was es für Ausdrücke sonst gibt, die sich sonst in der Sprache in diesem Wissensfache eingebürgert haben; wie all diese Zeichen unter seiner Feder tanzten oder vielmehr unter dem Stückchen Kreide, das an der Spitze seines Armhakens wackelte; mit Vorliebe arbeitete er nämlich an der schwarzen Tafel. Und dort, aus dieser Fläche von 10 Quadratmetern – mit weniger ging es nicht bei J. T. Maston – überließ er sich dem wilden Feuer seines auf Algebra zugestutzten Temperaments. Ziffern im Minuskelstile waren es gewiß nicht, die er bei seinen Exempeln verwandte, nein! sondern phantastische, gigantische Ziffern, die mit grimmiger Hand gezogen wurden. Seine 2 en und 3 en bauchten sich zu richtigen Papierbeuteln; seine 7 sahen ganz täuschend aus wie Galgen, bloß daß kein armer Sünder daran baumelte; seine 8 en wölbten sich zu förmlichen Brillen, und seine 6 en und 9 en hatten Schwänze »so lang wie der Tag vor Johanni«.
Und die Buchstaben, mit denen er seine Formeln bildete, die ersten im Alphabet, a, b, c, die er für die bekannten oder gegebnen Größen setzte, und die letzten im Alphabet, x, y, z, die ihm als Ausdruck für die unbekannten oder die erst zu bestimmenden Werte dienten: sie standen da wie aus einem Gusse, ohne Haarstriche, vor allem sein z, das sich in flammenden Zickzacks wand! und welchen Schwung wiesen seine griechischen Buchstaben auf, die π's und die λ's und ω's, auf die sich ein Archimedes oder Euklides was hätten einbilden können!
Von den mit reiner Kreide gezeichneten Zeichen ließ sich nicht anders sagen als daß sie »einfach wundervoll« waren. Sein + -Zeichen machte auf den ersten Blick begreiflich, daß es die Addierung zweier Mengen bedeutet; sein - -Zeichen machte sich, wenn es auch bescheidener war, noch immer sehr stattlich; sein X-Zeichen war das richtige Andreaskreuz; seine Striche bewiesen durch ihre genau übereinstimmende Länge, daß J. T. Maston Sohn eines Landes war, in welchem Gleichheit keine hohle Phrase ist, wenigstens nicht zwischen Angehörigen weißer Rasse. Das gleiche großartige Gefüge war seinen <, seinen >, und seinen eigen, die in außergewöhnlichen Verhältnissen auftraten. Aber sein eigentlicher Triumph war das Wurzelzeichen √ einer Zahl oder Menge, und wenn er es mit dem Querstrich in der Form
vervollständigte, so sah es ganz aus, als ob dieser bis an die Grenze der schwarzen Tafel reichende Wegweiser-Arm die ganze Welt unter seine wilden Gleichungen zu zwängen drohte.
Glaube dabei niemand, daß J. T. Mastons mathematischer Verstand sich auf den Horizont elementarer Algebra beschränkte! Nein. Weder die Differential-, noch die Integralrechnung, noch die Wechselrechnung waren ihm fremd, und mit sichrer Hand zog er jenes berühmte Integrationszeichen, den in seiner schlichten Einfachheit erschreckenden Buchstaben ∫ die Summe einer Unendlichkeit unendlich kleiner Elemente!
Genau so verhielt es sich mit dem Zeichen Σ das die Summe einer endlichen Zahl endlicher Elemente ausdrückt, mit dem Zeichen ∞, durch das der Mathematiker die unendliche Größe ausdrückt, und mit all den geheimnisvollen Symbolen, die diese für gewöhnliche Sterbliche unverständliche Sprache anwendet.
Kurz, der erstaunliche Mann wäre der Mann dazu gewesen, sich bis zu den höchsten Sprossen der hohen Mathematik hinaufzuschwingen.
So beschaffen war der Mann des Namens J. T. Maston! Deshalb konnten seine Kollegen volles Vertrauen hegen, wenn er es auf sich nahm, die verbohrtesten der von ihren kühnen Gehirnen ausgeheckten Exempel auszurechnen. Dadurch war der Kanonenklub bestimmt worden, ihm das Problem eines von der Erde zum Monde schießbaren Projektils anzuvertrauen. Darum endlich hatte Mrs. Evangelina Scorbitt, berauscht von seinem Ruhme, eine Bewunderung, die an Liebe grenzte, für ihn gefaßt.
Uebrigens brauchte sich in dem zur Zeit in Betracht kommenden Falle – nämlich betreffs der Lösung des Problems, den Nordpol zu bezwingen – J. T. Maston keineswegs in die erhabenen Regionen der Analyse zu schwingen. Um den neuen Konzessionsinhabern die Ausbeutung ihres arktischen Dominiums möglich zu machen, stand der Schriftführer des Kanonenklubs lediglich vor einem allerdings recht komplizierten Problem, dessen Lösung geistreiche, vielleicht neue Formeln erheischte, ihm aber, wie er zuversichtlich rechnete, mit Ehren gelingen würde.
Ja! auf J. T. Maston durfte man bauen, wenn auch der kleinste Fehler seinerseits den Verlust von Millionen nach sich ziehen konnte. Seit der Altersstufe, auf welcher sich sein Kinderkopf mit den Anfangsgründen der Mathematik befaßt hatte, war ihm noch kein einziges mal ein Fehler passiert – um kein tausendstel Mikron, wenn er Längenmaß-Exempel zu rechnen hatte, verrechnete er sich oder hatte er sich verrechnet. Und hätte er sich auch nur um eine zwanzigstel Dezimale verrechnet, so würde er sich keine Sekunde besonnen haben, seinen Guttapercha-Schädel in die Luft zu knallen.
Es war von Wichtigkeit, daß wir uns mit diesem bemerkenswerten Talente J. T. Mastons so eingehend befaßten. Das ist geschehen. Nun gilt es, ihn beim Werk zu zeigen, und zu diesem Zwecke ist es unerläßlich, ein paar Wochen zurückzugreifen.
Etwa vier Wochen vor der Veröffentlichung jenes an die Bewohner der beiden Weltteile gerichteten Schriftstücks hatte J. T. Maston sich an die Aufgabe gemacht, die Elemente jenes Projekts zu berechnen, das er in seinen erstaunlichen Konsequenzen seinen Kollegen unterbreitet hatte.
Seit Jahren wohnte J. T. Maston in Nr. 179 der Franklin-Street, einer der ruhigsten Straßen von Baltimore, weitab von dem Geschäftsviertel der Stadt, denn von Geschäften verstand er nichts, weitab von dem Trubel der Menge, der ihm ein Greuel war.
Dort hauste er in einem als »Villa Ballistik« bekannten bescheidenen Häuschen, denn außer seiner Pension als Artillerie-Offizier und seinen Bezügen als Schriftführer des Kanonenklubs besaß er kein Vermögen. Er lebte allein in diesem Häuschen; ein einziger Diener bediente ihn dort, sein Neger »Fire-Fire«, mit einem Spitznamen also, wie er für den Bedienten eines Artilleristen kaum besser zu finden war, denn er bedeutete »Feuer! Feuer!« Dieser Neger war kein Diener, sondern ein Bedienter, ein erster Bedienter, und bediente seinen Herrn ganz wie er sein Geschütz bedient hatte.
J. T. Maston war ein eingefleischter Junggeselle, der die Vorstellung hatte, das Junggesellenleben sei noch die einzige Lage, mit der sich in dieser Welt unter dem Monde rechnen lasse. Er kannte das slavische Sprichwort: »Eine Frau zieht mit einem einzigen Pferde mehr als vier Ochsen am Karren« und hütete sich drum vor dem Weibe.
Und doch lag es nur an ihm selbst, wenn er die »Ballistik-Cottage« allein bewohnte. Weiß man ja auch, daß er bloß hätte zu winken brauchen, um aus seinem »einschichtigen« ein »zweischichtiges« Leben zu machen, und sein bescheidenes Durchschnittsvermögen mit den Reichtümern einer Millionärin zusammenzutun. Darüber bestand kein Zweifel, daß Mrs. Evangelina Scorbitt glücklich gewesen wäre, wenn – – – bis heute wenigstens wäre aber J. T. Maston nicht glücklich gewesen, wenn – – – und es schien ausgemacht, daß es diesen beiden Wesen, so geschaffen sie auch für einander waren – wenigstens war dies der Witwe Meinung – niemals beschert sein würde, zu dieser Umgestaltung ihrer privaten Verhältnisse zu gelangen.
Die Villa, oder besser gesagt das Landhäuschen, war höchst schlicht. Ein Erdgeschoß mit Veranda und ein Stock drauf. Unten ein kleiner Salon und ein Eßzimmerchen mit Küche und Speisekammer, letztere beiden in einem nach einem Gärtchen hinaus gelegenen Anbau. Oben ein Schlafzimmer nach der Straße hinaus, ein Arbeitszimmer nach dem Garten hinaus, wohin von Straßenlärm und dergleichen nichts gelangen konnte. Das Ganze ein »Buen retiro« des Gelehrten und des Weisen, zwischen dessen Mauern soviel Exempel ausgerechnet, soviel Probleme der algebraischen und mathematischen Wissenschaft gelöst worden waren, daß ein Newton oder Laplace vor Neid die Gelbsucht hätten bekommen können.
Welcher Unterschied zwischen diesem einfachen Landheim und dem im reichen Stadtviertel New-Park gelegenen Palais der Mrs. Evangelina Scorbitt, das in einem Zwitterstil, halb Gotisch, halb Renaissance, gebaut und mit herrlicher Fassade, angelsächsische Skulpturen zwischen reizenden Balkonen, geschmückt war. Innen wies es fürstliche Vornehmheit auf, reich ausgestattete Salons, eine majestätische »Halle« nach angelsächsischer Sitte, Bildersäle, in denen französische Maler an erster Stelle vertreten waren, eine doppelte Wendeltreppe; in den »Annexbauten« oder »Degendenzen« Ställe, Remisen, Wohn- und Schlafräume für die zahlreiche Dienerschaft; sodann ein Garten mit Rabatten, hohen Bäumen, sprudelnden Fontänen, einem Aussichtsturm, der über alle Baulichkeiten weit emporragte und auf dessen Gipfel das Hauswimpel der Scorbitts, blaues Feld auf goldnem Grunde, wehte.
Drei englische Meilen, ja, ganze drei Meilen, ungefähr gleich der deutschen Stunde. A. d. Ue. knapp gerechnet, schieden das New-Park-Palais von J. T. Mastons Ballistik-Cottage. Aber ein Telephondraht setzte die beiden Domizile in Verbindung, und auf ein »Holla, holla!«, den zwischen Villa und Palais vereinbarten Melderuf, wurde die Verbindung »eingeschaltet«. Wenn sich dann auch die beiden sprechenden Parteien nicht sehen konnten, so konnten sie sich doch zusammen verständigen. Daß aus dem Palais weit häufiger in der Villa angeklingelt wurde als umgekehrt, wird nicht verwundern. Auch nicht, daß der geniale, Kalkulator zuweilen ärgerlich war, wenn er allzu oft in seiner Arbeit gestört wurde und dann auf einen freundschaftlichen Morgengruß einen Dank brummte, dessen nicht eben galanter Stimmklang, wie sich wohl annehmen läßt, durch den elektrischen Strom abgeschwächt oder gemildert wurde – worauf sich der Rechenmeister dann wieder an seine Exempel setzte.
Im Verlauf des 3. Oktober, nach einer langen Schlußkonferenz, hatte sich J. T. Maston von seinen Kollegen verabschiedet, um sich über jene wichtige Arbeit, die Kalkulation der mechanischen Maßnahmen, die den Weg zum Nordpol eröffnen und die Ausschlachtung der unter seinem Eis begrabenen Flöze ermöglichen sollten, herzumachen.
J. T. Maston hatte sich für diese mysteriöse, arg verwickelte und heikle Arbeit eine Zeit von acht Tagen ausbedungen, denn sie erheischte eine nicht geringe Anzahl verschiedenartiger Gleichungen, aus dem Gebiete der reinen Mechanik, der analytischen Geometrie in drei Dimensionen, der polaren Geometrie und Trigonometrie.
Damit der Schriftführer des Kanonenklubs sich seiner Arbeit ganz ungestört widmen könne, war abgemacht, worden, daß für diese zur Arbeit bedungene Zeit seine Villa aus allem Verkehr ausgeschaltet werde, daß J. T. Maston für diese Zeit nicht existieren solle. Für Mrs. Evangelina Scorbitt ein tiefer Kummer. Aber sie mußte sich drein ergeben. Zur gleichen Zeit wie Präsident Barbicane, Kapitän Nicholl und die Kollegen Quecksilber-Bilsby, Colonel Bloomsberry und Doppelstelzfuß Tom Hunter war die Dame infolgedessen am Nachmittag zu einer letzten Visite bei J. T. Maston erschienen.
»Sie werden Ihre Sache schon machen, lieber Maston,« sagte sie, als sich die Herrschaften verabschieden wollten.
»Vor allen Dingen, Maston, keinen Schnitzer!« bemerkte hierzu lächelnd Präsident Barbicane.
»Schnitzer?« rief Mrs. Evangelina – »J. T. Maston und Schnitzer? reimt sich das wohl?«
»Keinen Schnitzer mehr und keinen weniger als Gott der Herr selber machte, als er die Gesetze der ewigen Mechanik schuf!« entgegnete bescheiden der Schriftführer des Kanonenklubs.
Noch ein Händedruck von seiten der Freunde, ein schwaches Seufzerchen von seiten der Dame, dann allerseits die besten Wünsche für gutes Gelingen und mancherlei guter Rat, sich bei solcher aufregenden Arbeit ja nicht zu übernehmen, – dann allgemeiner Abschied. Die Tür der Cottage »Ballistik« schloß sich, und Fire-Fire bekam Weisung, sie niemand zu öffnen, und wenn schließlich der Präsident der Vereinigten Staaten in Person vorsprechen sollte.
Die ersten zwei Tage rührte J. T. Maston keine Kreide an, sondern dachte sich sein Exempel im Kopfe durch. Er las mancherlei Werke nochmals durch, die sich mit den Elementen, die ihm als Grundlage für seine Exempel dienen mußten: mit der Erde an sich, mit ihrer Masse, Dichtigkeit, Gestalt, ihrem Rauminhalt, ihrer rotatorischen wie ihrer translatorischen Bewegung im besondern, befaßten.
Hier nun die hauptsächlichsten dieser gegebenen Größen, die sich der Leser, um dem Verlauf der Handlung mit Interesse zu folgen, vor Augen zu führen gut tut:
Gestalt der Erde: ein Umdrehungs-Ellipsoid – längster Radius 6 377 398 Meter oder rund 850 geogr. Meilen zu 7½ Kilometer – kürzester Radius, d. i. die Linie vom Mittelpunkte nach der Peripherie: 6 356 080 Meter oder rund 847½ Meile: was für beide Radien, zufolge der Abplattung unsers Sphäroids an den Polen, eine Differenz von 21318 Metern oder etwa 3 Meilen ergibt.
Erdumfang am Aequator: 40 000 Kilometer oder 5400 Meilen.
Erdoberfläche nach annähernder Schätzung 510 Quadratkilometer oder etwa 9 000 000 Quadratmeilen.
Erd-Raumgehalt: etwa 1000 Milliarden Kubikkilometer oder etwa 2 300 000 000 Kubikmeilen.
Erd-Dichtigkeit: annähernd das Fünffache der Dichtigkeit des Wassers, d. i. um weniges größer als die Dichtigkeit des Schwerspaths, und ungefähr gleich derjenigen des Jod – nämlich 5480 Kilogramm Durchschnittsgewicht eines Erd-Kubikmeters, alle Bestandteile der Erdkugel an der Erdoberfläche gedacht.
Dauer der Erdbewegung um die Sonne: 365¼ Tag, ausmachend ein Sonnenjahr, oder genauer 365 Tage 6 Stunden 9 Minuten 10,3 Sekunden – woraus für unser Sphäroid eine Geschwindigkeit von 30 400 Meter (etwas über 4 Meilen) auf die Sekunde sich ableiten läßt.
Der bei der Drehung der Erde um ihre Achse von den am Aequator befindlichen Punkten durchlaufene Weg beträgt 463 Meter in der Sekunde oder etwa 225 Meilen in der Stunde.
Nur noch die Einheiten für Länge, Kraft, Zeit und Winkel, die J. T. Maston bei seinen Berechnungen zugrunde legte: das Meter, das Kilogramm, die Sekunde, der Zentriwinkel (d. i. der vom Mittelpunkte auslaufende Winkel, der in jeder beliebigen Kreislinie ein dem Radius gleiches Bogenstück einschließt).
Es war am 5. Oktober gegen 5 Uhr nachmittags – da es sich um solch denkwürdige Arbeit handelt, ist genaue Zeitbestimmung von Wichtigkeit – als J. T. Maston nach reiflicher Ueberlegung sich an die geschilderte Arbeit machte. Zuvörderst nahm er seine Aufgabe von der Basis aus in Angriff, d. h. er fing an mit der Zahl, die den Erd-Umfang an einem der größten Erdkreise, nämlich am Aequator, bestimmt.
Die schwarze Tafel war zur Stelle: in einem Winkel des Arbeitszimmers, auf dem polierten Eichenholz-Ständer, im vollen Licht eines nach dem Garten hinaus mündenden Fensters, stand sie. Auf dem an ihrem Fuße befestigten Querbrett lagen in wohlgeordneter Reihe Kreidestifte. Zur linken Hand des Rechenmeisters hing, bequem erreichbar, der Schwamm zum Wischen. Seiner rechten Hand oder vielmehr dem statt ihrer vorhandenen eisernen Armhaken war die Zeichnung der Figuren, Formeln und Ziffern vorbehalten.
Zum Anfang schuf J. T. Maston einen Kreis, der das Erdsphäroid darstellte. Am Aequator wurde die Kurve der Erdkugel bezeichnet durch eine Linie, die den vordern, dann durchs eine punktierte Linie, die den hintern Teil der Kurve markierte: so daß man sich die Projektion eines sphärischen Körpers recht gut vorstellen konnte. Die von beiden Polen auslaufende Achse vertrat ein zur Fläche des Aequators senkrechter Strich, bezeichnet durch die Buchstaben N und S.
In die rechte Ecke der Tafel wurde die Ziffer gesetzt, die in Metern den Erdumfang ausdrückt:
40 000 000.
Hierauf setzte sich J. T. Maston selbst in Positur, um mit der Reihe seiner Exempel zu beginnen.
Er war so ganz bei der Sache, die ihn beschäftigte, daß er für den Stand des Himmels, der sich nachmittags merklich verändert hatte, gar keine Augen hatte. Seit etwa einer Stunde zog eines jener schweren Gewitter herauf, deren Einfluß sich auf den Organismus aller lebenden Wesen erstreckt. Gewölk von fahler Färbung, dazwischen Gehäuse von weißlichen Flocken auf hellgrauem Grunde, zog schwer über die Stadt hin. Fernes Donnergeroll brach sich zwischen den schallenden Wölbungen von Erde und Weltenraum. Ein paar Blitze hatten schon die Atmosphäre durchzuckt, deren elektrische Spannung den höchsten Grad wies.
J. T. Maston, von seiner Aufgabe immer schärfer beansprucht, sah nichts, hörte nichts.
Plötzlich tönt die elektrische Klingel; ihr Rasseln zerstört die Stille der solch ernstem Werk geweihten Stätte.
»Schön!« schrie J. T. Maston. »Können die Störenfriede nicht zur Tür herein, dann suchen sie den Weg durchs Telephon! Famose Erfindung für Leute, die sich ausruhen wollen! Es wird schon am gescheitsten sein, ich schalte den Strom aus, so lange meine Arbeit dauert.«
Dann trat er zum Apparat.
»Bitte! ein paar Augenblicke!« antwortete eine Frauenstimme.
»Wer ist denn dort?« rief J. T. Maston wieder, das erste und dritte Wort scharf betonend.
»Kennen Sie denn meine Stimme nicht, lieber Mr. Maston? ich bin's – Mrs. Scorbitt!«
»Mrs. Scorbitt? – na, wahrhaftig! die läßt mir doch keine Minute Ruhe!«
Die letzten, für die liebenswürdige Witwe nicht gerade schmeichelhaften Worte wurden vorsichtigerweise ein Stück ab von der Schallplatte gesprochen, damit sie nicht den Weg zu den Ohren der Dame fänden.
Dann wurde es aber J. T. Maston klar, daß er um die Antwort doch nicht herumkommen würde, und wenn er schließlich auf eine höfliche Phrase sich beschränkte. Deshalb rief er:
»Ach, Sie sind's, Mrs. Scorbitt?«
»Jawohl, lieber Mr. Maston!«
»Und was wünscht Mrs. Scorbitt?«
»Ich wollte Ihnen bloß sagen, daß ein starkes Gewitter über der Stadt steht –«
»Das kann ich doch nicht ändern!«
»... und jede Minute loszubrechen droht –«
»Kann ich doch auch nicht ändern!«
»Nein, das nicht; aber ich möchte Ihnen raten, die Fenster zu schließen –«
Kaum hatte Mrs. Scorbitt den Satz zu Ende gesprochen, als ein furchtbarer Donnerschlag den Weltenraum erschütterte. Es war, als ob ein ungeheures Stück Seide in endloser Länge zerrisse. Der Blitz hatte dicht bei der »Ballistik-Villa« eingeschlagen, und der Strahl hatte, mit echt elektrischer Ungeniertheit, den Weg in das Arbeitszimmer des Rechengenies gefunden.
J. T. Maston stand gerade mit dem Munde am Schalltrichter und mit dem Ohr am Hörlöffel – kein Wunder, daß er die schönste Volta-Dachtel bekam, die einer Gelehrtenwange wohl je erteilt worden sein mag. Dann glitt der Funken an seinem Armhaken entlang; er wurde wie ein Kartenmännchen umgeblasen, rannte die schwarze Tafel um, die wie ein Federball in eine Zimmerecke sauste; dann fand der Blitz durch das unsichtbare Loch einer Scheibe den Weg ins Freie, erwischte die Dachrinne und fuhr an ihr entlang ins Erdreich«
Ganz paff – wie am Ende wohl jeder andere auch – krabbelte sich J. T. Maston vom Erdboden auf, rieb sich die verschiedenen Körperteile, um die ihm bange war, und stellte fest, daß er unverletzt geblieben war. Wie es sich geziemte für jemand, der als Oberzielmeister bei der berühmten Columbiade Name der Riesengeschützes, mit welchem die Kugel aus den Mond geschossen wurde (im Roman »Von der Erde zum Monde«) mitgewirkt hatte, war dem großer Rechner von all seiner Kaltblütigkeit kein tausendstel Quentchen verloren gegangen, und ohne Verzug brachte er alles in seinem Zimmer wieder in Ordnung, stellte den Ständer auf, setzte die Tafel drauf, hob die über den Teppich verstreuten Kreidestäbchen auf, und nahm seine so jählings unterbrochne Arbeit wieder auf.
Aber nun erst merkte er, daß die Ziffernreihe, die er in die rechte Tafelecke gesetzt hatte, die Bezeichnung des Erdumfangs vom Aequator in Metern, zum Teil verwischt war. Er machte sich dabei, sie neu zu schreiben, als die Klingel von neuem anschlug, diesmal mit einem ganz fürchterlichen Spektakel.
»Schon wieder was los!« schrie J. T. Maston.
Er trat an den Apparat.
»Wer dort?« fragte er.
»Mrs. Scorbitt.«
»Was wünscht Mrs. Scorbitt?«
»Dieser furchtbare Schlag! es hat doch nicht etwa bei Ihnen eingeschlagen?«
»Mir kommt's fast so vor!«
»Um Gottes willen! – Der Blitz hat doch nicht –«
»Beruhigen Sie sich nur, Mrs. Scorbitt!«
»Sie haben doch nicht Schaden gelitten, lieber Mr. Maston?«
»Nicht Schaden gelitten!«
»Sie sind also bestimmt nicht getroffen?«
»Nicht ge-, sondern betroffen von soviel Freundschaft,« meinte J. T. Maston galanterweise antworten zu sollen.
»Wünsche guten Abend, lieber Maston!«
»Guten Abend, teure Mrs. Scorbitt!«
Zu seiner schwarzen Tafel zurücktretend, setzte er dieser galanten Phrase die minder galanten Sätze hinzu:
»Der Kuckuck hole die treffliche Frau! Hätte sie mich nicht so täppisch ans Telephon gerufen, so hätte ich nicht riskiert, vom Blitz getroffen zu werden!«
Diesmal war es nun zu Ende. J. T. Maston sollte nicht weiter behelligt werden. Uebrigens schaltete er nun auch die Leitung aus, um der für seine Arbeit notwendigen Ruhe sicherer zu sein.
Als Basis nahm er nun die Ziffer, die er von neuem in die Schreibtafelecke gesetzt hatte, leitete die verschiedenen Formeln ab, schloß sie ab durch eine Schlußformel, wischte alle Nebenrechnungen mit dem Schwamm weg und setzte die Schlußformel in der linken Schreibtafelecke.
Dann stürzte er sich in eine endlose Folge von algebraischen Zeichen.
Acht Tage später, am 11. Oktober, war das großartige Rechenexempel fertig, und triumphierend überreichte der Schriftführer des Kanonenklubs seinen Kollegen die Lösung des Problems, dem sie sämtlich mit höchst natürlicher Ungeduld entgegensahen.
Das praktische Mittel, zum Nordpol zu gelangen, um die dort lagernden Flöze abzubauen, war mathematisch gegeben. Es wurde daraufhin unter dem Namen »North Polar Practical Association« eine Gesellschaft gegründet, der die Bundes-Regierung mit dem Sitz in Washington die Konzession für den Abbau alles arktischen Gebietes für den Fall zusicherte, daß ihr durch öffentlichen Aufstreich das Besitzrecht anheimfiele. Wie es bei diesem Aufstreich zuging, und daß der Zuschlag zugunsten der Vereinigten Staaten erfolgte, ist dem Leser bekannt, nicht minder, daß die neue »G. m. b. H.« Kapitalisten beider Erdteile zum Beitritt aufforderte.