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Siebentes Capitel.

In welchem die Pferde aus Angst zustandebringen, was sie unter der Peitsche des Postillons nicht auszuführen vermochten.

Es war zehn Uhr Abends. Keraban, Van Mitten und Bruno gingen, nachdem sie ein aus Vorräthen des Kutschkastens bestehendes Abendbrot verzehrt, etwa eine halbe Stunde lang rauchend einen schmalen Fußpfad auf und ab, der wenigstens nicht zu sehr aufgeweicht war.

»Und nun, Freund Keraban, meinte Van Mitten, denk' ich, werden Sie nichts dagegen einzuwenden haben, daß wir zu schlafen versuchen, bis der Vorspann eintrifft.

– Ich wüßte nichts, antwortete Keraban, nachdem er kurze Zeit nachgedacht, ehe er diese, für einen Mann, der stets nur Widerspruch zu erheben pflegte, immerhin außergewöhnlichen Worte äußerte.

– Ich will doch hoffen, daß wir nichts zu fürchten haben inmitten dieser vollständig verlassenen Ebene? setzte der Holländer hinzu.

– Ich doch auch.

– Es ist kein Angriff, kein Ueberfall zu gewärtigen?

– Keiner ...

– Außer einem Ueberfall durch Muskitos!« ließ sich Bruno vernehmen, der eben einen herzhaften Schlag nach seiner Stirne führte, um ein halbes Dutzend dieser lästigen Dipteren zu verscheuchen.

Schon begannen nämlich kleine Wölkchen jener gefräßigen, wahrscheinlich vom Laternenschein herbeigelockten Insecten den Wagen zudringlich zu umschwirren.

»Hm! brummte Van Mitten, eine hübsche Menge Muskitos, und ein Muskitonetz wäre hier recht brauchbar gewesen.

– Das sind keine Muskitos, behauptete Seigneur Keraban, sich unten am Nacken kratzend, und ein Muskitonetz ist es nicht, was uns fehlt.

– Was denn?

– Ein Mückenflor, antwortete Keraban, denn diese sogenannten Muskitos sind nur Stechmücken.

– Den Kuckuk, ob ich da einen Unterschied zu machen weiß! dachte Van Mitten, der sich jedoch hütete, diese rein entomologische Frage weiter zu discutiren.

– Und das Merkwürdigste ist, fuhr Keraban fort, daß es nur die weiblichen Insecten sind, welche über den Menschen herfallen.

– Ja, ja, daran erkennt man sie wieder, die Vertreterinnen des schönes Geschlechts! bemerkte Bruno, sich die Waden reibend.

– Ich glaube, wir thun wohl daran, in den Wagen zu flüchten, sagte da Van Mitten, denn hier draußen werden wir aufgefressen.

– Freilich, antwortete Keraban, gerade das Gebiet der unteren Donau ist besonders berüchtigt wegen der Stechmücken, die man nur dadurch von sich abzuhalten pflegt, daß man während der Nacht das Bett, während des Tages Hemd und Strümpfe mit Pyrethrum einpudert ...

– Das uns unglücklicher Weise vollständig mangelt, schloß der Holländer den Satz.

– Richtig, sagte Keraban; doch wer hätte ahnen können, daß wir in den Sümpfen der Dobrutscha fest sitzen bleiben sollten?

– Niemand, Freund Keraban.

– Ich habe von einer Colonie krimscher Tataren berichten hören, Freund Van Mitten, der von der türkischen Regierung in diesem Delta des Stromes große Strecken Land überwiesen worden waren, welche jene wegen der Legionen von Stechmücken wieder verlassen mußten.

– Nach dem, was wir davon schon gekostet haben, Freund Keraban, klingt diese Geschichte nicht unwahrscheinlich.

– Ziehen wir uns also in den Wagen zurück.

– Wir haben das schon zu lange verzögert!« antwortete Van Mitten, der unter dem Gesumm von Flügelschlägen herumfocht, welche sich bei diesen Insecten auf Millionen in der Secunde belaufen sollen.

Eben als Seigneur Keraban mit seinem Begleiter den Wagen ersteigen wollte, blieb der Erstere stehen.

»Obwohl nichts zu fürchten ist, sagte er, wäre es doch gut, wenn Bruno bis zur Rückkehr des Postillons Wache hielte.

– Er wird sich dessen nicht weigern, meinte Van Mitten.

– Ich werde mich nicht weigern, erklärte Bruno, weil es meine Pflicht ist, mich nicht zu weigern, aber ich werde bei lebendigem Leibe aufgezehrt werden.

– Nein, erwiderte Keraban, ich habe mir sagen lassen, daß die Mücken höchstens zweimal an einundderselben Stelle stechen, so daß Bruno nun bald gegen ihre Angriffe gefeit sein muß.

– Ja – wenn ich abertausendfach durchlöchert bin.

– So verstehe ich es, Bruno.

– Aber könnt' ich nicht mindestens im Cabriolet Wache halten?

– Gewiß; vorausgesetzt, daß Sie da nicht einschlafen.

– Wie sollt' ich denn schlafen können, bei diesem abscheulichen Gesumm von Muskitos?

– Stechmücken, Bruno, versicherte Keraban, einfache Stechmücken! ... Vergessen Sie das nicht!«

Nach dieser Bemerkung zogen sich Keraban und Van Mitten in das Coupé zurück und überließen es Bruno, für die Sicherheit seines Herren oder vielmehr seiner Herren zu wachen. Denn konnte er seit dem Zusammentreffen Keraban's und Van Mitten's nicht in der That sagen, daß er deren zwei hatte?

Nachdem er sich von dem guten Verschluß der Wagenthüren überzeugt, besichtigte Bruno das Gespann. Erschöpft von Anstrengung hatten sich die Pferde auf den Boden gelagert, athmeten geräuschvoll und vermischten ihren warmen Athem mit dem Dunste der sumpfigen Ebene.

Dann bestieg Bruno das Cabriolet und ließ den Glasverschluß desselben herab, durch den er den von den Strahlen der Laternen erleuchteten Halbkreis überblicken konnte.

Was konnte der Diener Van Mitten's Besseres thun, als bei offenen Augen zu träumen und durch Vergegenwärtigung der Reihe von Abenteuern, in die ihn sein Herr im Gefolge des starrsinnigsten der Osmanlis zog, den Schlaf von sich fern zu halten?

Er, ein Kind des alten Bataverlandes, ein Pflastertreter der Straßen Rotterdams, ein täglicher Gast der Quais der Meuse, ein Fischer mit der emeritirten Angelschnur, ein Maulaffenfeilhalter an den Canälen, welche seine Vaterstadt durchziehen – er war jetzt an das andere Ende Europas verschleppt worden! Er hatte den Riesensprung von Holland in das ottomanische Reich gemacht! Und kaum in Constantinopel angelangt, verschlug ihn das Schicksal schon in die Steppen der unteren Donau! Hier sah er sich nun, eingeschlossen im Cabriolet eines Reisewagens, inmitten der Sümpfe der Dobrutscha, verloren in tiefdunkler Nacht, und der Wagen fester im Erdboden eingewurzelt als der gothische Thurm der Zuidekerk! Und alles das, weil ihm die Pflicht oblag, seinem Herrn zu gehorchen, der wiederum, ohne dazu gezwungen zu sein, dem Seigneur Keraban Gehorsam leistete.

»O du launenhaftes Menschenloos! wiederholte sich Bruno. Da bin ich nun im besten Zuge, eine Reise um das Schwarze Meer zu machen, wenn's noch so weit kommt, und das allein, um zehn Paras zu sparen, die ich herzlich gern aus eigener Tasche bezahlt hätte, wenn's nur geschehen konnte, ohne daß es der vermaledeite Türke bemerkte. Ah, der Starrkopf! Der Dickkopf! Ich weiß bestimmt, daß ich seit der Abfahrt schon um zwei Pfund abgenommen habe ... Binnen vier Tagen! ... Wie wird das in vier Wochen aussehen!

– Ha, wieder eines der verdammten Insecten!«

So fest Bruno auch den Glasverschlag des Cabriolets verschlossen, hatten doch einige Dutzend Stechmücken Eingang gefunden und fielen nun wüthend über den armen Teufel her. Da gab's Schläge und Gekratz, und wie gab er sich Mühe, jetzt, wo Seigneur Keraban ihn nicht hören konnte, die Mücken als Muskitos zu behandeln.

So verging eine Stunde und schlich noch eine hin. Ohne den aufregenden Angriff der Insecten wäre Bruno bei seiner Ermüdung doch bald in Schlaf verfallen. Unter diesen Verhältnissen war das freilich unmöglich.

Es mochte etwas nach Mitternacht sein, als Bruno ein Gedanke kam. Ihm, einem Vollblut-Holländer, die, wenn sie zur Welt kommen, eher nach einer Pfeife als nach der Amme verlangen, hätte derselbe wohl weit eher kommen sollen. Er wollte anfangen zu rauchen, den feindlichen Einfall der Stechmücken mit Tabakswolken abzuschlagen. Warum hatte er daran nicht früher gedacht? Wenn sie auch noch der nikotinschwangeren Atmosphäre widerstanden, mit der er das Cabriolet erfüllen wollte, so mußten diese Insecten schon durch die Dünste der Donausümpfe gewaltig abgehärtet sein.

Bruno holte also seine Porzellanpfeife mit Emailblumen hervor – eine Schwester derjenigen, welche ihm in Constantinopel so frech geraubt worden war.

Er stopfte sie, wie er ein auf einen Trupp Feinde abzufeuerndes Gewehr geladen hätte; dann schlug er mit dem Stahle Feuer, zündete den Kopf an und saugte in vollen Zügen den Duft eines vortrefflichen holländischen Tabaks ein, den er in gewaltigen Wolken wieder ausblies.

Der Schwärm summte zuerst mit doppelt schnellem Flügelschlage, zerstreute sich dann aber allmählich in die entferntesten Winkel des Cabriolets.

Bruno konnte sich wegen seines Manövers nur Glück wünschen. Die von ihm demaskirte Batterie that Wunder; die Angreifer wichen in Unordnung zurück; da er aber keine Gefangenen zu machen, sondern ganz das Gegentheil erstrebte, öffnete er schnell das Fenster, um den Insecten im Innern einen Ausgang zu bieten, wohl wissend, daß der ausströmende Tabaksrauch den Insecten draußen das Eindringen schon verleiden würde.

So geschah es denn auch. Befreit von dieser quälerischen Legion von Insecten konnte Bruno sogar wagen, sich nach rechts und links umzusehen.

Die Nacht war noch immer schwarz. Zuweilen erhoben sich scharfe Windstöße, welche den Wagen erschütterten; dieser hing ja aber fest, leider zu fest im Boden. Es war also an ein Umfallen desselben nicht zu denken.

Bruno suchte nach vorn, nach dem nördlichen Horizonte zu, zu erkennen, ob sich nicht ein Lichtschein zeigte, der die Rückkehr des Postillons mit den frischen Pferden verkündete – überall völlige Dunkelheit, eine Finsterniß, die in der Ferne noch tiefer erschien, weil der Vordertheil des Wagens sich in dem leuchtenden Kreisabschnitte des Laternenscheines scharf abhob. Indeß glaubte Bruno, als er nach der Seite hin auslugte, in der Entfernung von etwa sechzig Schritten einige leuchtende Punkte wahrzunehmen, die im Finstern ihre Stelle änderten und geräuschlos, schnell wechselnd bald am Erdboden, bald zwei oder drei Fuß über demselben erschienen.

Bruno fragte sich anfänglich, ob das nicht der phosphorescirende Schein von Irrlichtern wäre, die aus dem sumpfigen, des Schwefelwasserstoffes gewiß nicht entbehrenden Boden aufstiegen.

Wenn er, als vernunftbegabtes Wesen, sich hierüber auch täuschen konnte, so lag das doch anders bei den vorgespannten Pferden, welche ihr Instinct bezüglich der Ursache jener Erscheinung gewiß nicht täuschte. Diese fingen aber an, Zeichen von Aufregung zu geben und schnaubten, mit weit aufgeblähten Nüstern, in ganz ungewohnter Weise.

»Na, was ist denn das? fragte sich Bruno. Gewiß eine neue Verschlimmerung unserer Lage! Sollten das Wölfe sein?«

Daß es eine, von dem Pferdegeruche herbeigelockte Rotte Wölfe wäre, war gar nicht unmöglich. Diese alle Zeit hungrigen Bestien sind im Donau-Delta ziemlich häufig.

»Zum Teufel! murmelte Bruno, das könnte noch etwas schlimmer werden, als der Besuch der Muskitos oder der Stechmücken unseres Dickkopfs! Da möchte der Tabaksqualm doch nicht viel ausrichten!«

Die Pferde empfanden offenbar eine lebhafte Beunruhigung, welche man nicht mißverstehen konnte. Sie versuchten in dem Moraste auszuschlagen, bäumten sich und zerrten wiederholt heftig an dem Wagen. Die leuchtenden Punkte schienen sich etwas genähert zu haben. Ein dumpfes Grunzen vermengte sich mit dem Pfeifen des Windes.

»Ich denke, sagte sich Bruno, es wäre rathsam, dem Seigneur Keraban und meinem Herrn die Sache mitzutheilen.«

Das erschien wirklich drängend. Bruno glitt also vorsichtig zur Erde nieder, klappte den Kutschentritt herunter, öffnete die Thür und schloß sie wieder, als er in das Coupé eingetreten war, wo die beiden Freunde noch ruhig Einer neben dem Andern schliefen.

»Mynheer! ... rief Bruno leise, während er die Hand auf die Schulter Van Mitten's legte.

– Wer untersteht sich, mich zu wecken? knurrte der Holländer, sich die Augen reibend. Zum Teufel mit dem Kerl!

– Hier ist nicht davon die Rede, die Leute zum Teufel zu schicken, vorzüglich wenn der Teufel vielleicht in höchst eigener Person da ist, antwortete Bruno.

– Aber wer spricht denn da? ...

– Ich, Mynheer, Ihr Diener.

– Ah, Bruno, Du bist's? ... Hast wahrlich einen gescheidten Streich gespielt, mich zu wecken. Sapperment, ich träumte eben von der Frau Van Mitten ...

– Die mit Ihnen Zank anfangen wollte! ... erwiderte Bruno. Nun, darum handelt es sich jetzt gerade nicht.

– Was ist denn los?

– Würden Sie nicht so freundlich sein, auch den Seigneur Keraban zu wecken?

– Ich ihn wecken?

– Ja, es ist die höchste Zeit!«

Ohne noch weitere Fragen zu stellen, schüttelte der selbst noch halb schlaftrunkene Holländer seinen Gefährten.

Ueber einen Türkenschlaf geht aber bekanntlich nichts, wenigstens sobald der betreffende Türke einen guten Magen und ein ruhiges Gewissen hat. Das war der Fall mit dem Gefährten Van Mitten's. Dieser mußte seine Versuche mehrmals wiederholen.

Ohne die Augenlider zu heben, knurrte und brummte der Seigneur Keraban wie Einer, der nicht Lust hat, einer Aufforderung nachzukommen. Wenn er in schlafendem Zustande ebenso hartnäckig war, wie im wachendem, so hätte man zuletzt wohl darauf verzichten müssen, ihn zu erwecken.

Van Mitten und Bruno wiederholten jedoch ihre Bemühungen so hartnäckig, daß der Seigneur Keraban doch nicht umhin konnte, sich aus seinem kostbaren Schlummer aufzuraffen. Endlich streckte er wirklich die Arme aus, öffnete die Augen und fragte mit noch immer von Betäubung verschleierter, aber doch etwas zorniger Stimme:

»Hm! Die Vorspannpferde sind wohl mit Nizib und dem Esel von Postillon endlich eingetroffen?

– Noch nicht, antwortete Van Mitten.

– Warum bin ich dann geweckt worden?

– Weil – wenn auch die Pferde noch nicht gekommen sind – bemerkte Bruno, doch andere verdächtige Thiere da sind, die den Wagen umringen und einen Angriff vorzubereiten scheinen.

– Was für Thiere?

– Sehen Sie selbst!«

Das Glasfenster wurde herabgelassen und Keraban beugte sich hinaus.

»Allah, schütze uns! rief er. Das ist eine ganze Bande wilder Eber!«

Von einer Täuschung konnte keine Rede sein; das waren in der That wilde Eber; diese Thiere sind überhaupt in der Umgebung der Donaumündungen ungemein häufig; ihr Angriff ist oft furchtbar, und sie können eigentlich mit Recht den Raubthieren zugezählt werden.

»Was sollen wir nun beginnen? fragte der Holländer.

– Ganz still bleiben, wenn sie nicht angreifen, antwortete Keraban, uns vertheidigen, wenn sie über uns herfallen.

– Warum sollten die Wildschweine uns angreifen? erwiderte Van Mitten. Sie sind, so viel ich weiß, doch keine Fleischfresser!

– Mag sein, entgegnete Keraban; doch wenn wir nicht Gefahr laufen sollten, aufgefressen zu werden, so steht uns wenigstens bevor, den Leib aufgeschlitzt zu bekommen.

– Nun, das hebt sich, bemerkte Bruno trocken.

– Halten wir uns also für jeden Fall bereit!«

Seigneur Keraban ließ sofort die Waffen in Stand setzen. Van Mitten und Bruno hatten jeder einen sechsläufigen Revolver nebst reichlichen Patronen. Er, der Alttürke und erklärte Feind jeder neuen Erfindung, besaß nur zwei Pistolen ottomanischen Fabrikats mit damascirtem Laufe und mit Schildpatt und kostbaren Steinen eingelegtem Schaft, aber freilich mehr geeignet, den Gürtel eines Agha zu zieren, als im ernsten Kampfe zu dienen. Van Mitten und Bruno mußten sich also mit diesen einzigen Waffen begnügen und dieselben möglichst erfolgreich zu gebrauchen suchen.

Inzwischen hatten sich die Eber, etwa zwanzig an der Zahl, nach und nach genähert und umringten nun den Wagen. Beim Schein der Laternen, der sie offenbar herbeigelockt hatte, konnte man erkennen, wie sie wild durcheinander sprangen und den Boden mit den Hauern aufwühlten. Es waren ganz gewaltige Thiere von der Größe eines Esels und von furchtbarer Kraft, gewiß jedes allein hinreichend, eine ganze Meute zu zerfleischen. Die in ihren Wagen eingeschlossenen Reisenden befanden sich also in ziemlich beunruhigender Lage, wenn sie vor Tagesanbruch von der einen oder anderen Seite angegriffen wurden.

Die Pferde witterten auch Gefahr. Bei dem schrecklichen Grunzen der Heerde schnaubten sie auf und drängten sich zur Seite, so daß man fürchten konnte, sie könnten das Riemenzeug zerreißen oder die Deichsel zerbrechen.

Plötzlich krachen zwei Schüsse. Van Mitten und Bruno hatten zwei Revolverschüsse abgegeben auf diejenigen der Eber, welche zum Angriff übergehen zu wollen schienen. Die mehr oder weniger verwundeten Thiere brüllten vor Wuth, während sie auf der Erde kollerten. Die Anderen waren dadurch aber noch wilder geworden und stürzten sich nun auf den Wagen, den sie mit den Fangzähnen angriffen. Die Wandfüllung wurde an vielen Stellen durchstoßen, und es lag auf der Hand, daß die Insassen bald den Boden unter den Füßen verlieren würden.

» Zum Teufel! murmelte Bruno.

– Feuer! Feuer!« wiederholte Seigneur Keraban, seine Pistolen abschießend, die doch gewöhnlich einmal unter vier Schüssen versagten, obwohl er das nicht zugeben wollte.

Die Revolver Brunos und Van Mitten's verwundeten noch eine Anzahl der furchtbaren Angreifer, von denen einige sich direct auf die Spannpferde stürzten.

Natürlich bemächtigte sich der Pferde ein gewaltiger Schrecken, als sie sich von den Fangzähnen der Eber bedroht sahen und sich nicht anders als durch Ausschlagen mit den Beinen vertheidigen konnten, ohne die Freiheit der Bewegung zu haben. Wären sie frei gewesen, so würden sie durch das Land entflohen sein, und Alles wäre auf eine Frage der Schnelligkeit zwischen ihnen und der wilden Horde hinausgekommen. Mit aller Macht suchten sie die Stränge zu zerreißen, um zu entfliehen; diese, welche aus gedrehter Litze gefertigt waren, gaben jedoch nicht nach. Entweder mußte also das Vordergestell des Wagens zerbrechen, oder dieser selbst unter der äußersten Anspannung der Kräfte der Pferde auf dem Boden gezerrt werden.

Seigneur Keraban, Van Mitten und Bruno begriffen das recht wohl; was ihnen am meisten zu fürchten schien, war ein etwaiges Umschlagen des Gefährts. Die Eber, welche in diesem Falle nicht mehr durch Schüsse abzuhalten gewesen wären, hätten sich dann bestimmt auf denselben geworfen, und es wäre um seine Insassen geschehen gewesen. Was sollte man jedoch thun, einem solchen Ereigniß vorzubeugen? War die Reisegesellschaft nicht völlig der wüthenden Heerde preisgegeben? Ihre Kaltblütigkeit verließ sie übrigens nicht und sie feuerten mit den Revolvern tüchtig darauf hinein.

Plötzlich erschütterte ein besonders heftiger Stoß den Wagen, als ob das Vordergestell desselben sich abgelöst hätte.

»Desto besser! rief Keraban. Mögen unsere Pferde durch die Steppe davon laufen, so werden die Eber diese verfolgen und wenigstens uns in Ruhe lassen!«

Das Vordergestell hatte indeß ausgehalten und machte diesem veralteten Erzeugniß englischer Wagenbaukunst alle Ehre – es wich nicht vom Flecke – dagegen gab der ganze Wagen nach. Die Stöße wiederholten sich so, daß er aus den tiefen Gleisen, in denen er bis zu den Federn saß, herausgerissen wurde.

Noch eine letzte Anstrengung der vor Wuth fast tollen Pferde brachte ihn auf festeren Boden und augenblicklich flog er in rasender Eile davon, indem die führerlosen Thiere durch die finstere Nacht davonjagten.

Die Eber gaben damit den Kampf jedoch noch nicht auf. Sie stürmten zu beiden Seiten mit fort und griffen die einen die Pferde, die anderen den Wagen an, der ihnen zunächst noch keinen Vorsprung abgewinnen konnte.

Seigneur Keraban, Van Mitten und Bruno hatten sich in den Hintergrund des Coupés zurückgezogen.

»Ob wir nun umwerfen ... sagte Van Mitten.

– Oder ob wir nicht umwerfen, antwortete Keraban.

– Wir müssen versuchen, die Zügel wieder zu erlangen!« bemerkte Bruno mit Sachkenntniß.

Er ließ also die vorderen Fenster herab und tastete hinaus, um womöglich die Zügel zu erfassen; diese hatten die Pferde jedoch, als sie wie toll ausschlugen, zerrissen, und man war nun bei der tollen Fahrt durch sumpfiges Land völlig dem Zufall anheimgegeben. Die Pferde zum Stehen zu bringen, hieß überhaupt nichts Anderes, als auch die wüthende Heerde aufzuhalten. Die vorhandenen Feuerwaffen hätten jedoch gegenüber der in Bewegung befindlichen Masse auch nichts ausgerichtet.

Der Eine auf den Anderen geschleudert oder bei jedem Stoße von einer Ecke des Coupés in die andere geworfen, sprachen die Reisenden – von denen der Eine sich als guter Türke ruhig in sein Schicksal ergab, und die Anderen als Holländer ihre phlegmatische Natur auch jetzt noch nicht verleugneten – kein einziges Wort.

So ging es eine lange Stunde dahin. Der Wagen rollte noch immer fort und auch die Wildschweine hatten ihn noch nicht verlassen.

»Freund Van Mitten, sagte endlich Keraban, ich habe mir erzählen lassen, daß ein Reisender in ähnlicher Lage, der durch die russische Steppe von einer Bande Wölfe verfolgt wurde, durch die edle Aufopferung seines Dieners gerettet worden sei.

– Und wie? fragte Van Mitten.

– O ganz einfach, erwiderte Keraban. Der Diener umarmte seinen Herrn, empfahl Gott seine Seele, sprang aus dem Schlitten, und während die Wölfe darüber herfielen, ihn zu verzehren, konnte sein Herr einen großen Vorsprung gewinnen und sich retten.

– Da ist's ja recht bedauerlich, daß Nizib nicht hier ist!« antwortete Bruno sehr gelassen. Nach dieser kleinen Unterbrechung fielen Alle wieder in tiefes Schweigen.

Inzwischen schritt die Nacht voran. Die Pferde verloren nichts an ihrer entsetzlichen Schnelligkeit, und es gelang den Ebern schon nicht mehr, sie unmittelbar anzugreifen.

Wenn nun kein Unfall dazu kam und etwa ein Radbruch oder gar ein zu heftiger Stoß den Wagen zum Umfallen brachte, konnten Keraban und Van Mitten doch einige Hoffnung hegen, auch ohne jene Aufopferungsfähigkeit, deren Bruno nicht fähig war, noch Rettung zu finden.

Die Pferde hatten sich übrigens, durch ihren Instinct geleitet, stets in der Richtung der Steppe gehalten, welche sie gewöhnlich durchliefen, und zwar war es in ziemlich gerader Linie nach dem Posthause, in der sie dahinjagten.

Als der erste Schimmer des Tages am östlichen Horizont erschien, waren sie von jenem Hause nur noch wenige Werst entfernt.

Die Wildschweine mühten sich noch eine halbe Stunde ab, dann blieben sie mehr und mehr zurück; die Pferde unterbrachen ihren Lauf deshalb jedoch keinen Augenblick, bis sie – wenige hundert Schritt von der Poststation – keuchend und rauchend zusammenbrachen.

Der Seigneur Keraban und seine beiden Gefährten waren gerettet. Da erhielt der Gott der Christen ein nicht weniger warmes Dankgebet, als der Gott der Ungläubigen, für den Schutz, den sie den beiden holländischen Reisenden und dem Türken während dieser gefahrvollen Nacht gewährt hatten.

Eben als der Wagen unweit der Station anhielt, wollten Nizib und der Postillon, welche wegen der dunklen Nacht nicht eher fortgekonnt hatten, mit den Vorspannpferden aufbrechen. Diese traten nun an die Stelle des abgehetzten Gespanns, für das Seigneur Keraban natürlich eine tüchtige Summe bezahlen mußte; ohne sich eine Stunde Rast zu gönnen, setzte sich der Wagen, nach oberflächlicher Reparatur der Zugriemen und der Deichsel, wieder in Bewegung und fuhr auf Kilia zu.

Diese kleine Stadt, deren Befestigungen die Russen vor ihrer Uebergabe an Rumänien geschleift haben, ist auch ein Hafen der Donau und liegt an dem Arme derselben, der ihren Namen trägt.

Ohne neuen Zwischenfall erreichte die Chaise die Stadt am Abend des 25. August. Höchst ermattet begaben sich die Reisenden nach einem der ersten Hotels derselben und erholten sich hier durch zwölfstündigen Schlaf von den Anstrengungen der vergangenen Nacht.

Am folgenden Morgen brachen sie mit Sonnenaufgang wieder auf und gelangten nun bald an die russische Grenze.

Hier gab's wieder einige Schwierigkeiten. Die etwas lästigen Formalitäten der russischen Zollbehandlung setzten die Geduld des Seigneur Keraban wieder ganz gewaltig auf die Probe. In Folge seiner Geschäftsverbindungen verstand er – zum Glück oder Unglück, wie man will – so viel von der Landessprache, um sich verständlich zu machen. Einmal konnte man fast fürchten, daß man bei seinem Widerspruche gegen das Auftreten der Zollbeamten vielleicht gar nicht dazu gelangen würde, die Grenze zu überschreiten.

Nur mit Mühe gelang es Van Mitten, ihn zu beruhigen. Keraban stimmte endlich zu, den gesetzlichen Forderungen nachzugeben und seine Koffer untersuchen zu lassen; dann bezahlte er auch den verlangten Zoll, freilich nicht, ohne wiederholt das ganz gerechtfertigte Urtheil ausgesprochen zu haben:

»Wahrlich, die Regierungen sind doch überall gleich und kaum so viel Werth, wie die Rinde einer Pastete!«

Endlich wurde nun die rumänische Grenze überschritten und der Wagen bewegte sich durch denjenigen Theil Bessarabiens, der die nordöstliche Küste des Schwarzen Meeres bildet.

Seigneur Keraban und Van Mitten waren nur noch etwa zwanzig Lieues von Odessa entfernt.


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