Jules Verne
Abenteuer des Kapitän Hatteras - Erster Band
Jules Verne

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Fünfundzwanzigstes Capitel.

Ein alter Fuchs von James Roß.

An diesem Tage fiel das Thermometer bis auf drei Grad über Null (-16° hunderttheilig). Das Wetter war ziemlich ruhig; bei der Windstille war die Kälte leicht erträglich. Die helle Atmosphäre zu benutzen, ging Hatteras aus, um die Ebenen der Umgebung zu untersuchen; er klimmte auf einen der höchsten Eisberge, umfaßte aber mit dem Feld seines Fernrohres nur eine Reihe von Eisbergen und Eisfeldern. Nicht ein einziges Land in Sicht, wohl aber ein höchst trauriges Bild von Chaos. Als er zurückkam, versuchte er die muthmaßliche Dauer seiner Gefangenschaft zu berechnen.

Die Jäger, unter ihnen der Doctor, James Wall, Simpson, Johnson, Bell, versäumten nicht, das Schiff mit frischem Fleisch zu versehen. Die Vögel waren verschwunden, im Süden milderes Klima suchend. Nur die Ptarmigan, eine dieser Breite eigenthümliche Art Felsrebhühner, waren nicht vor der Kälte entflohen; sie ließen sich leicht erlegen und ihre große Zahl versprach reichlichen Vorrath an Wildpret.

An Hasen, Füchsen, Wölfen, Hermelinen, Bären war kein Mangel; ein französischer, englischer, norwegischer Jäger hätte sich nicht zu beklagen gehabt; aber man kann diesen scheuen Thieren nicht leicht nahe kommen; auch waren sie ihrer weißen Farbe wegen auf den weißen Ebenen schwer zu erkennen, denn ehe die große Kälte eintritt, wechseln sie den Pelz.

Häufig traf man Seekälber, Meerhunde, die unter der allgemeinen Benennung Robben begriffen sind; ihre Jagd empfahl sich ganz besonders, sowohl um ihrer Felle willen, als ihres Fettes, welches in hohem Grade als Brennmaterial dienlich ist. Zudem wurde die Leber dieser Thiere nöthigenfalls ein treffliches Nahrungsmittel; man konnte sie zu Hunderten zählen, und einige Meilen nordwärts vom Schiff war das Feld bei Tage von den Luftschöpflöchern dieser Amphibien buchstäblich durchbohrt; nur witterten sie den Jäger mit merkwürdigem Instinct, und es wurden viele angeschossen, die durch Untertauchen leicht entrannen.

Doch gelang es Simpson am 19. sich eines derselben, vierhundert Yards vom Schiff entfernt, zu bemächtigen; er war so vorsichtig gewesen, sein Zufluchtsloch zu verstopfen, so daß das Thier dem Jäger Preis gegeben war. Es wehrte sich lange, und wurde erst nach einigen Schüssen erlegt. Es war neun Fuß lang; an seinem Kopf, der dem eines Bullenbeißers glich, den sechzehn Zähnen seiner Kiefern, seinen großen Brustflossen in Form von Schaufeln, seinem kleinen mit noch einem Paar Flossen versehenen Schwanz erkannte man ein prachtvolles Exemplar aus der Familie der Meerhunde. Da der Doctor dessen Kopf für seine naturhistorische Sammlung aufzubewahren wünschte, und seine Haut für künftige Bedürfnisse, so ließ er beides durch ein rasches und wenig kostspieliges Verfahren dazu vorbereiten.

Sobald das Herbstäquinoctium vorüber ist, d. h. der 23. September, kann man sagen, daß der Winter in den Polargegenden beginnt. Nachdem dies wohlthuende Gestirn allmälig unter den Horizont gewichen, verschwand es am 23. October ganz, und bestrich nur noch mit schiefen Strahlen den Kamm der eisbedeckten Berge. Vor dem Februar sollte man es nicht wieder zu Gesicht bekommen.

Doch muß man nicht glauben, während der langen Abwesenheit der Sonne herrsche völlige Dunkelheit; der Mond ersetzt sie allmonatlich bestens; dazu kommt ferner das sehr helle Funkeln der Sterne, der Glanz der Planeten, häufiges Nordlicht und eigentümliche Strahlenbrechungen am schneeweißen Horizont; übrigens ist die Sonne zur Zeit ihrer größten südlichen Entfernung noch um dreizehn Grad dem polaren Horizont nahe, so daß täglich eine Dämmerung von einigen Stunden herrscht. Nur Nebel und Schneegestöber versenken oft diese Regionen in vollständiges Dunkel.

Doch war bis zu diesem Zeitpunkt das Wetter ziemlich günstig; nur die Feldhühner und Hasen hatten sich darüber zu beklagen, denn die Jäger ließen ihnen nicht einen Moment Ruhe; man stellte einige Fuchsfallen; aber diese argwöhnischen Thiere ließen sich nicht fangen; manchmal sogar kratzten sie den Schnee unter der Falle auf, so daß sie den Köder ohne Gefahr erhaschen konnten.

Am 25. October zeigte das Thermometer nur vier Grad unter Null (-20° hunderttheilig). Es brach ein äußerst heftiger Sturm los, und die mit dichtem Schnee gefüllte Luft ließ keinen Lichtstrahl zum Forward gelangen. Einige Stunden lang war man unruhig über Bell's und Simpson's Schicksal, welche sich auf der Jagd zu weit entfernt hatten; sie kamen erst am folgenden Morgen wieder an Bord, nachdem sie einen ganzen Tag lang in ihr Hirschfell gehüllt gelegen, während der Sturm den Luftraum über ihnen fegte und sie unter einer fünf Fuß dicken Schneedecke begrub. Sie wären fast erfroren, und der Doctor konnte nur mit viel Mühe die Blutcirculation wiederherstellen.

Das Unwetter dauerte acht Tage lang ohne Unterbrechung. Man konnte keinen Schritt hinausgehen. Nur einen einzigen Tag fand eine Abwechselung der Temperatur um fünfzehn und zwanzig Grad statt.

Während dieser nothgedrungenen Unthätigkeit lebte jeder für sich besonders, die Einen schlafend, die Anderen rauchend; gewisse Leute unterhielten sich leise, und brachen ab, wenn Johnson oder der Doctor nahe kam; es bestand zwischen den Leuten der Bemannung kein moralisches Band mehr; sie kamen nur noch zu dem gemeinsam verrichteten Abendgebet zusammen, und Sonntags für den Gottesdienst und das Bibellesen.

Clifton hatte sich genau ausgerechnet, daß, nachdem sie über den achtundsiebenzigsten Grad hinausgedrungen, sein Antheil an der Prämie sich auf dreihundertfünfundsiebenzig Pfund belief; ihm war die Summe schon rund genug, und sein Trachten ging nicht eben weiter. Man theilte gerne seine Meinung, und sann darauf, dies mit so viel Strapazen erworbene Vermögen zu genießen.

Hatteras war fortwährend fast unsichtbar; er nahm weder an der Jagd, noch am Spaziergang Theil; die meteorologischen Erscheinungen, welche die Bewunderung des Doctors erregten, interessirten ihn nicht im Mindesten. Seine Seele war nur von einem einzigen Gedanken erfüllt, der sich in dem Wort aussprach: Der Nordpol. Er dachte nur an den Moment, da der Forward endlich frei seine abenteuerliche Fahrt fortsetzen würde.

Kurz, die allgemeine Stimmung an Bord war eine düstere.

Während dieser unbeschäftigten Stunden ordnete der Doctor seine Reisenotizen; er war nie ohne Thätigkeit, und seine gute Laune unveränderlich. Doch war er froh, als das Unwetter ein Ende hatte, um seine gewohnten Jagdausflüge zu machen.

Am 3. November, um 6 Uhr Vormittags, bei einer Temperatur von fünf Grad unter Null (-21° hunderttheilig) zog er wieder aus in Gesellschaft von Johnson und Bell; auf den in dem letzten Tagen reichlich gefallenen und festgefrorenen Schnee war es leicht zu gehen; die Kälte war trocken und empfindlich; der Mond glänzte in unvergleichlicher Reinheit, daß die Jäger lange Schatten auf die Fläche hinwarfen.

Der Doctor hatte seinen Freund Duk bei sich, der witternd des Weges lief und oft stand bei einer noch frischen Spur. Doch trotzdem waren die Jäger nach zwei Stunden nicht einmal auf einen Hasen gestoßen.

»Hat denn auch das Wild Lust bekommen, südwärts zu wandern? sagte der Doctor.

– Man sollte es meinen, Herr Clawbonny, erwiderte der Zimmermann.

– Ich meinestheils glaube es nicht, versetzte Johnson; Hasen, Füchse, Bären sind hier in ihrem Klima; meiner Ansicht nach hat der letzte Sturm ihr Verschwinden verursacht; aber mit den Südwinden werden sie bald wieder kommen. Ja, wenn Sie von Renthieren und Bisonochsen sprächen, wäre es anders.

– Und doch finden sich diese Thiere auf der Insel Melville zahlreich truppweise, fuhr der Doctor fort; sie liegt doch südlicher, und Parry hat bei seinen Winteraufenthalten von diesem prächtigen Wildpret stets soviel gehabt, als er nur wollte.

– Wir, sind nicht so gut daran, erwiderte Bell; könnten wir nur Bärenfleisch genug haben, so hätten wir uns nicht zu beklagen.

– Darin liegt eben die Schwierigkeit, entgegnete der Doctor; die Bären scheinen mir sehr selten und wild.

– Bell spricht von Bärenfleisch, fuhr Johnson fort; aber das Fett dieses Thieres wäre uns jetzt noch wünschenswerther, als sein Fleisch und Pelz.

– Du hast Recht, Johnson, erwiderte Bell, daß Deine Gedanken auf Brennmaterial stehen?

– Darauf muß man wohl denken, selbst bei größter Sparsamkeit haben wir für keine drei Wochen mehr!

– Ja, versetzte der Doctor, darin liegt eine wirkliche Gefahr, denn wir sind erst im Anfang Novembers, und der Februar ist in den Eisregionen der kälteste Monat im Jahre; doch können wir in Ermangelung von Bärenfett auf Robbenfett rechnen.

– Nicht lange mehr, Herr Clawbonny, erwiderte Johnson, es wird nicht lange dauern, so werden uns diese Thiere meiden; mag Kälte oder Schrecken die Ursache sein, wir werden sie nicht lange mehr auf den Eisblöcken zu sehen bekommen.

– Dann, fuhr der Doctor fort, müssen wir uns, sehe ich wohl, durchaus auf die Bären beschränken; das ist offenbar das nützlichste Thier dieser Gegenden, denn es kann für sich allein dem Menschen seine notwendigsten Bedürfnisse, Nahrung, Kleidung, Licht und Brennstoff, liefern. Hörst Du, Duk, sprach der Doctor liebkosend zu dem Hund, Bären brauchen wir; also, mein Freund, such'! spür' auf!«

Duk, der eben die Eisfläche auswitterte, folgte dem schmeichelnden Auftrag des Doctors, und rannte pfeilschnell davon. Er bellte lebhaft, daß trotz seiner Entfernung sein Bellen laut von den Jägern vernommen wurde.

Es ist zum Erstaunen, wie weit in den niedern Temperaturen der Ton reicht; es ist gerade wie mit dem Sternenlicht am Polar-Himmel; die Lichtstrahlen und die Tonwellen pflanzen sich auf beträchtliche Entfernung fort, zumal bei der trockenen Kälte bei Nacht.

Die Jäger, diesem fernen Bellen folgend, eilten dem Duk nach; sie hatten eine Meile zurückzulegen, und kämen athemlos an, denn in solcher Atmosphäre verliert man leicht den Athem. Duk stand kaum fünfzig Schritte von einer enormen Gestalt, die auf dem Gipfel eines Hügels sich hin und her bewegte.

»Da haben wir es ja nach Wunsch! rief der Doctor, und lud sein Gewehr.

– Ein Bär, meiner Treu', ein hübscher Bär, sagte Bell.

– Ein ausgezeichneter Bär«, sagte Johnson, und behielt sich vor, seine beiden Gefährten zuerst schießen zu lassen.

Duk bellte wüthend. Bell ging zwanzig Schritte, vor, und feuerte; aber er schien nicht getroffen zu haben, denn das Thier fuhr fort, seinen Kopf plump hin und her zu wiegen.

Nun trat auch Johnson vor, und schoß nach sorgfältigem Zielen.

»Schön! rief der Doctor; abermals nichts! Ei! Die verdammte Strahlenbrechung! Wir sind noch nicht in Schußweite; daran gewöhnt man sich nicht leicht! Dieser Bär ist noch über tausend Schritte entfernt!

– Vorwärts!« erwiderte Bell.

Die drei Kameraden stürzten nun flugs auf das Thier zu, welches durch die Schüsse gar nicht scheu geworden war; es schien von stattlicher Größe zu sein, und die Jäger freuten sich schon ihrer Beute. Als sie in gehörige Schußweite kamen, feuerten sie, und der Bär, ohne Zweifel tödtlich getroffen, stürzte mit einem gewaltigen Satz zum Fuß des Hügels herab.

Duk rannte hin.

»Den Bär zu erlegen, sagte der Doctor, wird nicht schwer gewesen sein.

– Nur drei Schüsse, erwiderte Bell verächtlich, und er liegt schon auf dem Boden.

– Es ist sogar auffallend, sagte Johnson.

– Sofern wir nicht gerade im Moment kamen, da er Alters halber im Sterben war, versetzte lachend der Doctor.

– Wahrhaftig, alt oder jung, entgegnete Bell, ist es immer gute Beute.«

Während dieses Gespräches kamen die Jäger zu dem Hügel, und fanden zu großem Erstaunen Duk hitzig über dem Leichnam eines weißen Fuchses!

»Ei! Potz tausend, rief Bell, das ist ein starkes Stück!

– Wahrhaftig, sagte der Doctor, wir erlegen einen Bären, und ein Fuchs fällt!«

Johnson wußte nicht recht, was er sagen sollte.

»Schön! rief der Doctor mit hellem Lachen und einigem Aerger dabei; abermals die Strahlenbrechung!

– Wie verstehen Sie das, Herr Clawbonny? fragte der Zimmermann.

– Ei! mein Freund, die Strahlenbrechung hat uns, wie über die Entfernung, so auch über die Größe getäuscht, so daß wir unter der Haut eines Fuchses einen Bären zu sehen meinten! So versehen sich oft die Jäger im gleichen Falle! Nun! Das haben wir unserer Phantasie zu verdanken.

– Meiner Treu', erwiderte Johnson, Bär oder Fuchs, man wird ihn gleichwohl verzehren. Nehmen wir ihn mit.«

Aber, als der Rüstmeister das Thier auf seine Schultern laden wollte, rief er:

»Das ist aber noch ein stärkeres Stück!

– Was ist denn? fragte der Doctor.

– Schauen Sie, Herr Clawbonny, hier, ein Halsband trägt dies Thier!

– Ein Halsband?« versetzte der Doctor, und beugte sich über das Thier.

Wirklich, es war da ein kupfernes Halsband mitten im weißen Pelz zu sehen; der Doctor glaubte eine Inschrift zu bemerken; mit einem Griff machte er es von dem Halse los, woran es seit langer Zeit geschmiedet schien.

»Was hat das zu bedeuten? fragte Johnson.

– Das bedeutet, erwiderte der Doctor, daß wir einen Fuchs erlegt haben, der über zwölf Jahre alt ist, meine Freunde, einen Fuchs, den James Roß 1848 gefangen hatte.

– Ist es möglich! rief Bell.

– Ohne allen Zweifel; es ist mir leid, daß wir das arme Thier erlegt haben! James Roß kam während seines Winteraufenthaltes auf den Gedanken, eine Menge weißer Füchse in Schlingen zu fangen; diesen ließ er ein kupfernes Halsband anschmieden, mit einer Aufschrift, welche die Namen seiner Schiffe Enterprise und Investigator bezeichnete, und die Niederlage von Lebensmitteln angab. Diese Thiere streifen; wenn sie ihre Nahrung suchen, über weit ausgedehnte Landstrecken, und James Roß hoffte, es möchte eins von den Thieren einigen Leuten von Franklin's Expedition in die Hände gerathen. Dies erklärt Alles.

– Wahrhaftig, wir wollen es nicht verzehren, sagte Johnson; zudem, ein zwölf Jahre alter Fuchs! Jedenfalls wollen wir sein Fell aufbewahren zum Zeugniß des merkwürdigen Ereignisses.«

Johnson lud das Thier auf seine Schultern. Die Jäger kehrten nach dem Schiff zurück, indem sie sich durch die Sterne orientirten. Ihr Ausflug war doch nicht ganz ohne Ergebniß, sie konnten noch einige Paar Ptarmigans erlegen.

Eine Stunde bevor sie wieder zum Forward kamen, trat ein Naturereigniß ein, das den Doctor im höchsten Grad in Erstaunen setzte: ein wahrer Regen von Sternschnuppen. Man konnte sie auf Tausende schätzen, wie die Raketen bei einem Kunstfeuerwerk, blendend weiß; das Mondlicht dagegen war bleich. Man konnte sich an dem Phänomen nicht satt sehen, das einige Stunden lang dauerte. Als der Doctor sich wieder an Bord befand brachte er die ganze Nacht damit zu, den Lauf des Meteores zu verfolgen, das erst gegen sieben Uhr früh, inmitten tiefer Stille der Atmosphäre verschwand.


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