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Die Nacht sank herab. Es war eine Neumondsnacht, während welcher das nächtliche Gestirn allen Erdenwohnern unsichtbar bleiben mußte. Der unbestimmte Schimmer der Sterne erleuchtete allein die Ebene. Am Horizonte verschwammen die Sternbilder des Thierkreises in dunkleren Dünsten. Die Wasser des Guamini flossen ohne alles Gemurmel dahin, wie ein langer Streifen Oel, der auf einer Marmorplatte hingleitet. Vögel, Säugethiere und Reptilien ruhten von den Anstrengungen des Tages aus, und das Schweigen der Wüste lagerte über den ungeheuren Landstrecken der Pampas.
Glenarvan, Robert und Thalcave waren dem allgemeinen Gesetze erlegen. Auf dickem Kleelager hingestreckt, ruhten sie in tiefem Schlummer. Die Pferde hatten sich ermattet auf die Erde niedergelegt. Nur Thaouka, ein wahres Vollblutpferd schlief im Stehen, die vier Beine senkrecht aufgestemmt, stolz in Ruhe wie in Thätigkeit, und bereit auf den ersten Wink seines Herrn davon zu sprengen. Eine vollkommene Ruhe herrschte im Innern der Umzäunung, und die Kohlen des nächtlichen Heerdes, der langsam verlöschte, warfen ihre letzten Strahlen durch das schweigende Dunkel.
Ungefähr um zehn Uhr erwachte jedoch der Indianer nach kurzem Schlafe. Unter seinen herab gezogenen Brauen schienen sich die Augen auf einen Punkt zu heften und sein Ohr richtete sich nach der Ebene zu. Offenbar suchte er sich über ein unbestimmtes Geräusch klar zu werden. Bald zeigte sich auf seinem sonst so ruhigen Angesicht eine unstete Unruhe. Bemerkte er die Annäherung räuberischer Indianer, oder das Herankommen von Jaguaren, Wassertigern oder anderer furchtbarer Thiere, welche in der Nachbarschaft der Ufer und Gestade nicht selten sind? Die letztere Annahme schien ihm ohne Zweifel einige Wahrscheinlichkeit zu haben, denn er warf einen schnellen Blick auf die in der Viehstätte aufgehäuften brennbaren Stoffe, und seine Unruhe nahm noch zu. Wirklich mußte alle diese Lagerstreu von trockenem Alfafareskraute bald aufgezehrt sein, und konnte kühnere Raubthiere nicht lange aufhalten.
Unter diesen Umständen konnte Thalcave eben nur abwarten, was da kommen würde, und er wartete, halb liegend, den Kopf in den Händen und die Ellbogen auf die Kniee gestützt, in der Haltung eines Menschen, dem eine plötzliche Angst den Schlaf geraubt hat.
Eine Stunde verging so. Jeder Andere, als Thalcave, hätte sich, beruhigt durch die Stille draußen, wieder niedergelegt. Aber wo ein Fremder gar keinen Verdacht geschöpft hätte, da witterten die überreizten Sinne und der natürliche Instinct des Indianers eine kommende Gefahr.
Während er so horchte und auslugte, ließ Thaouka ein dumpfes Wiehern hören, die Nase des Thieres streckte sich nach dem Eingange der Ramada. Sogleich richtete sich der Patagonier auf.
»Thaouka wittert einen Feind«, sagte er. Er stand auf und durchspähte aufmerksam die Ebene.
Stillschweigen herrschte dort noch, aber keine Ruhe. Thalcave sah, wie sich Schatten geräuschlos durch die Curra-Mammel-Büschel bewegten. Da und dort funkelten leuchtende Punkte, die sich in jeder Richtung kreuzten, und abwechselnd verloschen und wieder aufblitzten. Man hatte dabei an einen Tanz phantastischer Irrlichter auf dem Spiegel eines ungeheuren Sumpfes denken können. Mancher Fremde würde die umherfliegenden Funken gewiß für phosphorescirende Insecten gehalten haben, welche nach Einbruch der Nacht an manchen Stellen der Pampagegenden leuchten. Doch Thalcave täuschte sich damit nicht. Er wußte, mit welchen Feinden er zu thun hatte, er lud seinen Karabiner und stellte sich zur Beobachtung an einem der ersten Pfähle der Umzäunung auf.
Er hatte nicht lange zu warten. Ein seltsames Geschrei, ein Gemisch von Heulen und Bellen hallte in den Pampas wieder. Ein Schuß des Carabiners war die Antwort, worauf hundertfaches schreckliches Gebrüll folgte.
Glenarvan und Robert, welche plötzlich erwachten, sprangen vom Lager auf.
»Was giebt's? fragte der junge Grant.
– Indianer etwa? sagte Glenarvan.
– Nein, erwiderte Thalcave, »Aguaras«.«
Robert sah Glenarvan an.
»Aguaras? fragte er.
– Ja, antwortete Glenarvan, die rothen Wölfe der Pampas.«
Beide ergriffen ihre Waffen und stellten sich neben den Indianer. Dieser wies auf die Ebene hin, woher das entsetzliche Geheul sich erhob.
Unwillkürlich that Robert einen Schritt rückwärts.
»Du hast keine Furcht vor Wölfen, mein Sohn? sagte Glenarvan zu ihm.
– Nein, Mylord, erwiderte Robert mit fester Stimme. Neben Ihnen fürchte ich mich vor gar Nichts.
– Desto besser. Diese Aguaras sind wenig zu fürchtende Thiere, und wären sie nicht in so großer Anzahl da, so würde ich sie mich gar nicht sehr kümmern lassen.
– Was thut das! antwortete Robert. Wir sind gut bewaffnet, sie mögen nur herankommen.
– Sie werden gut empfangen werden!«
Indem Glenarvan so sprach, wollte er den Knaben beruhigen, aber er dachte nicht ohne heimliches Schaudern an die Legion jener in der Nacht so frechen Fleischfresser. Vielleicht waren sie zu Hunderten da, und drei noch so gut bewaffnete Menschen konnten doch nicht mit Erfolg gegen eine solche Menge Thiere kämpfen.
Als der Patagonier das Wort »Aguara« aussprach, verstand Glenarvan sogleich den Namen, womit die Pampa-Indianer die rothen Wölfe bezeichnen. Dieses Raubthier, der »Canis jubatus« der Naturforscher, hat die Natur eines großen Hundes und den Kopf des Fuchses; seine Hauthaare sind zimmtroth und auf seinem Rücken starrt eine schwarze Mähne, welche über das ganze Rückgrath hinabläuft. Dieses Thier ist sehr gewandt und stark; es bewohnt gewöhnlich sumpfige Orte und verfolgt die Wasserthiere schwimmend. Die Nacht treibt dasselbe aus seinem Bau, in dem es während des Tages schläft; vorzüglich fürchtet man dasselbe in den Viehzuchtanstalten, denn sobald es nur etwas von Hunger gereizt ist, greift es auch großes Vieh an und stiftet beträchtliche Verheerungen.
Einzeln ist der Aguara nicht zu fürchten, so ist's aber nicht bei einer starken Anzahl dieser Thiere, wenn sie ausgehungert sind; da ist es noch besser, es mit einem Kuguar oder Jaguar zu thun zu haben, den man Auge in Auge angreifen kann.
Bei dem Geheul, von dem die Pampa wiederhallte, und bei der Menge der Schattengestalten, die auf der Ebene hin- und hersprangen, konnte sich nun Glenarvan über die Menge der rothen Wölfe, die sich am Ufer des Guamini gesammelt hatten, nicht täuschen; sie hatten dort eine sichere Beute, ob Pferdefleisch, ob Menschenfleisch, aufgespürt, und keiner von ihnen, mochte wohl in sein Lager zurückkehren, ohne seinen Antheil zu haben. Die Lage war also sehr beunruhigend.
Indessen zog sich der Kreis der Thiere nach und nach enger zusammen. Die erwachten Pferde gaben Zeichen des äußersten Schreckens. Thaouka allein stampfte den Boden und suchte die Halfter zu zerreißen, um sich hinauszustürzen. Sein Herr konnte es nur durch fortwährendes Pfeifen beschwichtigen.
Glenarvan und Robert hatten sich so gestellt, um den Eingang zu vertheidigen. Ihre Carabiner waren geladen und sie waren schon im Begriff, auf die vorderste Reihe der Aguaras Feuer zu geben, als Thalcave mit der Hand ihre schon angelegten Gewehre in die Höhe hob.
»Was will Thalcave? fragte Robert.
– Er will nicht, daß wir schießen! erwiderte Glenarvan.
– Warum?
– Wahrscheinlich hält er den Augenblick noch nicht für gelegen.« .
Das war aber nicht die Ursache, welche den Indianer so zu handeln veranlaßte, sondern ein weit gewichtigerer Grund, und Glenarvan verstand ihn, als Thalcave, sein Pulverhorn aufhebend und umdrehend, zeigte, daß es fast ganz leer war.
»Nun? sagte Robert.
– Ei nun, wir müssen unsere Munition schonen. Unsere heutige Jagd hat uns zuviel davon gekostet, und wir haben nur noch wenig Pulver und Blei. Kaum zwanzig Schuß bleiben uns abzugeben!«
Der Knabe erwiderte Nichts.
»Du hast keine Furcht, Robert?
– Nein, Mylord!
– Brav, mein Sohn.«
In diesem Augenblicke krachte wieder ein Schuß; Thalcave hatte einen der verwegensten Feinde zu Boden gestreckt. Die Wölfe, welche in gedrängter Reihe vorwärts gingen, wichen zurück und sammelten sich gegen hundert Schritte von der Umzäunung. Sofort nahm Glenarvan auf einen Wink des Indianers dessen Stelle ein; dieser raffte die Lagerstreu, die Kräuter, mit einem Worte alles Brennbare zusammen, und häufte es vor dem Eingange der Ramada auf und warf, um es anzuzünden, eine brennende Kohle hinein. Bald loderte ein Vorhang von Flammen vor dem dunkeln Hintergrund des Himmels empor, und durch seine Lücken sah man die Ebene hell im flackernden Widerschein erleuchtet. Glenarvan konnte nun die unzählbare Menge Thiere beurtheilen, welchen zu widerstehen es galt. Die Feuerwand, die ihnen Thalcave entgegengesetzt hatte, reizte nur ihren Zorn, da sie sich so plötzlich aufgehalten sahen. Dennoch kamen einige, gedrängt durch die hinteren Reihen, bis an den Heerd des Feuers heran und verbrannten sich dabei die Tatzen.
Von Zeit zu Zeit wurde ein Gewehrschuß nöthig, um die heulende Heerde abzuhalten und nach Verlauf einer Stunde bedeckten wohl fünfzehn Cadaver die Prairie.
Noch befanden sich die Belagerten in minder gefahrvoller Lage; so lange der Schießbedarf ausreichte; so lange die Schranke des Feuers sich noch vor dem Eingange zur Ramada erhob, war ein Ansturm nicht zu fürchten. Aber später – was sollte geschehen, wenn all' diese Mittel, die Wolfsbande abzuhalten, ihnen abgingen?
Glenarvan sah Robert an und fühlte, wie sein Herz sich zusammenkrampfte. Er vergaß sich, er selbst, um an den armen Knaben zu denken, welcher einen Muth über sein Alter zeigte. Robert war blaß; aber seine Hand ließ die Waffe nicht los, und er erwartete festen Fußes den Angriff der gereizten Wölfe.
Indeß beschloß Glenarvan, nachdem er ihre Lage kaltblütig bedacht hatte, dieselbe zu beenden.
»In einer Stunde, sagte er, werden wir weder Pulver, noch Blei oder Feuer mehr haben. Nun wohl, so wollen wir diesen Augenblick nicht erst abwarten, um zu einem Entschlusse zu kommen.«
Er wendete sich also gegen Thalcave, sammelte die wenigen spanischen Worte, die ihm sein Gedächtniß bewahrt hatte, und begann mit dem Indianer ein Gespräch, das häufig durch einen Gewehrschuß unterbrochen wurde.
Nur schwierig kamen die beiden Männer dazu, sich zu verständigen. Glenarvan kannte zum Glück die Art und Weise der rothen Wölfe. Ohne diesen Umstand hätte er schwerlich die Worte und Gesten des Patagoniers verstehen können.
Nichtsdestoweniger verging eine Viertelstunde, bevor er Robert Thalcave's Antwort übersetzen konnte. Glenarvan hatte den Indianer über die gegenwärtige verzweifelte Lage befragt.
»Und was hat er erwidert? fragte Robert Grant.
– Er meinte, daß wir uns, es koste was es wolle, bis zum Anbruch des Tages halten müßten. Der Aguara streift nur in der Nacht herum, wenn der Morgen graut, zieht er sich in seine Höhle zurück. Er ist der Wolf der Finsterniß, ein feiges Thier, das den hellen Tag scheut, eine vierfüßige Eule!
– Nun gut, so werden wir uns bis zum Tage vertheidigen.
– Ja wohl, mein Sohn, und das mit Messerstichen, wenn wir es nicht mehr mit Flintenschüssen thun können.«
Schon hatte Thalcave dafür das Beispiel gegeben, und allemal, wenn ein Wolf sich dem Feuer näherte, fuhr der lange bewaffnete Arm des Patagoniers schnell durch die Flammen und kam roth von Blut zurück.
Indessen, die Vertheidigungsmittel gingen zur Neige. Gegen zwei Uhr Morgens warf Thalcave den letzten Arm voll Brennmaterial in's Feuer, auch blieben den Belagerten nur noch fünf Schuß abzugeben.
Glenarvan sah mit schmerzlichem Blicke umher.
Er gedachte dieses Kindes, welches anwesend war, seiner Freunde, aller derer, die er liebte. Robert sprach gar nicht. Vielleicht erschien seiner vertrauensvollen Einbildung die Gefahr nicht so drohend. Aber Glenarvan dachte für ihn daran und vergegenwärtigte sich die schreckliche, jetzt fast unvermeidliche Aussicht, lebendig gefressen zu werden! Er war nicht mehr Herr seiner Gemüthsbewegung; er zog das Kind an seine Brust, drückte es an sein Herz und heftete ihm seine Lippen auf die Stirne, während seinen Augen unwillkürlich Thränen entrannen.
Robert sah ihn lächelnd an.
»Ich habe keine Furcht! sagte er.
– Nein, mein Kind, nein, erwiderte Glenarvan, und Du hast Recht damit. In zwei Stunden bricht der Tag an, und wir werden errettet sein! – Sehr gut, Thalcave, sehr gut, mein wackerer Patagonier!« rief er in dem Augenblicke, als der Indianer zwei sehr große Thiere, die über die feurige Barriere hinüberzukommen versuchten, mit Kolbenschlägen tödtete.
In diesem Augenblick aber zeigten ihm die ersterbenden Flammen des Heerdes auch die ganze Bande der Aguaras, welche in dichten Reihen wie zum Sturme auf die Ramada heranrückte.
Die Lösung des blutigen Dramas näherte sich; das Feuer fiel nach und nach aus Mangel an Brennstoffen zusammen; die Flamme wurde kleiner; die bis jetzt beleuchtete Ebene ward wieder dunkel, und in dieser Dunkelheit blitzten die leuchtenden Augen der rothen Wölfe wieder auf. Noch einige Minuten, und die ganze Heerde mußte sich voraussichtlich in die Umzäunung hineinstürzen.
Zum letzten Male drückte Thalcave seinen Karabiner ab und streckte einen Feind zu Boden, dann aber, als seine Munition zu Ende war, kreuzte er die Arme. Sein Haupt sank auf die Brust herab. Er schien schweigend zu überlegen. Suchte er nach irgend welchem kühnen, unmöglichen, thörichten Mittel, diese wüthende Bande zurückzutreiben? Glenarvan wagte nicht, ihn darum zu fragen.
Jetzt vollzog sich auch plötzlich eine Aenderung in der Angriffsweise der Wölfe. Sie schienen sich zu entfernen, und ihr Geheul, das eben noch so betäubend gewesen war, verstummte. Ein dumpfes Schweigen lagerte über der Ebene.
»Sie gehen davon! sagte Robert.
– Vielleicht«, antwortete Glenarvan, der gespannt auf jedes Geräusch von außen horchte.
Thalcave aber, der jenen Gedanken errieth, schüttelte den Kopf. Er wußte zu gut, daß die Thiere von einer sicheren Beute nicht ablassen würden, bevor sie nicht der Tag in ihre dunkeln Höhlen zurücktrieb.
Offenbar hatte sich aber die Taktik des Feindes geändert.
Er versuchte nicht mehr, den Eingang der Ramada zu stürmen, aber seine neuen Manoeuvres brachten eine noch dringendere Gefahr. Die Aguaras nämlich umzingelten, als sie darauf verzichteten, durch diesen durch Feuer und Eisen hartnäckig vertheidigten Eingang zu dringen, die Ramada, und suchten dieselbe wie nach allgemeiner Uebereinkunft von der entgegengesetzten Seite anzugreifen.
Bald hörte man ihre Krallen sich in das halb verfaulte Holz einschlagen. Zwischen den wankenden Pfosten waren schon ihre kräftigen Tatzen und ihre blutigen Rachen zu sehen. Die erschreckten Pferde, welche die Halfter zerrissen, jagten voll toller Wuth in der Umzäunung umher.
Glenarvan hielt den jungen Knaben in seinen Armen, um ihn bis zum letzten Augenblicke zu vertheidigen. Vielleicht auch wollte er eine unmögliche Flucht versuchen und sich nach außen stürzen, als seine Blicke sich auf den Indianer richteten.
Thalcave näherte sich, nachdem er wie ein Rothwild in der Ramada sich getummelt hatte, schnell seinem Pferde, das vor Ungeduld zitterte, und begann, dasselbe mit aller Sorgfalt zu zäumen, wobei er weder einen Riemen, noch eine Schnalle vergaß. Er schien sich über das Geheul, welches sich verdoppelte, nicht mehr zu beunruhigen. Glenarvan sah ihm mit unheimlich bangem Schrecken zu.
»Er verläßt uns! rief er aus, als er Thalcave die Zügel zusammennehmen sah, wie einen Reiter, der eben aufsitzen will.
– Er? Niemals!« sagte Robert.
Und wirklich war der Indianer dabei, nicht seine Freunde zu verlassen, sondern ihre Rettung zu versuchen, indem er sich für sie opferte.
Thaouka war fertig; das Thier nagte an dem Gebiß; es sprang auf; seine Augen voll stolzen Feuers sprühten Blitze; es hatte seinen Herrn verstanden.
In dem Augenblicke, da der Indianer die Mähne seines Pferdes ergriff, hielt ihm Glenarvan mit krampfhafter Hand den Arm.
»Du gehst davon? sagte er, auf die frei gewordene Ebene weisend.
– Ja«, erwiderte der Indianer, der die Bewegung seines Gefährten verstand.
Dann setzte er einige spanische Worte hinzu, welche bedeuteten:
»Thaouka! Gutes Pferd. Schnell. Wird die Wölfe nachziehen!
– O, Thalcave! rief Glenarvan aus.
– Schnell, schnell, antwortete noch der Indianer, während Glenarvan zu Robert im Tone tiefster Rührung sagte:
– Robert, mein Kind, Du hörst es! Er will sich für uns opfern. Er will in die Pampas hinausjagen, und die Wuth der Wölfe abwenden, indem er sie auf sich zieht.
– Freund Thalcave! antwortete Robert, der sich dem Patagonier zu Füßen warf, Freund Thalcave, verlaß' uns nicht!
– Nein, sagte Glenarvan, er wird uns nicht verlassen.«
Und zu dem Indianer gewendet, sagte er, indem er auf die erschreckten und gegen die Pfähle gedrängten Pferde wies:
»Wir wollen zusammen fort.
– Nein, sagte der Indianer, der diese Worte nicht mißverstand. Schlechte Thiere. Erschreckte. Thaouka. Gutes Pferd.
– Nun wohl, es sei! sagte da Glenarvan; Thalcave wird Dich nicht verlassen, Robert! Er lehrt mir, was ich zu thun habe. An mir ist, den Ritt zu wagen, an ihm aber, bei Dir zu bleiben!«
Dann, den Zügel Thaouka's ergreifend, sagte er:
»Ich, ich werde mich hinauswagen.
– Nein, erwiderte ruhig der Patagonier.
– Ich! sage ich Dir! rief Glenarvan, der ihm die Zügel entriß, ich thue es. Rette dieses Kind! Ich vertraue es Dir an, Thalcave!«
Glenarvan vermischte in seiner Aufregung englische und spanische Worte. Doch, was kommt es auf die Sprache an! In so entsetzlichen Lagen sagt die Geste Alles und die Menschen verstehen sich schnell.
Dennoch widerstand Thalcave. Der Wortwechsel zog sich in die Länge, und die Gefahr wuchs von Secunde zu Secunde. Schon wichen die zernagten Pfähle den Zähnen und Krallen der Wölfe.
Weder Glenarvan noch Thalcave schien nachgeben zu wollen. Der Indianer hatte Glenarvan gegen den Eingang der Umzäunung hingezogen; er zeigte ihm die von Wölfen freie Ebene; in seiner lebhaften Sprache suchte er ihm verständlich zu machen, daß kein Augenblick zu verlieren sei, daß die Gefahr, wenn das Vorhaben nicht von Erfolg wäre, für die Zurückbleibenden weit größer wäre; endlich, daß er allein Thaouka genügend kenne, um deren vollkommene Eigenschaften, ihre Leichtigkeit und Schnelligkeit für das allgemeine Beste zu verwerthen. Glenarvan, verblendet, beharrte auf seiner Ansicht und wollte sich opfern, als er plötzlich heftig zurückgestoßen wurde. Thaouka bäumte sich, richtete sich auf die Hinterfüße und flog ungestüm mit einem Satz über das Feuer und den Saum von Thierleichen, während die Stimme des Kindes rief:
»Gott stehe Ihnen bei, Mylord!«
Glenarvan und Thalcave hatten kaum soviel Zeit, zu bemerken, wie Robert, sich an der Mähne Thaouka's anklammernd, in der Finsterniß verschwand.
»Robert! Du Unglücklicher! rief Glenarvan aus.
Aber diese Worte konnte selbst der Indianer nicht verstehen. Ein schreckliches Geheul erhob sich. Die rothen Wölfe folgten dem Pferde auf den Fersen und flohen mit geisterhafter Schnelligkeit nach Westen zu.
Thalcave und Glenarvan stürzten vor die Ramada hinaus. Schon hatte die Ebene ihre Ruhe wieder, und kaum konnten sie noch eine sich bewegende Linie unterscheiden, die in der Entfernung in der Dunkelheit der Nacht dahinwogte.
Glenarvan sank zu Boden, von Schmerz überwältigt, in Verzweiflung die Hände ringend. Er sah Thalcave an. Der Indianer lächelte mit seiner gewöhnlichen Ruhe.
»Thaouka. Gutes Pferd! Wackrer Knabe! Er wird sich retten! wiederholte er, indem er es durch Nicken mit dem Kopfe bekräftigte.
– Und wenn er stürzt! sagte Glenarvan.
– Er wird nicht stürzen!«
Trotz der Zuversicht Thalcave's verbrachte der arme Lord die Nacht doch in der schrecklichsten Sorge. Er hatte gar kein Bewußtsein von der Gefahr mehr, die mit der Horde Wölfe verschwunden war. Er wollte davon, um Robert aufzusuchen; doch der Indianer hielt ihn zurück; er machte ihm begreiflich, daß die Pferde ihn nicht einholen würden; daß Thaouka die Feinde überholen werde, daß man ihn in der Finsterniß doch nicht fände, und daß der Tag abgewartet werden müsse, um die Spuren Robert's zu verfolgen.
Um vier Uhr Morgens begann die Morgenröthe. Die dichteren Nebel am Horizonte färbten sich bald mit falbem Lichte. Ein klarer Thau senkte sich auf die Ebene, und die hohen Gräser begannen sich unter dem ersten Lufthauch des Tages zu bewegen. Die Stunde zum Aufbruch war gekommen.
»Vorwärts nun!« jagte der Indianer.
Glenarvan antwortete nicht, aber er schwang sich auf Robert's Pferd. Bald galopirten die beiden Reiter gegen Westen: indem sie die gerade Linie einhielten, von der ihre Genossen nicht abweichen sollten.
Während einer Stunde ritten sie so mit größter Schnelligkeit dahin, suchten Robert mit den Augen, und fürchteten auf jedem Schritte seine blutige Leiche zu treffen. Glenarvan zerriß die Weichen seines Pferdes mit den Sporen. Endlich hörten sie Flintenschüsse, die in gleichen Zeiträumen, wie als Erkennungszeichen, ertönten.
»Das sind sie!« rief Glenarvan.
Thalcave und er setzten die Pferde noch schneller in Lauf, und einige Augenblicke später trafen sie auf die von Paganel geführte Abtheilung. Ein Aufschrei drang aus Glenarvan's Brust. Robert war da, lebend und ganz wohl, getragen von der prächtigen Thaouka, die vor Freude wieherte, als sie ihren Herrn wiedersah.
»O, mein Kind! Mein Kind! rief Glenarvan mit einem unsäglichen Ausdruck von Zärtlichkeit.
Robert und er sprangen zur Erde und fielen Einer dem Andern in die Arme. Dann kam die Reihe an den Indianer, den muthigen Sohn des Kapitän Graut an die Brust zu pressen.
»Er lebt! Er lebt! rief Glenarvan aus.
– Ja, erwiderte Robert, und das dankt er Thaouka!«
Der Indianer hatte diesen Ausdruck der Erkenntlichkeit nicht abgewartet, um seinem Pferde zu danken, und schon sprach er zu ihm und umarmte es, als ob menschliches Blut in den Adern des stolzen Thieres rollte.
Dann wendete er sich an Paganel zurück, und sagte:
»Ein Braver!«
Und indem er die indianische Uebertragüng, den Muth zu bezeichnen, anwandte, fügte Thalcave hinzu:
»Seine Sporen haben nicht gezittert!«
Indessen umschloß Glenarvan Robert mit den Armen und sagte zu ihm:
»Warum, mein Sohn, warum hast Du nicht Thalcave oder mir überlassen, diesen letzten Versuch zu Deiner Rettung zu wagen?
– Mylord, erwiderte der Knabe mit dem Tone der innigsten Dankbarkeit, war nicht die Reihe an mir, mich zu opfern? Thalcave hatte mir schon einmal das Leben gerettet, und Sie, – Sie werden ja meinen Vater retten!«