Jules Verne
Reise um die Erde in 80 Tagen
Jules Verne

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Siebenundzwanzigstes Capitel.

Ein Stück Mormonengeschichte.

Während der Nacht vom 5. auf den 6. November legte der Zug erst südöstlich eine Strecke von etwa fünfzig Meilen zurück; dann lief er ebensoweit nordöstlich und kam in die Nähe des großen Salzsees.

Gegen neun Uhr Morgens schöpfte Passepartout auf dem Steg etwas freie Luft. Es war kaltes Wetter, grauer Himmel, aber es schneite nicht mehr. Die Sonnenscheibe, im Nebel vergrößert, glich einem ungeheuern Goldstück, und Passepartout befaßte sich eben damit, den Werth desselben in Pfund Sterling auszurechnen, als ihm die Erscheinung eines seltsamen Menschen bei der nützlichen Arbeit störte.

Auf der Station Elko war ein Mann eingestiegen, von hohem Wuchs, sehr braun mit schwarzem Schnurrbart; er trug schwarze Strümpfe und schwarzen Seidenhut, schwarze Weste und Hosen, weiße Halsbinde und Handschuhe von Hundsleder. Man konnte ihn für einen Geistlichen halten. Er ging von einem Ende des Zugs bis zum andern, und klebte an jede Waggonthüre mit Oblaten eine handschriftliche Notiz.

Passepartout trat näher und las, daß der ehrenwerthe Aelteste William Hitch, Mormonen-Missionär, seine Anwesenheit beim Zug 48 benützen wolle, um elf Uhr Mittags im Wagen Nro. 117 eine Conferenz über den Mormonismus zu halten, und lade dazu alle Gentlemen ein, die Lust hätten, sich über die Geheimnisse der Religion der »Heiligen der letzten Tage« näher zu unterrichten.

»Ei, da geh' ich hin«, sagte Passepartout, dem vom Mormonismus nichts weiter bekannt war, als die Vielweiberei, als Grundlage der Mormonengesellschaft.

Die Neuigkeit verbreitete sich rasch unter den etwa hundert Reisenden des Zuges, von welchen höchstens dreißig sich anlocken ließen, um elf Uhr auf den Bänken des Wagens Nro. 117 sich einzufinden. In vorderster Reihe dieser Gläubigen sah man Passepartout; weder sein Herr, noch Fix hatten sich wollen stören lassen.

Zu der festgesetzten Stunde erhob sich der Aelteste und rief mit aufgeregter Stimme, als hätte man ihm schon zum Voraus widersprochen:

»Ich sage Euch, daß Joe Smyth ein Märtyrer ist, daß sein Bruder Hyram ein Märtyrer ist, und daß die Verfolgungen von Seiten der Union gegen die Propheten gleichermaßen Brigham Young zum Märtyrer machen werden! Wer wagt's, das Gegentheil zu behaupten?«

Niemand unterstand sich dem Missionär zu widersprechen, dessen Aufregung mit seiner von Natur ruhigen Physiognomie in Widerspruch stand. Allerdings war sein Zorn durch den Umstand erklärlich, daß der Mormonismus eben harte Prüfungen zu bestehen hatte. Und wirklich hatte die Regierung der Vereinigten Staaten soeben, nicht ohne Schwierigkeiten, diese unabhängigen Fanatiker unterworfen. Sie hatte Utah eingenommen und den Gesetzen der Union unterworfen, nachdem sie Brigham Young wegen Rebellion und Polygamie verhaftet und vor Gericht gestellt hatte. Seit diesem Zeitpunkt verdoppelten die Jünger des Propheten ihre Anstrengungen, und leisteten, in Erwartung der That, durch Worte den Forderungen des Congresses Widerstand.

Man sieht, der Aelteste William Hitch suchte bis auf die Eisenbahn Proselyten zu machen.

Und darauf erzählte er mit leidenschaftlich gesteigertem Ton und gewaltsamen Geberden die Geschichte des Mormonismus seit den biblischen Zeiten: »Wie in Israel ein mormonischer Prophet aus dem Stamme Joseph's die Annalen der neuen Religion veröffentlichte und an seinen Sohn Morom vermachte; wie, viele Jahrhunderte später, eine Uebersetzung dieses kostbaren, in ägyptischen Schriftzeichen geschriebenen Buches von dem jungem Joseph Smyth gemacht wurde, einem Farmer des Staates Vermont, der sich im Jahre 1825 als mystischen Propheten kund gab; wie ihm endlich ein himmlischer Bote in einem erleuchteten Walde erschien und die Annalen des Herrn zustellte.«

In diesem Augenblick verließen einige Zuhörer, welche für die zurückblickende Erzählung des Missionärs wenig Interesse hatten, den Wagen; aber William Hitch fuhr fort und erzählte, »wie der jüngere Smyth im Verein mit seinem Vater, seinen zwei Brüdern und einigen Schülern die Religion der Heiligen der letzten Tage gründete, – eine Religion, die nicht allein in Amerika, sondern auch in England, Skandinavien, Deutschland ausgebreitet, unter ihren Gläubigen Handwerker, und auch viele Anhänger aus den höheren Ständen zähle; wie in Ohio eine Colonie gegründet wurde, wie für zweimalhunderttausend Dollars ein Tempel und zu Kirkland eine Stadt erbaut wurde; wie Smyth ein kühner Bankier wurde und von einem Manne, der Mumien zeigte, eine Papyrusrolle erhielt, worauf eine von Abraham und berühmten Aegyptiern eigenhändig geschriebene Erzählung stand.«

Da diese Erzählung etwas langweilig wurde, so lichteten sich die Reihen der Zuhörer noch mehr, und sein Publicum bestand nur noch aus zwanzig Personen.

Aber der Aelteste ließ sich durch dies Ausreißen nicht stören und fuhr fort mit Details zu erzählen, »wie Joe Smyth im Jahre 1837 bankerott wurde; wie seine ruinirten Actionäre ihn mit Theer bestrichen und in Federn wälzten; wie er nach einigen Jahren ehrenwerther und geehrter als jemals zu Independance in Missouri wieder als Haupt einer blühenden Gemeinde auftrat, die nicht weniger als dreitausend Anhänger zählte, daß er aber, vom Haß der Ungläubigen verfolgt, in's weite Westland flüchten mußte.«

Nun waren nur noch zehn Zuhörer anwesend, worunter der brave Passepartout, der mit gespitzten Ohren hörte. So vernahm er denn, »wie nach langen Verfolgungen Smyth wieder in Illinois auftrat und im Jahre 1839 an den Ufern des Mississippi Nauvoo la Belle gründete, dessen Bevölkerung bis auf fünfundzwanzigtausend Seelen stieg; wie Smyth ihr Bürgervorstand, oberster Richter und Obergeneral ward; wie er im Jahre 1843 als Präsidentschafts-Candidat der Vereinigten Staaten auftrat, und endlich zu Karthago in einen Hinterhalt gelockt, in den Kerker geworfen und von einer maskirten Rotte ermordet wurde.«

In diesem Augenblick war nur Passepartout allein noch in dem Wagen, und der Aelteste blickte ihm unverwandt in's Gesicht und suchte ihn mit seinen Worten zu fesseln. So brachte er ihm weiter bei, »zwei Jahre nach Smyth's Ermordung habe sein Nachfolger, der Prophet Brigham Young, Nauvoo verlassen und an den Ufern des Salzsee's sich niedergelassen, und hier, auf dem wundervollen Landstrich, in der so fruchtbaren Gegend, auf dem Wege der Auswanderer, welche durch Utah nach Kalifornien ziehen, habe die neue Colonie, Dank den Grundsätzen der Polygamie, eine ungeheure Ausdehnung gewonnen.

»Und hierin, fuhr William Hitch fort, hierin liegt der Grund der Eifersucht des Congresses! Deshalb haben die Soldaten der Union den Boden Utahs betreten! Deshalb ist unser Haupt, der Prophet Brigham Young, aller Gerechtigkeit zum Trotz eingekerkert worden! Werden wir der Gewalt uns fügen? Niemals! Vertrieben aus Vermont, aus Illinois, aus Ohio, aus Missouri und Utah, werden wir immer wieder einen unabhängigen Landstrich finden, um unser Zelt aufzustecken.... Und Sie, mein Getreuer, fuhr der Aelteste fort, den zornigen Blick auf seinen einzigen Zuhörer geheftet, werden Sie das Ihrige unter'm Schutz unsers Banners aufschlagen?

– Nein«, erwiderte Passepartout tapfer, entfloh ebenfalls und ließ den Besessenen in der Wüste predigen.

Aber während dieser Unterhaltung war der Zug reißend schnell weiter gefahren und gelangte um halb ein Uhr an die nordöstliche Spitze des großen Salzsee's. Von hier aus konnte man in weitem Umkreis das innere Meer überblicken, welches auch Todtes Meer genannt wird, mit einem hineinfließenden Jordan. Ein wundervoller See, eingefaßt von schönen, wilden, breitgeschichteten Felsen, die mit weißem Salz überzogen sind, mit prächtigem Wasserspiegel, der vormals einen größern Umfang hatte; aber mit der Zeit, da er allmälig stieg, sind seine Ufer zurückgetreten, und es wurde seine Oberfläche kleiner, seine Tiefe größer.

Der Salzsee ist etwa siebenzig Meilen lang, fünfunddreißig breit, und liegt dreitausendachthundert Fuß über dem Meeresspiegel. Sehr verschieden von dem Asphaltsee, der zwölfhundert Fuß niedriger liegt, ist er von bedeutendem Salzgehalt, und sein Wasser enthält den vierten Theil seines Gewichts an festem Stoff in Auflösung. Das specifische Gewicht desselben beträgt eintausendeinhundertundsiebenzig gegen eintausend des destillirten Wassers. Daher können auch Fische nicht darin leben; die vom Jordan, Weber und andern Flüßchen hineingeführten kommen bald darin um; aber unbegründet ist die Angabe, sein Wasser sei so dicht, daß ein Mensch darin nicht untersinke.

Um den See herum war das Feld zum Staunen wohl bebaut, denn die Mormonen verstehen sich auf den Landbau: Meiereien und Stallungen für Hausthiere, Korn-, Mais- und Hirsenfelder, üppiges Wiesenland, überall wilde Rosenhecken, Akazien- und Euphorbiengebüsch, solchen Anblick hätte diese Gegend sechs Monate später gewährt; aber in dem Augenblick war sie mit einer leichten Schneedecke verhüllt.

Um zwei Uhr stiegen die Reisenden bei der Station Ogden aus. Da der Zug erst um sechs Uhr weiter ging, so hatten Herr Fogg, Mrs. Aouda und ihre beiden Begleiter Zeit, auf der kleinen Bahnstrecke, welche hier abzweigt, sich in die Stadt der Heiligen zu begeben. Zwei Stunden genügten, um diese durch und durch amerikanische Stadt zu besichtigen, die nach dem Muster aller Städte der Union gebaut ist, ein ungeheures Damenbrett mit kalten Linien in traurigen Rechtwinkeln. Der Gründer der Stadt der Heiligen konnte sich dem Bedürfniß der Symmetrie, welches die Angelsachsen kennzeichnet, nicht entziehen. In diesem sonderbaren Lande, wo die Menschen nicht ebenso vorzüglich sind wie die Institutionen, macht sich alles »viereckig«, die Städte, die Häuser und die Dummheiten.

Um drei Uhr wandelten also die Reisenden durch die Straßen der Stadt, welche zwischen dem Jordanufer und den ersten Hügeln des Wahsatchgebirges liegt. Sie bemerkten darin wenig oder keine Kirchen, aber als Monumente das Haus des Propheten, das Gerichtshaus und das Arsenal; sodann Häuser von bläulichem Ziegelstein mit Verandas und Galerien, von Gärten und von Reihen Akazien-, Palm- und Johannisbrodbäumen umgeben. Eine im Jahre 1853 erbaute Mauer von Thon und Kieseln lief um die Stadt. In der Hauptstraße, wo auch der Markt gehalten wird, standen einige mit Fahnen gezierte Gasthöfe, unter anderm das Salzseehaus.

Herr Fogg und seine Begleiter fanden die Stadt nicht sehr bevölkert. Die Straßen waren fast menschenleer, – ausgenommen jedoch die Gegend des Tempels, wohin sie erst kamen, nachdem sie mehrere mit Palissaden umgebene Quartiere durchwandert hatten. Die Frauen waren sehr zahlreich, was aus der eigentümlichen Einrichtung des Hausstandes der Mormonen erklärlich wird. Doch muß man nicht meinen, alle Mormonen hätten mehrere Frauen. Man ist frei, aber zu merken ist, daß besonders die Bürgerinnen von Utah darauf versessen sind, verheiratet zu sein, weil den Religionsbegriffen des Landes nach die unverheirateten Frauen nicht in's Himmelreich kommen. Diese armen Geschöpfe schienen weder glücklich noch im Wohlstand zu leben. Einige, ohne Zweifel die reicheren, trugen eine schwarzseidene Jacke, die oben offen war, unter einer Kapuze oder sehr bescheidenem Shawl. Die anderen hatten nur Indianertracht.

Passepartout als Junggeselle von Ueberzeugung sah nur mit einem gewissen Schrecken, wie es diesen Mormonenweibern oblag, gemeinsam mit andern das Glück eines einzigen Mormonen auszumachen. Seinem gesunden Verstand nach war der Mann besonders zu beklagen. Es schien ihm eine schreckliche Aufgabe, so viele Frauen miteinander durch die Wechselschicksale des Lebens zu geleiten, sie also truppweise zum Mormonenparadies zu führen, mit der Aussicht, sie dort für ewig in Gesellschaft des glorreichen Smyth wieder zu finden, welcher die Zierde dieses Ortes der Seligkeit sein mußte. Dazu fühlte er sicherlich keinen Beruf in sich, und er fand – vielleicht täuschte er sich hierin – daß die Bürgerinnen der Great-Lake-City etwas beunruhigende Blicke auf ihn warfen.

Glücklicherweise sollte er in der Stadt der Heiligen nicht lange verweilen. Einige Minuten vor sechs Uhr fanden sich die Reisenden wieder auf dem Bahnhof ein, und nahmen Platz im Waggon.

Man hörte das Pfeifen; aber im Augenblick wie die über die Schienen gleitenden Räder der Locomotive den Zug in Gang brachten, ließ sich der Ruf: »Halt! Halt!« vernehmen.

Ein Zug, der einmal in Bewegung ist, läßt sich nicht einhalten. Der Gentleman, welcher diesen Ruf hören ließ, war offenbar ein Mormone, der sich verspätet hatte. Er lief, daß ihm der Athem ausging. Zu seinem Glück war der Bahnhof ohne Thore und Schlagbaum. Er stürzte über den Weg, sprang auf die Einsteigtreppe des hintersten Wagens, und sank athemlos auf eine der Sitzbänke.

Passepartout, der mit Besorgniß dieser Gymnastik zugesehen hatte, betrachtete den verspäteten Mann, an welchem er lebhaften Antheil nahm, als er hörte, dieser Bürger von Utah habe nach einer häuslichen Scene die Flucht ergriffen.

Als der Mormone wieder bei Athem war, wagte Passepartout ihn höflich zu fragen, wieviel Frauen er habe, er allein, – und aus der Art, wie er flüchtig geworden, vermuthete er, es müßten wenigstens zwanzig sein.

»Eine, mein Herr, erwiderte der Mormone, und hob die Hände zum Himmel, eine, und daran übergenug!«


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