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VI

Ich habe einen Feind.

Hier. Im Spital. Ja ja! Man höre nur.

Herr Leconte de Lisle hatte mir schon die Ehre und das Vergnügen erwiesen und erweist mir noch immer die Ehre und das Vergnügen, mich zu verabscheuen –warum? weil ich der erste war, der ihn gleich nach seiner Dekoration vom 15. August in den letzten Tagen der Kommune wiedersah; damals ließ er sich den Bart wachsen und haßte mich wie die Pest, weil ich auf meinem Rathausbureau in der Stellung geblieben war, die ich seit sieben Jahren inne hatte. Hat die Seele der Anbeter des Apisstiers und aller wedischen Kühe und anderer antiken Kuriositäten jemals so viel Galle in sich angesammelt? Nie hat er, wie man zu sagen pflegt, mich riechen können, und das ging so weit, daß er vor Zeugen, die es mir natürlich hinterbrachten – denn es ist nicht viel länger als ein Jahr her –, in einem Gespräch über mich sagte: »Merkwürdig, der Kerl lebt noch immer! Der wird, scheints, nie sterben, wenn nicht auf dem Schafott!«

Ganz wie eine alte Tante ihren verdorbenen und verliederten Neffen brandmarkt.

Einer meiner ehemaligen Professoren vom Bonaparte-Lyzeum, Lycée Bonaparte. das später Lycée Fontanes getauft wurde und jetzt Lycée Condorcet heißt, ein Herr Perrens, Verfasser verschiedener Schriften über Savonarola, wenn ich nicht irre, der mir mehr als einmal tüchtige – übrigens auch reichlich verdiente – Strafarbeiten diktiert hat, fand kürzlich Gelegenheit, mit einigen meiner Freunde über mich zu sprechen, und zog da gegen mich im besondern und die Dekadenten im allgemeinen los, für deren »Oberhaupt« er mich hielt. – »Ich habe die ›Soirées des de Médan‹ nie zu Ende lesen können«, fügte er als Beweis hinzu.

Auch die Frauen – ach! aus den gewöhnlichen Gründen! – und dann vielleicht noch irgendein kompromittierender, wenn auch unbewußter Nachahmer des großen und teuren Mallarmé, bringen mir nichts weniger als zärtliche Gefühle entgegen. Aber weder Schulfüchse irgendwelcher Kategorie noch mehr oder weniger interessante verlassene Ariadnen noch die kleinen verkannten Genies des sprachlichen Ausdrucks und des Rhythmus, so ergötzlich sie auch sein mögen, haben mir in den verschiedenen Kundgebungen ihres Übelwollens so viel Spaß gemacht wie das Tier, das ich jetzt bitte Ihnen in Freiheit dressiert vorführen zu dürfen.

Ich würde ihm verzeihen und nichts über ihn sagen, wenn es einer meiner lieben Kollegen in derselben prekären Lage wäre (ist nicht – man munkelt es weit und breit – unsere Lieblingssünde der Neid?) oder ein wackerer, reichlich bornierter Arbeiter, ein wenig ungeschliffen und großsprecherisch, oder irgendein Bauer aus dem weiteren Umkreis von Paris, oder auch irgendein typischer Straßenbengel, einer von denen, die man manchmal in den Spitälern antrifft, halb Zuhälter, halb Räuber; aber nein! nicht eins noch das andere ist mein Typ, vielmehr ein biederes »Mädchen für alles«, ein Taugenichts, der sich in den gesetzlichen Grenzen hält, für einen Tagelöhner sich ausgebend unter widerrechtlicher Aneignung dieses Titels, der Kraft und Mut in sich begreift, ob sein Inhaber nun Lastträger in der Markthalle oder umherziehender Obst- und Gemüseverkäufer ist, je nach der Jahreszeit, oder sonst etwas – ein Voltigeur in leichten und mehr als oberflächlichen Künsten, ein Hilfskellner in den Montmartre-Nachtkneipen, die man euphemistisch »Cafés« nennt, und in den Garküchen, die sich proprio motu als »Restaurants« aufspielen, ein Kontrolleur in den elenden Singspielhallen der Provinznester des Canton Seine-et-Oiseux = »Müßiggänger-Bezirks« (Seine-et-Oise); boshaftes Wortspiel! – übrigens auch Kommissar bei gewissen mehr vorstädtischen oder halbprovinzlerischen Zivilbegräbnissen, außerordentliches Mitglied von nicht bestehenden Gesangvereinen und Schellenbaum einer Janitscharenmusik. von so lokalem Geklinge, daß es dem Kataster entgeht, mit einem Wort: der geschäftige Müßiggänger, wie er im Buche steht, und der Wichtigtuer des lärmenden Nichts ...

Er ist häßlich, sein Gesicht eckig und von jämmerlich roter Färbung, seine Zähne sind angefault, dazu grausam blaue Triefaugen, ein Bart wie ein verschimmelter Klosettbesen, erbärmlich, aber nicht ohne die Prätension früherer Schönheit (der Edle ist schon nah an vierzig), und eine schleppende, silbenverschluckende, eher bauernmäßige als städtische Aussprache. Auch ist er kein eingebildeter Kranker, das wäre zu wenig gesagt, und kein Simulant, das wäre zuviel gesagt, nein, ein Kranker aus ernstlicher Absicht, wie mir scheint. Zu einer Kalte-Milch-Kur verurteilt, läßt er einen Teil seiner Milch heimlich abkochen – das geht frühmorgens auf dem Bureau ganz leicht (wo Tag und Nacht ein tüchtiges Feuer brennt) –, macht sich eine gute warme Suppe und gibt sie sogleich wieder von sich, in die Schüssel, die dem Chefarzt bei dessen Besuch um neun Uhr gezeigt werden muß; ist der Magen auf diese Art hübsch entlastet, dann verzehrt er in vorschriftsmäßig eisgekühlte Milch getunkte Zwiebäcke. So schafft man sich zwar einen schlechten Magen, aber auch gute Spitalmonate und freut sich über den gelungenen Streich.

Kaum hatte mich der diensttuende Assistenzarzt, den ich schon kannte, in den kleinen Saal mit sechs Betten geführt, wo das Zuckersöhnchen lag (wir, meine Stubengenossen und ich, haben ihm diesen ironischen Spitznamen gegeben), da begann der Edle auch schon fast laut, deutlich und vernehmbar gegen diese »Vergünstigung« aufzubegehren – gewöhnlich werden nämlich die Neuangekommenen vom Diener des Einschreibbureaus hereingeführt und dann von der Aufseherin untergebracht. Mein ungezwungenes Benehmen und mein sofort familiäres Geplauder mit diesem und jenem, sobald ich mit meinen neuen »Schlafkameraden« allein war, schienen ihn zu verwundern, und zwar mehr im günstigen Sinne; dann aber erregten die Schmöker und die Zeitungen und Zeitschriften, die ich auspackte, eine eher übelwollende Neugier bei ihm. Er nahm die Witterung von mir und hielt sich sozusagen in der Defensive, der Schafskopf, dem ich von Anfang an für einen Abenteurer galt! Er sondierte mich nach meinem Metier, und als ich ihm antwortete, ich hätte keins, mißfiel ihm diese meine Offenheit, weil sie ihm verletzend und einigermaßen anzüglich vorkam; wie eine Bombe aber explodierte seine Feindseligkeit, als ich die ersten Besuche erhielt. Die Zylinderhüte und die für ihn geheimnisvollen Reden meiner Freunde brachten ihn vollends in Wut, und da ich mit einer ziemlichen Anzahl von Leuten bekannt bin, die eine freundliche Sympathie für meine Schriften hegen, ließ ihre etwas respektvolle Haltung und Redeweise – obschon ich regelmäßig im Gespräch einen möglichst leichten und gemütlichen Ton anschlage – und der manchmal recht überschwengliche Ausdruck ihrer Sympathien in diesem verworrenen Kopfe ein undefinierbares Gefühl sich regen, eine Mischung von Neid, Neugier, gehässiger Indiskretion und allen Etceteras der abgeschmackten Trivialität!

Er versuchte zunächst, mir durch Bosheiten hinter meinem Rücken zu schaden, die mir getreulich wiedergesagt wurden, übrigens von den im allgemeinen kreuzbraven Leuten meiner Spitalumgebung; er versuchte es sogar mittels nach Übelwollen schmeckender Bemerkungen dem Personal gegenüber; dann lüftete er die Maske, nach einigen Versuchen, sich mit mir über Persönlichkeiten zu unterhalten, die er – wer weiß durch welchen Zufall – wirklich kennengelernt hatte, sowie über Angelegenheiten dieser Leute, die ihn nichts angingen, was ich bald nicht umhin konnte ihn fühlen zu lassen; er verlegte sich auf erst indirekten, dann direkten Schabernack, als da waren das Schließen oder das Öffnen von Türen, je nachdem es mich ärgern konnte, zweideutige Redensarten von den »unverstandenen Dichtern« und den »Bohémiens« und den »Protektionskindern«, oh! vor allem von den Protektionskindern, die nicht so fast krank seien als darauf erpicht, den armen Leuten das Brot wegzufressen, nachdem sie sich von deren Schweiß gemästet hätten. Das alles, bis ich zornig wurde und ihm antwortete, wie er es verdiente, und manchmal noch darüber hinaus.

Hierauf ging er über zu einer klagenden Sauersüßlichkeit und zu bösartigen Machenschaften von ganz heimtückischer Sorte. Da der Charakter des Wichts den andern Kranken ganz ebenso unbequem wurde, und diese wie ich selbst mit keinem Wort mehr auf seine gallige oder altweibermäßige Laune reagierten, ließ er uns bald in Ruhe; aber seine Rachsucht (du lieber Himmel! welchen Grund hatte er dazu?) schlug einen neuen Weg ein, der darin bestand, überall herumzuschwätzen, daß ich ein erbärmlicher Klerikaler sei, ein »Bonapartist«, unwürdig, auf Kosten der wirklich allzu gutmütigen R. F. zu leben! – ich hatte nämlich, bei mehreren Anlässen, den lieben Gott ganz leise gegen diesen Kretin verteidigt und sogar – welch ein Verbrechen! – einige – wenn auch sehr bescheidene – boulangistische Anwandlungen an. den Tag gelegt...

Schließlich hat man jetzt, nach später Entdeckung des Tricks mit der aufenthaltverlängernden Brechschüssel, diesen reinsten Typ eines Spital-batteur = Gauner. oder wenn man will Spital-pilon = Stößer eines Mörsers. zum Teufel geschickt. Die zwei Ausdrücke stammen aus dem echtesten Spezialargot, und ich empfehle sie unseren für notorische »Echtheit« begeisterten Romanschriftstellern.

Die Moral von alledem ist, daß Madame L'Envie, im Sinne der Invidia wie auch im andern Sinne, überall sich einnistet, und daß ihr Platz nicht bloß, wie man bei der Intensität ihres Ausdrucks meinen sollte, auf dem Lehrstuhl der Hochschulen, im Fauteuil des Akademikers oder auf dem Kanapee der Bürgersfrau und der Kokotte, nein, auch auf dem Plüschdiwan irgendeiner »intellektuellen« Bierkneipe ist – und daß es für die Menschheit, so wenig sie auch nachzudenken pflegt, einen Trost bedeutet, daß irgendein Wagentüröffner oder einer, der nach weggeworfenen Zigarrenstummeln oder verlorenen Münzen sucht, daß der erste beste Verkäufer von Kontrollbilletts e tutti quanti an Gift und Galle nichts nachgeben – dem Herrn Leconte de Lisle zum Beispiel.


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