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Das ist auch der P.-L.-M.-Gesellschaft Paris–Lyon–Marseille. (Préparez Les Menottes! = Handfesseln bereit halten! (Buchstabenwitz.)) vorzuwerfen, die mit ihren Bummelzügen durch die ganze Bourgogne befördert und sie an allen Stationen halten läßt! Stationen wie Vougeot, wie Beaune, wie Mâcon, wie so viele andere, wie alle miteinander, ach du lieber Gott!
Und in Mâcon sind zwei Stunden Aufenthalt nach weiß der Himmel wie vielen Jahrhunderten Waggongefangenschaft, kaum unterbrochen von kleinen Entwischungen, die knapp zuließen
»Die tugendsame Zeit von ein, zwei Glas«
(wie ungefähr Coppée einmal gesagt hat), seit wir dieses unselige Paris verließen, das sich ungern zu entfernen scheint, wenn man sich selbst von ihm entfernt, in wenigstens für den Augenblick sehr gehobener Stimmung, mit der naiven und stürmischen Freude eines Schülers, der in die Ferien zieht.
Also, ein Dichter (es gibt noch welche), und dieser hier ist alles, was man vom Neusten und Besten nach der letzten Mode, kurz als erfolgreichsten Artikel liefern kann! Arm wie Hiob, recht stolz, gutmütig und ungestüm und trotz allen Anscheins und Geredes nicht das, was man einen Bohémien nennt, mag man ihn nun von der Nähe oder aus der Ferne besehen. Sein Abscheu vor den literarischen Bierrestaurants gleicht nur seinem bißchen Abneigung gegen das Spital, wenn er krank ist, was ihm oft genug passiert, seit er vierzig Jahre und mehr auf dem Buckel hat! Ja, er wurde jetzt sogar von den Höhen eines dieser zeitgemäßen Parnasse herab wegen seines Rheumatismus nach dem wunderwirkenden Aix-les-Bains geschickt, von der Fakultät, die eifersüchtig darüber wacht, daß diesem unseren »fin de siècle« eine so überzeugungstreue Feder erhalten bleibe.
Unser Mann versäumte nicht, von einigem Durst unterstützt – komisch, daß man immer Durst hat, namentlich wenn man nicht durstig ist – auszusteigen, um als munterer Vergnügungsreisender, wenn auch nicht als vorsichtiger Patient die offenen Weine zu proben, die auf der Strecke – an Büfetten und Trinkständen – von verhältnismäßig gewissenhaften Verkäufern angeboten werden; er tat das so fleißig, daß ihm in Mâcon (wo alles aussteigt) heiß war und er an die Saône lief, deren reißende Strömung ihn vor der Versuchung bewahrte, ein Bad zu nehmen, wogegen er an ihrem Strand der Statue des sturmumtobten Lamartine seine pflichtschuldige Reverenz machte! Was für prächtige Stiefel, und was für ein schöner Mantel! Reflexionen über die behagliche Tracht der Dichter illo tempore beschäftigten ihn ein paar Augenblicke, aber es regnete (und die Saône dazu, wieviel Wasser, wieviel Wasser!).
Die Flucht in ein benachbartes Kaffeehaus war nicht abzuweisen. Er trank dort statt eines Appetitschnapses (pfui über den Schweizer Pernod und den überrheinischen Bittern!) eine ganze Flasche jenes köstlichen französischen Weins, den der edle Dichter so sehr geliebt und mit dem er, wie es heißt, auch nicht ohne Profit ein wenig gehandelt hat: und, o Malheur! da war man auch schon wieder, nach diesem Trankopfer für die Manen des Ruhmgekrönten, in diese und jene Träumereien über die goldene Zeit versunken, wo die Poeten noch Kapitalisten waren.
Alle diese Überlegungen versetzten den Träumer, trotz eines leidlichen und entsprechend begossenen Mittagsmahles, in einigermaßen düstere Stimmung. Sein in der Regel offenes und eher heiteres Gesicht verfinsterte und runzelte sich mehr und mehr, bis es sich endlich in vollster Harmonie befand mit dem Anzug, den er trug, einem mausgrauen Zeugs, das da und dort wenig elegante Einzelheiten aufwies: einen abgerissenen Knopf, diverse fadenscheinige Stellen an den Knopflöchern und klaffende Risse an den Nähten. Selbst sein weicher Hut schien sich seinen traurigen Gedanken anzupassen, indem er seine aus der Form gegangene Krempe rund um den Kopf herabsinken ließ als eine Art schwarzer Aureole für diese Sorgenstirn.
Sein Hut! der doch zuzeiten auch seinerseits vergnügt ist und launenhaft wie eine sehr brünette Frau, bald ganz rund und naiv, als gehörte er einem kleinen Jungen aus der Auvergne oder aus Savoyen, bald mit eingedrücktem Kegel nach Tiroler Art und keck aufs Ohr gesetzt, dann wieder so drollig fürchterlich, daß man die Kopfbedeckung eines italienischen Banditen zu sehen glaubt: das Unterste zu oberst, rechts die Krempe hinauf und links hinunter, das Vordere als Visier und das Hintere als Nackenschützer; oder auch wieder korrekt und flach mit einer niedlichen kleinen Rinne rund um das Scheitelkäppchen – sein schicksalverkündender Orakelhut, dem er mit gutem Humor den Beinamen »Hut des Infortunatus« gab, sein Spitzbube von Hut, den noch vor kurzem die allerschönste Rita, die Blume von Brasilien, aufgeblüht am Herzen der gütigen Dichter, mit einem Moiréband schmückte, das aber doch nicht so schön schimmert wie ihr dunkles Haar!
Und düster wie die hereingebrochene Regennacht war seine Ankunft in Aix, wo er, aus dem verstaubten Vehikel der unheilvollen P.–L.–M. (Poursuivez Le Malfaiteur!) Haltet den Verbrecher! – Gesellschaft gestiegen, ein Hotel suchen mußte.
Fand er es, dieses Hotel, und nach welchen wahrscheinlich unschuldigen Abenteuern?
Erinnert er sich daran, und wer kann es sagen? ...
Immerhin steht fest, daß man ihn tags darauf, ungefähr um die Mittagszeit, wieder zu sehen bekommt, wie er sich an eine respektable Landlady wendet und ein Zimmer von ihr verlangt.
»Es ist keines frei, mein Herr.«
»So!«
Und erinnert sich der Dichter, daß er, ohne sich ihretwegen mehr zu beunruhigen, als sie sich um ihn bekümmerte, hinaufstieg, um die Tatsache festzustellen, oder aus einem ganz anderen Grunde?
Erinnert er sich daran, und wer kann es sagen?
Wie er dann nach kurzer Zeit auf einer Stiege – sehr gut, meiner Treu! – wieder herunterkommt und sich mit seinem kranken Bein anschickt, die ungastliche Schwelle zu verlassen, ruft die Dame des Hauses, ganz erstaunt, ihn wiederzusehen:
»Halt, Sie!«
(Der Dichter ist nämlich Polyglotte.)
»Woher kommen Sie denn?«
»Ich weiß nicht .. von da droben!«
»Genug, mein Herr. Ich lasse den Polizeikommissar kommen!«
»Faisez.« statt »Faites« (= Gut, lassen Sie ihn kommen).
(Der Dichter spricht nämlich ein schlechtes Französisch, wenn er will und wenn er kann, wenn die Umstände ihn dazu reizen, wie in diesem Fall. Und dann ist vielleicht auch ein bißchen Aufschneiderei dabei.)
Und indem er sich auf eine Bank im Vorzimmer setzte, sagte er:
»Sie erlauben?«
Die Pensionsinhaberin gab keine Antwort, aber sie analysierte die Toilette des Eindringlings. Weit weniger als die Allüren und die Art, wie er diese Toilette trug, schien das Stoffliche, sozusagen das Wesentliche des Anzugs bei ihr Anstoß zu erregen, dieses Anzugs, der doch für ihre vom Pschütt, Schick und Modenarrentum der großen Badeorte verwöhnten Augen ganz neu war.
Der Hut hatte sicher ihren Beifall, die Regelwidrigkeiten der Kleidungsstücke ditto, was sie aber am meisten in Staunen setzte, war, fürcht ich, ein gewisser Kaschmirschlips, im Farbenmuster an die Kirchenfenster des dreizehnten Jahrhunderts gemahnend und um den Hals mit aller Ungeniertheit geknüpft, wenn auch ohne den feinen Anstand der guten Gesellschaft.
(Der Dichter ist nämlich ein Dandy.)
Endlich erschien der Polizeikommissar. Beginn des üblichen Verhörs; der Dichter aber sprach:
»Madame ist ohne Zweifel an berühmte Gäste gewöhnt. Ich bin nicht die Königin von England noch der König von Griechenland, ja nicht einmal der General Boulanger. Trotzdem werden Sie zugeben, Herr Kommissar, daß ich ein Recht darauf habe, ich, der ich ja auch nicht ›des Menschen Sohn‹ bin, mein Haupt irgendwo niederzulegen auf dieser Erde, die noch nicht das Himmelreich ist.«
Der Kommissar:
»Haben Sie Papiere?«
»Hier sind sie.«
»Sehr wohl; aber Madame beschuldigt Sie, daß Sie, obwohl sie Ihnen gesagt hat, daß kein Zimmer zur Verfügung stehe, hinaufgegangen seien, um ...«
»Um das Mobiliar fortzutragen?«
»So etwas Ähnliches.«
»Ah bah!«
Und indem er eiligst sein Jackett auszog, nicht ohne trotz allem einige tiefinnerliche und rein ästhetische Befriedigung darüber zu empfinden, daß er einen Moment lang für einen Nacheiferer des großen François Villon gelten konnte (und zwar in einem wichtigen Punkte), fuhr der Dichter fort:
»Sehen Sie selbst, Monsieur, Vide, Thomas – kehren Sie meine Taschen um!«
»Sufficit«, reagierte der Polizeikommissar als Mann von Esprit. »Sie sind an Herrn Doktor * * empfohlen. Gehen wir zu ihm.«
Und er rief einen offenen Wagen heran, einen »Landauer«, ganz wie für einen hohen Würdenträger der Republik oder einen königlichen Gast oder gar einen Kronprätendenten ...
Die Pensionsinhaberin zum Dichter:
»Entschuldigen Sie, mein Herr .. mein Gott, ich hielt Sie für einen Dieb!«
»O bitte, hat nichts zu sagen.«
Aber wie fühlte er sich doch im Grunde geschmeichelt, von wegen Villon, daß man ihn für einen Gauner halten konnte! Bei seinem wenig lamartinemäßigen Gesicht war er ja wohl dann und wann für dies und jenes gehalten worden, unter anderm auch einmal für einen Meuchelmörder. Nur weil es sich beim Verhör herausgestellt hatte, daß der Schuldige schon kurz vorher guillotiniert worden war, wurde »in Erwägung dessen« von der Verfolgung der Sache abgesehn. Aber für einen Dieb genommen zu werden, das war schon was ganz Feines.
Und da hat nun ein Mensch das Herz voll Wonne, und zwar bei ganz hellem Kopfe, denn war er etwa betrunken?
Erinnert er sich daran, und wer kann es sagen?
Doch da hielt der Landauer vor der Freitreppe des Hotels.
Der Kommissar: »Bitte, wollen Sie nur einsteigen. Der gute Doktor wird schön überrascht sein von einer solchen behördlich eskortierten Ankunft in unserer Stadt!«
Die Dame des Hauses, grinsend übers ganze Gesicht:
»Bitte nochmals um Vergebung, mein Herr – aber Sie sind so drollig angezogen ...«
Und der Dichter, jetzt in seiner besonderen Art von Dandy-Eitelkeit gekitzelt, verabschiedete die gute Frau mit einer graziösen Handbewegung, um die ihn selbst Karl X. und Lamartine beneidet hätten.
»Doktor,« sagte er, als der Wagen sie zu dem Arzt gebracht hatte, »ich bins, der und der, empfohlen von Dr. * *, und gestatten Sie mir, mich vorzustellen, der Fall ist nämlich glorios wie kaum ein anderer, glorios und selten! ›Unter der Ägide des Gesetzes‹, Mossieu!«
Bitte die Sprachschnitzer des Autors zu entschuldigen.