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Meine Gefängnisse

Übersetzt von Johannes Schlaf


1

Rue Chaptal. Dicht bei der Ecke der Rue Blanche, von Notre-Dame-de-Lorette aus rechts. Ein monumentales eisernes Gittertor, das auf einen gepflasterten Hof und zum Speisesaal der Pension L... führt. Rechter Hand eine kleine Tür, die den Zutritt in das Institut gewährt. Auf jeder Seite eine schwarze Tafel, auf der mit goldenen Lettern die unterschiedlichen Wissenschaften und Künste verzeichnet stehen, die hier gelehrt werden. Eine mächtige Mauer. Endlos lange Tafeln daran mit dicken, vom Wetter halb verwaschenen amtlichen Schriftzeichen. Sie sind für Erlasse bestimmt, die sich auf die und die Gesetze aus den und den schon sehr lange vergangenen Jahren berufen. Und hinter dieser Mauer, etwa anderthalb Meter sie überragend, die niedrigen Klassen- und Schlafräume.

Alles das seit fünf oder sechs Jahren verschwunden und ersetzt durch, wohlzumerken, schöne sechsunddreißig Etagen hohe Mietskasernen, Zwischenstock nicht mitgerechnet.

Dort begannen – es ist nun schon lange her – meine »Studien«, nachdem ich zuvor in einer kleinen Elementarschule schon lesen, schreiben und schlecht rechnen gelernt hatte.

Ich besuchte die siebente Klasse des Lyzeum Bonaparte, wohin wir von der Pension aus zweimal am Tage geführt wurden; weil ich aber einer Bräune wegen den Unterricht versäumt hatte, mußte ich nachholen, und es war Direktor L..., der uns – denn wir waren unser mehrere, darunter ein paar Faulpelze, zu denen ich noch nicht gehörte –, die Anfangsgründe des Lateinischen einpaukte; manchmal unter Aufbietung all seiner Geduld und auch dann noch vergeblich, wie folgendes bündig dartun mag.

Rosa, die Rose, war mir noch nicht allzu mystisch. Puer bonus, mater bona …, pensum bonum auch noch nicht. Auch hatte ich, obschon nicht ohne Straucheln, den gefährlichen Übergang des qui, quae, quod bestanden und war – im voraus schon mit Grauen auf das einschränkende que und die Klippen einer glücklicherweise noch fernen Syntax gefaßt – bei der zweiten Konjugation der aktiven Verba angelangt.

Eines Tages kam dann aber auch legere an die Reihe.

Ich sehe das Spektakel jener für kaum der Muttermilch entwachsene Jungen so herzhaft langweiligen Vormittage noch wie heute vor mir.

Ein Zimmer mit einem umfänglichen Schreibtisch, einem Mahagonisofa mit Rückenlehne, einem lederbezogenen Lehnsessel, einer Bank und einem Tisch mit Löchern für die Tintenfässer zum Gebrauch für uns »Zöglinge«. Ab und zu wurde der Unterricht durch den Eintritt eines Tambours der Nationalgarde unterbrochen, der, die schwarze Dienstmütze mit der karierten Tresse und der rot und weißen Eichel auf, irgendwelchen Bericht überreichte, unter den unser Meister in seiner Eigenschaft als Kapitän-Adjutant seine Unterschrift setzte, worauf der Tambour unter einem militärischen Gruß, den Direktor L.... damit erwiderte, daß er sein mit blauseidenen Ranken verziertes Samtkäppchen lüftete, wieder verschwand.

An diesem Tage hieß es:

»Verlaine, konjugiere legere

» Lego: ich lese; legis: du liest« usw.

»Gut! Das Imperfektum?«

» Legebam: ich las« usw.

»Richtig! Das Präteritum?«

Ich, kaum mit der ersten Konjugation zu Rande gekommen:

» Legavi.«

» Legavi?«

» Lexi«, pustete mir, im besten Glauben von der Welt, einer meiner Kameraden zu, der »beschlagener« war als ich.

Darauf ich, meiner Sache sicher:

» Lexi, Herr!«

» Legavi?! Lexi?!« heulte unser Meister buchstäblich auf, steil in seinen Filzsocken aufgerichtet, puterrot, wutschäumend, während sein marineblauer, wattierter und rotgefütterter Schlafrock ihm um die dürren, rheumatismusgeplagten Beine flog; und ein aus aller Kraft geschleudertes Schlüsselbund schlug links von meinem Kopf, den ich, die Schultern hochgezogen, mit beiden Händen schützte, gegen die Wand; ihm, ungefähr von der Dicke eines Adreßbuches, das Wörterbuch von Noël und Quicherat auf der Stelle nach, um rechts von meinem Kopf gegen gedachte Wand anzuplatschen. Eine doppelte, immerhin aber wohl beabsichtigte Ungeschicklichkeit.

Und dann ein paar Schritte, die von einem diesmal wohl aufrichtigen Zorn bebten.

»Ins Karzer, Mosjö!«

Die Glocke schrillte, und es erschien der Schuldiener. (Eigentlich der Hausknecht, der so halb und halb »Mädchen für alles« war; er trug den Spitznamen »Dochtpuster«, weil er die Lampen für den Abendunterricht anzündete.)

»Bring diesen Faulpelz ins Karzer!«

Und da steck ich im Karzer und habe schriftlich zehnmal legere durchzukonjugieren, mit dem französischen Text daneben. Übrigens ein ganz erträgliches, helles Arrestlokal, ohne Ratten, Mäuse und Riegel (bloß einmal den Schlüssel 'rum), mit einer Sitzgelegenheit und einer weniger bequemen zum Schreiben; das ich nach zwei Stunden wieder verlassen durfte, wahrscheinlich nicht gescheiter als vorher, aber sicher mit einem nur zu herzhaften Appetit, einer Liebe zur Freiheit, jener guten, die, ach! gleichbedeutend mit Unabhängigkeit ist, und, wer weiß? jenem Abenteuergeist, der mich dann wohl – nur zu bald – in schlimme Sachen der unterschiedlichsten Art verwickelt hat! …

Welche Eindrücke diese Gefangenschaft im kleinen mir gab? Das vermag ich freilich in diesem Zeitpunkt meines reifen Alters, nach so vielen Jahren und nachdem so viele ernstlichere Riegel sich aus was alles für Ursachen, deren Anzahl die obenerwähnte Konjugation sicher gründlich erschöpfen würde, hinter meiner persönlichen Freiheit geschlossen haben, nicht mit Bestimmtheit zu sagen; und ich vermag nicht zu sagen, ob die schlichte Anekdote, die ich da eben erzählt habe, nicht ein zufälliges Symbol war. Oder bedeutete sie damals nicht eine Vorausahnung von Unglücksfällen, die ich gerade der Literatur verdankte? Stempelte sie nicht bereits meine Kindheit mit dem verhängnisvollen Wort des abscheulichen, köstlichen Vallès: »Opfer des Buches« oder für diesmal auf gut lateinisch: legi?

2

Nun, und dies geschah …

1870 im Monat Dezember. Ich war Nationalgardist des 160. Bataillons, im – ich weiß nicht wievielten – gegen Montrouge und Vanves hin gelegenen Bezirk. Übrigens versah ich schon lange den Posten eines Sekretärs der Seine-Präfektur; ein Amt, das mich jedweden militärischen Dienstes enthoben hätte, wäre nicht mein Patriotismus gewesen (ein, unter uns gesagt, in jenen Tagen des Belagerungsfiebers grassierender Fall, dem mehr als ein Pariser unterlag). Eine gewisse Vorliebe für die Uniform – und was für eine Uniform! –, auch wohl Neugier spornten mich an. Kurz, der Festungswall und das Bureau wechselten mehr oder weniger angenehm in meinem damaligen behaglichen Leben (quantum mutata!) miteinander ab. Dem auf dem Bureau verbrachten Tag schloß sich meine junge Ehenacht an, der Dienst auf dem Wall hatte einen Dauerschlaf zur Folge – die beste Bedingung, sich nicht an die Verrichtungen des Mars zu gewöhnen. Doch als sich das erste Feuer gelegt hatte, die Lust am Phantasiekäppi und dem alten Hinterlader gebüßt war, fing das in den friedlichen Tagen dieses »verruchten« zweiten Empires so viel verspottete Bureau, der so heiß begehrten wie blutig errungenen heiligen Republik ebenso zum Trotz wie der für das Vaterland bestandenen Gefahr, für das mein guter Wille als Pantoffelheld wahrlich nur wenig tun konnte – das Bureau fing schließlich an, meine Heldentaten auf dem Wall, die Schneepromenaden, kalten Füße und was für eine Langeweile auszustechen! Ich vernachlässigte gemach meinen Dienst und seine Beschwerden zugunsten meines Amtes und seiner Annehmlichkeiten; und es dauerte nicht lange, so trug mir diese Aufführung den Besuch meines Korporals, eines braven kleinen Schusters aus der Rue Cardinal-Lemoine ein. Dieser köstliche Bursche brachte mir eine Ordre, laut deren ich mich für die Dauer von zwei Tagen und zwei Nächten in das Bezirksgefängnis zu begeben hatte. Den Korporal nahm ich herzlich, die Ordre dagegen übel auf und weigerte mich fürs erste, ihr Folge zu leisten. Aber am nächsten Tage schellte er abermals, um mir seine Ordre zu präsentieren. Ein weiterer Widerstand war nicht mehr angängig, und tüchtig in einen großen Wollschal eingemummelt, Fausthandschuhe an, eine Decke quer über Schulter und Brust, mit einer gut gefüllten Flasche und außerdem von meiner Frau (»quantum« auch sie »mutata«) mit einer Schüssel voll Rebhuhnpastete ausgerüstet, machte ich mich an der Seite meines Vorgesetzten auf den Weg zur Wache, die – heute niedergerissen, um den Schulgebäuden der Avenue d'Orléans zu weichen – dicht bei der Kapelle Bréa stand, welch letztere noch steht und dem Viertel aushilfsweise als Kirche dient –, einem Strafort, der später eine traurige Berühmtheit durch das von Serizier im Mai 1871 veranstaltete Massaker gewann, dem die Dominikanerpatres von Arcueil zum Opfer fielen.

Ungefähr zwei Stunden nach unserem reichlich frühzeitigen Aufbruch langten wir an, denn wir hatten unterschiedlichen Aufenthalt bei Bataillonskameraden genommen, die nebenbei Weinhändler waren, unter anderen Stationen auch in der ganz nahebei gelegenen Weinniederlage, wo andere dort angestellte Kameraden uns »auf Staatsunkosten« regalierten und mir guten Mut für meine »Gefangenschaft« wünschten.

An Ort und Stelle gab es eine Kanzlei, wo ein paar Unteroffiziere der Bürgerarmee meine Eintragung vornahmen, und eine Art von riesigem Schuppen, der erst eine Scheune, dann das Atelier eines Völkchens von Malern und Bildhauern gewesen war und sein Licht durch einen hoch oben angebrachten schlecht schließenden Glasverschlag empfing, in der Hauptsache mit Feldbetten möbliert, die um einen von außen geheizten Ofen herumstanden, und in dessen einer Ecke ein »Kabinett« war, wo, nützlich und mißduftend, der traditionelle »Jules« schlief.

Ich trat in dieses gewaltige Arrestlokal ein, in dem gut dreißig Arrestanten, Käppis und Blusen, plauderten, sangen, rauchten und spielten, Domino, Dame, Schach oder Karte, mit einem Wort: auf ihre Weise sich nichts weniger als langweilten … Der Ofen heizte wie toll, der Glasverschlag oben tat gleichfalls das Seine, und es herrschte eine Zugluft, die ein nur zu ausgiebiges Vehikel von künftigem Katarrh und Rheumatismus bedeutete, von dem seinerzeit auch ich mein gehöriges Teil abbekam. Dank eines umgänglichen und ziemlich offenherzigen Humors, der mir eignet, war die Bekanntschaft mit meinen Leidensgefährten bald geschlossen. Die große Mehrzahl meiner Kameraden, eigentlich alle, waren Arbeiter, die infolge kleiner Disziplinarvergehen von der Art des meinen hierher zusammengeworfen waren. (Versteht sich, in der ganzen Nationalgarde herrschte eine Disziplin, man weiß schon … Na, und offen gestanden: Krieg ist eben Krieg!) … Der mir »nächststehende« dieser Braven hieß Chincholle, genau wie der berühmte Reporter, der damals bereits bekannt war, und dieser Name schon traf mich – na also! …

Er war Anstreicher, ein ausgezeichneter Plauderer, Meister im Vortrag von Volksliedern und im Aufziehen, der Spaßvogel des Lokals. Gerade diese Charaktereigenschaft hatte ihm denn auch den Monat zugezogen, den er abzureißen hatte. Seine lose Zunge, die eine Glosse nicht hatte unterdrücken können, hatte ihm dies scharfe Donnerwetter, das ihm übrigens nicht besonders naheging, auf den Hals gezogen. Der lustige, aufgeweckte Bursche, der sich so über »Schundware« ereifern konnte und sich für nichts so wenig begeisterte als den »erlaubten Vorteil«! Und was für ein Schlaukopf er war! Aus der Außenwelt langten, dank seiner List und Redegewandtheit (der Pariser heißt das »Schnauze«), vermittels bestochener Beihilfe einer Postenkette, auf dem Wege der Öffnung oben beim Ofenrohr alle möglichen guten Tropfen und Appetitschnäpschen an, die, kann ich versichern, tatkräftigstes Entgegenkommen fanden. Am Abend machte sich dann ein jeder, in seine Decke eingewickelt, auf der Pritsche lang; und dann, ritscheratsche! wurde erzählt. Die Weiber und die Geistlichkeit waren der Lieblingsgegenstand. Und das wickelte sich dann manchmal ganz amüsant so ab, daß an Einschlafen so bald nicht gedacht wurde. Ab und zu kam von Ghâtillon oder sonst irgendwoher eine Granate und pfiff über den Glasverschlag weg, bellte, wieherte, um schließlich fern »in den Haufen« einzuschlagen. Zu meiner Schande muß ich hier gestehen, daß ich ganz heimlich für mich allein im stillen Dunkel dieser zwei Nächte, die ich in diesem Verschluß und auf dieser Schütte zubringen mußte, die himmlische Rebhuhnpastete essen, was sag ich! schlecken, schlemmen durfte. Man denke, wenn sie, die anderen, das gekonnt hätten! …

Manchmal wurde auch über Politik gesprochen; und das war ein Gegenstand, der in jener Periode meines so widerspruchsvollen Lebens eine um so lebhaftere Anziehung für mich besaß – ich vermute wenigstens –, als ich damals in eben dem Grade Revolutionär von reinstem Wasser, Hebertist, Anhänger Babeufs, oder was weiß ich, war, in dem sie, all diese biederen Arbeiter – von denen, furcht ich, die meisten fünf Monate später den kurzen Sonnenblick der Kommune zu büßen hatten, weil ihr anfänglicher gesunder Menschenverstand in eine immerhin im Prinzip gerechte Insurrektion ausbrach –, die äußerste, wenn auch etwas skeptisch und prahlerisch gefärbte Mäßigung zeigten.

Unter solchen Umständen gingen meine achtundvierzig Stunden alles in allem ganz angenehm dahin, und mit leichtem, aber herzlichem Abschied ließ ich den Bürger Chincholle zurück, als eine Art »Vorsteher der berittenen Gendamerie« (vgl. Dickens, Klein Dorrit), und seine Kumpanei, die mich bis zur Tür geleitete, wobei sie mit machtvollem Refrain, wie es Brauch war, erschallen ließen:

»Du gehst davon und läßt uns hier,
Du läßt uns hier und gehst davon.«

Wieder bei den heimischen Penaten angelangt, wurde mir, wie billig, ein anmutiger Empfang, doch nicht ohne die Frage, wie ich die Rebhuhnpastete gefunden hätte. Als darauf aber meinerseits die Antwort erfolgte: »Köstlich! Wie reizend ist es, wenn man …« wurde erwidert: »Ich habe auch tatsächlich immer sagen hören, daß Rattenfleisch ein wahrer Leckerbissen sein soll.«

3

Ein … Vergehen

Der beklagenswerte Arthur Rimbaud und ich brachen eines schönen Tages, wenn ich nicht irre Juli 187..., von einer wahren Reisewut ergriffen, nach A... auf, wo ich bereits eine ganze Anzahl Familien- und andere Besuche gemacht hatte und später noch machte. Eine wunderliche Stadt! Spanische Häuser, noch aus dem guten siebzehnten Jahrhundert. Ein paar Bauwerke, deren schönstes das Rathaus im Stile der französischen Gotik, Kaserne und Kloster, Glockengeläut und Trommelgerassel. Kein Verkehr, wenig Industrie. Zurückgezogen in ihren kleinen, in freundlichen Gärten gelegenen Häusern, hinter ihren hohen Fenstern mit den weißen Läden ein paar reiche Käuze. Die Bevölkerung, reich wie arm, Stubenhocker, aber umgänglich.

Wir bestiegen den Zug gegen zehn Uhr abends und langten am frühen Morgen an. Unsere Stadtpromenade war bald gemacht; so eine Festung ist eng. Um also abzuwarten, bis die Personen, von denen ein freundlicher Empfang ohne zu viele Umstände zu erhoffen war, sich erhoben hätten, beschlossen wir, uns zum Bahnhof zu begeben und dort zu frühstücken, und genehmigten zur Einleitung jeder einen oder ein paar Schnäpschen, wobei wir über dies und jenes und sonst noch etwas schwatzten. Rimbaud, ganz gegen seinen sonstigen ungewöhnlich frühreifen Ernst, der sich bis zu einer Mißstimmung steigern konnte, aus der manchmal schon geradezu schauerliche Tollheiten oder doch die eigenartigsten Einfälle hervorbrachen, und ich, trotz meiner absolvierten fünfundzwanzig noch immer Gamin, fühlten uns gerade an diesem Tage zu einer recht grausigen Komik aufgelegt; und außer Rand und Band, wie wir waren, verfielen wir darauf, das Reisephilisterium, das da seine Bouillon, seine Butterbrote und seine mit dem beliebten Algierwein hinuntergespülte Sülze verzehrte, Maul und Nase aufsperren zu machen. Unter den anwesenden Typen befand sich, ich weiß es noch heute, nicht weitab uns zur Rechten auf unserer Bank ein mittelgroßer älterer Biedermann, stumpfsinnig und boshaft, einen abgetragenen Strohhut auf einem glattgeschorenen Kopf, sog an einer Sou-Zigarre und an einem Schoppen zu zehn Gentimes, hustete und spuckte und schenkte unsrer Unterhaltung eine mehr bösartige als stupide Aufmerksamkeit.

Ich machte Rimbaud auf ihn aufmerksam, und Rimbaud fing an, wie es zuweilen seine Gewohnheit war, stumm und verhalten zu lachen. O greuliche Erscheinung, die du plötzlich verschwunden warst! (Wie durch einen Zauber; indessen, um ganz genau zu sein und nicht in die in Flor stehende phantastische Schreibweise zu verfallen, dank eines Paares in der Nähe befindlicher Filzschuhe und unsrer Zerstreutheit.) Wir hatten in einer Weise, als handelte es sich um eine persönliche Angelegenheit, und mit fast schon sinnfällig krassen Einzelheiten von einem Raubmord gesprochen und, wie das so geht, das einmal angesponnene Thema weitergeführt – als sich zwei waschechte Gendarmen, wie urplötzlich aus dem Erdboden emporgeschossen, gleichsam vor uns erhoben, die uns kurzangebunden aufforderten, ihnen zu folgen. Pflichtschuldigst folgten wir den übrigens von uns respektierten Repräsentanten einer Autorität, die es, wie wir zu finden uns erlaubten, bloß etwas zu eilig hatte, mit uns, die wir uns so ganz und gar nichts hatten zuschulden kommen lassen, in nähere Berührung zu kommen.

Endlich, nach einem Marsch von einer guten oder vielmehr schlimmen Viertelstunde durch enge Gemüsehändlergassen, stiegen wir die drei, vier Stufen zu einem Nebeneingange des Rathauses hinauf, wo, ich weiß nicht wie oder warum, der Staatsanwaltschef des Sprengels in einem Kabinett Sitzung hielt, das ein Vorzimmer hatte, in dem wir erst etwas warten mußten.

Gut, also dieses Entree. Eine runde Wölbung, grauer Stein und dunkles Holz, aneinandergereihte Hängebogen. Nationalgardisten – es war noch nicht lange nach dem Kriege und vor der Aufhebung dieser Art von Miliz – zogen auf Wache, beinahe so gekleidet wie wir, nur noch schnurriger, die Schlafmützen der Pariser Belagerung; Polizisten, überall dieselben, bis auf die mindesten Einzelheiten der Uniform, schlenderten stumpfsinnig auf und ab, ganz wie zu Hause … Rimbaud, der mir einen Wink gegeben hatte, fing in einer Weise an Stücke zu stöhnen, daß es jeden hätte rühren müssen und unsere guten Kerle von Gendarmen – sie sind nicht alle so, trotz ihrer Unverantwortlichkeit sogar, liebenswürdig und verständig – denn auch wirklich rührte, und wartete dann die Wirkung ab, die das auf den Herrn Staatsanwalt der Republik üben würde. Als erster hineingerufen, kam er aus dem würdigen Kabinett gleich wieder zum Vorschein und blinzelte mir, noch Tränen in den Augen, in beunruhigender Weise zu. Ich für mein Teil drang, der Situation durchaus gewachsen, bei dem obersten Beamten ein, der, auf einem Lederkissen sitzend oder vielmehr auf ihm festgeschraubt, seine Fragen stellte; unter welcher Formalität er mit höchst barschen Blicken den Sitz meiner weißen, in ihrem Glanz allerdings durch den Straßenstaub und überdies durch mancherlei früheren und späteren Gebrauch etwas beeinträchtigten Beinkleider studierte. Dann einige nachlässig hervorgenuschelte Verweise: »Es wird in A... gerade eine Hinrichtung vollzogen … Bedauerlich, solche anzüglichen (sic!) Unterhaltungen in einem öffentlichen Lokal und unter solchen Umständen … Geben Anlaß zu vielleicht gerechtfertigtem Verdacht … Wie Sie sehen … Was wollen Sie übrigens hier? Mit diesem jungen Manne, der sich übrigens der Justiz gegenüber mit angemessener Ehrerbietung benahm? Also noch einmal: was haben Sie hier am Ort zu schaffen? Beide in solcher Kleidung da und auch ohne Gepäck, nicht wahr? … Ja! – Na also!«

Ich legte meinen Fall dar; ein Einfall, ein mit einem Freund gemeinsam unternommener Ausflug – alles kurz und bündig vorgetragen. Nie war ich ein gesinnungstüchtigerer Republikaner, ich verleugnete meinen Einschlag von Kommunismus und riskierte ein deutliches Wort. Nachdem meine Empfehlungen überreicht, die »Papiere«, Briefe, Pässe, Banknoten (o Zeit, hemme deinen Flug!) vorgewiesen waren, fügte ich hinzu, ich sei aus Metz gebürtig und mir stünde die Wahl zwischen Frankreich und Deutschland frei, und ich wüßte wahrlich und meiner Treu angesichts einer solchen willkürlichen Festnahme nicht, usw. usw. (Der Herr Staatsanwalt – derzeit Herr Präsident – wäre in der Lage, die Wahrheit dieser Erzählung zu bezeugen.)

Nach einem bänglichen kleinen Schweigen schellte der Beamte, eine backenbärtige Erscheinung, noch jung, mit frisiertem braunem Haar und einem frühzeitigen kleinen Mondschein, und es erschienen die Gendarmen, zu denen er sagte: »Führen Sie diese Personen zum Bahnhof; sie fahren mit dem nächsten Zug nach Paris zurück.« Ich warf ein, daß wir noch nicht gefrühstückt hätten. »Lassen Sie sie frühstücken, aber dann reisen sie auf der Stelle ab. Lassen Sie sie nicht eher aus den Augen, als bis sich der Zug in Bewegung gesetzt hat.«

Wie gesagt, so getan. Unbekümmert darum, daß wir am Büfett zwischen zwei amtlichen Gefährten wieder erschienen, nicht weniger übrigens als über den Gang mit nüchternem Magen durch die jetzt belebten Straßen, aßen wir bei einer »guten Quelle«, die uns der Wachtmeister bezeichnet hatte, einen Happen, tranken unseren Kaffee und danach einen Tropfen, zu dem wir auch die Gendarmen einluden; und nicht ohne Unbehagen unserer Beinkleider wegen, die neben dieser Eskorte da dem zahlreichen Reisepublikum, durch das wir hindurch mußten, hinlänglich nach »Galgenschwengel« anmuten mochten, gelangten wir an Ort und Stelle. Nachdem wir von unsern, alles in allem recht netten »Alguazilen« herzlichen Abschied genommen, packten wir uns in ein Abteil zweiter Klasse, vollerer Bewunderung über die Manieren und das Verfahren, als über die Beredsamkeit des Herrn Staatsanwaltes P...

Noch am selben Abend aber reisten wir in Paris, jetzt ein solideres Mahl im Magen und in wahrlich ungleich besserer Verfassung, mit neugestärkter Unternehmungslust von einem anderen Bahnhof ab, ernstlicheren Abenteuern entgegen …

4

L' Amigo

Kurz, aber gut.

Übrigens ein bloßes Vorspiel.

Es war folgendermaßen. Im Juli 1873 in Brüssel: nach einem Wortwechsel auf offener Straße, der mit zwei Revolverschüssen endete, von denen der erste einen der Streitenden leicht verletzte, und nach denen selbige, zwei Freunde, die Sache, nachdem sie gleich nach dem Vorfall Verzeihung erbeten und gewährt, hatten gut sein lassen – gebrauchte der, welcher übrigens die ganze Zeit über im Absinthrausch war und die so bedauernswürdige Tat ausführte, ein starkes Wort und griff in die rechte Tasche seines Rockes, wo unglücklicherweise die noch mit vier Patronen geladene und gespannte Waffe sich befand, mit einer so unmißverständlichen Gebärde, daß der andere, von Angst ergriffen, Hals über Kopf die lange Chausee (von Hall, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt) hinabfloh, verfolgt von dem Rasenden, zum Erstaunen der »kuten Pelgier«, die ihre trägen Gliedmaßen nachmittäglich in einer rasend heißen Sonne dahinschleppten.

Ein in der Nähe auf und ab patrouillierender Polizist beeilte sich, Delinquenten und Zeugen festzunehmen. Nach einem summarischen Verhör, in dessen Verlauf der Angreifer sich selbst mehr denunzierte, als daß der andere ihn anklagte, begaben sich alle beide auf den kategorischen Befehl des Vertreters der bewaffneten Macht in seiner Begleitung zum Rathaus, wobei der Polizist mich beim Arm gepackt hielt; denn es ist jetzt an der Zeit zu sagen, daß ich der Verüber des Attentats und des darauffolgenden wiederholten Angriffsversuches und sein Opfer kein anderer als Arthur Rimbaud, der große, eigenartige Dichter war, der am letztvergangenen 23. November ein so unseliges Ende gefunden hat.

Sehr gut, das Rathaus von Brüssel, mit seiner etwas zu schrecklichen Renaissance-Gotik. Da ich es, und ob! seit jenem Abenteuer nicht mehr gesehen habe, will ich ihm diese Ehre ganz unparteiisch angedeihen lassen, die mir aber, wie man mir glauben wird, herzlich gleichgültig war, als ich in seine oder vielmehr eine seiner Vorhallen geführt wurde, in das Bureau eines der strengsten, aufgeblasensten und schneidigsten Polizeikommissare, wie es gewöhnlich fünf Sechstel dieser Funktionäre oder ihresgleichen sind, im übrigen sehr für die Form in gewöhnlichen Fällen, während das in Fällen wie dem in Rede stehenden, wo es sich nicht um Vorgekautes handelt, etwas ganz anderes ist.

Nach einer der kürzesten und doch dank der Beachtung, die man weniger mir als meinem Gefährten zuteil werden ließ, für eueren ergebenen Diener folgenschweren und umständlichsten Protokollaufnahmen (ist das der richtige Ausdruck?) entließ die Behörde Rimbaud, natürlicherweise indessen nicht, ohne ihn zuvor darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß er sich zur Verfügung zu halten habe, während mit Bezug auf mich entschieden wurde, daß ich auf der Stelle zum »Amigo« abgeführt würde.

Diese so kordiale Bezeichnung, eine nachgebliebene Spur der spanischen Okkupation im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, trifft sehr glücklich unsern französischen Ausdruck »violon« als Bezeichnung für Polizeiwache. Dieser »Amigo« war nur ein paar Schritte vom Rathaus entfernt. Bald war ich da. Eskortiert von zwei Sbirren. Der eine diesmal ein Wacht – oder auch ein Unterwachtmeister – Tressenfragen, die mich in jenem Augenblick und, wenn ichs gestehen soll, auch später kalt ließen. Denn der »Amigo« war nicht schön. Höchstens sauber; das ist ja in dem Lande der auf ihrem Gipfel getriebenen Sauberkeit das Wichtigste! Da ich Geld bei mir hatte – das einzige, was man mir außer der Kleidung auf dem Kommissariat gelassen –, schickte man mich von Amts wegen in Separathaft, was ja an und für sich gut war. Aber dieses Separatzimmer da, das Licht und Luft durch ein sehr hoch angebrachtes Schiebefenster empfing, mit seinen zwei Betten, zwei Tischen und zwei Stühlen, während alle übrigen Bequemlichkeiten, eine ausgenommen, fehlten, ließ mich noch nicht zur Ruhe kommen. Ein schlechtgekleideter Trunkenbold – arge Plage! – hatte nichts eiliger gehabt, als mein Los zu teilen, und machte sich die ganze Nacht hindurch auf alle nur erdenkliche Weise unerträglich. Und von draußen drang Gesang, Geschrei und Hundegekläff herein bis in die tiefe Nacht. Besonders Melodien aus »Mamselle Angot«, der damals in ihrem besten Flor stehenden – belgischen Novität, beleidigten mein Trommelfell bis in den frühen Morgen hinein. Selbst ein Liter Brüßler Bier, Brot und Käse, die man mir gab oder vielmehr verkaufte unter Zugabe der Hoffnung, daß ich nun bald freigelassen werden würde, vermochten mir die Zeit nicht wesentlich zu kürzen. Gegen sieben Uhr morgens öffnete sich die Tür – was für Riegel! –, und man ließ mich ein paar Stufen in einen kleinen gepflasterten Hof hinab, wohin mir Milchkaffee und ein kleines, in Brüssel traditionelles, »Pistolet« genanntes Brot gebracht wurden. Eine sehr lange Reihe von Stunden, schien mir, gingen hin; auf alle bezüglich meiner bevorstehenden Befreiung gestellten Fragen antworteten mir weitläuftige, ich sage weitläuftige Gefangenwärter, halb Zivil-, halb Polizeipersonen in Pantoffeln, ungehobelte, schlitzohrige Faulpelze: »Ja, sofort, wissen Sie, sie kommen schon, wirklich, du wirst sehen …«, mit solchem Erfolg, daß ich später – nachdem ich gegen ein Uhr Kartoffelbrei mit ich weiß nicht was für halb verdorbenem Kalb- oder Hammelfleisch ohne Appetit hinuntergewürgt hatte – gerufen wurde: zu einer geschlossenen Kutsche, die hinreichende Ähnlichkeit mit den bei uns für den Transport gewisser weiblicher Wesen nach der Präfektur beliebten »Salatkörbchen« mit ihren, einen Blick auf die Außenwelt gebenden, außen gelb und schwarz gestrichenen Drahtgittern besaß. Auf diese Weise durchquerte ich einen mir unbekannten Teil Brüssels, mit einem schweifenden Blick über hügelige, von armen Leuten wimmelnde Straßen und armselige Plätze, die von der inneren Stadt zu dem alten Gefängnis von »Les Petits-Carmes« hinanklommen, wo ich nicht ohne Brutalität, aber doch endlich von meinem »Kabriolett« erlöst, eingetragen wurde – wobei mir, als ich die triste Karre verließ, ein Inspektor, wenigstens strotzte dieser Lumpenhund von Silberbesatz und war mit einem endlosen Säbel ausgerüstet, einen Knuff mit der Faust versetzte –: eingetragen wurde unter der Rubrik – wie mir ein Papier mitteilte, auf dem oben als Inschrift unter einer Wage »pro justitia« aufgedruckt stand – unter der Rubrik, von der Hand des Gendarmen geschrieben, der mir das Protokollblatt einhändigte:

»Mordversuch.«

5

Les Petits-Carmes

Ein Ding, schien es, von der Art der Pariser »Depots«. Ein ungeheurer, gepflasterter, mehr langer als breiter Hof. Im allgemeinen greuliche Typen. Viele Deutsche, das Hauptkontingent natürlich Belgier, Italiener ebenso selbstverständlich, und leider nur zu viele und recht abstoßende Franzosen. Ganz kopfscheu, ängstlich und noch immer betrunken langte ich dort an. Übrigens war ich als Gutgekleideter seitens meiner Gefährten der Gegenstand fauler Witze, Gelächters und von Blicken, die mich wahrhaft töteten. Der Aufseher, ein aufgetakeltes Vieh, knuffte mich unter Zugabe von flämischen Worten, deren Inhalt mir ihre Betonung verriet. Er dirigierte mich zu einer Gruppe hin, wo man Kartoffeln schälte.

Sehr ermüdend, eine ganze Stunde lang so mitten in diesem Haufen auf den Beinen. Eine Glocke wird geläutet. Es ist Frühstückszeit. Der Speiseraum grob mit Kalk beworfen. Tische und Bänke unsauber. Der Oberaufseher, noch aufgetakelter als der Aufseher (Sergeant), eine enorme silberne Achselschnur, das Käppi mit Tressen überladen, macht das Zeichen des Kreuzes und ruft mit einer fürchterlichen Stimme:

Benedicite,

worauf alle außer mir, der ich diese Liturgie wie alle übrigen schon seit lange vergessen hatte, antworteten:

Dominus!

und dann wieder der Oberaufseher, noch fürchterlicher als zuvor:

Nos et ea quae sumus sumpturi benedicat dextera Christi.

Alle, und diesmal auch ich:

Amen!

Und man nimmt vor den Zinnschüsseln und Blechlöffeln Platz. Dieses Futter! Die Schmelze an den Graupen unbedingt vom Pferd. Ich Pariser der Belagerung kenne mich darin aus. Ich koste mit der äußersten Zungenspitze, habe schließlich ein Viertel davon hinuntergewürgt, als sich der Oberaufseher vernehmbar macht:

Gratias usw.,

worauf man sich in den Hof begibt. Kaum dort angelangt, ruft man mich zum Direktor. Durch mehrere Korridore hindurch – Les Petits-Carmes war, wie der Name anzeigt, früher ein Kloster – langte ich schließlich unter Begleitung eines Wärters, der die Hand auf seinem »Kohlmesser« hatte, bei diesem Potentaten an, der, nachdem er den dienstbaren Geist fortgeschickt, mich einlud: »Setzen Sie sich, bitte, Herr Verlaine.«

Endlich ein höfliches Wort nach all dem Sturzbad von Erniedrigungen. Ich sah den Direktor an. Ein kleiner Mann, ganz Schnurrbart und graue Koteletten, hinter einem Kneifer ein paar scharfe Augenpunkte, nicht boshaft, in einem Sessel. Übrigens auch er von Silber strotzend. Wie ein General der Nationalgarde so um 1850 zu 51 herum enorme Epauletten. Er hielt in der Hand einen an mich adressierten Brief von Victor Hugo.

(Vom »Amigo« aus hatte ich dem Meister geschrieben und ihn um Vermittlung bei einer teuern Person gebeten.)

Der Direktor: »Ich habe soeben diese kurzen an Sie gerichteten Zeilen gelesen und wundere mich, daß Sie, obgleich Sie solch eine Verbindung haben, hier sind. Übrigens, lesen Sie.«

Ich habe den Brief einem Freund, einem Engländer in Lincolnshire, geschenkt. Er lautete folgendermaßen:

 

»Mein armer Dichter,

ich werde Ihre liebe Frau aufsuchen und mit ihr im Namen Ihres reizenden kleinen Knaben zu Ihren Gunsten reden. Fassen Sie Mut und kehren Sie zum rechten Pfade zurück.

Victor Hugo.«

Dann der Direktor noch folgendes:

»Ihre Frau Mutter« (meine arme, gute, alte Mutter, vor der der greuliche Auftritt vor sich gegangen war, meine Mutter, die durch mich so viel Leid erfahren hat, die an einer Brustentzündung gestorben ist, die sie sich, als sie mich später während einer Krankheit pflegte, in der ich gänzlich gelähmt war, infolge einer Erkältung zugezogen hatte) »Ihre Frau Mutter ist bei dem Herrn Königlichen Staatsanwalt eingekommen, daß er Ihnen den Aufenthalt in einem Separatzimmer gewährt.

»Auf diesen Brief hin nehme ich es auf mich, Ihnen dies von jetzt ab zu bewilligen, wobei ich aber noch weitere Weisung abwarte, die für Sie sicher günstig lauten wird.«

Und dann, als auf ein Glockenzeichen der Wärter zurückkehrte: »Führen Sie den Herrn in den Separataufenthalt der unter Anklage Stehenden.«

6

Mein Gedächtnis, das anfangen würde bedauernswürdig zu sein, wenn ich es nicht pflegte, und der verdrießliche Mangel an Sorgfalt in der Anordnung meiner literarischen »Notizen« haben mich vorhin ganz einfach vergessen lassen, an rechter Stelle eine der übrigens empfindlichsten Episoden meines Gefangenschaftslebens zu erwähnen.

Um diese Lücke gleich zu schließen, will ich in aller Kürze berichten, daß ich, sobald ich das »Depot« von Les Petits-Carmes verlassen, auf Anordnung des Untersuchungsrichters hin in eine Zelle desselben Gefängnisses, ungefähr von der Art, wie sie im Pariser Zellengefängnis sind, gebracht wurde. Ausstattung: eine Hängematte mit einer Decke, ein Tisch, ein Schemel, eine Waschgelegenheit und – ein Stempel. Speise: Graupensuppe. Sonntags: Erbsensuppe. Getränk: Wasser nach Belieben. Besondere Merkmale: Vom ersten Tag an fing ich – Flöhe …

Mit ein wenig sparsam zugeteilter Tinte in einem von der Verwaltung zum ausschließlichen Gebrauch des Briefschreibens geliehenen Tintenfaß, die ich in einer Lücke des Fußbodens frisch erhielt, schrieb ich mit Hilfe eines Holzspänchens in den etwa acht Tagen, die diese wenig angenehme Untersuchungshaft dauerte, die paar satanistischen Erzählungen, die in meinem Buche »Jadis et Naguère« erschienen: »Crimen Amoris« das anfängt:

»In einem goldenen Schloß zu Ekbatana«

und vier andere, unter ihnen »Don Juan pipé««, dessen Originalmanuskript mein Freund, der ausgezeichnete Dichter Ernest Raynaud, besitzt, geschrieben auf einem Papier, in dem zuvor in der Kantine irgend etwas eingewickelt gewesen war; ein Manuskript, das dem oben beschriebenen primitiven Verfahren seinen Eintritt in die Welt verdankte.

Einmal täglich, am Morgen, stiegen die Untersuchungsgefangenen abteilungsweise in den gepflasterten Hof hinab, dessen Mitte den »Schmuck« einer kleinen, ganz mit der gelben Blume »Sorge« bestandenen Gartenanlage genoß, mit ihren Eimern – eine gute oder auch schlechte hygienische Einrichtung –, die sie an einem hierzu bestimmten Ort zu leeren und auszuspülen hatten, bevor sie unter der Aufsicht eines kaum noch menschenähnlichen Aufsehers ihre Gänsemarsch-Promenade beginnen durften.

Ich habe darüber folgende Strophen gedichtet:

— — — — — —

Es trampeln die großen Schuhe all
Mit hartem Schall;
Verbrecherpack,
Im Maul ne Piep' Tobak.

Die Mauer hallt, sonst starre Ruh;
Nicht mal Gestöhn!
Vor Hitze glaubst du
Zu vergehn.

Sonntags in einer fast schon beleidigend häßlichen Kapelle eine stille Messe, ohne Gesang, ohne Predigt! Sie ist manchmal etwas Gutes, so eine Predigt, selbst für Lumpe meinesgleichen!

Erst nachdem ich, ich wiederhole, acht Tage lang diese Annehmlichkeiten genossen und nach der früher beschriebenen Zusammenkunft mit dem Direktor, wurde ich zu diesem beschieden und auf Victor Hugos Brief hin Separatgefangener.

Inzwischen war ich zwei-, dreimal vor dem Untersuchungsrichter gewesen, einem Mann von glatter Liebenswürdigkeit cosi son tutti, der keinerlei Geständnis aus mir hatte herausbringen können; er hielt mich daher auf meine Offenheit damals im Polizeikommissariat hin in Haft und veranlaßte meine Vorladung durch den Königlichen Staatsanwalt für Polizeiangelegenheiten unter Anklage der beabsichtigten Verwundung durch eine Schußwaffe, veranlaßt durch usw. usw. War das etwa besser als die Anklage auf Mord?

Nein …

7

Jedermann weiß, was es heißt, Gefangener auf eigene Kosten zu sein. Gegen Bezahlung darf man sich Speise und Trank (o nur wenig!) von außen besorgen lassen; man steht im Genusse eines angemessenen Bettes, eines Stuhles oder vielmehr Schemels und anderer »Annehmlichkeiten«. Die Gefangenschaft selbst aber bleibt in schweren Fällen, wie der meinige, eine strenge, die Überwachung ebenso sorgfältig wie die der Gefangenen, die zufolge ihrer Armut oder der Natur ihres Vergehens dem ganzen Schrecken des nackten Reglements unterstehen. Und so öffnete sich die Zelle, die ich in einem Seitengebäude innehatte, täglich nur für einen einstündigen einsamen Spaziergang in einem öden, kahlen, gepflasterten Hof.

Über der Mauer vor meinem Fenster – ich hatte ein wirkliches, freilich mit einem langen, dichten Eisengitter versehenes –, im Hintergrunde dieses tristen Hofes, in den sich, wenn ich so sagen darf, meine sterbliche Langeweile stürzte, sah ich – es war August – mit köstlich zitterndem Laub den Wipfel einer hohen Pappel sich wiegen, die einem benachbarten Platz oder Boulevard angehören mochte. Zugleich drang aus der Ferne ein gedämpfter festlicher Lärm zu mir her. (Brüssel ist die am gemütlichsten lachende und spaßende Stadt, die ich kenne.) Und bei dieser Gelegenheit dichtete ich diese Verse von »Sagesse«:

— — — — — —

Ein Vogel in dem Baum, den man sieht,
Klagt seine Weise.

— — — — — —

Und jene friedsamen Geräusche da
Rühren her von Gassen.

— — — — — —

Was hast du gemacht, du, der hier
So weint, sage,
Wie hast du hingebracht, du hier,
Deine Jugendtage?

— — — — — —

Ich sah auch, ein nicht minder melancholischer Anblick, den Wachtposten der Mauer entlang auf und ab gehen, innen natürlich (und warum innen?), einen Jäger vom Rekognoszierungskorps mit einem hahnenfedergeschmückten Seidenhut, seiner, wenn ich nicht irre, grünen Tunika, seinen grauen Beinkleidern, der sich die zwei Stunden seiner Schild wache über gründlich zu langweilen schien. Und wurde er abgelöst, so zeigte sein Nachfolger keineswegs Symptome einer lebhafteren Begeisterung für die Erfüllung dieser übrigens hinreichend absurden Instruktion, als er und sein Vorgänger. Die braven Kerle schienen sich zu sagen: »Wozu promenier ich hier, das Gewehr über der Schulter und den Tornister auf dem Rücken und überwache oder töte unter Umständen gar arme Teufel, die ohnehin fest genug hinter Schloß und Riegel sitzen und außerdem schon halbtot sind?« Aber ich hatte auch noch andere Zerstreuungen, deren hauptsächlichste darin bestand, daß ich mit meinem »Nachbar«, einem Notar, eine Korrespondenz unterhielt. Das im strengen Wortsinn lautliche Alphabet war damals das bevorzugte. Man kennt es vielleicht vom Hörensagen. Es besteht darin, daß man an die Mauer pocht, um A aufmerksam zu machen, ebenso erwidert dieser; wieder auf eine andere Art pocht man Z an und klopft dieser zurück usw. Das waren kleine erschlichene Freuden, die freilich ihre Würze erst durch die Furcht erfuhren, von dem Oberwärter ertappt zu werden, der übrigens ein gutmütiger Kerl war und sich um die Sache weiter nicht kümmerte.

Endlich nahte der Tag des Termins.

Risum teneatis.

8

Ich erfahre, daß der neue Brüsseler Justizpalast von einer babylonischen Monumentalität sein soll, und will es gern glauben.

Der alte aber war buchstäblich ein Scheusal von Unbequemlichkeit, Häßlichkeit und räudiger Armseligkeit. Man gelangte zu ihm, nach Ankunft des scheußlichen Fahrzeuges, dessen schon früher Erwähnung geschah, ich weiß nicht mehr wie, so sehr sind mir die beiden Visiten verhaßt, die ich dort machte; aber ich kann bezeugen, daß man ihn in einer traurigen Verfassung betrat, durch zahllose Korridore, über eine Art von Stegen, wahrhaft unerträglichen Brücken, zwischen zwei mit schrecklichen Bärenmützen, die den Kugelfängern der alten Garde des ersten Empire glichen, bedeckten Gendarmen. – Sie sind übrigens nicht bösartig, die belgischen Gendarmen. Man weiß wohl, daß sie sich, unserem Gebrauch ganz entgegengesetzt, gleich der übrigen Armee nur aus jungen Leuten rekrutieren, die mitleidigen Regungen noch zugänglich sind, oder doch einer gewissen Teilnahme für ihre Zwangsuntergebenen. Ich habe das, wie man gleich sehen wird, selber erfahren, und ich sende diesem Korps, das dort keine Elitetruppe ist, mit aller Aufrichtigkeit meinen ganz besonderen, herzlichsten Gruß, wenn auch nicht auf Wiedersehen, für sein anständiges Benehmen, das ich hiermit quittiert haben will.

Sie führten mich also, diese vortrefflichen Alguazile mit ihren hohen Mützen und ihren derben Stiefeln, nach einem Aufenthalt in einer recht armselig ausgestatteten Vorhalle, in das …te Zimmer (die Nummer ist meinem Gedächtnis entfallen) des Strafpolizeigerichtes.

Häßlich, eng, schorfig dieses Zimmer, oder vielmehr dieser Saal, ehemals weißgetüncht, dann aber abgebröckelt, rissig geworden und nahezu mit Einsturz drohend. An der Wand gegenüber (das Publikum saß auf Holzbänken und nahm sich aus, als hätte es seinen Zulaß mit Tränen erfleht) hing ein grindiger Christus, der sich seine langen Haare zu machen und nur zu dem Zwecke hierher gehängt zu sein schien, um die Angeklagten

»mit gelangweilter Miene«

zu betrachten.

Die drei in meiner Sache beschäftigten Räte saßen in Sesseln, hinter ihren langen Ärmeln verborgen, fast genau so wie unsere französischen Richter gekleidet, an einer mit einer schlichten grünen Decke überdeckten Tafel, auf der sich Gesetzbücher, Papiere und in der Mitte ein Pult für den Herrn Präsidenten befanden.

Man hieß mich dem Gerichtshof gegenüber auf einem einfachen Schemel Platz nehmen, ohne Gendarmen mir zur Seite, hinter mir mein Rechtsanwalt, seinem Kostüm nach den Rechtsanwälten ähnelnd, um die Europa uns beneidet und die Frankreich uns in unabzählbaren Scharen in die Gerichte und in die Regierung schickt.

Mein Termin begann. Dasselbe Zeremoniell wie in Frankreich:

»Angeklagter, erheben Sie sich!«

»Ihr Name und Vorname?«

»Beruf?«

»Sie stehen unter Anklage, daß Sie« usw.

Und alsdann nach einem im übrigen kurzen und nicht gerade schlimmen Verhör das übliche: »Setzen Sie sich!«

Während ich Folge leistete, erhob sich der Königliche Staatsanwalt.

Ich sehe die Gestalt noch vor mir: ein aufgewirbeltes Schnurrbärtchen, ein kleiner »Cambronne« (Backenbart), die eine Hand in der Tasche seines weißen Barchentbeinkleides (warum war es nicht aus Drillich?), wobei er kavaliermäßig den schwarzen Talar zurückschob, während die andere Hand das häßliche, schwere Amtsbarett abnahm und es auf den schmalen Tisch legte, der mit einer gleichen Decke wie die Gerichtstafel geschmückt und wie sie mit Gesetzbüchern, Papieren, einem Schreibzeug und einem Pult bedeckt war.

»Meine Herren,« begann er und wies nach mir hin, »der Mann da vor Ihnen ist ein Ausländer …«

Es war komisch, den allzu belgisch-französischen Akzent des jungen Mannes zu hören, der eben erst irgendein Löwen oder Gent oder sonst eine Landesuniversität verlassen haben mochte.

Nachdem er dann die Einzelheiten der Anklage berührt und beklagt hatte, daß es beim Zivilgericht nicht wie beim Militärgericht gehalten würde, wo »Betrunkenheit nicht als mildernder Umstand gilt«, brandmarkte er mich als einen Feigling (wie logisch!). »Ja, meine Herren, der Mörder« – er vergaß, daß man von der Anklage auf Mord Abstand genommen hatte –, »ja, der Mörder zieht aus seiner Tasche einen mit sechs Patronen geladenen Revolver« (naiv erlauben wir uns nichtsdestoweniger zu räsonieren: wäre er nicht geladen gewesen, wozu hätte ich ihn dann aus der Tasche gezogen?), »er zielt auf sein Opfer, zwei Schüsse fallen, von denen der eine den Unglücklichen trifft.« (O Rimbaud, dessen Wehwehchen, das ich trotzdem mein ganzes Leben hindurch zu beklagen haben werde und das allerdings schlimmer hätte ausfallen können, damals eine so sorgfältige Pflege erfuhr, wie würdest du gelacht haben, armer, für immer geschwundener Freund, wenn du dich auf eine solche Weise gekennzeichnet gehört hättest!) »Und alsdann, meine Herren, nicht zufrieden mit diesem Verbrechen (eigentlich Vergehen) …«

Und in aufgeregter Haltung berichtet der Beamte auf seine Weise den übrigens beklagenswerten Straßenauftritt und nimmt schließlich gegen mich »die ganze Strenge des Gesetzes in Anspruch«.

Trotz einer guten Verteidigung von Seiten meines Anwaltes schloß sich der Gerichtshof diesem Antrag an und legte mir, ohne irgendwelche weiteren Erwägungen, das höchste zulässige Strafmaß auf: zwei Jahre Gefängnis.

Für den Augenblick und vor dem Publikum bewahrte ich meine Fassung. Doch sobald ich unter Geleit des Gerichtsdieners mit seiner Stahlkette in den Vorraum zurückgekehrt war, wo die Gendarmen mich erwarteten, weinte ich wie ein Kind, so sehr, daß »meine Schutzengel« mich mit diesen Worten zu trösten anfingen: »Das ist ja nur diesmal, aber da gibts ja noch die Berufung.«

Und tatsächlich ließ mich mein Anwalt, der hinzugekommen war, das Berufungsaktenstück unterschreiben.

Dann, vorwärts, los! in dem Fahrzeug, zum zweitenmal, nach Les Petits-Carmes zurück.

9

ich schwärme für Kostüme, bin vernarrt in Symbole. Und so lieb ich auch, trotz dem so widerlich häufigen Unsinn von fünf Sechsteln der Urteilssprüche dieser und jener und von was noch für Gerichtshöfen, und ungeachtet meines Hasses gegen jede schlechte Handlung, die gute Haltung der Leute vom Gericht. (Bis auf weiteres sogar die Guillotine.)

Ein gut getragener Talar, gut umgelegte Beffchen, eine Epitoga mit schönen Achselstücken bei Schwurgerichtsverhandlungen bestechen meinen Verstand, verführen mich durchaus.

Ich erweise ihnen jederzeit Ehrerbietung; ja ich würde vor diesen Dingen, die auch ihrerseits an unseren göttlichen Ursprung erinnern, das Gewehr präsentieren, vor schwarzen und weißen Federn, Reiherbüschen, weißen und dreifarbigen Federbüschen, Wollknäufen von verschiedenen Farben, schön geraden Epauletten, den Tressen der Chargierten, Streifen oder einem schlichten Knopf (bei Gelegenheit einer rühmlichen Kapitulation).

Ich hebe, man darf überzeugt sein, diesen unbegrenzten Respekt vor der Obrigkeit ganz ausdrücklich hervor. Auch sie hat – außer ihrer bewunderungswürdigen Disziplin, ihren Insignien, Tressen, ihren Beffchen (da das Halsschild nicht mehr getragen wird) – ihr, wenn auch unscheinbares Banner: Christus am Kreuz! … Und darum nahm ich dieses Urteil als ein gerechtes und mildes hin, ohne zu murren, da ich im Grunde ja das Schafott verdiente. Aber da ich nun schon Berufung eingelegt hatte und nicht anders handeln konnte, mußte ich mich schon in diese noch tröstliche Aussicht schicken! Achtundzwanzig Monate!! …

Und der Tag der Berufung leuchtete mir, wenn ich so sagen darf.

Leuchtete! Denn was für ein schönes Wetter, welche Sonne brachte mir dieser Tag! – Ich, der Mensch des Nordens, bewundere, liebe die Sonne nicht besonders; sie widersteht mir, betäubt, blendet mich, und ich ziehe unbedingt den »lichten Winter« vor, gleich meinem teueren großen Dichter Stéphane Mallarmé.

Zu festgesetzter, mir aus der Erinnerung geschwundener Stunde also, um den juristischen Ausdruck zu gebrauchen, wurde ich vermittelst desselben, schon früher erwähnten scheußlichen Vehikels unter gewohntem polizeilichen, fast militärischen Apparat noch einmal zu diesem Justizpalast befördert.

Ein tapezierter Raum, der diesmal an das Speisezimmer eines ländlichen Hotels erinnerte. Kein Kruzifix an der Wand, was wahrlich auch besser war, als jene Karikatur bei der ersten Verhandlung.

Eine Tapete mit irgendwelchen Zeichnungen darauf. Ich weiß nicht mehr, ob Blumen, einer Jagd, einem Fischfang oder einem galanten Fest? – Ich weiß wirklich nicht mehr, so vollständig war ich von einer andern Angelegenheit in Anspruch genommen; versteht sich! …

Und der Vorsitzende, diesmal mit einer kleinen Variation:

»Verurteilter, erheben Sie sich!«

»Ihr Name und Vorname?«

»Beruf?«

»Sie sind verurteilt zufolge …« usw.

»Setzen Sie sich!«

Ich setzte mich – und trotz einer erstaunlichen Rede, die mich mit ausgezeichneter Logik entlastete und dies Baby von Staatsanwalt der ersten Instanz damit aufzog, daß sie ihm unter die Nase hielt: »Man hat über den Verurteilten das höchste Strafmaß verhängt, und der Herr Königliche Staatsanwalt beruft sich auf das niedrigste. Wo, meine Herren, bleibt da das Gesetz?«; ungeachtet einer ausgezeichneten Verteidigungsrede meines Rechtsbeistandes – desselben, der mich in der ersten Instanz vertreten hatte und dem ich bei dieser Gelegenheit meinen herzlichsten Dank sage – behielt das erste Urteil Rechtskraft.

10

Mons

Diesmal wurde ich endgültig eingesperrt. Ich kam in Separathaft bei den Verurteilten. Eine verhältnismäßige Freiheit: die Zimmertüren von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends blieben offen, und der Verkehr der Gefangenen untereinander war gestattet. Ungefähr zwanzig »Kameraden«, meist Franzosen, was für mich wenig schmeichelhaft war.

Ich blieb dort etwa einen Monat, und es war, alles in allem, die glücklichste Zeit meiner Gefangenschaft. Aber dann im geschlossenen Abteil nach – Mons.

Dies Gefängnis, gleichfalls ein Zellengefängnis in der Hauptstadt des Hennegau, ist, muß ich gestehen, ein äußerst ansprechendes Gebäude. Von außen aus blaßroten, fast rosafarbenen Ziegelsteinen, ist dieses Monument, dieses wahrhafte Monument, innen weiß getüncht und dunkel geteert und zeigt schlichte Stahl- und Eisenornamente. Ich habe die Bewunderung, die der Anblick, o gleich der allererste, dieses meines künftigen »Schlosses« mir verursachte, in Versen, die man kurzweilig gefunden hat, des Buches »Sagesse« zum Ausdruck gebracht, dessen Gedichte übrigens ihrer Mehrzahl nach aus jener Zeit stammen.

»Lange bewohnte ich das beste der Schlösser.«

Als ich den Zug verlassen hatte, wurde ich in einem geschlossenen Gerichtswagen in dieses fast freundliche Gefängnis überführt, wo man mich, man muß wohl sagen, ohne weitere Umstände in Empfang nahm, worauf man mich unverzüglich aufforderte, ein Bad zu nehmen. Dann wurde mir eine recht bizarre Kleidung gebracht, die aus einer Lederkappe à la Louis XI. bestand, einer Jacke, einer Weste und Beinkleidern aus einem derben, grünen, dicken, ripsähnlichen, sehr plumpen und häßlichen Stoff, dessen Name mir entfallen ist, einem langen, dicken Wollschal, Socken und Holzschuhen. Solchermaßen ausstaffiert, ließ man mich zu der für mich bestimmten Zelle hinaufsteigen. Das Meublement summarisch … Denn ich war jetzt wieder gewöhnlicher Gefangener geworden, bis auf weiteres und bis neue Anordnungen mich wieder zum Separatgefangenen machen sollten.

Man vervollständigte meine Kleidung durch einen Überwurf aus blauem Leinen, der dazu bestimmt war, das Gesicht der Gefangenen zu verbergen, wenn sie auf ihrer Promenade im Gefängnishof die Flurgänge passierten, und durch ein grün und schwarzes, breites, annähernd herzförmiges Lederschildchen mit einer draufgepreßten Nummer, die schöner als Gold glänzte. Ich hatte dieses Abzeichen bei jeder Promenade an einem Knopf meiner Jacke zu befestigen. Außerdem rasierte mich der Anstaltsbarbier nach der Vorschrift des Reglements. Ich versichere, daß ich mich nett und elegant ausnahm.

Aber um noch einmal auf das Meublement meiner Zelle zurückzukommen:

Ein Bett-Tisch, den man nur abends kurz vorm Schlafengehen auseinanderklappen und herrichten durfte, ein an der Mauer angebrachter Sitz ohne Lehne, eine Waschgelegenheit und eine aufschiebbare Vorrichtung in der Mauer für einen gewissen Zweck. Ein kleines Kruzifix aus Kupfer, mit dem ich später nähere Bekanntschaft zu machen hatte, vervollständigte diesen kargen Luxus.

O dieses Kruzifix!

11

Es sollte nicht mehr genau das Kruzifix meiner ersten Zelle in Mons sein, mit dem ich zu tun bekam, aber ein ähnliches, übrigens eins der Art, wie sie eben alle Räume des umfangreichen Strafortes weihten.

Aber kommen wir auf das Meublement zurück. Ich habe etwas nicht Unwesentliches ausgelassen. Ich habe noch von dem »Adjutanten« oder Oberwärter des Flügels, in dem ich mich damals befand, zu sprechen. Die Unterwärter führten, wie schon erwähnt, den Titel Sergeant. Dieser Adjutant also hegte eine Abneigung gegen mich, und wenn er mich plötzlich besuchte, so geschah es nicht, um mich zu sehen, sondern um mich schlecht und recht zu beaufsichtigen. Die Beobachtungen nahmen kein Ende. Sogar mit strengem Arrest wurde gedroht, wenn bloß ein Stäubchen dalag, die Decke meines Bett-Tisches nicht ganz genau gefaltet war, sobald das Bett wieder in den Tisch umgewandelt war; ja sogar wenn seiner Ansicht nach an meinem Äußeren etwas sich nicht in Ordnung befand, etwa wenn mein Halstuch nicht nach der Vorschrift, oder ein Knopf meiner Jacke locker war usw. Was hat mich diese Bestie mit ihren unsinnigen Kleinigkeitskrämereien nicht gepeinigt! Übrigens trotzdem ein guter Teufel, der etwas später, wenigstens mir gegenüber, dann ein wenig menschlicher wurde.

Das Essen? Eh, meiner Treu die ewigen Graupen und am Sonntag Erbsen! Kommißbrot. Wasser ganz nach Belieben.

Sonntags Messe; Nachmittags- und Abendandacht, von Gefangenen gesungen, dazu Harmoniumspiel von einer Dame der Stadt; gutgehaltene Predigten vom Anstaltsgeistlichen, einem angenehmen Mann, den ich in bester, dankbarster Erinnerung behalten habe.

Die Kapelle sehr ungewöhnlich. Ganz im Gegensatz zu der Mehrzahl der Zellengefängnisse befindet sich der Altar mit seinem Zubehör zwar mitten unter den für die »Gläubigen« bestimmten Verschlagen, aber auf einer hohen Plattform, an deren vier Ecken sich die Wärter befanden, in guter Haltung und mit dem der heiligen Stätte angemessenen Respekt …

Auf das alles spielen meine Verse in »Parallélement« an:

— — — — — —

»Sieh den Heiligen Geist sich entfachen
Aus der Tiefe eines Loches.«

Die Gefängnishöfe bilden ein Rad mit einer Rotunde in der Mitte, die die Nabe ist, von der in V-Form zehn Mauern ausgingen, die ebensoviele, infolge der Maueranlagen recht trübselige Gärtchen einschlossen. Ein Wärter hielt sich in der Rotunde auf und gab den Gefangenen Feuer, die für eine Stunde eine Pfeife rauchen und die wie Wölfe, jeder in dem ihm zugewiesenen Hof, umherlaufen durften. Danach begab man sich im Gänsemarsch, die Hülle überm Kopf, in die Zellen zurück, um sie vor dem nächsten Tage bis zur gleichen Stunde nicht mehr zu verlassen.

Aber nach Ablauf der acht bis zehn Tage dieser – so bequem und ausreichend sie im Grunde auch war – doch wenig angenehmen Ordnung wurde ich zum Direktor gerufen, einem, obgleich schon ergrauenden, doch noch sehr einnehmenden, sehr liebenswürdigen Manne, der mir auf den ersten Blick sympathisch war.

Gott sei Dank, ich sollte in Separathaft kommen!

Ich wurde in einen anderen Teil des Gebäudes gebracht. Meine neue Zelle, ein wenig größer als die vorige, doch mit Ausnahme eines guten, breiten Bettes, das mir endlich die Wohltat gewährte, mich lang ausstrecken zu können, auf ganz die gleiche Weise wie die vorige ausgestattet, gefiel mir sofort.

Doch war sie nicht durchaus bequem. Und besonders die allenfalls ausreichende Beleuchtung, die zu hoch zwischen horizontalen Eisenstäben hereindrang und – selbst auf die Gefahr der zu häufigen Wiederholung muß es gesagt werden – den Horizont versperrte. Aber welches Glück, endlich in einem ordentlichen Bett schlafen zu dürfen! Welche, wenn auch in Anbetracht, ach! des früher gewohnten einfachen, aber bequemen ehelichen Schlafgemaches mit seinem Bett in der Mitte, bescheidene Glückseligkeit!

Man muß sich darauf verstehen, besonders im Gefängnis, mit wenigem zufrieden zu sein, und da sich mir jeder Gedanke an weiblichen Umgang strengstens verbot, hatte ich die Kraft, mich zu bescheiden. Und das tat ich.

Ich verlangte Bücher. Man gestattete mir eine ganze Bibliothek. Wörterbücher, Klassiker, einen englischen Shakespeare, den ich ganz durchlas. (Ich hatte ja die Zeit dazu!) Wertvolle Anmerkungen nach Johnson und allen englischen, deutschen und andern Kommentaren vermittelten mir das bessere Verständnis des gewaltigen Dichters, der mich dennoch niemals weder Racine noch Fénelon noch Lafontaine vergessen ließ – Corneille, Victor Hugo, Lamartine und Musset nicht zu erwähnen. Aber keine Zeitungen!

Doch waren das nicht meine einzigen Zerstreuungen. Ich erfand ein Spiel.

Es bestand darin, daß zwei Kügelchen aus Papier gekaut wurden, welche Geschosse zwei vorgestellte Partner, A und B, wechselseitig gegen ein Ziel hinzuschnellen hatten, als welches das Guckloch in der Zellentür diente; die Würfe wurden sorgfältig gezählt.

Doppeltes Vergnügen. Zuerst zu verlieren oder zu gewinnen. Das, wofür A den B verwünschte, gab B ihm bestens zurück. Dann mußte man sich vor dem Kontrollgang des Oberwärters oder eines Unterwärters oder gar des Direktors selbst in acht nehmen.

Doch fürchtete ich den letzteren am wenigsten.

12

O Jesus, wie machtest du es, daß du mich gewannst?

Ah!

Eines Morgens trat der gute Direktor persönlich in meine Zelle ein.

»Armer Freund,« redete er mich an, »ich bringe Ihnen eine schlimme Nachricht. Fassen Sie sich! Lesen Sie!« Es war ein Stempelbogen, die Kopie einer Entscheidung über Trennung von Bett und Habe, so verschuldet auch immer (vom Bett! vielleicht auch von der Habe?), trotzdem hart die Art, wie das Zivilgericht an der Seine über mich erkannte. Ich warf mich über mein armes Bett und brach in Tränen aus.

Doch gab mir ein Händedruck und eine leichte Berührung der Schulter seitens des Direktors wieder ein wenig Fassung – und ein, zwei Stunden nach dieser Szene konnte ich meinen Wärter bitten, den Herrn Anstaltsgeistlichen zu einer Aussprache zu mir zu bescheiden.

Er kam – und ich bat ihn um einen Katechismus. Er gab mir sofort die von Monsignore Gaume für Erwachsene bearbeitete Ausgabe.

Ich bin Literat, ich liebe die Kritik, die Feinheit, die Mache des Stiles als Hecht und Pflicht. Diese Kritik, diese Feinheit: ich habe Auffassung für sie, wittre sie sozusagen. Und ich verabscheue alle geschriebenen Plattheiten.

Doch trotz seiner jämmerlichen Schreibekunst und seiner kaum noch lebendigen Syntax war Monsignore Gaume für mich, den durch Hochmut, Syntax und Pariser Abgeschmacktheiten Verdorbenen, der Apostel.

13

Die höchst mäßigen Versuche Monsignore Gaumes, das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, gefielen mir nur wenig und bekehrten mich durchaus nicht, wie ich gestehen muß, trotz der Bemühungen des Geistlichen, sie mit seinen besten und herzlichsten Erläuterungen zu unterstützen.

Er geriet also auf seine letzte Idee und sagte mir: »Überschlagen Sie diese Kapitel und gehen Sie gleich zu dem Sakrament des Abendmahles über.«

Und ich las die hundert Seiten, die der gute Prälat dem Sakrament des Abendmahles gewidmet hat.

Ich weiß nicht, ob diese Seiten ein Meisterwerk sind. Ich bezweifle es. Aber die Geistesverfassung, in der ich mich befand, die tiefe Langeweile, die auf mir lastete, trotz aller guten Rücksichten, die ich erfuhr, und des verhältnismäßig glücklichen Lebens, das ich ihnen verdankte, die Verzweiflung, daß ich nicht frei war, die Schande außerdem, die mein Aufenthalt hier einschloß, hatten eines frühen Junimorgens, nachdem ich was für eine bittersüße Nacht im Nachdenken über die wahrhafte Gegenwart und die zahllose Vielheit von Hostien, die in den heiligen Evangelien durch die Vervielfältigung von Brot und Wein verbildlicht sind, zugebracht –: alles das, sage ich, hatte in mir tatsächlich eine außergewöhnliche innere Umwälzung zur Folge!

Es befand sich seit einigen Tagen über dem kleinen kupfernen Kruzifix, das dem schon früher erwähnten ähnlich war, an der Wand meiner Zelle eine ziemlich gräßliche Lithographie auch des heiligen Herzens: ein Christuskopf mit einem langen Pferdegesicht, eine breite, abgemagerte Brust zwischen den weiten Falten des Gewandes, dünne Hände, die ein Herz,

»das blutend strahlt«,

darhalten, wie ich bald danach in »Sagesse« schrieb.

Ich weiß nicht, was oder wer mich plötzlich in die Höhe riß, mich aus meinem Bette warf, ohne daß ich mir erst die Zeit nehmen konnte, mich anzukleiden, und mich mit schluchzenden Tränen zu den Füßen des Kruzifixes und dieses Bildes hinstreckte, das die sonderbarste, aber in meinen Augen erhabenste Andacht der modernen katholischen Kirche verursachte.

Erst die Stunde des täglichen Aufstehens, etwa zwei Stunden nach diesem kleinen (oder großen?) moralischen Wunder, veranlaßte mich, mich zu erheben, und ich bewegte mich, dem täglichen Reglement gemäß, hin und her, meinen täglichen Aufräumearbeiten hingegeben (Bett machen, Zelle fegen), als der Wärter vom Dienst eintrat und die übliche Frage: »Alles in Ordnung?« an mich richtete.

Ich antwortete auf der Stelle:

»Sagen Sie dem Herrn Geistlichen, er möchte kommen.«

Ein paar Minuten später betrat dieser die Zelle, und ich machte ihm Mitteilung von meiner »Bekehrung«.

Es war eine ernstliche. Ich glaubte, ich sah, es schien mir, ich wüßte, daß ich erleuchtet war. Ich würde für das Gute in das Martyrium gegangen sein, und meine unendliche Reue war offenbar der Größe meiner Versündigung angemessen, jedenfalls aber für das gegenwärtige Examen im höchsten Grade eine überspannte.

Übrigens ist man oft hochmütig, wenn man sich prüft.

Der Geistliche, ein Mann, der sich mit den Gefangenen auskannte und zweifellos an derartige, wahre oder falsche Bekehrungen gewöhnt, indessen, wie ich sicher glaube, von der Aufrichtigkeit der meinigen überzeugt war, beruhigte mich nichtsdestoweniger, nachdem er mir zu der Gnade, die mir zuteil geworden, Glück gewünscht, worauf ich, gestern buchstäblich noch ganz Unglaube und Sünde, in einem wohl zudringlichen und unbedachten Neophyteneifer, aus Furcht, daß ich unbußfertig sterben könnte, ihn anflehte, mir auf der Stelle die Beichte abzunehmen; doch entgegnete er mir mit einem kleinen Lächeln: »Fürchten Sie nichts! Sie sind bereits nicht mehr unbußfertig, versichere ich Sie. Mit der Absolution und selbst mit dem einfachen Segen warten Sie besser noch ein paar Tage; Gott ist langmütig und wird Ihnen schon noch eine Zeitlang Aufschub geben, Er, der schon so lange auf das ihm Gebührende warten mußte; nicht wahr? Also auf sehr, sehr bald; vielleicht schon morgen.«

14

Und der würdige, sehr würdige Gottesmann ließ mich beruhigt zurück.

Ich setzte mein Vertrauen auf seine Methode und geduldete mich im Gebet.

Ein Gebet unter Weinen und unter Lachen, wie ein Kind, wie ein begnadigter Sünder; ein Gebet auf beiden Knien, mit beiden Händen, von ganzem Herzen und aus ganzer Seele, aus all meinen Kräften, unter Anlehnung an meinen wiedergewonnenen Katechismus! Wie viel dachte ich nach über das Wesen und den Vorgang dessen, was sich da in mir vollzog! Warum? Und wie?

Und ich hatte diese Eifersgluten, diese, wie man in unseren frevelnden Zeiten sagt: Empfindsamkeit! Wie war ich gut, schlicht, klein!

Und unwissend!

»Domine, noverim te!«

Welche kindliche Herzenslauterkeit, welch reifer – und junger Anstand des bekehrten Sünders, des Hochmütigen, der sich demütigt, des Heftigen, der zum Lamm geworden!

Ich sagte von da an aller »profanen« Lektüre ab. Unter anderem Shakespeare, den wieder und wieder gelesenen, im Urtext mit Hilfe des Wörterbuches, den schließlich sozusagen auswendig gekannten. Und ich versenkte mich in die Lektüre der de Maistre und besonders der August Nicolas.

Trotzdem hatte ich aber schüchterne Einwände, die der Geistliche mehr oder weniger gut widerlegte; wie mir damals schien: in bewunderungswürdiger Weise.

»Aber die Tiere nach ihrem Tode? Die heiligen Schriften sagen nichts.«

»Mein lieber Freund, wenn die heiligen Schriften darüber weniger handeln als von den Kindern Adams, so geschah es darum, weil es überflüssig war. Übrigens hat Gott, der die unendliche Güte ist, die Tiere ebensogut zu ihrem eigenen wie zu unserem Besten erschaffen.«

»Aber die ewige Hölle?«

»Gott ist die unendliche Gerechtigkeit, und wenn er ewige Strafen auferlegt, so darum, weil er seine Beweggründe dazu hat; unzugängliche Beweggründe, vor denen uns nur übrigbleibt, uns vor ihnen zu beugen, ohne daß wir sie kennen. Denn wirklich, die ewigen Strafen sind eine Art von Mysterium … Oder auch nicht, da ja das Dogma sie nicht als solches bezeichnet.«

Und so weiter.

Der große, so sehr erwartete, so ungeduldig ersehnte Tag der Beichte kam endlich …

Sie war lang, unendlich eingehend, diese Beichte; meine erste seit der Firmelung. Sinnliche Vergehen, besonders solche aus Jähzorn, ebenso zahlreiche der Unmäßigkeit, allerlei kleine Lügen, unbestimmte, halb unbewußte Betrügereien, und abermals sinnliche Vergehungen …

Der Priester half mir ab und zu in meinen Geständnissen nach, die im Falle eines solchen seltsamen Neophyten, wie ich einer war, immer ein wenig peinlich sind.

Unter anderem legte er mir auch, in einem sanften Ton und so befremdet wie befremdend, die Frage vor:

»Haben Sie niemals Verkehr mit Tieren gehabt?«

15

Nachdem ich nicht ohne Bestürzung über die auferlegte Frage mit »nein« geantwortet hatte, empfing ich nach einer, ich versichere es, sehr aufrichtigen und gewissenhaften Beichte mit demütiger und zerknirschter Stirn den Segen, aber noch nicht die so sehnlich begehrte Absolution.

Und indem ich die letztere abwartete, nahm ich auf Rat meines geistlichen Leiters meine Arbeiten, mannigfache Lektüre und besonders auch meine Verse wieder vor.

Aus dieser Zeit datiert fast das ganze »Sagesse«.

»Mein Gott hat mir gesagt …«

unter anderem, das allgemeine Anerkennung findet.

Meine Lektüre war von da an insbesondere eine sehr eindringliche theologische; Englisches und Lateinisches, nicht allein die Kirchenväter, der heilige Augustin, dieser erhabene Geistesverwandte, als dessen niedrigsten Nachfolger ich mich damals fühlte, sondern auch profane Klassik, zum Beispiel Vergil, »Eklogen« und »Georgica« ganz und ein großer Teil der »Äneïde«.

Der gute Direktor und der vortreffliche Priester studierten mit mir eifrig fast jeden Tag.

Dann hatte ich ja aber einen Wärter, der den »Kasten«, wie er sagte, verlassen und »seine Schulbildung vervollständigen« wollte, um eine andere Laufbahn einzuschlagen, und der mich eines schönen Tages bat, ich möchte ihm Unterricht im Französischen geben. Und so diktierte ich ihm, und er schrieb mit seiner unbeholfenen Handschrift zunächst Beispiele zur Grammatik: »Êtes-vous Madame de Genlis?« usw., und dann, als handgreifliche Fortschritte erzielt waren, sorgsam ausgewählte Stücke aus den »Aventures du jeune Télémaque« des Herrn de Salignac-Fénelon, Erzbischofs von Cambrai.

Als Entgelt für diesen Unterricht erwies mir der brave Bursche allerlei Annehmlichkeiten, brachte mir Lokalzeitungen, Kuchen, Schokolade, manchmal auch einen Tropfen und sehr oft – o Freude, o Dank! – Priemtabak (der aber verboten war!); die Schwierigkeit, seine Spuren nach erfolgtem Gebrauch zu tilgen, machte seinen Genuß zu einem um so angenehmeren.

»Welche Schliche, welche Listen«

nach jedem Ausspeien in das kleine, für meine Waschungen bestimmte Becken einen dünnen, möglichst geräuschlosen Wasserstrahl nachzulassen, damit die Spuren des garstigen Vergehens durch den Ausguß verschwanden. Jeden Donnerstag und Sonntag besuchte mich, jedesmal mit einer besonderen Erlaubnis des Königlichen Staatsanwaltes versehen, meine Mutter. O wie peinlich (und wohltuend!) waren diese Besuche, zwischen zwei etwa einen Meter voneinander entfernten Gittern! Keine andere Möglichkeit, sich zu küssen, als durch eine Bewegung der Hand an die Lippen; miteinander zu sprechen, als mit aller Gemächlichkeit durch das Guckloch einer in der Nähe befindlichen Tür beobachtet zu werden. Dennoch zog meine brave Mutter einen »Figaro«, den sie am Bahnhof gekauft hatte, aus der Tasche, welchen besagten »Figaro« sie mir zu einem sehr feinen Florett zusammengerollt durch die Gitter hindurch zuschob. Man bedenke, welche Aufregung, dieses Zeitungsblatt erst zu entfalten und dann zu lesen, das, wäre ich mit ihm überrascht worden, mich strengen Arrest, Einstellung des Besuches, Aufhebung der Privathaft und andere Unannehmlichkeiten hätte kosten können!

Und tausend andere karge Freuden und kleine Leiden, mit denen ich mich, dank meiner neuen Anschauungen, zufrieden gab und an die ich mich christlich gewöhnte, bis sich die Morgenröte des großen Tages erhob, an dem ich »meinen Heiland empfangen« sollte …

Ich habe anläßlich dieser Kommunion in »Sagesse«, dem Buch meiner Bekehrung, wenn ich so sagen darf, Verse geschrieben, die man für gut hält, ebenso in den folgenden, gemäßigteren, doch nicht minder aufrichtigen Büchern wie »Amour«, »Bonheur« und meinem neuesten: »Liturgies intimes«.

»Gib auf dein haltlos dumpfes Irren«

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Zu dulden und sterben eines ruchlosen Todes.

(Ich spreche natürlich nicht von »Parallélement«, wo ich viel eher mit dem Teufel Kommunion habe.) Ich kann und hätte den Geist dieser Gedichte, ihre unsägliche Lebendigkeit, ihre Selbstverleugnung, ihren Verzicht, wie ich sie an diesem unvergeßlichen Tage von Maria Himmelfahrt 1874 erlebte, nie treffender kennzeichnen können.

Von diesem Tag an erschien mir meine Gefangenschaft, die noch bis zum 16. Januar 1875 dauern sollte, kurz, ja, wäre nicht meine Mutter gewesen, fast schon allzu kurz!

16

Ja, von diesem Tage an war ich, muß ich sagen, ein andrer. Keine Beleidigung hätte mich treffen können, die ich nicht verziehen hätte; die Tat wenigstens, die unmittelbare Empfindung – nicht, wie ich heute tun würde, die Nachempfindung – des erlittenen Unrechts; niemand hätte auf mich geblickt, dem ich nicht mit einem innerlichen Gebet für das Heil seiner Seele und mit diesem lateinisch empfundenen Wunsch erwidert hätte: »Vade retro.«

O ja! ich war seit diesem Mariä-Himmelfahrtstage bis zur Stunde meiner buchstäblichen, materiellen wie physischen »Befreiung« glücklich.

Ja!

Man stelle sich vor: sich schuldlos fühlen, sich wenigstens dafür halten; bis zu einem solchen Grade sich schuldlos wissen! Schuldlos, man stelle sich das doch vor!

Ich trieb in diesem Zustande wie in einem Nachen – auf dieser »Höhe der Situation«, wie der niedrige Geist unserer Zeit spotten würde – bis zum 16. Januar 1875, als ein Don Quichotte, und noch alberner, der sich anschickt, auf andere Windmühlen loszugehen.

Ich trieb solchermaßen meiner »Befreiung« entgegen, die erst an diesem trüben Januartage erfolgte.

Am Morgen hatte man mir meine Taschenuhr zurückgegeben (ich besaß eine, sogar mehrere, bis zu dieser Zeit und auch später), meine Brieftasche mit den paar Banknoten darin, die ich gleichfalls bei mir zu führen gewohnt war, mein Hemd mit dem dazugehörigen Kragen und die unterschiedlichen eleganten Kleidungsstücke.

Unter Mamas Begleitung verließ ich die Haft. Die Beamten des Bureaus drückten mir die Hand, vor allem auch der Priester, der Direktor und die Wärter, und ich verließ diesen beinahe gepolsterten »Kasten« und begab mich nach dem Bahnhof Mons, wobei wir, Mama und ich, uns zwischen zwei Gendarmen, mit Bärenmützen über den bartlosen Gesichtern, befanden.

Und so reisten wir nach Frankreich ab, wo uns, wie es Brauch und gerecht ist, die Gendarmerie mit den wohlbekannten dreieckigen Hüten aus der Hand unserer κατα κεφαλην behaarten jugendlichen Geleitschaft entgegennahm, deren soeben gedacht worden ist.

Unsre nationale Armee empfing uns (ich sage und wiederhole »uns«, weil wir zwei losgekommene Franzosen Mörder, Diebe waren, und ich ein Ausgewiesener) ohne sonderliche Herzlichkeit. Ja, was mich anbetraf, so mußte ich, nachdem ich Namen, Vornamen und Beruf dekliniert (warum nicht konjugiert?) hatte, von meinem Landsmann, dem Wachtmeister, diese besondere erregende, aufmunternde Weisung mit in Kauf nehmen:

»Vor allem: kehren Sie nie wieder hierher zurück!«

»Nein, Herr Wachtmeister!«

Douai! Meine Mutter, die bis zuletzt so ergeben, so gut und sanft zu mir war, begleitete mich, wie ich oben schon sagte. Douai! Geweihte Stadt, wo die Desbordes-Valmore Marceline Desbordes-Valmore, berühmte französische Schauspielerin und Dichterin, 1785-1859. (Anmerk. der Übersetzerin.)] geboren wurde, da unten im Schatten von Notre-Dame, derer meine Mutter sich mitten in ihrem Kummer und ihren Pariser Sorgen – welche Stockwerke, arme Frau! – stets erinnerte. Douai mit seinem reizenden, schnurrigen Glockenturm.

»Klöppel, sagt Lisette …
Turlututu, Gayant, der knallt
Turlututu, aus seinem Hintern.«

Douai, sei gegrüßt! …

17

In V... Eine ganz ausnehmend nette Stadt, beinahe vogesisches Gebiet, wo ich inhaftiert wurde unter Anschuldigung der bedingungsweisen Bedrohung meiner Mutter, ein Verbrechen, das das Strafgesetzbuch mit dem Tode bestraft, zu dem man barfüßig und mit abgehauener Hand geht … O Mama!

O Mama, wirklich! Verzeihe mir dies eine Wort, das lautete: Wenn du nicht zu uns zurückkommst, töte ich mich!

Scheußliche Belgier, die dein Vertrauen mißbraucht hatten, denunzierten mich bei dem Gericht in V...-G..., Staatsanwalt –, als ich sie wegen eines Hausfriedensbruches verklagt hatte, den sie sich hatten zuschulden kommen lassen, nachdem sie nach mehreren Brandstiftungen an verschiedenen Orten von A..., Departement der Ardennen, nach C... übergesiedelt waren.

Mit solchem Erfolg, daß ich eine Vorladung bekam und acht Tage darauf vor dem Gerichtshof erster Instanz des Bezirks erschien.

Der Weg – soll ich sagen Leidensweg? – nein! – war reizend. Eine verheiratete Frau, ihr Gatte und ich, außerdem ein Hund, der die Krähen anbellte, die in den Baumwipfeln saßen, wurden auf einem volkstümlich »Wippe« genannten Fahrzeug, das der Brauch »auf dem Boulevard von Gent« »buggy« Ein vierräderiger Einspänner. (Anmerk. der Übersetzerin.) nennt, hin und her geschüttelt.

Der »Goldene Löwe«. – Der Goldene Löwe der Gegend nahm uns auf, Pferd und alles. Später waren wir vor Gericht: dieser Ehemann und seine Frau als Entlastungszeugen.

Die allerreizendste Trinität von Richtern, die ich in all meiner kriminellen Verbrecherlaufbahn erlebt habe.

Der Vorsitzende hieß Adam. Sein Beisitzer zur Rechten Marie. Den Namen des anderen Beisitzenden, der ausnahmsweise mein Untersuchungsrichter gewesen war, hab ich – mag ers mir verzeihen – vergessen.

Aber umsomehr entsinne ich mich des Namens des Staatsanwaltes der Republik: G...

Ich habe auf ihn gewisse Verse in den »Invectives« gedichtet, die bei meinem natürlichen Feind Léon Vanier, 19 Quai Saint-Michel, erschienen.

Aber treten wir in den Justizpalast dieser winzigen Unterpräfektur ein und bewundern wir seine architekturelle Nichtigkeit, eine »rara avis« selbst in dieser nach allen Richtungen hin so prätentiösen Zeit.

Versäumen wir nicht minder, diese Null von Herrn G... zu bewundern, Staatsanwalt der Republik, ein eifervoller Radikaler, wie mir gesagt wurde, obwohl klerikal; katholisch, obwohl Freidenker, und in gewisser Hinsicht meine hölzerne Muse.

Man urteile selbst.

Das altangestammte Gerichtsmobiliar: aus Eichenholz; eine dunkle Tapete, gleichfalls dunkle Vorhänge, und drei Herren in schwarzem Talar und weißen Beffchen. Zur Linken ein Tisch mit dem Staatsanwalt dahinter; dasselbe Kostüm, aber, wie gewöhnlich, noch ein goldbetreßtes Barett auf dem Kopfe, schneidig nach vorn gerückt.

Die Sitzung begann mit allerlei Plunder: Landstreicherei, Wilddiebereien, kleinen Diebstählen usw. Als meine Sache an die Reihe kam, entstand unter dem diesmal sehr zahlreich anwesenden Publikum so etwas wie eine Stille. Ich war für diesen Landstrich so eine Art von Herr, übrigens von grundschlechtem Ruf; irgendso ein Scheusal aus Edgar Poe, das durch seinen Rum oder Absinth zu einer Greueltat verführt worden war; so ungefähr stand ich vor der Einbildung meiner ländlichen Nachbarschaft da, die zur Stadt gekommen war. um zu sehen, wie »der Pariser« verurteilt wurde.

Das Verhör verlief unter den üblichen Formalitäten. Aber der Anklagerede fehlte jede Spur von Mäßigung. Ich wäre ein Kompositum von Herodes und Heliogabal gewesen, wenn es nach den dicken Epitheta gegangen wäre, die in hageldichter Vielzahl den Lippen Herrn G...s entflogen, mit denen, fürcht ich, die Bienen des Hymettos niemals etwas zu tun hatten: »Der verruchteste aller Menschen, die Geißel des Landes, herbeigekommen, um unserer Landschaft Schande zu machen.« (Das geschah in den Ardennen, und dieser G... war Auvergnat.) »Es fehlen mir die Worte, dieses Individuum hinreichend zu kennzeichnen und meinen ganzen Abscheu zum Ausdruck zu bringen; aber wir werden schon noch bessere Gelegenheit bekommen, als gelegentlich einer verhältnismäßig noch so geringfügigen Sache.« (Komme doch, mein Teurer!) Das waren so ein paar Blümchen aus seinem Strauß … Wahrhaftig, von gesundem Menschenverstand war da keine Rede. Und er beantragte schließlich das höchste Strafmaß – man vergleiche das Gesetzbuch –: den Tod. Der Gerichtshof legte mir das niedrigste auf.

Viel Dank kann und könnte ich diesen Herren, für was auch immer, nicht wissen, höchstens sie blamieren, da ich ganz unschuldig durch ein allerdings sehr glaubwürdiges falsches Zeugnis hineingefallen war. Immerhin muß ich anerkennen, daß sie, wie man so sagt, das Ihre in dem Fall getan haben. Und für ihren guten Willen und ihre Motive – »in Anbetracht der vortrefflichen Haltung des Angeklagten während des Verhörs« –, für die Wohltat, daß mildernde Umstände zugestanden wurden, was alles mir den Gedanken an die abermalige Gefängnisstrafe zu einem weniger unerträglichen machte, quittiere ich mit meiner Erkenntlichkeit. Das Gefängnis von V.... ist sehr klein; die Gitter aus schwarzgestrichenem Holz. Man spielte mit dem Oberwärter das Korkspiel. Der Aufenthalt hier ist kein langer: ein Monat, höchstens einen Tag drüber. Zu meiner Zeit war da eine zahme Krähe, der grimmige Feind der wenig melodischen Katzen des Institutes, die, weil sie die Laugenwasserkübel verunreinigt hatte, von dem »Meister« durch einen Karabinerschuß getötet wurde und eine ausgezeichnete Bouillon gab. Ich habe die Sache ausführlicher in meinen »Mémoires d'un veuf« erzählt.

In diesem so gemütlichen Gefängnis wurde ich mit dem Reinemachen, Abstäuben und Ausfegen beauftragt. Bei dieser Gelegenheit sagte mir der Oberwärter eines Tages, daß ich die »Arbeet« – der Mann stammte aus dem Norden – schlecht gemacht hätte, und er setzte hinzu, daß ich mich besser aufs Schreiben als aufs Anstreichen verstünde.

(Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, daß ich hierzulande bereits im Ruf eines »Schriftstellers« stand.) Auch wurde ich ersucht, jeden Abend im Schlafsaal das Paternoster und Ave-Maria zu sprechen – und ich schien mich darauf besser zu verstehen als mein Vorgänger in diesem Amt. Wahrhaftig, und zwar ohne daß es mir zu schwer fiel.

Ein Priester von Falaise, einem benachbarten Dorfe, von dem in Emile Zolas »Débâcle« die Rede ist und der früher Missionar in China gewesen war, ein einsam vor sich hin lebender Mann, las uns jeden Sonntag die Messe. Seine wöchentliche Predigt, sehr hübsch und mit Anekdoten gespickt, sprach er in dem netten, ein wenig englischen Jargon der Ardennen, und sie endete damit, daß er durch das Gitter, welches wie alle anderen aus Holz war, uns drei, vier Gefangenen die Hand drückte.

Das dauerte einen Monat, nach dessen Ablauf ich, nachdem ich meine Geldstrafe (fünfhundert Francs!) erlegt hatte, das Gefängnis in Begleitung des Oberwärters verließ, mit dem ich ein paar Flaschen eines gewissen billigen Weines von Voucq trank, von dem ich nicht mehr als so viel sagen will: in einer Schenke, die, in der Nähe gelegen, »Au bon coin« hieß und diese Bezeichnung verdiente.

18

Nun, und dann verließ ich eines Spätnachmittags – Übergänge! – das frühere »Chat Noir«, jetzige »Mirliton«, nach den von Salis und Léon Bloy, dem »Tiger des lieben Gottes« und »Kater des lieben Teufels«, der damals »persona grata« war, und von Marie Krysinska und vielen anderen liebenswürdigen Mustern dargebotenen Ergötzungen und nach einigen, bis zum äußersten ausgedehnten – wohl nicht, aber vielleicht doch? – Trankopfern.

Ich verließ also diese Genüsse und steuerte, da ich in der Nähe der Bastille wohnte, auf die nächste Fiakerhaltestelle los, um mein noch neues Domizil zu erreichen …

Aber welcher Teufel mich nun auf den Einfall gebracht haben mochte: genug, ich wollte bloß noch durch einen allerletzten Absinth die übrigen dämpfen, die ich bereits genehmigt hatte.

Nach so und so vielen weiteren Genehmigungen ereignete sich ein Rechenfehler bei der Zeche, und ich glaubte, auf meinem Recht in sehr nachdrücklicher Weise bestehen zu müssen.

Ich rief einen Polizisten, der mich unverzüglich zur Wache brachte und nicht gerade in der sanftesten Weise.

Dort in Empfang genommen, mußte ich dem Wachtmeister oder seinem Vorgesetzten Krawatte, Pfeife und Portemonnaie abgeben.

Schlafen konnte ich nicht, da noch ein Betrunkener da war, der alle Augenblicke an dem dafür bestimmten Orte seine Bedürfnisse verrichtete.

Aber gegen neun Uhr morgens ließen uns die »Schutzleute« frei, die uns die ganze Nacht über in einem Zinnbecher Wasser gebracht hatten, wobei sie sagten: »Hättet ihr weiter nichts wie das getrunken, so wäret ihr nicht hier!«

Nach neun Uhr – nachdem ich ungefähr zwölf Stunden, und was für welche! schlaflos verbracht hatte – wurde ich bei meinem Namen, unter Hinzufügung von »Herr«, zu dem Herrn Polizeikommissar (dessen Name, obgleich er in dieser Gegend sehr bekannt war, mir entfallen ist) der Rue Bochard-de-Saron zitiert.

Diese »Obrigkeit« sagte weiter nichts, sondern trug nur meinen Namen in ein Register ein und händigte dem Polizisten, der mich in der Nacht arretiert hatte, einen Empfangsschein ein.

Endlich war ich aus dieser schnurrigen Haft wieder frei. Ob für immer?

19

Schluß

Letztvergangenen November löste ich auf dem Nordbahnhof ein Billett nach Holland mit der Absicht, im Haag, in Leiden und Amsterdam, wohin mich Verbände von Künstlern, Schriftstellern und Studenten eingeladen hatten, Vorträge zu halten. Die Reise verlief in allem Frieden, da ich dank unverhoffter guter Finanzen in der Lage gewesen war, mir tags zuvor ein Coupée reservieren zu lassen. Seit ich leidend bin, schwärme ich, obgleich an das Rauhe gewöhnt, für Bequemlichkeit.

Ich passierte die – mit Ausnahme von ein paar reizvollen Strichen bei Chantilly – so trübselig monotone nordfranzösische Landschaft mit den düsteren, kahlen Weinbergen von Saint-Quentin und darüber hinaus, die Alexander I. von Rußland nur zu gerechtfertigterweise im höchsten Grade »häßlich« fand! Ich durfte dann, fast buchstäblich genommen, aus der Vogelschau das Belgien sehen, in dem ich ehemals als Kind, in der früher französischen Region der nördlichen Ardennen, die heute das belgische Luxemburg ist, auch als Mann und später überall und bei unterschiedlichen Gelegenheiten Aufenthalt hatte. Unter anderen tief in mich eingesenkten Erinnerungen an Mons –

»... das innen weiße Schloß mit seinem roten Schimmer« »Amour«, S. 18. (Anmerkung Verlaines.) – ich meine das Zellengefängnis, das ich noch nie so schön von außen gesehen hatte. Es liegt am äußersten Ende der Stadt und gleicht einem in vier Mauern, die ein Rechteck bilden, eingefügten Rade; das Ganze abgeschlossen durch den polygonen Kuppelbau der Kapelle. Das in grauen Stein eingefaßte Portal hat eine kunstvolle Einkleidung in einem guten gotischen Stil. Die Patina der inzwischen vergangenen Zeit vielleicht und die Entfernung zeigten es mir derzeit, wie es übrigens der oben zitierte Vers ausspricht, blutrot, während mir diese Backsteine damals, wenige Jahre nach seiner Ingebrauchnahme, fast blaß rosa erschienen.

Übrigens, als ich ganz meinen bevorstehenden Vorträgen, dem Nachdenken über Rhythmus, Metrik, Reim und allem Drum und Dran dieser Art von »Geplauder« über die zeitgenössische französische und französisch-belgische Poesie hingegeben war, passierte ich dieses erste Asyl, wo ich neun Jahre zuvor so viel Leid und so viel Freude erfahren, ohne besonders tiefe Gemütsbewegung.

Ich langte an, versah mein Amt als Redner oder vielmehr Vorleser, so gut es gehen wollte, und erntete von einem nachsichtigen Publikum allen Erfolg, den ich nur hatte hoffen dürfen. Ich kostete ein paar nur zu kurze Tage hindurch die gehaltene Herzlichkeit, die feine, verständige Biederkeit meiner neuen Freunde, ihren Beifall, ihr Lob nach jedem Vortrag und die darauffolgenden Tage, und das von drei Vierteln der literarischen und künstlerischen Zeitschriften des Landes; ich bewunderte diese eigenartige Landschaft, ganz Wiesengrün und Wasser, diese Städte mit ihrer traditionellen Architektur – und bestieg, ach, wieder den Zug nach Paris. Wieder kam ich an Mons vorbei und sah wieder »... das innen weiße Schloß mit seinem roten Schimmer«. Und diesmal versetzte ich mich in die Vergangenheit zurück.

Den Weg, den ich jetzt als eine literarische Größe machte, als ein wahrer Finanzbaron, auf Polsterkissen, umgeben von allem möglichen Komfort und Gegenstand der Rücksichtnahme von Beamten aller Grade: ich hatte ihn damals in einem geschlossenen Abteil gemacht, um dann einem »Salatkörbchen« zu entsteigen und zwischen Gefangenwärtern und eskortierenden Gendarmen in einen Gefängnishof einzutreten.

Dort hatte ich zuerst gestöhnt, Lästerungen ausgestoßen, habe manch verächtliches, manch törichtes, zuweilen gehässiges Leid erduldet, und dann kamen, wie ich einige Seiten vorher erzählt, habe, die Bekehrung und das Glück für die Dauer mehrerer Jahre. Dann erschlaffte es allmählich wieder, und es kam von neuem der Abfall.

Unheilbar? …

Vielleicht nicht; denn Gott ist barmherzig und hat Unglück und Elend unter wahrhaft herzzerreißenden Umständen über mich verhängt, Enttäuschungen, Verrat von seiten des Nächsten, dem ich Ärgernis gab? Wirklich? Vielleicht? Vielleicht auch nicht. Aber diese Laschheit, diese Schlaffheit, immer von neuem wieder dieser unbußfertige Starrsinn, dieser ganz unwillkürliche, gleichsam tierische Starrsinn! …

In Paris erwartete mich ein schlimmer Empfang: Heuchelei, Lüge, schließlich, wie man sich wird vorstellen können, listig verschlagener Diebstahl einiger Banknoten, die ich mitgebracht hatte. Meine Verzweiflung darüber hatte für mich am übernächsten Tage eine Verdrießlichkeit zur Folge, die sich sehr zum Schlimmen hätte wenden können, hätte ich mich in der betreffenden Situation nicht beherrscht. Ein sehr leidenschaftlicher Klageausbruch, dem ich mich auf der Treppe hingab, lockte den Portier herbei, der die Polizei holte. Die hielt meinen heftigen Zornausbruch für die Folge eines allzu ausgedehnten Aufenthaltes in Schanklokalen und brachte mich für ein oder zwei Stunden, nicht ohne überflüssige Brutalität, zur Wache. Soll ich diese grotesken und alles in allem mehr kläglichen als wüsten Polizeiszenen erst noch beschreiben? Ich denke, es darf mit diesen Jämmerlichkeiten genug sein. Ich mag diese peinlichen Dinge nicht noch weiter heraufbeschwören …

Ich, der Triumphator von drüben, der bejubelte, im Ausland verhätschelte, gleich nach meiner Rückkehr, und noch nicht mal betrunken, auf der Polizeiwache! O meine Herren von der französischen Polizei: welche »Eselei«, um den Jargon zu gebrauchen, der Ihnen liegt und gefällt! Macht euch doch an die Übeltäter heran, wenn ihr es wagt, und laßt die Dichter in Ruhe. Sie bekümmern sich nicht um euch, in keinem Sinne des Wortes. Aber es ist wahr: der Prophet gilt nichts in seinem Vaterland.

Aber ach, der Katechismus des Monsignore Gaume! O, ihn nicht wieder lesen können – vielleicht ihn nicht wieder lesen wollen – und sich diesmal doch daran zu halten.

Trotzdem ist Gott barmherzig, und die Hoffnung ist eine geistige Tugend, die er gerne zuerteilt. Herr, erbarme dich unser! …

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