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Ich nehme den Faden dieser, ich möchte sagen Räubergeschichte, aber sagen wir: dieses Märchens wieder auf.
Ich war also ein wenig, zuviel vielleicht, »eingeweiht« – noch schlecht eingeweiht, ich war ja noch zu jung! – ich wiederhole: in alles oder fast alles, was die Literatur und … andere Dinge betraf.
Bevor ich von anderen und noch so viel anderen Dingen spreche, muß ich und will ich – vom literarischen Gesichtspunkt aus ist es mir von aller Wichtigkeit, Nachdruck darauf zu legen – sagen, wie sehr ich in Wahrheit bis ins Innerste ergriffen war von jenen zwei Dichtungen: »Vignes folles« und »Philomela«. In dem ersten dieser Meisterwerke – ich halte dieses Wort, das ich mich zu beweisen rüste, aufrecht – fand ich mein naives Herz wieder, meinen stürmischen Geist, außerdem, wie man gemeinhin und trotz allem glücklich sagt: die Kunst, »den Vers zu drechseln«; während »Philomela« mich durch seine schalkhafte Bosheit hinriß und seine bis zum äußersten bewunderungswürdige Behandlung des Rhythmus und des stets genauen Reimes, der nie unfruchtbar nach einem abgeschmackten Reichtum schielt.
Dieser Prolog!
»Weißer als der Hekla überragen
Hoher Gipfel zwei das fahle Land,
Wo mein Trübsinn seine Stätte fand.
— — — — — —
Oh, vom Nordwind hergetragen,
Philomela, deine Klagen!«
Und all die Gewalten, all die Anmut, von denen glänzt, tönt und widerhallt dieses Buch, das mit den »Vignes folles« lange mein Liebling war.
In den »Vignes folles«, die in meinen Augen das beste Pfand sind, das uns, unter nur zu wenig anderem, da ihn uns der Tod allzu früh entriß, Glatigny gegeben hat, war ich nicht weniger vernarrt, und wie manches Mal sag ich mir – mag mein Gedächtnis auch unzuverlässig geworden sein – diese von Begeisterung und ungeachtet ihrer »Gegenstände« von einer so anmutigen, starken, gesunden Einfalt getragenen Strophen her. Und wie er ohne Zweifel beim Verlassen solch eines Ortes, der mich so sehr an das jetzt abgebrochene Haus der Revue d'Orléans-Saint-Honoré erinnert, brandmarkt:
»Der dumme Knabe, der front in diesem Haus!«
Und wie er, als Gegenstück dazu, wie ein Faun, der sich darin auskennt, eine noch nicht oder nicht mehr bekleidete Dame feiert:
»Über deinen schimmerweißen Bauch
Spielt sich hin tiefschwarz ein Schattenhauch.«
... Buchstäblich betete ich diese beiden Dichter an, in der Erwartung, diese beiden bezaubernden Junggesellen, von denen der eine, ach! für immer dahingegangen ist – der andere aber, Gott sei Dank! im Ruhm lebt, munter und jünger als je und netter als je gegen die Kameraden – und, sagt man, gegenüber den Frauen!
Wie machte ich die Bekanntschaft Glatignys? Hier hatte der Autor, dem Sprichwort zuwider,
»wenig Schwierigkeiten«,
– denn es war im Café de Suède, wo ich ihn traf, eines Tages, wo er ein wenig vom Absinth benebelt war, und ich gleichfalls … ein wenig.
Der arme Freund! Welche drollige Verve und welche drollige Gestalt: lang wie ein Aal und ebenso gelenkig, so daß sich die Verve verstehen ließ, welche große Verve doch
»hatte er auch …«
(»doch« gehört, so angewandt, dem so ungezwungenen Ardenner Patois an, das mir so halb und halb vertraut ist, wie man, sozusagen, einen Ring am Finger oder eine Feder am Hut trägt).
Er hatte eine von den Philosophien, wie ich sie dem Leser wünsche (mir auch). Was für Elend und Mißhelligkeiten hatte er durchgemacht! Man könnte ebensogut die Meereswellen oder einen nach dem andern die Nebelsterne abzählen.
Ich sagte »Faun«, und ich wußte, was ich damit sagte. Nicht der
»alte Terrakottafaun«,
von dem man mir die Ohren vollredet, als ob ich sein sehr unschuldiger Verfasser wäre, wie auch Sully-Prudhomme an dieser famosen »Vase brise« ganz unschuldig ist. Ich sage »Faun« seiner abstehenden Ohren, seiner frechen, obschon spitzen Nase, seines bäuerlichen Lachens und seiner gesunden Zähne wegen, die wohl hätten beißen können, wenn sie nicht sein Herz, das beste, das je schlug, im Zaum gehalten hätte.
Was Mendès anbetraf, so lernte ich ihn bei der Marquise de Ricard kennen, der sehr liebenswürdigen Mutter des ausgezeichneten Languedocschen Dichters, der mit ihm der Begründer des »Parnasse contemporain« wurde. Alle Welt kennt heute den auserlesenen Mann, den Raffinierten ohnegleichen, den so schlichten, aufrichtigen, wenn man sein vertrauter Freund ist, und der seit jenen dahingegangenen Zeiten mit einem Gran ausgelassener Bubenhaftigkeit, die seine fünfundzwanzig Jahre bieten, so blendete, und mit seiner munteren Verve und anmutvollen Kühnheit.
Ich habe von diesen beiden Dichtern lange, vielleicht zu lange gesprochen, und an zwei Stellen. Aber das war mir eine doppelte Pflicht der Erkenntlichkeit und ein unendliches Vergnügen. Also um Entschuldigung! Für meinen Antrieb zu früh schließ ich ab.
Da ich ja mit Entschiedenheit die Via dolorosa der intimsten Bekenntnisse betreten habe und ich auch weiterhin die Freimütigkeit schätze, die den rechtschaffenen Mann macht, wollen wir jetzt von dem vielleicht einzigen unverzeihlichen Laster sprechen, das ich außer so vielen anderen habe:
– Von der Manie, der Leidenschaft des Trunkes. Das wäre es!
Zunächst hab ich viel getrunken, als ich meinen Onkel zu Fampoux bei Arras besuchte (einem wohlhabenden Dorfe, das durch ein schreckliches Eisenbahnunglück berühmt wurde … Victor Hugo hat ausgesprochen: »ein Fampoux-Gewissen!«); de l'breune (Braunbier), de chel'blinque (Branntwein), du g'nief (Wacholderbranntwein), les bistoulles (Kaffee mit Kognak). (Spaßige Bezeichnungen, da es ja Patois war, aber schwere Dinge, selbst für einen Magen von zwanzig Jahren, und bereits nachteilig für eine Gesinnungsart, die schon eine windige war.) Nun, als ich das erstemal trank, konnte ich gewiß siebzehn, achtzehn Jahre zählen. Mithin kannte ich schon das Weib, und ich darf versichern, daß ich diese Heilige hoch verehrte!
Ich wußte also nicht mehr viel von jenen kindlichen Bedenken, von denen ich, nur zu vergeblich, bedauere, daß ich sie so gar nicht mehr kenne, – ungeachtet dieses entsetzlichen Gesundheitszustandes, der mich warnt und doch, fürcht ich, zu tauben Ohren spricht. Auch war ich hinter den dortigen Mädels her, mit denen ich mich in den Scheunen und bei den Schobern herumzerrte, während ich mich nach allen Regeln der Kunst betrank. Kopfschmerzen und Magenkatarrh kannte ich damals noch nicht …
Ich habe mich nach bestem Vermögen damit herumgeschlagen und dagegen angekämpft, immerhin leidlich.
Aber ich sehe, daß ich in meinem Eifer und in (vielleicht) meiner Begeisterung, von meiner Lieblingssünde (Lieblings?) zu sprechen, eine Menge mindestens ebenso wichtiger Dinge vergesse.
Zunächst veröffentlichte ich die »Poèmes Saturniens«, bei Alphonse Lemerre, damals dem unmittelbaren Nachfolger des religiösen Verlegers Percepied, welcher Lemerre sich als kluger Mann, der er war und bleibt, für die glänzende Herausgabe des geplanten Werkes der »Pléjade française« des 16. Jahrhunderts einsetzte. Auf dieses Buch, von dem ich zur Genüge gesprochen habe, folgten die »Fêtes galantes«, die besser gefielen, und »Bonne Chanson«, über die ich den Leser unterhalten will – o nebenbei! um dann, nach einem ein wenig langen, aber logischen Umweg wieder auf meine, wie die Mißwollenden sagen, ein für allemal unverbesserliche Trunksucht zurückzukommen.
Zu meinen besten Freunden zählte ich Charles de Sivry, den bezaubernden Menschen und hochbegabten Komponisten, der mir bestimmt zu sein scheint, »in der Liebe und Hochachtung der Jungen« die Stelle des tief beklagten Emanuel Chabrier einzunehmen, und den ich oft abends vor dem Diner besuchte.
Eines Abends sah ich, gerade als wir ausgehen wollten, nachdem scharf angeklopft worden war, seine Schwester, ein noch ganz junges Mädchen in einem grau und grünen Kleid, eine allerliebste Brünette, eintreten.
Mich in sie verlieben, war bei meinem unruhigen Temperament das Werk eines Augenblicks, und so kam »La bonne Chanson« zustande.
Oh, wie sagt doch Victor Hugo in einem Vers, dessen vibrierendes Leben er nur selten wiedergefunden hat?
»Oh, meine Liebesbriefe, so keusch, so voll Jugend!«
Denn der Leser muß wissen, daß, sie in Sommerfrische in der Normandie, ich in meinem Rathausbureau in Paris zurückgehalten, dieses liebe kleine Werk in Gestalt eines Briefwechsels zustandekam und daß es noch – o junge Leute, die ihr mein Schaffen mit eurer Zuneigung begleitet – dasjenige ist, das ich von all meinem geringen Werk am meisten liebe!
Von diesem Tage an datierte in meinem Leben das, was man gemeinhin eine »neue Ära« nennt. Die Art und Weise, oder vielmehr die Haltung des Lebens, das ich bisher, seit meinem zwanzigsten Jahr (und ich hatte damals das fünfundzwanzigste überschritten) geführt hatte und das ein leichtfertiges, wenn nicht gar zügelloses gewesen war, gewann die Neigung, ein geregeltes zu werden, sich, um bürgerlich zu reden, zu rangieren; mit einem Worte: ich gedachte ein Ende zu machen, und noch recht jung, wie ich alles in allem war, ein gutes Ende; Ruhe und Grenze allen Ausschweifungen zu setzen: dem Trunk, den Weibern; Anfang der Besonnenheit, jedoch nicht hinsichtlich der Abschwächung eines möglichen und wahrscheinlichen Glückes, zum mindesten einer ruhigen Ehe. Aber um den Leser diese so wichtige Phase meiner Jugend würdigen, schmecken zu lassen, muß ich erst noch einmal zurückgreifen, worauf dann diese »Notizen« schneller bis gegen die gegenwärtige Periode vorschreiten werden, die, wie ich glaube oder hoffe, die endgültig letzte dieser unerquicklichen Folge einander widersprechender Ereignisse ist, als welche war und fortgesetzt ist meine Existenz.
Sechs und fünf Jahre war es her, daß sich zwei mein Gemüt sehr hart treffende Trauerfälle ereignet hatten. Mein Vater hatte sich infolge eines Sturzes von der Treppe, acht oder zehn Monate zuvor, eine Rückenmarkskrankheit zugezogen, die sich wie epileptische Anfälle äußerte, welche die Ärzte, glaub ich, für seriös hielten; Anfälle, die immer häufiger wurden und Blödheitszustände zur Folge hatten und gegen das Ende hin zeitweilig Rückfälle ins Kindische, von äußersten Redestörungen begleitet und rasch wechselnden Anfällen, die für meine Mutter und mich, zu all unserem Kummer hinzu, außerordentlich beängstigenden und peinvollen Charakters waren.
Um diese Erinnerung, die, obwohl dreißig Jahre seither hingegangen sind, mir eine noch vollkommen lebendige ist, kurz abzuschließen, verlor ich meinen Vater am 30. Dezember 1865.
Wenn ich diese Einzelheit gebe, die im vorliegenden Falle vielleicht zu genau erscheinen möchte, so muß ich auch den Bericht über die Mühe hinzufügen, die es gerade auch des Datums wegen – es war der erste Januar – kostete, meinen armen Vater zu bestatten. Dieser Leichenzug durch die albern lärmende Festfreude dieses Tages hindurch ist mir in Erinnerung geblieben wie eine der widerwärtigsten Angelegenheiten und eine der schmerzlichsten Pflichten.
Zu allem hinzu hatte ich am Tage vorher auch noch eine außerordentlich stürmische Erörterung mit dem Platzmajor bezüglich des Ehren-Detachements gehabt, das meinem Vater seinem Rang und seinen Auszeichnungen nach zustand. »Da morgen ein großer Festtag wäre, könne man das Detachement nicht stellen; aber wenn ich wollte, ließe es sich vielleicht machen, die Nationalgarde einzustellen.« Ungeachtet meiner Trauer konnte ich mich des Lachens nicht enthalten, – worauf ich mich, in meiner nur zu gerechten Anforderung durch einen alten Kameraden meines Vaters, der mich begleitet hatte, unterstützt, so ins Zeug legte, daß ich das Linien-Detachement bekam … Aber diese Pedanterien hatten mich im möglichsten Grade mitgenommen, und ich erinnere mich, als wärs gestern, des gereizten Zustandes, der sich dank all dieser Unannehmlichkeiten an diesem stumpfsinnigen Festtage meiner tiefen Trauer und Niedergeschlagenheit hinzugesellte.
Denn ich liebte meinen Vater, der sich mir gegenüber als so gut erwiesen hatte, aus tiefstem Herzen. Nur ein Beispiel von tausenden: die ganzen acht Jahre hindurch, die mein Aufenthalt in der Pension L... dauerte, war kein Tag, an dem er mich nicht besucht hätte, und jedesmal brachte er mir irgendeine Annehmlichkeit mit, sogar, wenn die Jahreszeit gekommen war, in Anbetracht, daß ich sie leidenschaftlich liebte, in einem Glas mit Öl oder Weinessig grüne Bohnen, – und Donnerstags abends achtete er sorgsam darauf, in der Küche für mein Mahl am nächsten Tage (die Kost in der Pension war mager) eines von jenen köstlichen »detaillierten« Kotelettes abzugeben, oder irgendein Rumpsteak, um das selbst Albion mich beneidet haben würde … Armer Papa! Meine Cousine Elisa, die sich in einem der voraufgehenden Jahre im Norden, in der Nähe von Douai, verheiratet hatte, litt seit einiger Zeit an den Folgen einer schweren Entbindung, und ihr Arzt – mög Gott es ihm verzeihen! – behandelte sie unter anderen Arzneien mit Morphium, das man damals nicht in Gestalt von subkutanen Einspritzungen gab, sondern einnehmen ließ. Meine Cousine, die nach jedem Löffel eine große Erleichterung erfuhr, gewann schließlich, wie es bei Kranken, denen man überreichlich Arznei eingibt, gewöhnlich der Fall ist, Geschmack daran und übertrieb die vielleicht ohnehin schon verwegene Anordnung des Landarztes, der sie behandelte, so sehr, daß sie eines Tages beim Mahl, als man beim Nachtisch war und sie mit ihrer reizenden Stimme ihrem Gatten etwas vorsang, plötzlich einen lauten Schrei ausstieß und in eine furchtbare Ohnmacht fiel.
Ein sofort von Elisas Gatten an meine Mutter gerichtetes Telegramm bestimmte diese, sich unverzüglich zu ihr zu begeben, und ich blieb allein im Hause, aus dem ich mich jedesmal auf mein Bureau in der Seinepräfektur flüchtete (denn seit mehreren Jahren war ich dort Beamter). Eine Aufwartefrau kam des Morgens, die ihre Arbeit besorgte und dann mit mir zu gleicher Zeit ging, nachdem sie mir meine Bouillon gewärmt hatte. Nach dem Bureaudienst dinierte ich bei einem gewissen Duval im Faubourg Montmartre. Zwei Tage gingen in fürchterlicher Unruhe hin, nach deren Verlauf ich eine Depesche erhielt, die mich so schnell als möglich zu kommen aufforderte. Ich nahm sofort eine Kutsche, die mich in weniger als zwanzig Minuten zum Stadthaus brachte, wo ich für zwei Tage Urlaub nahm. Er wurde mir von meinem Chef nicht ohne Murren gewährt, der nicht aufhörte, mich zu ermahnen, daß ich mich ja zur rechten Zeit wieder einstellen möchte. »Wohlverstanden: es handelt sich um die Stadtanleihe, um ganz außergewöhnliche Arbeit …« – und was noch alles für Zeug. »Außerdem kommt Ihr eigenes Interesse in Betracht, es werden bei dieser Gelegenheit sehr ansehnliche Gratifikationen bewilligt werden.«
In Wahrheit scherte ich mich den Kuckuck um die Anleihe und die außergewöhnliche Arbeit, um mein Interesse und die Gratifikationen – nahm meine Droschke, kehrte nach Hause zurück, packte in aller Eile meinen Koffer und nahm den Eilzug nach V..., der nächsten Station vor dem Dorf, wo meine arme Cousine starb.
In einem abscheulichen Februarwetter, unter strömendem Regen und einem wütenden, eiskalten Wind langte ich, in der einen Hand meinen Koffer, in der andern den Regenschirm, den ich des Sturmes wegen nur als Stock gebrauchen konnte, an. – Übrigens, was hatte ich zu verderben, als meinen bis zu den Ohren herabgezogenen Zylinder, und was scherte mich, ich frage um Gottes willen, der Regen und der Schmutz und alles, und wäre ich wie ein Prinz gekleidet gewesen! Mehr rennend als marschierend schob ich mich in das Tagesgrauen hinein und in den Schmutz eines Weges von drei »guten« Stunden.
In was für Geistes-, nein Gemütsverfassung denn doch wohl ich diese gräßliche Wanderung zurücklegte, kann man sich vorstellen. Durchnäßt bis auf die Knochen von Regen, Schweiß, Tränen – dann welche Unruhe: lebt sie noch? wie liebte ich sie! – langte ich endlich am äußersten Ende des Dorfes an, wo ich zuerst einen Glockenlaut, dann zwei, dann drei hörte, zuletzt ein ganzes Totengeläute. Außer mir betrat ich ein an der Landstraße gelegenes Wirtshaus.
»Ah Sie, Herr Verlaine …«
»Und Madame D...?«
»Sie wird eben beerdigt.«
Ich brauchte, ich wette, keine Minute, um die Wohnung zu erreichen, von wo aus der furchtbare Zug sich in Bewegung setzen mußte. Tränenüberströmt warf sich mir mein Vetter in die Arme, und wir hielten uns lange umschlungen … Meine Mutter bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Sie war ja das einzige Kind einer angebeteten, jung verstorbenen Schwester, von meinen Eltern angenommen und fern von ihrem Vater, einem braven, aber trunksüchtigen Manne, erzogen, dem man, mit aller Umsicht, nur seinen Sohn gelassen hatte, den Jäger von Vincennes, dessen bereits in den ersten Kapiteln dieser »Beichten« Erwähnung geschah und der mich mit so wirksamer Überredungskunst in die Pension L... zurückgebracht hatte.
Ich trat in den Salon ein, wo der Sarg aufgestellt war. Ich besprengte ihn mit Weihwasser und entfernte mich taumelnd.
In diesem Augenblicke erklangen in dem Fabrikhofe (mein Vetter war Zuckerfabrikant) die liturgischen Gesänge. Es war zu spät, als daß ich hätte daran denken können mich umzukleiden, und gänzlich mit Straßenschmutz bedeckt, von Nässe dampfend wie ein begossener Hund, und in dem den ganzen Tag über unaufhörlich strömenden Regenguß, folgte ich meiner Cousine, meiner teueren, unvergeßlichen, guten, heißgeliebten Elisa, wie sie von acht alten Frauen, die sich in ihren langen, schwarzen Mänteln mit den gewaltigen, rund und breit über ihre in ungeheuchelter Trauer (denn sie war den Armen eine Wohltäterin gewesen) stehenden Gesichter herabhängenden Kapuzen ausnahmen wie Nonnen, getragen wurde, während sich dünn und mißtönig das De Profundis der Sänger abhaspelte, die mehr an ihre Feldarbeiten als an Nänien gewohnt waren, wie sie sie da psalmodierten.
Die folgenden beiden Tage aß ich nicht – ich trank.
Ja, während der drei Tage, die dem Begräbnis meiner teueren Cousine folgten, trank ich und trank, Bier und immer wieder Bier. Ich wurde Trinker bis zu einem Grade, daß ich, nach Paris und zu meinem Bureaudienst zurückgekehrt, – wo mein Chef, zu meiner fürchterlichen Traurigkeit auch noch hinzu, mich des Tages wegen, den ich länger ausgeblieben war, bis zu einem Grade »abkanzelte«, daß ich ihn zum Teufel schickte, – nach Paris zurückgekehrt, sag ich, wo das Bier schlecht ist, warf ich mich auf den Absinth. Vormittag und Nachmittag waren dem Bureaudienst gewidmet. Der Verweis, den ich erhalten, hatte nicht grade meine Verabschiedung zur Folge gehabt, – da ich übrigens Rücksicht auf meine arme Mutter nahm und gleichfalls meinem Chef gegenüber die Vorsicht gebrauchte, meine neu angenommene, so beklagenswerte Gewohnheit zu verheimlichen.
Dieser Absinth! Welcher Schauer, wenn ich an das Damals denke … und an ein Seither, das wahrhaftig nicht fern, nicht fern genug ist für meine Würde, für meine Gesundheit, vor allem für meine Würde, wenn ich daran denke!
Ein einziger Zug der grausamen grünen Hexe (welcher Trottel hat sie doch als Fee verherrlicht, als grüne Muse!), vorerst noch ein komischer, vor anderen, ernstlicheren Streichen.
Ich hatte einen Schlüssel zu der Wohnung in Batignolles, wo wir, meine Mutter und ich, seit dem Tode meines Vaters auch weiterhin wohnten, und ich zog daraus den Vorteil, zu mir passender Nachtstunde nach Haus zu kommen, mittels faustdicker Lügen, die meine Mutter nicht bezweifelte … oder doch bezweifelte, über die sie aber ein Auge zudrückte … mit Mühe und unter schmerzlichem Kummer, fürcht ich, ach! heute. Wo ich die Nächte zubrachte? Nicht immer an empfehlenswerten Orten. Zweifelhafte »Schönheiten« fesselten mich oft mit »Blumenketten«, bei denen ich Stunden und wieder Stunden in diesem »Hause der Alten« zubrachte, das Mendès so meisterhaft beschrieben hat, und von dem auch hier zu seiner Zeit und an seinem Ort gesprochen werden soll, oder ich ging nur, unter anderen Freunden mit dem so betrauerten Charles Cros, und tauchte unter in den Nachtkabaretts, wo der Absinth in stygischen und kozytischen Strömen floß.
So gründlich, daß ich eines schönen oder vielmehr garstigen Morgens, als ich mich meiner Gewohnheit nach verstohlen ins Schlafzimmer geschlichen, das durch ein Zimmer von dem meiner Mutter getrennt war, und ich mich in aller Stille entkleidet, dann zu Bett gelegt hatte, um für eine oder zwei Stunden eine ... ungerechte, obwohl, um es gnädig zu machen, verdiente Ruhe zu kosten, den Schlaf des Gerechten schlief, als gegen neun Uhr, der Stunde, zu welcher ich meine Vorbereitungen zum Aufbruch ins Bureau, Toilette, Bouillon und Schokolade, treffen mußte, nach ihrer Gewohnheit Mama die Kammer betrat, um mich zu wecken. Sie ließ einen lauten Ausruf vernehmen, der aber die Neigung in ein Lachen auszubrechen verriet, und sagte, denn das Geräusch der sich öffnenden Tür sowie besagter Ausruf hatten mich geweckt:
»Um Gottes willen, Paul, wie siehst du aus? Du hast dich vergangene Nacht sicher wieder mal betrunken!« »Wieder mal«, das traf mich. Gallicht gab ich zurück: »Wieso, wieder mal? Ich betrinke mich überhaupt nicht, und gestern hab ichs weniger als je. Ich habe in der Familie eines alten Kameraden diniert, wo ich nichts als Wasser und Wein und nach dem Nachtisch Kaffee ohne Kognak getrunken habe, und bin ein bißchen spät nach Hause gekommen, weil ich's von dort bis hierher weit hatte; aber, du siehst ja, ich habe mich ganz ruhig zu Bett gelegt.« Mama antwortete nicht ein Wort, aber sie ging hinüber und nahm vom Riegel des einen der beiden Fenster einen Handspiegel, dessen ich mich bediente, wenn ich mir den Bart machte, kam zurück und hielt ihn mir vor die Augen.
Ich hatte mich mit dem Zylinder hingelegt!
Ich sag es aus all dem Schamgefühl heraus, das ich empfinde: ich habe später noch von manchen anderen Abgeschmacktheiten (und schlimmeren) zu erzählen, die auf Kosten des Mißbrauchs dieser schrecklichen Sache kamen, dieses Getränkes, das die Quelle von Wahnsinn und Verbrechen, Idiotie und Schande ist, das die Regierungen, wenn nicht unterdrücken (aber weshalb nicht auch das?), so doch wenigstens in der unnachsichtigsten Weise besteuern sollten: Des Absinth!
Dieser Stand der Dinge, wenn man eine derartige gewohnheitsmäßige Unordnung auch nur entfernt einen »Stand« nennen darf, hatte also eine Folge von vier langen Jahren hindurch angedauert, als mir in diesem Zimmerchen des zweiten Stockwerkes des kleinen Privathauses der Rue Nicolet – welches Zimmerchen mein Arbeitsraum werden und in dem ich die letzte Hand an das kleine Verslustspiel »Les Uns et les Autres« legen sollte – die erschien, der es bestimmt war, meine Frau zu werden.
Ich habe ihr Porträt in einem erfolgreichen, »Mémoires d'un veuf« betitelten Buch gegeben. Es ist mir, fast weiß ich bloß noch seinen Titel, nicht mehr seiner Fassung, höchstens noch seinem Inhalt nach gegenwärtig. Denn es ist bloß eine Sammlung von ganz kleinen Erinnerungen, von denen das über meine Frau Gegebene der kleinste Teil ist; die Zeit schwächt nichts ab, besonders nicht den Groll, aber sie verwischt alles, hüllt es in Nebel.
Ich gebe dies Porträt nach dem Gedächtnis, wahrscheinlich mit einer gewissen Abänderung, die bittersüßer als im ursprünglichen Text ist (dieser wirklich ursprüngliche Text ist ein wenig schon in den »Mémoires d'un veuf« selbst abgewandelt worden), denn in jener allerersten, in gewisser Hinsicht noch jungfräulichen Zeit war ich ja nur erst Verlobter.
Hier dieser … verwischte Entwurf. Ich konnte mich nicht enthalten, ihm nachträglich ein paar Verse einzufügen, die mir immerhin im Zusammenhange dieses im Grunde peinlichen Anrufs meist trauriger Erinnerungen nicht unangebracht erschienen, mit denen sie infolge des Zaubers der vergangenen Dinge vielleicht mehr übereinstimmen, als es auf den ersten Blick scheinen möchte.
»Sie müßte klein sein, schlank, mit einer Neigung zur Fülle. Ein entschieden niedliches Köpfchen mit kastanienbraunem Haar; Gesicht sehr sanft, etwas blaß, rundlich, trotzdem ein klein wenig ins Längliche; eine Nase wie Roxelane, ich meine: mittelgroß, reizend aufgewippt. Der Mund müßte lächeln, vielleicht nicht eigentlich rosig, aber eher rosig als rot, obgleich ich rot durchaus liebe, ausgenommen natürlich in der Gesichtsfarbe der Frauen und in den politischen Ansichten der … Dummköpfe. Die Gesichtsfarbe müßte durchaus nach einem matten Bleich hin neigen, das unter den Augen in ein zum Taumligwerden reizend feines Blau verhauchte und, wie mit einem heimlichen, ganz neuen, kindlich köstlichen Hauch, mit einem Veilchenton gegen die Schläfe hin.
Nur ganz wenig müßte sie sprechen, und wie anbetungswürdig dann ihr Halbschweigen, das in lieblicher Übereinstimmung sich mit ihrem nicht zu eiligen Atemholen befände, das dennoch eine köstlich zarte Gesundheit verrät, die das Glück aber kräftigen würde, und das fast unmerkbare Pulsen der blauen Äderchen unter den Augen und der veilchenfarbenen über die Schläfe hin, und die keusche, schnell erscheinende und wieder verschwindende Spitze einer Zunge, die ab und zu, selten, sich über die Lippen schiebt, die unter einem gelegentlichen, zierlichen Wort von einem unschuldigen Lächeln entblößten Zähne, Zähne von einem alabasternen, vielmehr opalenen Weiß, von einer erlesen ungewöhnlichen, durchsichtigen Bläue, sobald sie spräche, beweglich,
»gleichsam ein wenig lispelnd«,
mit Zierlichkeiten, die eine echte Treuherzigkeit, erworben durch eine annähernd vollendete Erziehung und einen glücklicherweise unvollständigen Unterricht, zu einem Vorzug macht.
Aber wie auch ihr Schweigen mein Glück, ihre Rede meine Freude sein möge: ihre Augen!
Grau, die Bewegung des Augapfels, ich tue einen Schwur darauf, ohne jede Hinterhältigkeit, oder vielleicht doch, wenn sie mich anblickt, stets ein wenig von der Seite, sicherlich aus Schüchternheit, aber sicher auch um zu beobachten, unbewußt, oder vielmehr nein, denn wer kennt sich mit diesen kleinen Jungfern aus, was wissen wir von ihnen, wir Lebemänner?, beschattet von langen Wimpern, überzogen von ziemlich dichten Brauen, die, Teufel! zusammengehen, man könnte meinen eifersüchtig.
Und ihre Hände, um sie nicht zu vergessen, diese Hände, von denen ich träume, daß ich sie mit tausend, mit hunderttausend Küssen bedecke, diese Hände mit den auch in der Angeregtheit der Unterhaltung zuckenden Adern, diese Hände:
»ganz klein, anmutig ganz!
— — — — — —
O ihre Hände, ihre angebeteten Hände!«
Diese Hände, ihre Hände: für ewig muß ich sie in den meinen halten! Seele, Herz, besitzt sie die? Ja, ohne Zweifel – oder nein? Denn diese Jungfern …!«
So spielte meine Phantasie am Tage nach meinem ersten Zusammentreffen mit ihr, das ich hier übrigens in aller Kürze biete, – es und seine unmittelbaren Folgen, und … die nachherigen.
Ich war, als ich die kleine Kammer betrat, wo sich eben mein künftiger Schwager, der treffliche Musiker, mehr Genie noch als Talent, Charles de Sivry, erhob, – wahrhaftig, ich war in aller Welt auf nichts so wenig gefaßt, als, nachdem dreimal an die Tür geklopft worden war, seine Schwester oder vielmehr Halbschwester, denn sie war ein Kind zweiter Ehe, eintreten zu sehen. Es war ungefähr fünf Uhr abends, die Zeit, wo mein nachtwandelnder Kamerad gewöhnlich daran dachte, sich zu erheben, und ich schickte mich nach einem Gespräch, wenn ich mich nicht irre, über irgendeine Operette, die er mit jemandem arbeitete, schon an, mich in das ganz in der Nähe befindliche Café Delta zu begeben, um ihn dort zu erwarten, als, sag ich, sie geräuschlos eintrat und dann schon Miene machte, sich wieder zurückzuziehen, als Sivry ihr ungefähr sagte:
»Bleib doch, der Herr ist ein Dichter, es ist ja Verlaine.«
»Oh, ich mag die Dichter sehr gern, mein Herr.«
Das waren die ersten Worte aus diesem Munde, aus dem ich noch so viele Ja und dann Nein hören sollte, im Einklang mit vielen anderen zuerst guten, dann schlimmen Dingen!
Sie mochte die Dichter so gern, wenigstens sagte sie so. Was war darauf zu antworten? Offenbar nichts. Und so begnügte ich mich mit einer unbestimmten, dankenden Kopfneigung.
Dann nahm das Gespräch mit diesem noch höflichen, aber weniger oberflächlich verbindlichen Satz eine ernstere Wendung:
»Mein Bruder hat mir oft von Ihnen gesprochen und mir sogar Ihre Gedichte zu lesen gegeben, die vielleicht zu schwer für mich sind, mir aber trotzdem sehr gefallen.«
Das arme Kind! Ich glaube schon, daß meine Verse, die »Poèmes Saturniens«, Leconte de Lisle auf meine Weise, ausgeputzt mit Baudelaire, auf meine Weise, und die »Fêtes galantes«, die ihrem Titel nur entsprachen, ihr … schwer verständlich oder vielmehr zu erraten sein mochten. Dessenungeachtet war das Eis auf meiner Seite mit Entschiedenheit gebrochen, und zum erstenmal durfte auch ich sie meine Stimme vernehmen lassen, die für ihr Teil so oft in ihre Ohren girren, später mit zornigem Tonfall schallen sollte … in ihre in jedem Falle erschreckten Ohren, denn ich muß hier mit einer seit zwanzig Jahren gewonnenen ruhigeren Unparteilichkeit sagen, daß die Unglückliche mich in ihrer traurig beschränkten bürgerlichen Lebensauffassung niemals verstanden hat.
Ich antwortete also:
»Sie sind wahrhaftig zu gütig«, – und wie sich plötzlich in diesem Augenblicke in mir etwas vollzog, fügte ich hinzu: »Aber ich hoffe, daß mir in Bälde Verse gelingen werden, welche die Auszeichnung, die Sie die Güte haben denen zuteil werden zu lassen, die Ihnen von mir bekannt sind, besser verdienen werden.«
Dann zog ich mich, nach einigen gleichgültigen Worten über die Witterung und nachdem ich Sivry an unser Zusammentreffen im Delta erinnert hatte, zurück, zog mich, nachdem ich einen Händedruck mit dem Freund und einen anderen, möglichst zarten, mit der … Freundin gewechselt hatte, vollkommen bezaubert zurück.
Die Freundin, ja. Denn welch andern Namen ihr geben, die mir so mit einem Schlag eine so … ruhige Freude, eine solche ganz im Hauch von Unschuld und kindlicher Einfalt stehende Erquickung mitteilte? Und ich überlegte das alles, während ich ging, ohne in Wahrheit zu einem Abschluß zu gelangen, während das Tier in mir dem scheußlichen grünen Trank entgegenging. War es nicht etwa ein Zufall (schon seit langer, langer Zeit glaubte ich nicht mehr an Gott), ein glücklicher, unverhoffter, nicht zu erhoffender Zufall, der mir dies anmutige Mädchen auf den schlechten Weg stellte, von dem ich wohl fühlte, daß er mich ins Verderben führen würde … ohne dieses Wesen, dieses beinahe vernünftige Wesen, das in meinen bereits von jeder Art von nicht guten Einsichten verdorbenen, aber doch noch immer scharfsichtigen Augen (meinen Augen, dieser beinahe unfaßbaren Sache, von der man doch aber weiß, daß sie nur zu ihrer Reife gelangt durch das mehr für Herz und Geist, als für die zu wenig gewissenhaften Sinne begehrenswerte Weib), das junge Mädchen in der rosigen Glorie seiner geheimnisvollen Reinheit versinnbildlicht? Geheimnisvollen Reinheit und beunruhigenden: aber mit einer bezaubernden Unruhe, die der falschen, der sündhaften Sicherheit der Ausschweifung und ihrer Helfershelfer, männlichen oder weiblichen, gegenüber die Sicherheit an sich und die unablässige Anstrengung eines guten Gewissens und eines Willenstriebes zudem bedeutet, der weiß, was er will, und es kann.
... Diese schönen Betrachtungen erfuhren natürlich keinerlei unmittelbare praktische Bekräftigung. Nichtsdestoweniger bleibt bestehen, daß ich an jenem Abend, als ich mich vor meinen illustrierten Journalen aufpflanzte, die stets meine Lieblingslektüre waren und es noch sind, zum größten Erstaunen des guten Sivry, der an so etwas kaum gewöhnt war, keinen Absinth trank. Der Absinth sollte, wie die »Tugend, die man verläßt«, harte Vergeltung üben.
Nicht lange darauf reiste ich mit meiner Mutter zu meinem Onkel, von dem schon die Rede gewesen ist, aufs Land in die Nähe von Arras; dort in der friedlichen Stille der Gefilde, auch ein wenig infolge der Einsamkeit, obgleich es manchmal zum Angeln und auf die Jagd ging und zu zahlreichen Diners auf die zahlreichen Dörfer, wo wir »Verwandte« hatten, langweilte ich mich etwas. Die Langeweile ist zuweilen, wo nicht ein sehr guter Ratgeber, so doch wenigstens ein guter Ratschluß. Erstlich beruhigt sie die Sinne, alle, und Gott oder Teufel weiß, ob die meinigen alle Ruhe vonnöten hatten und, fürcht ich altes Tier, das ich bin, noch haben; zweitens setzt sich ihr Schmack in Momenten, die inmitten so vieler erbärmlicher Augenblicke gut tun, mit einer trotz allem sehr bekömmlichen Bitterkeit, gibt die Säure eines gewissen kritischen Geistes oder, besser gesagt, einer kühlen und also erfrischenden Hellsichtigkeit, die gut tut und in gewisser Hinsicht mit ihrer Beize sogar zu moralischen Betrachtungen führt, wäre es selbst um den Preis eines einer guten Aufnahme würdigen Leides … Dies Leid war in meinem Falle nun das unwillkürliche, zeitweilig sich fast bis zur Sehnsucht steigernde Bedürfnis, »seinen Wandel zu ändern«, wie die kurzweilige Heroine Victor Hugos sagt …
Natürlich konnte es sich nicht anders verhalten, als daß ich mein Pariser Leben mitgebracht hatte, den Trunk, die Mädchen, all diesen schlimmen Hauch von Laster und Liederlichkeit, der die ersten Heiligen bis in die innerste Tiefe der ödesten Thebaide hinein verfolgte, – und es wäre mir, denk ich, oder vielmehr: erfuhr ich, ein schweres Herzeleid gewesen, mit dieser Lust zu brechen, nichts mehr von dem Schmack der Lippen, der Busen, all dieses Fleisches, nicht mehr die Erschöpfung, die Aufstachlung all der erfahrenen, perversen und auf jeden Fall, o ja! unvergeßlichen Liebkosungen so vieler Weiber zu wissen, um nur von diesen Lüsten zu sprechen!
Diesen Lüsten! Und wie trifft es, was mich anbelangt, zu, dieses Wort, wenn ich von jeher auch noch so sehr den buchstäblichen Schauder vor diesen Liebesabenteuern und ihre wahrhafte, und nicht bloß so bürgerlich zu reden, buchstäbliche Strafwürdigkeit begriff! Die Weiber dieses Schlages, auf die gerade meine innerste Schüchternheit und meine sehr bescheidenen Geldmittel angewiesen waren, berauschten mich – glaubt ihr mir das? Ich hatte sie im Blut, meine Haut suchte die ihre, die ihre, so ist es. Ich glaube, daß, wenn eine Königin, eine Kaiserin – oder ganz einfach eine verheiratete Frau, eine anständige Frau, um das geläufige Wort zu gebrauchen, sich mir angeboten, ich sie gebeten hätte, mich zufrieden zu lassen … Und doch fing an, mich eine Müdigkeit, man könnte auch sagen: eine Fülle zu ergreifen, über mich hereinzubrechen: es war in Wahrheit ein krankhafter »Seelenzustand«, etwas wie die noch unbestimmte, aber sehr symptomatische Geneigtheit zu einer moralischen Verstimmung …
In dieser Verfassung war ich, als ich eines schönen Morgens auf den Einfall kam, mich nach der Stadt zu begeben. Die Eisenbahn stand mir zur Verfügung, doch ich zog vor, den Wasserweg des kanalisierten, in den Versen der großen Dichterin Desbordes-Valmore gefeierten Scarpeflusses zu nehmen; es gab da an den abwechslungsreichen Ufern so viel Getreidefelder, Hafer, Weizen, Roggen, Winterbestellung, so viel endlosen, gleichsam grundlosen Moorbruch, wo der Hecht schlummert, wo der Aal zwischen den Stengeln der Wasserrosen und den Lanzen des roten Wasserschwertel schlüpft, gewöhnlich im Schatten »der schwarzen Pappeln«, der blanken Weiden und hohen, grauen Kräuter, ein in diesem seinem Eindruck wie seinem Terrain nach flachen Land wahrhaft bezaubernder Weg. Hinreichend viele, fast zu zahlreiche Dörfer mit guten, weißgetünchten Schenken, Fenstern mit Vorhängen
»..... von Baumwollstoff
Mit großen ziegelroten und weißen Vierecken …«, wo eine üppig rosige, rothaarige Wirtin dich die ganze Zeit über in ihrem Platt unterhält, sehr oft recht reizvoll, zeigen sich zur Rechten wie zur Linken an den Ufern. Kurz vor Arras fährt man in Blangy ein, einem mäßig großen Vorort, den im Sommer die Garnison der Stadt überläuft. Berühmt ist dieser ansehnliche, zwischen Bäumen und Gärten gelegene Marktflecken durch die Zusammenkünfte, für die ihn die leicht akademische und taktvoll bacchische Genossenschaft der Rosati auserlesen hat, der unter anderen Berühmtheiten die beiden Robespierre und Carnot, der ältere, angehörten. Die Ankunft in der Stadt selbst war ganz besonders malerisch (ich sage »war«, denn seit jener Zeit hat man vor kurzem, scheints, diesen »festen Platz«, wie ihn Herr Perruchon kennzeichnet, geschleift). Ungefähr einen halben Kilometer, bevor sie sich um den Wall herumwindet, um sich zu einem großen Becken zu erweitern, das (warum?) das Gestade genannt wird, schmückt sich die Scarpe mit einer ganz unter Wasser befindlichen Vegetation, die eine orientalisch-phantastische, an Tausendundeine Nacht erinnernde Schönheit entwickelt, wenn die Sonne da hindurchdringt, und an Tagen, wo der Himmel trüb ist, eine geradezu beklemmende Düsterheit annimmt … Ein ertränkter Wald mit tollen Freuden und Trübseligkeiten bis zum Grauenvollen! …
An dem in Rede stehenden Tage ging ich in fast alle Cafés von Arras, und es sind ihrer viele; dann besuchte ich einige acht oder zehn oder mehr Wirtschaften obgemeldeter Exhauptstadt von Artois, die zahllos sind. Ergebnis: ein »Brand«, der seinen Höhepunkt in einem öffentlichen Haus erreichte, um sich gründlich in den »Fluten der Wollust« zu kühlen.
Ich fuhr mit dem Mitternachtszug in mein Dorf zurück und erwachte mit Kopfschmerz, moralischem und anderem Ekel, den ich für eine Züchtigung nahm, eine Züchtigung wofür?
Wofür! Ach, gute Götter, wofür wohl anders, als daß ich die Enthaltsamkeit dieser seltsamen Langeweile gebrochen, sie vielleicht mehr törichter als strafbarer Weise allen Winden der Schwelgerei und des Bummels preisgegeben hatte! Und alles in allem, um wobei anzulangen? Nur um so mehr bei der Verführung von ehemals – es gab in meinem gegenwärtigen Falle schon ein Ehemals –, und um so mehr bei dem Antrieb, es von neuem anzufangen, den jeder Trinker und jeder Mädchenjäger im Grunde hat; aber die gründliche, niederdrückende Magenverstimmung, der unabwendbare Ekel ad vomitum! …
Dann schrieb ich, ganz übergangslos, ohne mir allzuviel Gedanken über das zu machen, was zu tun war, an Sivry einen ganz zweifellos sehr regelwidrigen und sehr wenig der Etikette, die uns die Gesittung, der wir uns erfreuen, auferlegt, angemessenen Brief und bat ihn, mit der vollkommensten Albernheit … um die Hand seiner Schwester.
Als ich den Brief geschrieben hatte, kleidete ich mich in aller Eile an und rannte spornstreichs zur Post. Zu spät. Das Bureau war schon geschlossen. Ich vergewisserte mich, daß ich noch Marken im Portemonnaie hatte, und mit fieberhafter, aber alles in allem entschlossener Hand warf ich den Brief in den Kasten. Dann lief ich noch eiliger, als soeben zur Post, nach Hause zurück, wie auf der Flucht vor einem Bedauern über einen überstürzten Schritt, einem Bedauern, das mich indessen freigab; vielmehr legte ich mich in glücklich erleichterter Gemütsverfassung, von einer köstlichen Unruhe erregt, wieder zu Bett und schlief, bis man gegen Mittag kam, um mich zum Diner zu wecken.
Zwei, drei Tage gingen hin in tödlicher Endlosigkeit, dann kam ein Brief von Sivry, der mir zeigte, daß er gleich mir, angespornt vom Unvorhergesehenen und meinem ausbündigen Sendschreiben, sich nicht geniert hatte, das letztere zunächst seiner Schwester mitzuteilen und dann seiner Mutter, die es für ihre Pflicht gehalten hatte, unverzüglich Herrn M …, ihrem zweiten Gatten, Bericht zu erstatten. (Vielleicht komme ich noch zu seiner Zeit und an seinem Ort auf diese voneinander so sehr verschiedenen Personen, die so viel Einfluß auf mein Leben hatten, zu sprechen.) Der himmlische Brief fügte hinzu, daß ich hoffen dürfte, und veranlaßte mich, noch einige Zeit auf dem Lande zu bleiben, wo er mich, wenn ich wollte, in einigen Tagen aufsuchen werde. Wir wollten dann zusammen nach Paris zurückkehren, wo man die Dinge dann aus der Nähe ansehen und alles Nötige tun werde.
Es war göttlich und begann entzückend, mein Idyll. Und es geschah von diesem Augenblick an, daß ich, wenn dem Leser das Wort für ein solch dünnes Werkchen nicht zu anspruchsvoll erscheint, den Plan zu jener »Bonne Chanson« faßte, die sich in dem hinreichend umfänglichen Bündel meiner Verse befindet und der ich ihrer ausnehmenden Lauterkeit, ihrer Liebenswürdigkeit, ihrer Anmut, ihrer reinen Konzeption und schlichten Schreibweise halber den Vorzug geben möchte.
»Des ersten Morgenglanzes milde Wärme trinken
Die goldnen Fruchtgefilde, die noch vom Nachttau blinken,
Und drüber spannt sich der noch zwielichtfrische Azur.«
So begann dies schmale Bändchen, das ein Jahr später erscheinen sollte, gerade während des Krieges, und von dem Victor Hugo nach seiner Rückkehr nach Frankreich mir gegenüber äußerte: »Eine Blume in einer Granate«. Ich weiß nicht, ob es zutrifft, aber stets hab ich von Anfang an für diese arme, kleine Sammlung, in der so ganz ein geläutertes Herz sich ergossen hat, eine Vorliebe bewahrt.
Sivry hielt sein Versprechen, und ich hatte das Vergnügen, ihn auf dem ungefähr einen Kilometer von Fampoux entfernten kleinen Bahnhof in Empfang zu nehmen. Er überbrachte mir gute Nachrichten, die aber, ach! von der Mitteilung getrübt wurden, daß die ganze Familie, Herr und Frau M …, ihre ältere, hier in Rede stehende Tochter und eine andere, ein Mädchen von zehn Jahren, zu einem Aufenthalt von ungefähr zwei Monaten nach der Normandie reisen würden. Aber er betonte die gute Aufnahme, die meine Werbung bei Mutter und Tochter gefunden hatte. Was den Vater anbetraf, so zählte er nicht viel, obgleich er sich nach Möglichkeit sperrte, der arme Mann, der inzwischen gestorben ist, und dessen widerborstiger Seele Gott sich annehmen möge!
Wir verbrachten, Sivry und ich, unter dem bescheidenen Dach des Oheims eine angenehme Woche. Am Sonntag spielte Sivry bei der großen Messe das Harmonium und erstaunte, wenn er ihnen nicht sogar ein wenig Ärgernis erregte, sehr die ländlichen Ohren der Zuhörerschaft durch den Opern Wagners entlehnte Offertorien und Märsche. Aber alles hat ein Ende. Sivry mußte nach Paris zurückkehren, und mich rief mein Bureau: wir reisten ab, meine Mutter und wir, nach diesem ewigen Paris.
Meine Mutter, die sich mit meiner Absicht einverstanden erklärt hatte, obgleich sie einige Einwände gegen eine so plötzliche Entschließung in einer so wichtigen Angelegenheit erhoben hatte, war im Grunde erfreut, mich endlich, wie sie sagte, ernst werden zu sehen. Denn ich trank, berauschte mich wenigstens nicht mehr. Ich versah eifrig meinen Bureaudienst und kam abends zur rechten Zeit nach Hause. Es ereignete sich sogar, und immer häufiger, daß ich zu Hause blieb und mit ihr ein Spielchen machte, was sie, wie ich wußte, gut unterhielt; zu anderen Malen begleitete ich sie in bürgerliche Abendgesellschaften, wo ich nicht gerade durch eine Unterhaltung glänzte, die übrigens, argwöhne ich, in diesen Kreisen liebenswürdiger älterer, wenn auch noch nicht allzu altmodischer Leute kaum besonderen Anklang gefunden haben würde. Eine Tasse Tee und kleines Backwerk vervollständigten diese Feste, und Mitternacht oder etwas später waren wir wieder unterwegs nach unserer Wohnung in der Rue de l'Ecluse in diesem Batignolles, die wir, meiner Treu! seit unserer Ankunft in Paris, seit 1851, innehatten.
Es war reizend, und die Zeit ging dabei hin, immerhin noch langsam genug. Tatsächlich verfaßte ich jeden Tag ein kleines Stück zu meinem Band hinzu, das Sivry seiner Schwester übermittelte … Aber was tats, sie war abwesend.
»O Trennung, du erbarmungsloser Schmerz!
Mit schönen Worten trösten soll ich das volle Herz,
Schöpfen im grämlich Endlosen der Gedanken,
Um zu beleben die Hoffnungen, die kranken,
Und nichts aus ihnen ziehn als schale Bitterkeit! …«
Also grübelte mein infolge der Trennung von »der, die ich liebte« sich steigernder Trübsinn, denn mit aller Entschiedenheit liebte ich sie, besonders seit sie mir heimlich – nur vor ihrem Vater – in gewisser Hinsicht zu verstehen gegeben, daß sie meine Melancholie gütig aufgenommen hatte, die sich später schließlich zu meinem eigenen Schaden wandte, was sie nicht wissen durfte und wußte, bis zu jenem Abschluß meiner endlosen »Cour« von fast einem vollen Jahr, in einem peinvoll aufreizenden Warten, das alles, man wird später sehen, bis zu einem Grade verschärfen sollte, daß ich buchstäblich
»die Monate verwünschte, gegen die Wochen raste«.
Doch für den Augenblick hatte ich mich nur zu beklagen
»Über das süße Weh des Liebe Leidenden«.
Kleine Billetts wurden durch die Vermittlung des guten Sivry gewechselt, unschuldige Sendschreiben von Seiten meiner Verlobten, denn als solche durfte ich sie bereits ansehen, und die zartesten und möglichst heimlichen von meiner Seite unterhielten die köstliche schmeichelnde »Flamme«, die in der Folgezeit, nach »Zwisten, die wie rote Adler lohten«, erlöschen sollte in dem Ruß eines Scheideprozesses, dann in dem Schlamme einer Scheidung. Aber nehmen wir so viele Abscheulichkeiten nicht voraus!
Für den Augenblick fand ich sozusagen mein Glück in diesem reizenden, von einer vielleicht bebenden Hand geführten Briefwechsel, mit seiner kindlichen und allerliebst linkischen Handschrift, seiner äußerst einfachen Schreibweise, alles der Gegensatz mikriger Blaustrumpfhaftigkeit; vielmehr ein Sichgehenlassen in einer gesegneten Unwissenheit hinsichtlich dessen, was vielleicht ein gut geführter Satz sein könnte. Sogar allerliebste Fehler im Französischen, anbetungswürdig drollige orthographische Schnitzer gaben einen Reiz mehr in dieser fast täglichen Korrespondenz, die mich für die Dauer von zwei alles in allem nicht zu langen Monaten in Anspruch nahm. Meine Antworten gestalteten sich mehr und mehr zwar nicht dringlicher, gerechte Götter! aber herzlicher, verliebter; sie boten mir, während ich sie schrieb, wahrhaft fast schon sinnliche Freude. Ja, ich hatte dabei ein wie wollüstiges Beben! »Ganz im Ernst«: ein Schauer von verliebtem Fieber bereitete mir Feste, die vielleicht noch keusche waren, aber doch nicht ohne eine fleischliche Spitze, einen Stachel – nicht wahr?
Übrigens kündete mir ein letzter Brief eines
»... so übermaßen kleinen Händchens,
daß selbst ein Kolibri nicht drauf sitzen könnte«,
eine sehr nahe bevorstehende Rückkehr nach Paris an. Ermahnungen, »verständig« zu sein, mich zu gedulden, mischten sich ergötzlich mit naiven Berechnungen, die uns beweisen sollten, alles stünde mit unsrer Angelegenheit zum besten, das Verhältnis unsres Alters, unsres Geschmackes, hinsichtlich der Erziehung, unsrer Gutbürgerlichkeit, endlich bezüglich der Geldangelegenheit! …
Mit einer kleinen, romanhaften Wendung forderte sie mich in ihrer sonst verständigen, sehr verständigen Weise zu Anstrengungen auf, unser künftiges gemeinsames Glück bestens zu verdienen. Sie führte sogar, und hielt es mir vor, das Beispiel des Prinzen Galaor an und die Arbeiten, die er für seine Schöne verrichtet hatte …
Der glückselige, so sehr erwartete Tag mit seiner (wie viel mehr doch noch erwarteten!) Aussicht auf jenen anderen in einer so verzweifelt unbestimmten Zukunft, und Gott weiß welche Verzögerungen zu erdulden waren! dieser Tag, dieser letzte Tag, der Tag also der Rückkehr, des Wiedersehens, der Tag, auf den ich diese zwei Verse geschrieben hatte, die ich mit einigen anderen einen oder zwei Tage vorher abgeschickt hatte, der Tag:
»Wo, was ich träume und erflehe,
Ich die Geliebte wiedersehe … «,
dieser Freudentag kam endlich!
Die Zusammenkunft konnte erst am Abend nach dem Diner stattfinden. Wie erschien er mir so lang, obgleich gut, dieser göttliche und höllische Tag! Und als sich die köstliche Stunde näherte, welche Sorgfalt verwandte ich, der ich es in solchen Angelegenheiten gewöhnlich eilig hatte, um die Zeit doch auf eine all meinem Sinnen entsprechende Weise hinzubringen, auf mein Äußeres! Wie oft mußte meine arme gute Mutter mit belustigtem Lächeln, vielleicht, wenn ichs überlege, ohne Zweifel voller Unruhe durch meine Umständlichkeiten abgehetzt, die Krawatte knüpfen und umknüpfen, Gehrock und Überzieher bürsten und wieder bürsten, den Zylinder glätten und wieder glätten usw. Und mit welch leichtem und … wichtigem Schritt (mein Monokel … mit dem viereckigen Glas hatte ich absichtlich vergessen; dieses Attribut erschien mir zum ersten Male unnütz … und sogar ein wenig lächerlich), mit welchem gleichsam beflügelten würdigen Gang passierte ich nicht den endlosen Boulevard Clichy und den nicht minder unendlichen Rochechouart, erstieg ich nicht die steile Böschung, kam ich nicht den Abhang der Rue Ramey hinab, um endlich den holden Kalvarienberg, gemeinhin Rue Nicolet genannt, zu erklimmen!
Ich wurde in den Salon geführt, in welchem bald Frau M... erschien, die mir mit einem wahrhaft herzlichen Händedruck Mut gab, bald folgte auch ihr Gatte, mit dem ein gleichsam zeremonieller Gruß getauscht wurde. Eine unbestimmte Unterhaltung entspann sich: hatte man eine gute Reise gehabt? wie stand es da unten mit der Ernte? und dergleichen mehr –, bis auch das Fräulein eintrat, das ich zum ersten Male gesehen hatte
»in einem grau und grün gestreiften Rüschenkleid«.
Infolge eines Umstandes, der sich von selbst erklärt, entsinn ich mich nicht mehr, was für ein Kleid sie an diesem Abend trug. Ich sah nur ihr Gesicht und ihre Gestalt; sie war es, in all ihrem lieblichen Zauber … Nachdem ich zart die Fingerspitzen ihrer rechten Hand gedrückt oder vielmehr gepreßt hatte, ließ sie sich in dem Kreis, den wir in der Nähe eines großen Tisches um einen Nippes-Tisch mit Albums und einer Chinavase mit Blumen, die ihren lieblichen Duft hauchten, bildeten, nieder.
Offenbar war sie nicht ohne eine beträchtliche Schüchternheit, die sich in ihrer Haltung und ihrem Tun zum Ausdruck brachte, und in einer offensichtlichen inneren Bewegung; während ich für mein Teil, glaub ich, nicht gerade durch zu viel Sicherheit glänzte. Hinreißende Empfindung, köstliche, gleichsam übernatürliche Einleitung der letzten Annäherung! Sie sprach zu mir, ich antwortete ihr, alles ganz banal, harmlos, und doch bezaubernd und … deutlich!
Nach einem Stündchen zog ich mich zurück, nachdem ich die Erlaubnis zu einem Besuch für den nächsten Tag erbeten und erhalten hatte – diesmal endgültig erobert.
Von diesem Augenblick an führte mich alle Abende, mit nur sehr wenigen Ausnahmen, der gleiche Weg bei jedem Wetter zu jenem bräutlichen Montmartre und zurück zu dem nun schon seit so lange elterlichen Batignolles. Die gegenseitige Neigung, ich glaube – trotz aller traurigen, nunmehr dahingegangenen Zukunft, in die sich das Damalige verwandeln sollte – mich mit Recht so ausdrücken zu dürfen, und das wechselseitige Gefallen aneinander wuchs dementsprechend. Jetzt stellte sich auch ein nahes Verhältnis zwischen den beiden Familien ein. Jeden Sonntag dinierte ich bei den M...s, zu denen auch meine Mutter oft eingeladen wurde; »La bonne Chanson« war »auf seinem Höhepunkt«, im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne, und jeden Tag wuchs das liebe kleine Buch um ein paar Verse. Viele von diesen fast improvisierten Niederschriften wurden danach gelegentlich der Übergabe an Alphons Lemerre, der schon damals der berühmte Verleger der ganzen Passage Choiseul war, im endgültigen Manuskript unterdrückt, was ich ernstlich bedaure, heute, wo ich die Sache, wenn nicht gerade so, was man »kühl« nennt, beurteile, so doch wenigstens in literarischer Hinsicht mehr aus dem Abstand, von einem höheren Gesichtspunkt aus – wenn man will: besser, nicht wahr? Jene geopferten Stücke stehen den anderen sicher an Wert nicht nach, und ich frage mich heute, warum dieser vielleicht … puritanische Ostrazismus; denn soweit ich mich, nicht der Verse, die ich vollständig vergessen habe, aber doch ihres Geistes entsinnen kann, muß ich gestehen, daß ich glaube, es geschah ihrer … Glut wegen, die so angängig war, daß ich nur sagen kann, es war in dieser Zeit in Freude getauchter, wenn auch noch nicht ehelicher Zärtlichkeiten eine Art von Brutalität und zugleich von Scham (im Grunde ist das dasselbe und hat das Schamgefühl, als Frucht der Sünde, von ihr den bitteren Geschmack bewahrt), sie, wie man zu sagen pflegt, aus meinen Papieren zu streichen.
Arme, unschuldige, erste intellektuelle Genüsse dessen, was, für Monate und aber Monate noch, mir geben, an mich verschwenden würden, auf Grund jener lächerlichen und verkannten Förmlichkeit, der himmlische Tag und seine … unmittelbare Folgezeit! Mit welcher unverdienten Strenge doch erlaubte sich mein Bedenken hinsichtlich der »Zukunft« euch zu treffen, ein so ganz neues, so ganz über sein Vorhandensein in meinem seit lange solcher verehrungswürdigen Dinge ungewohnten Ich erstauntes Bedenken! … Ach, sollte ich nachher nicht – selbst nach einer langen Zwischenzeit aufrichtiger Reue zu den Füßen eines Gottes, an den ich, wenn heute auch übel, noch immer glaube – ganz andere Lieder singen, die doch so nichts weniger als verstellt, besser gesagt verhalten sind, und, man könnte meinen: mit aller Absicht, und mit Bezug auf welche ich keinerlei Reue empfinde, sondern die jetzt ganz im Gegenteil meine ganz oder so gut wie ganz auf das Fleischliche gerichteten Gelüste einwiegen, um sie nur um so glühender, wilder erwachen zu lassen! …
Die Zeit ging hin; viel zu langsam für den Antrieb meiner auf ein endgültiges Glück gerichteten Ungeduld, dachte ich aus aller Macht meiner Empfindung und meines Verstandes. Nach verregneten und verschneiten Monaten, wo es nicht ohne etwas wie einen abenteuerlichen Reiz war, durch den Schlamm zu patschen (man tut, was man kann: übrigens erwartete mich das endlose Abenteuer!), kamen April und die ersten Maitage mit ihrer buhlerischen Frische, die meinen damals noch schlanken Körper unter ihrer prickelnden Liebkosung beugten und meine damals unermüdlichen Knie spannten, besonders soweit es solche Pilgerfahrten wie die zu dem kleinen Privathaus der Rue Nicolet galt.
Als der Sommer, der drückende Sommer von 1870 kam – bis dahin ist mein Bericht vorgerückt –, mit seinen endlosen Abenden und seinen häufigen Gewittern, fing man gelegentlich meiner Nach-Diner-Besuche endlich an, Daten zu bestimmen, und es wurde von Anfang an Mitte Juni für die Trauung festgesetzt.
»Also ein heitrer Tag des Sommers wird es sein.
Die große Sonne teilt dann meine Freude,
Hüllt dich in deinem seidnen Hochzeitskleide,
Du Schöne, hold in ihre Glorie ein.
— — — — — —
Dann wird der linde Abend nahen und
Rühren mit zärtlicher Hand an deinem Schleier,
Und über uns in friedevoller Feier
Huldreiche Sterne lächeln unsrem Bund.«
Aber es scheint mir, da ich schon mal im Zug bin mich zu zitieren, angebracht, bevor ich in alle Tiefen meines wunderlichen Privatlebens eintauche, meine literarische Stellung zu selber Zeit näher zu kennzeichnen.
Die »Poèmes Saturniens«, gleichzeitig mit dem »Reliquaire« (die beiden Sammlungen erschienen am gleichen Tag im Jahre 1866), haben, wie übrigens auch das Buch meines teueren François Coppée, ein verschiedenes Schicksal gehabt: eine beträchtliche Anzahl von Revuen und Zeitschriften, die seitdem eingegangen sind, erteilten ihnen, einige überschwenglich, eine (schien mir damals und scheint mir noch heute) unmaßgebliche Lobeserhebung oder einen unbesehenen und unehrlichen Tadel. Andere, wie Roqueplan, Yriarte und tutti quanti, gesetzte Leute, ermutigten uns. Zum Beispiel nahm sich Sainte-Reuve zu verschiedenen Malen die Mühe, mir auf das eingehendste zu schreiben, Beweis, daß er Anteil nahm, und gab sich gelegentlich eines Besuches, den ich ihm gemeinschaftlich mit Coppée machte, sehr anziehend. Ich sehe ihn noch vor mir mit seinem Kopf, dem die Beleibtheit des Alters seine ursprüngliche Häßlichkeit genommen hatte, kahl rasiert, mit den kleinen, etwas chinesischen Augen, mit dem noch mehr feinen als boshaften, obgleich schon recht boshaften Zug um den Mund. Mit seinem schwarzen Sammetkäppchen, ganz in weißen Flanell gekleidet, des Rheumatismus wegen (ach, ich sollte den bald gleichfalls kennen lernen!), bot er in seinem gewaltigen Sessel das Aussehen einer wunderlichen Art von Papst. Dazu eine heimliche Priesterseminar – oder vielmehr Jansenisten-Melancholie und zugleich die eines rückwärts blickenden Liebhabers, voller sorgsam verborgener Erinnerungen … Er war in meinen Augen noch mehr der Mann der Sinnenlust, als der wie köstliche auch immer, wenn auch nicht ohne wunderliche Kehrseiten, Verfasser der letzten »Lundis«; und wie ich diese halb voltairesche, halb priesterliche und zu all dem und trotz allem auf ihre ganz eigene, intime und aus allen anderen hervorstechende Weise dichterische Gestalt ansah, mußte ich im stillen dem gegenüber, der sie verfaßt hatte, diese in der Ekstase des plötzlichen Schicksals einer zweimaligen Verbannung, infolge der Politik eines Vaters und seiner eigenen armen, schwankenden Gesundheit, einem kleinen Knaben zuerteilten »freien Verse« vor mir hinsagen:
»Ach lieber Gott, gewähr
Den Berg Sankt Peter uns und das Meer
Und unser Gärtchen klein
Und Großmütterchen Jasmin drein.«
Er sprach mit einer Stimme, deren Tonfall mir heute entschlüpft ist, aber die, soweit ich mich etwa doch noch nach so langer Zeit und, wohlzumerken, auf ein nur einmaliges Anhören hin entsinnen kann, mehr hell als hoch, und mehr abgemessen, betont, als wirklich langsam war. Malerisch anschaulich, mit fließender Zunge, wie ein Bach über Kräuter und Kiesel, sagte er uns entzückende Dinge, Erinnerungen, nicht gerade anekdotenhaft. Von Victor Hugo sprach er mit einer bewundernden Zurückhaltung, welcher der Verfasser der »Châtiments« mehr als der der »Rayons et les Ombres« mit Rücksicht auf den der »Consolations«, wie ich mich damals und später in manch einer Unterhaltung, die zwischen dem großen Mann und meiner armseligen Person stattfand, überzeugte, nicht gerade zugestimmt haben würde …
Was uns und unsere Anfänge anbetraf, so beglückwünschte er uns in sehr netter Weise, nicht allzusehr väterlich, eher oheimhaft (das Wort stammt nicht von mir). Seine wohlwollenden Aussetzungen bezogen sich vornehmlich auf den Mißbrauch, den ich mit den großen Worten auf K und auf Y und auf C trieb, Spuren meiner jugendlichen, von Leconte de Lisle benommenen Lektüre. Doch ungeachtet der Tschandra und der Curya, die dort nach seiner und auch meiner … heutigen Ansicht zu reichlich vorkämen, liebte er das Stück Çavitry:
»Machen wir uns gleich Çavitry unempfindlich,
Doch wahren wir, wie sie, im Inneren hohes Streben!«
Die Unterhaltung hatte eine leichte Wendung zum Privatleben genommen (wie konnte es bei Joseph Delorme anders sein?), und als ich ihm von meinen Heiratsabsichten sprach, ohne Enthusiasmus, aber auch, glaub ich, ohne Spott, »schloß« er mit diesen Worten – oder diesem Wort: »Man wird schon sehen.«
Ich habe in verschiedenen Büchern, in denen ich ein wenig von allem und allem rede, hinlängliche Einzelheiten ausgestreut mit Bezug auf den zeitgenössischen Parnaß mit seinen schönen Anstrengungen, seinen schließlichen Erfolgen auch und seinen teueren Mitkämpfern, von denen die Mehrzahl meine guten Freunde und immer auf der eroberten Bresche blieben, bereit für neue, unvorhergesehene Angriffe eines vielgestalteten Feindes, des schlechten Geschmackes, der Plattheit oder der Übertreibung. Unnötig also, auf diese heldischen Zeiten zurückzukommen, aber, ich wiederhole, es ist gut, meine Stellung unter meinen mit mir das gleiche Banner verteidigenden Kameraden gehörig zu kennzeichnen.
Fast alle hatten wir schon einen Namen erzwungen, einige auch schon den Ruhm: Coppée mit seinen »Intimités«, die gleichzeitig mit meinen »Fêtes galantes« erschienen, besonders mit seinem »Passant«, der zum erstenmal die neue Sprache, die wir aufbrachten, auf den Brettern vernehmbar werden ließ; Sully-Prudhomme mit seiner herben Anmut und der Marke jener verflossenen Tage des wahrhaft und berechtigt guten Akademismus.
Die anderen unterstützten auf würdige Weise den Kampf in der Ebene: Dierx und seine »Lèvres closes«, die, noch vollendeter und seine prächtige Blüte bezeichnend, seinen »Poèmes et Poésies« folgten, die versprochen und gehalten hatten; Valade und Mérat, getrennte, nicht uneinige Brüder, die, nachdem sie in einem Lenzduo »April, Mai, Juni« jeder seine Note gegeben hatten, der eine seine »Chimères«, das Ideal, und sein »Idol«, das Weib, sangen, und der andere seine entzückenden und bisweilen so tiefen melancholischen Eklogen »A mi-côte« flöteten; Heredia mit seinen Sonetten, der in dieser seiner bevorzugten Form nicht mehr seinesgleichen hat und herrlich auch noch das Heldengedicht meistert; schließlich Mendès, enthusiastisch, üppig, aber sich schon auf Beherrschung verstehend, auf die Bändigung seiner Form und seines Gedankens, und sicherlich, dank seiner verführerischen und gebieterischen Propaganda, damals schon so etwas wie ein Meister dieser jungen, auch ihrerseits üppigen und enthusiastischen Geister, wenn er auch ihr guter, brüderlicher Kamerad blieb.
Man traf sich Sonnabends bei Leconte de Lisle, Donnerstags bei Banville, in Abendgesellschaften, die ganz der Unterhaltung über Kunst und Dichtung gewidmet waren und welche der ätzende Geist des ersteren mit grotesken Ausgelassenheiten pfefferte und die drollige Ironie des anderen Meisters so köstlich salzte. Mehrere von uns verkehrten häufig bei dem bewunderungswürdigen Nina, von dem ich bei dieser und jener Gelegenheit unausreichend gesprochen habe; einer Künstlernatur, die von ihrem Feuer frühzeitig verzehrt wurde. Cros, Villiers de l'Isle-Adam, zwei Genies, frühzeitig dem Verhängnis ihrer glorreichen Überlegenheit über diese Elite zur Beute, zählten unter die häufigsten Teilnehmer dieser ganz von Poesie und Musik widerhallenden Nächte.
Seit meine Heirat aber in so naher Aussicht stand, hörte ich fast auf, meine mir doch so werten Genossen zu sehen. All meine Zeit, wie mein ganzes Herz und der größte Teil meines Geistes waren auf dem Montmartre und bei meinen dortigen köstlichen Abendbesuchen.
Eines Abends, als ich wie immer munter anlangte, in der Tasche, um es verstohlen in die geliebten Hände gleiten zu lassen, irgendein auf dem Bureau zwischen zwei Regelungen von administrativen Dokumenten zustandegekommenes Gedichtchen, für welche Dokumente ich mich weniger interessierte als für die Fliegen, die umherflogen, flüchtige Symbole
»von entschlüpften Reimen«,
und zugleich die Vernunft, die ich nur in der wirklichen Gegenwart derer wiedergewann, die mir überall vor Augen stand und die ich so geliebt, der ich so bitterlich nachgetrauert habe, noch nicht so sehr lange ist es her, nur ein paar arme, trostlose, jämmerliche Jahre, einsam trotz aller Zerstreuungen, verwitwet unter allem Verkehr mit Mädchen und wieder Mädchen, grämlich ungeachtet aller »Feste«, allen unlöschbaren Trunkes und gieriger Fleischeslust! –: eines schönen Abends also, als ich gewohnterweise und sogar mehr als fröhlich, da ich ja alles auf den Mairien und in Betracht kommenden Kirchen getan hatte für unser am nächsten Tage fälliges öffentliches bürgerliches und kirchliches Aufgebot, anlangte, empfing mich das Hausmädchen mit diesen mir zugeflüsterten Worten: »Fräulein Mathilde ist recht unwohl. Ich glaube, daß Sie sie heut abend nicht werden sehen können.« Ich trat ein und erkundigte mich bei dem Vater, der mich mit ungefähr derselben Sprechweise zurückhielt, worauf ich mich hinaufbegab, um mich bei der Mutter zu erkundigen, die mir aber oben von der Treppe aus zurief: »Aber gewiß, kommen Sie doch. Ihr Besuch wird ihr gut tun.« Es war das erste Mal, daß ich Zutritt in das kleine, ganz in Weiß und Blau gehaltene Zimmerchen erhielt, wo meine Verlobte das Bett hütete. Ich nahm sogleich in der Muschel eines an der Wand angebrachten Weihwasserkessels eine Photographie von mir wahr, die ich ihr gelegentlich meines Landaufenthaltes geschenkt hatte, – was mich unendlich rührte; aber mit Mühe bezwang ich mich, daß mir nicht die Tränen in die Augen stiegen, als mein Blick auf die Kranke fiel und meine Hand ihr glühendes Händchen drückte; das reizende, zierliche, rosig weiße Gesichtchen war mit einem bläulichen Rot gefleckt, und eine beginnende Geschwulst entstellte ihre schweißgebadeten Wangen. Trotzdem lächelte sie mit, ach! bleichem Mund, und die wahrhaft und lauter schönen Augen, aus denen in diesem Augenblick ein Fieberglanz stach, sagten mir Dinge, die die gleichsam ausgelöschte Stimme nur mit Mühe zum Ausdruck brachte.
»Es hat nichts zu bedeuten. Beunruhigen Sie sich nicht. Übrigens morgen ist das Aufgebot? Ja? Oh, umso besser! Ich bin ein wenig abgespannt, der Doktor hat gesagt, ich soll versuchen zu schlafen, ich hab es den ganzen Tag über nicht gekonnt, aber jetzt, wo ich Sie gesehen und gesprochen habe, freu ich mich so, daß mich der Gedanke an Sie einschlummern machen wird. Also morgen, ganz gewiß!«
Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich hatte den ganzen Tag und den ganzen Abend frei. Als der Vater mich hinausgeleitet, hatte er mir seine Befürchtung mitgeteilt, es könnten wohl die Windpocken sein. Die mit mir gleichen Alters sind, erinnern sich, daß diese Epidemie damals in Paris grassierte und bis zum Krieg und der Kommune hin andauern sollte. Man stelle sich vor, in welcher Unruhe und in welcher Hast ich nach meinem ersten Frühstück – nachdem ich meine Mutter darauf vorbereitet hatte, daß ich jedenfalls erst nach dem Diner zurückkehren würde, weil ich zum Frühstück in die Stadt geladen wäre, was ich ihr sagte, um sie nicht unnötigerweise zu beunruhigen – mich nach der Rue Nicolet begab, um mich zu erkundigen. Die Windpocken waren zum Ausbruch gelangt, und das Delirium begann. Ich litt alle erdenkbare Pein, als ich diesmal zu dem Schlafzimmer der Kranken hinaufstieg; auch diesmal war es die Mutter – eine würdige und hochherzige Frau, die meine ganze Verehrung hat! –, die mich hineinführte. Der Vater protestierte: erstlich dürfte die Tür nicht so oft aufgehen, und dann wäre es ansteckend, und …
Was scherte ich mich wohl um diesen Einwand, aber er war nachdrücklich, und als er mit anderen noch ernstlicheren durch unendliche Vorsichtsmaßregeln beruhigt war und ich auf Fußspitzen unter einer dicken Portiere durch, die meine zitternde Hand kaum zu heben vermochte, eintreten und auf der Schwelle bleiben durfte, so war dies einer der denkwürdigsten Augenblicke meines Lebens. Doch mit welcher Behutsamkeit auch mein diskreter Halbeintritt bewerkstelligt worden war, merkte die Kranke ihn doch, und mit einer so schwachen, so schwachen Stimme, daß es in Wahrheit allem Ahnungsvermögen eines Vaters, einer Mutter und eines Liebhabers bedurfte, um sie deutlich mehr zu ahnen als zu verstehen, sagte sie:
»Treten Sie doch ein, Paul, und haben Sie keine Angst. Ich weiß, daß ich augenblicklich sehr häßlich aussehe, denn ich ahne wohl, was für eine Krankheit ich habe. Aber seien Sie nur unbesorgt, ich werde alles befolgen, was angeordnet wird, – und ich werde mich nicht kratzen. Aber das steckt ja wohl an, und Sie dürfen mir nicht nahe kommen.«
Als ich zärtlich und so ganz aus einem überzeugten Herzen gegen die allzu liebevolle Strenge dieses Befehls protestierte, fügte sie, unter einer Anspielung auf unsere neuliche Korrespondenz, mit einem bezaubernden Lächeln hinzu:
»Es ist Prinz Galaors letzte Probe«, und schloß: »Seien Sie verständig, und ich werde bald gesund werden, ganz ausgesucht Ihretwegen. Nur kommen Sie und erkundigen Sie sich alle Tage … und fahren Sie fort, mir Verse zu machen. Sie sehen übrigens, ich habe Sie hier immer in meiner Nähe.«
Und sie wies nach der bereits erwähnten Photographie. Auf ein Zeichen der Eltern hin zog ich mich zurück. Die Anwandlung von Klarheit war gewichen, und als ich mit größter Behutsamkeit die Tür schloß, hörte ich sie mit schwacher Stimme vor sich hin singen und, wie es schien, Klagelaute ausstoßen.
In meinen sehr wirklichen und, wie jeder wirkliche moralische oder physische Schmerz, sehr keuschen Schmerz mischte sich, muß ich bekennen, eine Art von häßlicher Enttäuschung, deren ich mich, wenn ich so sagen soll, bis zu einem geistigen Erröten schäme, eine Art sinnlichen Mißgeschickes. Meine Hochzeit also ins Unbestimmte verschoben! Es war gewiß eine Pein, so lange Enthaltsamkeit zu üben, so lange zu fasten … und ich empfand eine Art von Scham, die Enthaltung, das Fasten beim rechten Namen zu nennen … Und ich war für mein Teil wie einer, dem – man entschuldige diese vulgäre Kennzeichnung einer vulgären Empfindung – man mehr Butter als Brot versprochen hatte, und der weder Butter noch Brot bekommt.
Aber, um alles zu sagen, verging dieser schmutzige, vielmehr tierische Kummer schnell und gab alsbald der sehr gerechten Unruhe wegen des Ausgangs der Krankheit, der
»schalen Bitterkeit«
und Bangigkeit der neuen Trennung wegen – und welch einer! – Raum, die vielleicht ein Vorspiel war zu … was, großer Gott! Ach, wenn ich den Glauben gehabt hätte, sei es auch nur den schwachen, dessen, ach! mäßiges Glück ich heute mein nenne, wie hätte ich gebetet, wie hätte ich Gelübde getan in den besonderen Kapellen, den bevorzugten Pariser heiligen Stätten!
Obgleich es aber nicht erbetet wurde, ereignete sich das Wunder dennoch, und gegen Mitte des Monats begann die Genesung, und mit solchem Erfolg, daß nach etwa zehn Tagen, wo ich täglich mehrere Besuche machte (bereits am frühen Morgen, bei der Rückkehr vom Bureau durch einen Umweg, und endlich abends der immer günstiger lautenden Auskünfte wegen), ich meine »Cour«, scheinbar da, wo sie stehen geblieben war, in Wahrheit aber in ihrem teueren Herzen … und in dem meinen vorgeschritten, wieder aufnehmen konnte.
Wie sie mir versprochen hatte, war sie »verständig« gewesen und hatte sich nicht gekratzt, hatte auch von Seiten meiner Freunde, der Arzte Antoine Cros, des Bruders des Dichters und Bildhauers, und Pauthier, eines jungen Mannes, der ganz Aufopferung, ganz auch Wissenschaft war, und der dann infolge eines unseligen Irrtums gelegentlich der schrecklichen Unterdrückung im Mai 1871 ein klägliches Ende finden sollte, die sorgsamste Pflege erfahren. Außerdem hatten abwechselnd ihre Eltern bei ihr gewacht und Sorge getragen, als sie über unerträgliches Jucken geklagt hatte, ihr das Gesicht mit [Coldcream] und Eibischwasser abzuspülen. So daß sie sich mir als die gleiche wie früher bot, außer daß das Gehen sie ermattete und ihr leicht abgemagertes Gesicht eine etwas lebhaftere Farbe zeigte, was im ganzen bei ihrer Anmut kaum besonders in Betracht kam. Man hatte sich dahin entschieden, daß die Hochzeit bis zur ersten Julihälfte aufgeschoben werden sollte, als sich in der letzten Juniwoche, kurz vor dem so ersehnten Datum – noch ein neuer Aufschub nötig machte. Auch die Mutter war von den nur zu symptomatischen Kreuz- und Kopfschmerzen befallen worden. Die abscheuliche Epidemie hatte sie ergriffen, und sie mußte sich derselben strengen Behandlung unterziehen wie ihre Tochter.
Ich liebte Frau M... sehr, und ich hab es ihr ebenso bei ihren Lebzeiten wie nach ihrem Tode bezeugt. Man mag das nach diesem unveröffentlichten Findet sich, mit ein paar ganz geringen Abänderungen, im ersten Band der »Oeuvres Posthumes«, S. 79. Gedicht beurteilen, das ich ihr bei Gelegenheit des vergangenen 2. November gewidmet habe:
»An Frau Marie M...
In unsrem trüben Sturm warst du ein mild Begüten,
Sinn und Vernunft in unsrem blinden Wüten.
Ach, hätten wir dir doch vertraut zu rechter Zeit,
Erspart war uns geblieben wie viel Herzeleid,
Häßlicheres noch als schmerzliches; und als die Stunde schlug,
Die letzte, da Hoffnung nichts mehr als ein Trug
Noch: zum mindesten hätte deine linde Hand
Das schmählichste im Stand der Dinge gewandt,
Diesen dumpfen Kampf, diesen Frieden unter Waffen
Nach entsetzlichem Zwist.
Was mußte dich hinraffen,
O tiefverehrte, o geliebte, unzeitger Tod!
Wer weiß? Du hier, entschlossen und fest, wo es not,
Dein starker Wille, deine Nachsicht, Besonnenheit:
Ja, du hättest gesiegt; es hätte uns gefeit,
Wechselseitig Verzeihn, und deinem treuen Streben
Hätte Gottes Huld bestes Gelingen gegeben.
Doch Gott, der hin dich nahm – warum? – gabs nicht zu.
O unter deinem grauen Stein hab sanfte Ruh!
Ganz Pflichterfüllung nur war dein treu Gemüt!
Ruh sanft! Ach wären meine Füße nicht zu müd,
Mit einem Kränzchen käm ich wohl zu deinem Grabe:
Doch mein treu Gedenken, Milde, Gute, habe!«
Sie war eine bezaubernde Seele, mit künstlerischem Trieb und Talent begabt, eine ausgezeichnete Musikerin, von auserlesenem Geschmack, und klug, sich aufopfernd für den, den sie liebte, wie man später noch sehen wird.
Die eifervollste Sorgfalt wurde ihr von allem Anfang an gewidmet, dieselben Ärzte, die die Tochter geheilt hatten, sorgten auch für die Mutter zum besten, und wenn ich, trauriger Ungläubiger, der ich war, es gekonnt hätte, ich wiederhole: welche Gebete hätte ich zu einem schon jetzt, und erst viel später! beleidigten Himmel geschickt, den ich so vieler Bedürfnisse wegen erst nach strengen Züchtigungen anrufen durfte –: muß ich fürchten, vergeblich?
Auch diesmal noch ereignete sich das, obwohl nicht erbetete Wunder: Frau M … genas sehr schnell. Aber meine Heirat erlitt eine neue Verzögerung.
Mit einer wunderbaren Überlegenheit und einer gerechten Achtung für das, was sie als mein Zartgefühl empfand, verfiel Frau M …, wohl weil sie die Enttäuschung ahnte, die meinem ununterbrochenen Kummer, bloß immer aufs Sehen (bedeutet für leidende Liebhaber das »noch« im Grunde und mehr oder weniger nicht ein »immer«?) angewiesen zu sein, entsprang, auf einen (darf ich mich, um eine so feine, liebenswerte Sache richtig zu kennzeichnen, des Ausdruckes bedienen?) Ausweg, der in seiner keuschen Voraussetzung vielleicht nicht seinesgleichen hatte und noch nicht dagewesen war. Sie stellte sich in ihrer Genesung zurückgeblieben und wußte ihren Gatten zu überreden, ihr nach wie vor hin und wieder seine Pflege zu widmen und ihn gleichzeitig – mit vollem Recht, ich schwöre es! – von meiner vollkommenen Achtung gegenüber seiner jungen Tochter zu überzeugen, die in Bälde meine leidenschaftlich geliebte Gattin werden sollte. Und es geschah hauptsächlich und vorzugsweise gerade während meiner Besuche, daß sie ein besonderes Bedürfnis nach der Gegenwart ihres Gatten hatte …
So daß meine Zusammenkünfte mit Mathilde – ich nannte sie schon bei diesem »karolingischen« Namen, und seit ich sie, ein wenig zaudernd, fast bebend, ein Madrigal hatte lesen lassen, nachdem ich es ihr in die Hand geschoben und mich schnell entfernt hatte, dessen in cauda venenum war
»Wie ich Sie liebe! ich dich liebe!«,
duzte ich sie, wenn die günstige Gelegenheit uns ein Zwiegespräch vergönnte, und sie gab es mir schließlich zurück – so daß also, sag ich, unsre Zusammenkünfte mit sehr seltenen Ausnahmen in einem kleinen, im Erdgeschoß gelegenen, ganz engen, ganz intimen, ganz mit Möbeln ausgefüllten, ganz in einer gewissen Art von Rokoko gehaltenen Salon, der einen zierlichen, von einer sternförmig mit feinem Zitz bezogenen Decke herabhängenden Kronleuchter hatte, stattfanden, der aber, damit er beileibe nicht als ein Boudoir erscheinen sollte, eine beträchtliche Höhe der besagten Decke aufwies und ein außerordentlich breites Fenster, die ihm ein ehrbar familienhaftes Gepräge verliehen, dessen es bedurfte, damit alles mit rechten Dingen zuginge. Und daß ferner diese Zusammenkünfte, die bei anderen hätten ausarten können, zwischen uns ihren unschuldigen Charakter behielten, obwohl sie mehr und mehr leidenschaftlicher oder vielmehr die Leidenschaft entfachender Natur waren. Es handelte sich beiderseitig um Pläne, welche die Möblierung, die Einrichtung, die Wirtschaft anbetrafen. Was für eine Art von Wohnung zog sie vor: eine niedrig gelegene, mit wenig Treppen zu ersteigen, oder eine hochgelegene, helle? Bei Gott, das Licht wars, das sie liebte, da gabs keinen Streit. Die dunklen Zwischengeschosse waren ihr Abscheu, selbst das erste Stockwerk war ihr zu düster … Und dann, denn von Zeit zu Zeit kam in der kleinen Gemahlin die »Sparsamkeit« und »Voraussicht« zum liebenswürdig drolligen Vorschein, das würde, das wird billiger sein, und im Laufe der Zeit kann die Sparsamkeit, wenn man sie mit Bedacht gehandhabt hat, sich nur als gutes Einlagekapitel erweisen, und eine Menge vergnüglicher Etceteras derart. Besonders beschäftigte uns die Frage der Möblierung. Einmal handelte es sich um die Betten. Sie wollte zwei: eins aus ernstem Polisander, ganz einfach, geschmackvoll usw., für mich; und eins für sie, in rosafarbener oder blauer persischer Seide. Alle beide der Umgebung angepaßt. Das meine in einem Arbeitskabinett mit japanischen Bronzen und Stichen aus dem achtzehnten Jahrhundert; das ihre inmitten eines schönen Gewirres von Konsolen aus Rosenholz, Empiremöbeln, großen Stehspiegeln und was weiß ich! Das einzige, was ich von all diesem köstlichen Geplapper behielt, war, daß ihr zufolge in unsrer Wirtschaft zwei Betten sein mußten, und ich hätte bei einem Haar gegen diese Ketzerei protestiert (ich bin immer Ehegemächern, wie sie der Geschmack der zweideutigen Phantasmagorien im Stile von Crébillon dem Jüngeren träumt, und nicht minder den der leichenbitterhaften Umstandskrämer der alten spanischen Höfe feind gewesen), wenn ich mich nicht der heiligen Unwissenheit meiner noch so kindlich plaudernden Zwischenrednerin erinnert hätte. Alles außer dem Besten, das im vorliegenden Falle leicht hätte das Schlimmste sein können, ging also gut: sie dabei mit all ihrem armen, teueren, jungfräulichen Herzen; ich alles aufbietend, was an zärtlicher Diskretion und verehrungsvoller Verliebtheit in meinen Kräften stand. Ich sage: was in meinen Kräften stand; denn es geschah mir zuweilen, besonders gegen das Ende hin, daß ich mich fast nicht mehr fähig fühlte, mich der Schicklichkeit entsprechend und … den Verstand zusammenhaltend zu benehmen. In diesen Fällen brach ich plötzlich, unter irgendeinem guten oder schlechten Vorwand, mit einer Eile auf, die sie erst verwunderte und für die sie mir dann nicht Dank wußte. Eines Tages, als mir das passiert war, glitten, anstatt des seit einigen Abenden gewohnten Stirnkusses, meine Lippen ohne allzuviel besonderen Vorsatz zu ihren Lippen herab, die mir in vollkommenster Arglosigkeit meinen nur so ganz verstohlenen Kuß freudig erwiderten.
Einmal, ich glaube wohl es war zwei Abende darauf, sprach sie von Wickelzeug, Windeln, Wiegen und Taufnamen, ganz im Sinne geschlechtlicher Aufgeklärtheit. Ich war entzückt, aber doch ein wenig erstaunt. Wer, zum Kuckuck, hatte sie unterrichtet? Und mechanisch begann es mir mit hm! hm! im Kopf herumzugehen, als sie mir auch schon in Form eines nachdrücklichen Abschlusses sagte: »Denn wir werden ein Kind haben.« – Worauf ich, fast schon in aller ehegattlichen Unbefangenheit, antwortete: »Aber das hoff ich ganz bestimmt, sogar mehrere.« Sie aber, indem sie, sicherlich ohne eine Ahnung davon zu haben, den so drolligen Vers der berühmten Apostrophe des lustigen Piron ausließ, sagte unerschütterlich: »Es gibt hier kein Vielleicht, wir werden ganz bestimmt eins bekommen.« Und als mir diesem Abrakadabra gegenüber der Verstand stillstand, schloß sie also: »Ich habe gestern Mama gefragt, auf welche Weise man Kinder bekommt, und sie hat mir geantwortet: Dann, wenn man einen Mann auf den Mund küßt. Du siehst also, daß …«
Und ich ergriff alsbald dieser Unschuld gegenüber, die ich als eine über jeden Zweifel erhabene wußte und deren Frische mir immer in der Seele geblieben ist, wie die einer köstlichen reifen Frucht einem lange im Munde bleibt, die günstige Gelegenheit und rief: »Das ist wahr … Deine Mutter hat recht.« (Wie war mir dies Duzen doch unendlich süß … und grausam unausreichend!) »Also alle Veranlassung für uns, uns noch mehr zu lieben, wenn das möglich sein kann!« Und von da ab umarmten wir uns, alle beide überzeugt, daß es keine Gefahr mehr und das liebe Übel sich schon vollzogen hätte, so daß nun nichts mehr darauf erfolgen könnte, aus Leibeskräften und küßten uns aus Herzensgrund. Worauf ich, Joseph in eigener Person, Hippolyte aus eigener Initiative, und um alles zu sagen, für diesmal allzusehr in Versuchung, mich davonmachte wie ein Mörder, der sein Messer fallen läßt, wie ein Dieb, den sein Diebstahl erschreckt und der mit leeren Händen ausreißt – trotz allem erfreuten Herzen!
Die Zeit ging hin, und wir durften mutmaßen, daß der große Tag, so langsam er auch heranrückte, endlich dennoch käme, im August.
Doch von außen her begannen schlimme Gerüchte umzugehen. Der europäische Friede schien bedroht. Dumme Streiche des Kaisers und die Schurkerei eines Königs schienen, wie gewöhnlich, durch Blut ausgeglichen werden zu sollen. Man erließ das Massenaufgebot, und die mit Mühe zusammengebrachte, halbbekleidete und noch nicht bewaffnete Mobilgarde exerzierte im Lager von Châlons mit Knüppeln. Nun, ich war dabei … auf dem Papier, gehörte zum letzten Aufgebot dieser neuen Miliz. Man hatte noch nicht zu besagtem Aufgebot gegriffen, aber im Gesetzgebenden Körper war davon die Rede. Die Pest des Gesetzgebenden Körpers und der Mobilgarde, und des Krieges, und des Königs von Preußen, und des Kaisers und des Prinzen von Hohenzollern: alles stellte sich mir in den Weg und machte diesmal auf gesetzmäßige Weise Miene, strikt, schrecklicher womöglich als alles übrige schon Vergessene, mein nahes Glück zu bedrohen.
Und meine Liebe erbitterte sich noch mehr: war ich denn etwa im Begriff, etwas Schlechtes und Gemeines zu tun?
Glücklicherweise kam eine Zerstreuung dazwischen in Gestalt einer kleinen, außerordentlich angenehmen Reise.
Man wird begreifen, daß ich mich nur wenig auf diese kleine Episode einlasse, von der ich hier nur als von einer guten, sehr guten Ablenkung bezüglich einer Lage spreche, die dem von wahrhaft grausamen Ereignissen wie absichtlich durchkreuzten Stand der Dinge gegenüber sozusagen unentwirrbar wurde. Die Marquise von M..., die ich bei Nina kennen gelernt hatte, eine durch Gaben des Geistes und Herzens hervorragende Frau, die in sehr jungen Jahren die Freundin und ein wenig die Schülerin Alexander Dumas' des Vaters gewesen war, lud uns – Sivry, seine Frau, seine jüngere Schwester und mich – Ende Juli ein, einige Tage auf ihrem Schlosse von M …, in der Nähe von Argentan, zuzubringen. Ein kurzweiliger Aufenthalt in einer der, was Gewässer und Waldung anbetraf, angenehmsten ländlichen Umgebungen. Ich spreche nicht von dem guten berauschenden Obstwein, noch von dem prozeßsüchtigen bäuerlichen Nachbarn, oder von den berühmten Windungen des Pin, die die äußeren Zerstreuungen dieses kurzen und trotzdem für mich noch zu langen Landaufenthaltes ausmachten, in dessen Verlauf unsere sehr liebenswürdige Gastgeberin die mannigfachsten Wagenausflüge bot, entzückend fröhliche Mahlzeiten improvisierte und prickelnde Anekdoten, die sie in einer bis zum Menschenmöglichsten fesselnden Weise zu erzählen nicht müde wurde.
Ja, zu lang dieser doch so bezaubernde Aufenthalt auf dem Lande für meine, des Verlobten, Ungeduld, meine sicherlich höchst patriotische, aber dabei doch verliebteste Unruhe wegen meines etwaigen Dienstes in der Mobilgarde, und überhaupt für mich, nicht wahr! Jeden Tag erhielt und schickte ich endlose Briefe. Und gerade damals geschah es, daß ich meiner üppig überschäumenden Prosa »Bonne Chanson«-Verse einfügte, die nicht mit teilhaben sollten an dem Bändchen, das man vielleicht kennt und das sich beim Verleger befand, »sobre siete llaves« »Hinter sieben Riegeln«. D. Übers., vollkommen bereit, an dem gleichen Tage zu erscheinen, an dem der Prinz Galaor die Palme seines süßen Martyriums empfangen sollte.
Hier sind übrigens einige noch durchaus unveröffentlichte von diesen Gedichtchen, ein wenig zu lebhaft, nicht wahr, um wirklich teilzuhaben an einem Verlobungsgeschenk, wohl aber, glaub ich, mit ihrem Ton der so nahe bevorstehenden Hochzeit angemessen. Ich habe meine »Weise« und meine »Weisen« seither viel gewechselt. Aber tut nichts, ich empfinde ein nicht in Worte zu fassendes Vergnügen, wie ich nach so vielen Jahren im eben noch verzweifelt aufgeschüttelten Staub »meiner« Schubladen, die niemals lange die gleichen sind, und zwischen den Ruinen meines Gedächtnisses diese paar Überbleibsel eines ungeheuren Schiffbruches von beschriebenen Papieren und Erinnerungen wiederfinde. Diese drei Gedichte finden sich, mit einigen Abänderungen, im ersten Band der »Oeuvres Posthumes«, S. 68–72.
O holde Unschuld, meine Sonne,
Die mir im tiefsten Herzen thront
Und bald mit feuertrunkner Wonne
Mein jetzt noch schüchtern Glück belohnt!
O Reine, bald soll sichs vollenden,
Die siegerselge Stunde winkt,
Da meinen endlich freien Händen
Noch deine letzte Hülle sinkt.
Dein junger Leib, schimmernd im warmen
Ampellicht der ersten Nacht,
Lauernd umstrickt von meinen Armen,
Die kühner dein Vertraun entfacht:
Und zuckt in bräutlicher Erfüllung
Er, den noch nie mein Kuß bezwang,
Entsteigt der heiligen Enthüllung
Endlich die Gattin, Gott sei Dank!
— — — — — —
Denn wissen wirst du, kleines Leben,
Was dir eh machte wenig Harm,
Wenn erst dein Leib mit süßem Beben
Sich hingibt meinem selgen Arm:
Dein Leib ist zart, und seine Weiße
Wie junger Schnee und Lilienflor,
Dein Busen mit Blauäderchen leise
Steilt praller Kügelchen zwei empor;
Und deines Mundes reine Rose
Beruft wohl meinen kühnsten Kuß;
Doch unterm Hemd dir, schmeichelnd lose,
Lacht erst der allerschönste Kuß …
Bald wirst du, guter Lehr ergeben,
Vertraue dem, der aus sich kennt,
Dich zu dem Reiferang erheben
Der Kunst: zu lieben den besten Moment.
— — — — — —
Du sagst, du werdest ein Kind bekommen,
Und hast das Rezept ja erst halb genommen,
Gewiß, ein Kuß auf den Mund zuvor,
Ist Mühe nicht, die man verlor,
Und Vorbereitung, ein Kind zu bekommen.
Doch betrüblich muß sich als falsch erweisen
Das reine Ideal, das sonst wir preisen.
In diesem schlechten Weltenbau
Mußt du ja erst mal sein meine Frau,
Und muß ich mich als dein Mann erweisen.
Solcher Art waren diese Verschen, die ich von M... aus schrieb und von denen die beiden letzten, jetzt, wo ichs überdenke, nach vierundzwanzig Jahren, in Parenthese gesetzt, einen mehr als streitigen Bau aufweisen; aber ich dachte ja damals an nichts weiter als an mein Ziel, mir trotzdem eine leichte und köstliche Hochzeitsnacht vorzubereiten und eine im Grunde für beide Teile möglichst wenig peinliche. Schickte ich sie ihr genau so, wie sie hier stehen? Hier versagt mein Gedächtnis, vielleicht milderte ich diesen und jenen allzu deutlichen Zug ab. Aber es war gut, den Schleier etwas zu lüften; eine vorsichtige Behandlung gehört zu einer guten Kriegführung und ihrer Gediegenheit in den Scharmützeln dieser Art, wie bei den weniger platonischen, die, wenn die Umstände es sonst zuließen, in Bälde folgen sollten.
Endlich kam der Tag der Rückkehr, denn der der Hochzeit näherte sich eilig. Aber, guter Gott! was alles für Abenteuer noch zwischen der göttlichen Schale und meinen vom langen Warten, Warten und immer wieder Warten verlechzten Lippen! Ja, was für Abenteuer, unmögliche, wie man sagt, in einem so kurzen, selbst so kurzen Zeitraum!
Denn es war die Woche des großen Augenblickes! Die Ereignisse hatten ihren Lauf genommen und nahmen ihn mit Riesenschritten. Die ganze Länge des Personenzuges, der uns zurückführte, und auf den kleinsten Stationen nichts als Reservisten, die einstiegen. Man sprach von nichts weiter als von dem Kriege, der einen so schlechten Anfang nahm, von Verrat (schon!) usw. Zu allem hinzu, was ich schon früher gesagt habe, kann man sich eine Vorstellung machen von dem, was ich empfand, sowohl als Liebhaber wie als … etwaiger Mobilgardist, als wir von der traurigen »Empfangshalle« des Bahnhofes Montparnasse hinabstiegen. (Hat man nicht bemerkt, daß alle Empfangshallen der Pariser Bahnhöfe trübselig sind, selbst wenn man, was bei uns der Fall war, die Schrecken der Akzise nicht zu bestehen hat?) Ein Hauch unbeschreiblicher Traurigkeit schwebte wie ein Schleier in der roten und schwarzen Dämmerung eines stickend heißen, drohenden Augustabends mit seinen feuchtschwülen, elektrizitätsschwangeren Dünsten. Die Menge, die in diesem Viertel gewöhnlich sorglos und sogar fröhlich zirkuliert um diese Zeit, staute sich um die Zeitungskioske, und vom Fiaker aus, der uns zum äußersten Ende des rechten Ufers beförderte, bemerkten wir fieberhafte Gestikulationen, Hände, die in der Luft fuchtelten, und geschüttelte Köpfe … Die Fama mit den hundert Mäulern ließ dunkel ihre tausend Stimmen erschallen und schrie mehr oder weniger wahre, gute und schlechte Nachrichten aus, übrigens lauter aufreizende, besonders für mich. Wahrhaftig, es hätte bloß noch das gefehlt!
Obgleich ich mir innerlich deswegen Vorwürfe machte – denn warum, und vielleicht gar ohne Grund, dieses Kind in Unruhe versetzen –, konnte ich mich nicht enthalten, am Abend des nächsten Tages Mathilde in einer wahrhaft leidenschaftlichen Unterhaltung meine traurigen Vorahnungen mitzuteilen, an denen sie einen Anteil nahm, der mich ebenso bezauberte, wie er mir ins Herz schnitt. Um trotzdem die allzu düsteren Sorgen zu zerstreuen, beschäftigten wir uns beide mit den genaueren Einzelheiten der in einigen Tagen stattfindenden Trauungszeremonie. Die Schneiderin bekam sauere Mienen zu sehen, und ich ließ dem Schneider keine Ruhe. Zugleich holte ich meine Zukünftige, mit der ich seit langem unter dem Schutz ihrer Mutter an freien Tagen Ausgänge machte – seit lange, ja, denn ich entsinne mich, als wärs heute, in jenem Jahr den letzten Dickschädel und mit ernster Miene den letzten Drückeberger durch eine der denkwürdigsten Graupelstaupen und über die glatteisüberzogene (oder glühheiße) Place de la Concorde gehen gesehen zu haben –: holte ich also meine Zukünftige taktvoll betreffs der Geschenke aus, die sie etwa gern zu dem bescheidenen Brautgeschenk gehabt hätte, das ich ihr zudachte, mit dem Bedauern, daß es nicht »mindestens« ein königliches sein konnte; und unsere Stationen an den Schaufenstern der Juweliere und der Magazine für feine Wäsche waren zahllose. Alles ging also zum besten mit uns, und der Morgen des Vortages dieses gesegneten Datums konnte mein glückseliges Erwachen sehen, meinen munteren Gang zum Bureau – nachdem ich meiner Mutter, die auch ihrerseits der Kriegsnachrichten und ihres wahrscheinlichen Einflusses auf die Entscheidungen der Kammer wegen ein wenig in Sorge, im übrigen aber über meine gegenwärtige gute Stimmung erstaunt war, den schönsten Kuß gegeben hatte – und endlich meinen Beamteneifer, der der Gegenstand einer leicht beunruhigten Bewunderung meiner Amtsgenossen war, die so etwas an mir noch nie erlebt hatten, und meines buchstäblich verdutzten Chefs.
Ja, alles ging zum besten, als ich gegen Ende der Bureaustunde, ungefähr viereinhalb bis fünf Uhr, in dem faden Lichte des großen Zimmers mit seinen mit Aktenbündeln vollgestopften Wänden, wo wir unser vier hinter Wandschirmen und an Tischen mit Fachkästen beschäftigt waren, uns durch andern Papierkram, schwere Tintenfässer, mit Nadeln besteckte Oblatenkästchen hindurchzuschlagen und erschreckliche weiße, oben mit Druckaufschriften versehene Papierbogen mit den immer gleichen Formeln zu beschreiben: Aufforderungen, Vierteljahrszahlungen zu leisten usw. und mit Namen Guglielmini, Belloir und tutti quanti, – als ich also eintreten sah, bleich, verstört, kaum wiederzuerkennen, einen meiner guten Freunde, L … de R …, einen Junggesellen von allzu überströmendem Herzen, die Exaltation in Person, der mir jählings mitteilte, seine Geliebte sei im Begriff, im Kindbett zu sterben, und er unterwegs, sich das Leben zu nehmen, worauf er mir zur Bekräftigung einen fürchterlich geladenen Revolver zeigte und ein hinreichend schweres Schriftstück einhändigte, das ich, wie er hinzufügte, erst nach seinem Tode lesen dürfe, worauf er, noch ehe ich, ganz betäubt wie ich war, ihn wenigstens, um irgendeine Erklärung zu erlangen, die ihn vielleicht in seinen Entschlüssen umgestimmt hätte, hatte zurückhalten können, davoneilte, während ich durch Korridore, Treppen hinab spornstreichs ihm folgte, um zu versuchen, einen meinem aufrichtigsten Freundesherzen so entsetzlichen Selbstmord abzuwenden, ihm wo möglich die Waffe abzunehmen und, wenn es nötig sein sollte, ihn in meiner Nähe zu behalten.
Ich kannte seine Adresse nicht. In der Annahme, er hätte sie in dem Briefe niedergelegt, den er mir soeben gegeben, erbrach ich letzteren, der nichts enthielt als ein Testament, in welchem er mich damit beauftragte, die Interessen des überlebenden Kindes wahrzunehmen, dessen Geburt dem armen Weibe, dem er, mein unglücklicher Freund, ins Grab nachfolgen wollte, das Leben gekostet hatte. Eine Angabe der Adressen aber war nicht zu finden … Doch schon am nächsten Morgen erreichte mich, als ich mich nach meinem kleinen Frühstück eben anschickte, mich aufs Bureau zu begeben, eine Depesche, die mich bat, so schnell als möglich nach Passy zu kommen, die und die Straße, die und die Nummer, und die gezeichnet war L... de R... Ganz niedergeschmettert, das Schlimmste befürchtend, aber doch mit einer letzten Hoffnung, die mir freilich chimärisch vorkam, der Unglückliche rufe mich vielleicht zu sich, um mich noch einmal zu sehen und sich in seiner Verzweiflung an meine treue Freundschaft anzuklammern, schrieb ich meinem Chef ein Wort der Entschuldigung und nahm so schnell als möglich einen Fiaker.
Am Tag vorher hatte »man«, Rue Nicolet, mich äußerst zerstreut gefunden und hatte mir einige, o so liebevolle Vorwürfe gemacht. Ich hatte es nicht für nötig erachtet, mich mit weiter etwas anderem zu entschuldigen, als daß ich meine etwas »traurige Figur« meiner äußersten Ermüdung, dem außerordentlich angestrengten Bureaudienst schuld gab, diesem Hundebureau, das mir noch nicht mal zwei bis drei Tage Urlaub vor meiner Vermählung bewilligt hatte, sondern bloß einen elenden Urlaub von vierzig Stunden für nachher.
Als ich in Passy anlangte, fand ich L... de R... auf seinem Bett ausgestreckt, vollkommen angezogen, den Kopf von einer Kugel durchbohrt. Oh, wie schön war dieser Kopf mit seiner warmen Bleichheit und seinem langen, romantischen Haar; dieser schreckliche, jetzt bläuliche Kopf mit seinen noch klagenden Augen unter den halboffenen Lidern, dem verzerrten, seitlich verzogenen Mund, der durch eine klagende Atemöffnung hindurch die Zähne zeigte.
Ich mußte so eilig als möglich die Anordnungen der Mutter einholen, die mich nur all dem Guten nach kannte, das ihr Sohn ihr schon seit lange von mir berichtet hatte … und welche die gräßliche Überraschung mehr als die unendliche Verzweiflung – der einzige Sohn, zärtlich geliebt und zärtlich ihre Liebe erwidernd! – außerstand setzte – in ihrem Schmerz und gleichsam beleidigt durch diesen Tod für eine Fremde! –, sich mit den kläglichen Dingen zu beschäftigen, die ein Hintritt, und gar ein ungesetzlicher, einschließt.
Untersuchung, der Form wegen, trotzdem aber belästigend, seitens des Arztes der Mairie, der den »einschlägigen Ordnungen gehorcht«, der noch peinlichere Besuch des Sekretärs des Herrn Polizeikommissars des Viertels, Erklärungen, Zeugen für weitere Feststellungen, denn in Paris liebt man es nicht, das Ende eines Menschen zu kontrasignieren, der von der Existenz, die man hier führt, genug hat.
Und noch mehr! Die Mutter, Katholikin, beauftragte mich, von dem Herrn Pfarrer von Passy zu erlangen, daß der Körper ihres unglücklichen Sohnes kirchlich bestattet würde. Ich fand übrigens in diesem Geistlichen einen von dem Geschehenen sehr tief berührten und von dem gegenwärtigen Schritt sehr gerührten Mann, der – nachdem er, wozu ihn mein Alter und die große Aufrichtigkeit der Empfindung bewog, die ich offenbarte, als ich mich als ungläubig erklärte oder vielmehr durchblicken ließ, daß ich es sei, mir etwas die Leviten gelesen hatte – auf den nächsten Tag ein »Leichenbegängnis von drei Stunden« bewilligte …
Am nächsten Tag, der also der Vortag meiner Hochzeit war – diesmal hatte ich mich, am Abend dieses so traurig denkwürdig vergangenen Tages betreffs meiner seltsamen Haltung vom voraufgehenden Abend erklärt, und meine Erklärung war nicht ungünstig, vielmehr im Gegenteil gut aufgenommen worden –, wohnte ich, nachdem ich mich zugleich auf dem Bureau von neuem der Abwesenheit wegen entschuldigt und verschiedene Einladungen zu der Trauerfeier hatte ergehen lassen, einzig in Gemeinschaft von Anatole France, der schon seit lange mein Freund war und es in der herzlichsten Weise immer geblieben ist – obgleich ich es mir hatte angelegen sein lassen, zahlreiche Einladungsbriefe zu verschicken –, den kurzen Gebeten des Nachmittags bei, dem letzten Lebewohl für den, der nicht mehr sich mit diesem grausamen Leben abzuringen brauchte …
In was für einem Zustand der Erschöpfung ich nach Paris zurückkehrte, dafür wird folgender Vorfall ein besseres Beispiel bieten als alle psychologische Zergliederung.
Am Tage zuvor kam die Wahrheit auf der Place Vendôme zum Durchbruch. An Stelle des falschen Sieges von Mac Mahon, auf den hin zwei Tage zuvor wie närrisch, ach! alle Fenster des Börsenviertels geflaggt hatten, erfuhr man die dreifache Niederlage und den »geordneten Rückzug« der Rheinarmee. Bedrohliche, im übrigen, wie die Folgezeit beweisen sollte, ungereimte, ganz außerordentliche Überreizung gärte. Um die Händler herum riß man sich die Zeitungen aus den Händen. Ich kaufte eine, die den übermäßig fieberhaften Geisteszustand, in dem ich mich seit gestern befand, auf seinen Gipfel brachte, und ich hatte kaum für ein paar Augenblicke auf der Terrasse des Café de Madrid geweilt, wo ich eine Anzahl von Kameraden traf, Literaten und das, was man noch nicht Politiker nannte, als ein Regiment vorbeikam, mit der Marseillaise vorauf, und ein gewaltiger Schrei »Vive la République!« sich all den Brüsten entrang – oder wenigstens fast allen; denn als ich mich ein wenig erhoben und mich dem Rand des Bürgersteiges genähert hatte, um meine Kundgebung besser bemerkbar zu machen, o aus lauterem Trieb – man darf mir das glauben – und ohne eine Unterpräfektur nach dem Muster »der Glorreichen« Es ist wohl die Revolution von 1830 gemeint. Der Übers. zu erhoffen, fuhr mich ein Herr mit rundem Hut und dem Aussehen eines rasenden Ladenschwengels an: »Es lebe Frankreich! gehört sichs zu rufen, Bürger. An einem Tag wie diesem gibt es keine Parteien, gibt es nur die Fahne« usw., – und um mir die Wahrheit seiner Rede zu beweisen, machte er die Polizisten auf mich aufmerksam, die sich näherten und Miene machten, mich zu ergreifen. Bei diesem Anblick, als ich wie der Teufel gestikulierte und fortgesetzt aus Leibeskräften und, meiner Treu! von ganzem Herzen die Republik proklamierte, entrissen mich die Kameraden von der Terrasse und einiges sonstige Publikum den Polizisten, die mich übrigens lässig genug festhielten, und ich entzog mich meinem Triumph durch die Passage Jouffroy. Ah, eine Sache! Man würde heut abend, Rue Nicolet, hübsche Dinge darüber zu erfahren kriegen! Und erschöpft, mit brennendem Durst, in ungeordneter Toilette, die erforderte, daß ich meine Krawatte und anderes in Ordnung brachte, trat ich im Café de Mulhouse ein, das später ein Speisehaus war und auf dessen Fleck, den Garten mit eingeschlossen, dann das Museum Grévin eingerichtet wurde. Dort bestellte ich den letzten Absinth, den ich seit lange, nicht lange genug, nehmen sollte, und die am besten unterrichtete Abendzeitung, die damals unter der kernig patriarchalischen Form, die seitdem – ob zu seinem Vorteil? – verloren ging, »LaPatrie« war. Das erste, auf das meine Blicke fielen, war ungefähr wortgetreu und in seinem Inhalt grausam genau dies: »Wir, Eugenie, Regentin für alles Gegenwärtige und zum Gedeihen der öffentlichen Wohlfahrt, tun kund und zu wissen, der Ministerrat ist verständigt, der Gesetzgebende Körper hat genehmigt, der Senat beigepflichtet: Alle nicht verheirateten Männer der Klassen 1844, 1845 usw., die nicht dem Truppenkontingent angehören, werden zu den Fahnen gerufen.«
Da wars! Meine Hochzeit würde nicht stattfinden!
Nachdem ich – eine Liebespflicht, die ich niemals versäumte – meine Mutter, bei der ich eingetreten war, wie ein Unsinniger umarmt hatte, dabei doch die Gemütsruhe heuchelnd, deren es bedurfte, und nachdem ich in Eile diniert und sie nach einer abermaligen Umarmung, deren Ursache sie vornehmlich in meinem Glück darüber erblicken mußte, daß dies mein letzter Abend vor der Freudennacht war, verlassen hatte, eilte ich spornstreichs zu meinem verloren geglaubten Paradies.
Dort versuchte ich, während ich den gewohnheitsgemäßen Eintritt des »Fräuleins« in dem kleinen Salon erwartete, mich ein wenig in Fassung zu setzen und mir Haltung zu geben, während ich mich diskret in die hohle Hand hineinräusperte, um meine Stimme in die rechte Tonlage zu bringen. Ich glaubte, daß mir das wenigstens zum Teil gelungen wäre, aber bei »ihrem« Eintritt brach all meine künstliche Zurüstung von Kaltblütigkeit und Gemütsruhe zusammen in eine Gemütsbewegung ohnegleichen, deren jäher Ausdruck das vorausbedachte Gespräch, das ich im Kopfe hatte, in unlogische Ausrufe und fast in ein Schluchzen zerbrach.
Anfänglich versetzte sie meine auf solche Weise vorgetragene Geschichte in Betäubung, sie ließ mich wiederholen und nochmals wiederholen, und schließlich geschah es, daß sie – nach offenbaren Anzeichen des Schreckens, die sie in dem Maße, als mein wiederholter Bericht sich klärte, mehr und mehr teilte und die sie mir übrigens schlecht verbarg – noch etwas flüsterte, o so matt in mein aufgeregtes, mein so stürmisch hin und her gerissenes Innere hinein: »Das ist unmöglich, ganz und gar unmöglich!«
Unmöglich, allerdings. Aber sicher, ach! o ja! Und ich zeigte ihr eine Zeitung, die ich unterwegs gekauft hatte.
Hierauf wurde sie traurig, muß ich sagen, bis zu Tränen, was auch mich weinen machte. Ich geriet in die größte Aufregung, und es geschah, daß ich, nach endlosen gegenseitigen Wehklagen, auf die Knie sank und, den Kopf fast auf ihrem schlichten, weißen Hauskleid, das ihre schmale Taille ein wenig verbreiterte, ein wenig auch ihren Körper, der eigentlich eine leichte Anlage zur Fülle zeigte, vergeistigte –: wagte, ihr, mit welch unendlicher Behutsamkeit! – vielleicht war sie aber seit jenem Abend, als ich sie auf den Mund geküßt hatte, unterrichteter bezüglich dessen, was sie im Stand der Ehe erwartete –, begreiflich zu machen, wie grausam, wie unmenschlich für sie und wie nachteilig für uns beide es sein würde, wenn mir, was auch immer kommen möchte und für den Fall, daß man uns morgen auf den Wortlaut des kaiserlichen Erlasses hin die Erteilung der so sehr erwarteten Eheformel verweigerte, vor der Abreise zum Regiment nicht das, um was ich sie bitten möchte, bewilligt würde, sei es selbst das, wovon ihr meine letzte kleine Verssendung gesprochen hätte. Sie versprach mir alles, was ich wollte, und auf ihr, wie ich wußte, treues Wort bauend, erhob ich mich, gefestigter, entschiedener zum Guten entschlossen, gelangte wieder zu mir selbst und ging, nachdem ich ihr artig das etwas fiebernde Händchen geküßt hatte, in ich weiß nicht was für einem zugleich frohen und innerlich schmerzzerrissenen, alles in allem aber guten Zustand von dannen.
Eine sehr ruhige, traumlose Nacht. Frühzeitiges, aber frohes Erwachen. Im stillen hegte ich die beste Zuversicht, eine Sicherheit, – o welche Sicherheit des Gemütes und der Sinne! Auf jeden Fall würde alles gut gehen. Denn wie sehr ich auch Liebhaber war, ein Liebhaber, der jetzt auf die unmittelbare Erfüllung seines Wunsches zählen konnte, war ich doch auch Patriot, und … ja, selbst
»fürs Vaterland zu sterben«
erschien mir, mit dem Gefühl der befriedigten Liebe in Kopf und Blut, wahrhaft gut und schön …
Ungefähr eine Stunde, bevor drei Mietskutschen die »Hochzeit« aufzunehmen kamen, langten wir, meine Mutter und ich, in der Rue Nicolet an. Die »Hochzeit« bestand aus unseren vier Zeugen, die sich, außer einem Oberstabsarzt, einem alten Freund meiner Familie, namentlich aus meinem tiefbeklagten Léon Valade und Herrn Paul Foucher zusammensetzte, dem Schwager Victor Hugos, dem vielleicht kurzsichtigsten Menschen Frankreichs, der, nachdem ich ihm von meiner Schwiegermutter gelegentlich des Verlassens des Konzerts Pasdeloup als der Bräutigam ihrer Tochter vorgestellt worden war, nichts von meiner Physiognomie behalten hatte als das, was er jedem, den das interessieren konnte, bekannt gab: »Ich habe gestern den Zukünftigen von Fräulein M... gesehen. Es ist erstaunlich, was dieser junge Mann für Haare hat!«
Nun, seit dieser Zeit begann ich mir, und das gründlich, die vollendete Glatze zuzulegen, die mich heute vor einigen meiner Zeitgenossen, selbst den in dieser Beziehung natürlich besser begünstigten, auszeichnet … Während man die – in Anbetracht des Krieges und der mehr und mehr schlimmen Nachrichten – wenigen Eingeladenen erwartete, plauderte man über dies und jenes. Unter ihnen befand sich Herr Camille Pelletan, schon lange mein Kamerad, damals Dichter und sogar Verfasser einer Verskomödie, die er wohl hätte drucken lassen sollen; wie das übrige, mehrere kleine Gedichte, die er damals gern seinen nächsten Freunden zu lesen gab, kennzeichnete sie sich, bei wirklicher Eigenart, als zu der guten Weise Banvilles gehörend … Das Leben, das ja so seltsam spielt, hat aus diesem liebenswürdigen Humoristen, Allzufreien, Gassenjungen und, wenn er so seine Zeit hatte, Kinde einen Politiker gemacht, aus dem einige, die sich übrigens ohne besondere Vergewaltigung an die Spitze der Einfaltspinsel des parlamentarischen Reportertums setzen können, in jeder Hinsicht den mit struppigem Haar aus seiner Schachtel hervorspringenden Butzemann und Teufel gemacht haben, von dem man weiß … und den man niemals gesehen hat. Endlich erschien, rosig unter einem langen weißen Schleier, meine Braut. Sie zeigte keinerlei Spur ihrer kürzlichen Rekonvaleszens und war wieder, wenn vielleicht auch ein klein wenig stärker, die Zierliche von vorher geworden. Sie grüßte mich mit einem Blick, aus dem die Versicherung, die liebe Zusage vom Tag vorher sprach und der feste Entschluß, ihr Versprechen zu halten. Ihre Tapferkeit steigerte die meinige um so mehr, und mit einem stillen Schwur drückte ich ihre Hand, und sie erwiderte mit festem Druck. Alles war bezaubernd, und fast mit dem Schritt eines Eroberers erstieg ich den etwas zu hohen Tritt der zweiten Kutsche, wo sich drei von den Zeugen befanden, unter ihnen Herr Paul Foucher, der gerade in diesem Augenblick einen Satz beendete, der besagte, daß ich, was die öffentliche Verordnung vom Tage vorher beträfe, wohl Glück haben würde, wenn man uns das »Conjungo« verliehe.
Die immer etwas komische Zeremonie der Ziviltrauung, die aber gerade infolge der Unruhe, die wir alle mehr oder weniger teilten, man hätte sagen können: etwas Feierliches gewann, begann mit der Verlesung, der sich endlose Unterschriften anschlossen. Worauf der Maire des Bezirkes, der sich persönlich bemüht hatte – mein Schwiegervater galt etwas unter den höheren Beamten des Bezirkes –, dazu überging, die einschlägigen Artikel des Gesetzes in den Bart zu brummen und schließlich, als Abschluß der ganzen Geschichte, die Doppelfrage zu tun.
»Ist es Ihr Entschluß, Fräulein Soundso zur Gattin zu nehmen? Ist es Ihr Entschluß, Herrn X. zum Gatten zu nehmen?« … Ich versichere: es wurde von beiden Seiten mit »lauter und vernehmlicher Stimme« geantwortet. Die kirchliche Trauung, die eine Viertelstunde darauf in der Kirche Notre-Dame de Clignancourt stattfand, machte mir wenig Eindruck – und soll ich sagen, daß sie auch »meiner Frau« wenig Eindruck machte? die, abgesehen von dem äußeren Anstrich, den die gesellschaftliche Wohlanständigkeit in diesen verflossenen Zeiten noch erforderte, nicht gläubiger war, als ich oder ihre Eltern.
»Und Gott? So ist die Zeit, sie dachten nicht an ihn.« Der einzige, aber mir angenehme, besondere Umstand dieser letzteren Zeremonie bestand darin, daß in der Sakristei Fräulein Louise Michel anwesend war, die zu dieser Zeit von Unterrichtsstunden lebte, die sie in der Stadt gab, und auch meiner Frau einige erteilt hatte. Sie wagte, wie man mir später sagte, nicht, mir ihre Anwesenheit in der Sakristei zu wissen zu tun – denn von Ansehen kannte ich sie nicht – und mich anzureden und mir, wie es Brauch ist, ihren Glückwunsch auszusprechen; aber sie gab meiner Frau ein paar Verse, in denen sie uns verpflichtete, gute Bürger zu bleiben und uns angelegen sein zu lassen, deren weitere zu schaffen und auszubilden. Groß, naiv, außerordentlich gutherzig; groß allerdings trotz so manchem schönen Irrtum. Und vorwärts, Kutscher! zum großen Frühstück in der Rue Nicolet, Tee und Piano bis gegen zehn Uhr … und die Hochzeitsnacht!
Die Hochzeitsnacht? – Sie war ganz, was ich mir von ihr versprochen hatte, ich wage auszusprechen: alles, was wir uns von ihr versprochen hatten, sie und ich; denn diese göttlichen Stunden wurden von meiner Seite mit ebensoviel Zartheit behandelt wie Züchtigkeit von ihrer Seite, mit wirklicher feuriger Leidenschaft von beiden Seiten. Sie war, diese Nacht, ohnegleichen in meinem Leben und, ich versichere es, ganz auch in dem ihren! Es folgten ihr manche andere, die vielleicht in Hinsicht dieser Empfindungserlebnisse die besten Erinnerungen meines Lebens ausmachen, – denn ich habe viel geliebt in meinem Leben; viel zu viel? wohl nein! ganz gewiß nicht! denn die Liebe, seht ihr – glaubt mirs lieber, anstatt mich von vornherein zu tadeln –, ist, wenn nicht alles, ah! so doch wenigstens fast alles, gleichsam die einzige Triebfeder alles dieses Namens würdigen Tuns, und sprecht mir nicht von etwas anderem: von Ehrgeiz, Gewinn, Ruhm, höchstens vielleicht von der Kunst. Und doch, und doch: die Kunst, nur allein? … Sei dem, wie ihm wolle: eine Woche ging im Hause der Rue Nicolet hin, dann eine andere und noch einige Tage in einer Wohnung, die wir in der Rue Cardinal-Lemoine innehatten, vierzehn köstliche Tage, kindlich und ernst zu gleicher Zeit, die dann so bald, o richtender Gott, welchen Jahren und welcher Zukunft weichen sollten!
Der 4. September brach trotz vorhergegangener düsterer Vorzeichen, aber das Unglück überrascht immer, herein wie eine Bombe. Ach, ich nahm ihn mit einem Enthusiasmus auf, der keine Schuld einschloß, da ja meine Überzeugungen aufrichtige und durchaus uneigennützige waren und ich Patriot geblieben war, ja, Patriot, obgleich ich alle Einwände dagegen kenne, die ich zwar verstehe, aber nicht billige; aber wahrhaftig, wenn ich recht darüber nachdenke, heute, wo ich keine anderen als philosophische Meinungen mehr habe, war es schlecht, daß man im Zusammenbruch des Kaiserreichs nicht Frankreich sah, sondern einzig die Republik, diese wiederkehrende Republik, auch sie, alles in allem (aber, es ist wahr, nur wiederkehrend, um das Vaterland zu verteidigen), in derselben Gewalt der Fremden, die zur Zeit jener mehr unglücklichen und ungeschickten als unehrenhaften Restauration von 1815 so sehr getadelt wurden.
Meine Frau, risum teneatis, sechzehn Jahre alt, hinfort noch mehr mir und ihrer viel mehr kleinen als jungen Wirtschaft sich widmend, teilte, soll ich sagen: meine gleichsam gottlose Freude; und ihre Anmut verursachte mir zugleich Vergnügen und Mitleid, als ich sie mit ihrer kindlich zärtlichen Stimme sagen hörte: »Jetzt, wo wir uns haben, ist alles gerettet, nicht wahr, sage? Das wird sein wie im Jahre … Wie doch?« Sie wollte sagen 92. Ich flüsterte ihr das Datum dieser »Episode«, die sich »nicht erneuern würde«, nach der Weissagung des Herrn von Bismarck, zu … Jedenfalls war all das ein seltsam komischer und im Grunde trauriger Anfang dessen, was man zwei oder drei Monate später das »Belagerungsfieber« heißen konnte. Es war aber auch mein Fehler, und ich hatte auf ihn in »Bonne Chanson«, das eben erschienen war und unter den obwaltenden Verhältnissen natürlich keinen besonders guten Absatz fand, ein wenig »altmodische« Verse bezogen, so viel als möglich 48, das ich damals bewunderte:
»In diesen niederträchtigen Zeiten
Muß tiefrer Seelenbund begleiten
Den Bund der Herzen, treu geeint.
In diesen jammervollen Plagen
Sind zweie nicht zuviel zu tragen
Das Leben unter solchem Feind.«
In einer »Pierre Duchatelet« betitelten Novelle hab ich unter einer auf einem ungestümen und ganz launenhaften Entwurf beruhenden Nutzanwendung von diesen unendlichen kleinen Einzelheiten meines Eintritts in die Ehe zur Zeit des Krieges genugsam Rechenschaft gegeben. Es versteht sich von selbst, daß auch ich in alle Fallen des Augenblicks ging; und wie damals ein guter, ein sehr großer Teil meiner »Kollegen« von der Seinepräfektur sich beeilte, aus den zahlreichen, allen Beamten des Staates und der Stadt, was die Aushebung der aktiven Nationalgarde und selbst der anderen (die der »Pantoffelhelden«) anbetraf, bewilligten Ausnahmen Vorteil zu ziehen, ließ ich mich in das 160. Bataillon aufnehmen, – Rapée-Berey, das zwischen Issy, Vanves und Montrouge aufgestellt war.
Alle zwei Stunden zog ich, mit meinem Präzisionsgewehr bewaffnet, das sich bald in einen Hinterlader verwandeln sollte, auf ach! so unnütze Wache. Anfangs war es wirklich ganz reizend, wirklich, ganz ohne zu übertreiben. Erstlich lebten wir in diesem köstlichen Septembermonat mit seinen scharfen, bleichroten Morgenfrühen, welche Frühaufsteher, wie ich von jeher einer gewesen war, so lieben; außerdem das im Schritt Marschieren, das Exerzieren, die zusammenraffenden und in denkbar bestem Grade den Appetit anregenden gymnastischen Übungen usw. usw.: was waren das für prickelnde Neuheiten! Es gab freilich bei dieser … militärischen Medaille eine Kehrseite, um es geradeheraus zu sagen (aber, das war ja in gewisser Beziehung ein wenig in unseren »heroischen« Plan, den meiner heldenhaften Frau und meinen, mit eingeschlossen): die Trennung für einen Tag und für eine Nacht, die übrigens schnell und gut durch eine Einlage aufeinanderfolgender »doppelter Ration« an Zärtlichkeiten und Küssen ausgeglichen wurde; – und weiter auch durch die Gewohnheit des Spieles, den Aufenthalt in den Weinstuben, durch Rauchen, das man bespülte, und … Soldatengespräche, die man tauschte und die einen festhielten – so gern, so gern, daß es Anlaß zu unserm ersten Streit wurde! O der erste Streit in einer jungen Ehe, welche Sache! Oft ein denkwürdiges Datum. Und so wars in unserm Falle.
Er erhob sich anläßlich einer infolge von reichlichem Wein- und Absinthgenuß verspäteten Heimkehr von den Festungswällen. Bei meinem Anblick brach meine Frau in Weinen, dann in Vorwürfe aus … Auch das noch, das war zuviel – auch ich ereiferte mich. Und war laut genug. Als ich aber am nächsten Tag, der einen Tag der Bureauarbeit und verhältnismäßigen Rast für mich bedeutete, da meine Arbeit im Stadthause beendet war, früher als gewöhnlich nach Hause kam, war meine Frau nicht da.
»– Madame hat, als sie ging, gesagt, sie würde pünktlich zum Diner wieder da sein; sie ist bei ihren Eltern.«
Nun, ihre Eltern hatten, mit einer sonderbaren Strategie den Gefahren des Bombardements zu entgehen, ihr Haus am Montmartre verlassen, um eine Wohnung am Boulevard Saint-Germain zu beziehen. Übrigens nur ein paar Schritte weit von uns entfernt. Unverzüglich und im Grunde ein wenig wütend über das Geschehene, schickte ich mich an, mit finsterer Miene aufzubrechen, nicht ohne gefragt zu haben, seit wann Madame fort sei. Erst vor kurzem. Aber kann man sich auf Hausmädchen, gar die jungen Hausmädchen junger Frauen verlassen? … Selbstverständlich fand ich meine Frau vor, die mich sogar mit einer Freude empfing, die zweifellos aufrichtig war, mir aber in der Gemütsverfassung, in der ich mich befand, komisch vorkam; und am Abend zu Hause, nach einem verbrannten Diner von Pferdefleisch und Champignons, ereignete sich der zweite Auftritt und – der erste Schlag.
Gott bewahre euch davor, mit dem einen anzufangen und den andern zu verabfolgen!
Ich sollte nach aller Logik und allem moralischen wie physischen Gesetz der Beschleunigung meine doppelte Initiative in diesem … Gewissensfalle bitter bereuen …
Meiner Treu, das ging jetzt endlos so weiter. Wer getrunken hat, wird trinken; und der – nicht wahr, mein Gott? – welcher geschlagen hat, wird nach deinem Gebot geschlagen zugrunde gehen. Eine Masse, ein Haufen, eine Schnur wie aufrichtiger Wiederversöhnungen, bloß damit es wieder von vorn losging. Ein wahres Ballspiel – Football, denn es ging oft bis zum Aufstampfen mit den Füßen. Und das dauerte – solchermaßen balanciert, ausgeglichen, um es entsprechender auszudrücken – weiter bis zum Ende der Pariser Belagerung. Ich übergehe das Heldentum dieser furchtbar langweiligen und bis zu künftigen und … gegenwärtigen Rheumatismen verschnupften Monate. Dann die Bronchitis, dank deren ich den Dienst verlassen und mich ins Privatleben zurückziehen konnte; danach eine Art ununterbrochener Hölle, aus der mich auf seltsame Weise, wie man sehen wird, und für kurze Zeit nichts befreite, als mit ihren Schrecknissen die Kommune. Ich war nach dem 18. März in Paris geblieben. Erstens hatte ich hier meine Arbeit, genau im gleichen Bureau einen Sitz von der triumphierenden Insurrektion; dann wohnte meine Mutter, die zur Zeit leidend war, noch immer in der Rue Lécluse; außerdem hatten wir, meine Frau und ich, unsere reizende Wohnung auf dem Kai mit einem Balkon, den wir mit dem von Frau Clément teilten, der Frau des damals schon berühmten (kaiserlichen) Exkommissars bei den Gerichts-Kommissionen, der augenblicklich im Ausland weilte; schließlich und besonders, weil mir die Bewegung zusagte, die mir als eine Vergeltung für die Schlaffheit der Leute des 4. September erschien, und weil ich unter den Neuemporgekommenen Freunde besaß: zum Beispiel Raoul Rigault, der jahrelang in der Pension L … mein Studienkamerad gewesen war, Jules Andrieu, der vor kurzem noch mein Kollege im Stadthaus gewesen war, und andere von untergeordneter Stellung. Aber diese letztere Überlegung stand nicht im Vordergrunde meiner politischen Beweggründe: nein, ich hatte von Anfang an diese Revolution geliebt und verstanden, glaubte ich, auf jeden Fall durchaus sympathisiert mit ihr, die zugleich friedliebend war und in furcht erregender Weise dem so wahren »Si vis pacem para bellum« entsprach; mit ihrem anonymen Manifest und seinen unbekannten und aus freier Entscheidung anspruchslosen Namen und seiner einfachen Bezeichnung »Central Comité«, die, wie sein anfängliches Auftreten durch Verse von mir gekennzeichnet wurde, von denen mir nur der erste im Gedächtnis geblieben ist:
»ohne alle Deklamation und Silbenstecherei«,
so durchaus ohne alle weiteren Umstände, mit so guter und genauer Sicherheit die Frage der inneren Politik gestellt und mit einem vollendet genauen Zuge die sofortige Entscheidung des sozialen Problems bezeichnet hatte, gälte es selbst den Gebrauch der bewaffneten Macht … Aber die Dinge hatten sich nachher verschlechtert. Gegenüber der absoluten Versailler Regierung und der Strategie nach Art Cavaignacs, wie sie durch den Thiers der Rue Transnonnain und Poitiers ins Werk gesetzt wurden, war an Stelle der schönen, volksgemäßen Entwicklung – vielleicht der einzig intelligenten volksgemäßen Entwicklung der gesamten französischen Revolution dieses Jahrhunderts – die bis zum Plagiat historische Wiederherstellung einer unmöglichen französischen Kommune getreten, die geschwätzig, oberflächlich, doktrinär bis zum Äußersten war! Aber einerlei: der Name besaß damals für meine ganz in romantischen Hebertismus getauchte Gesinnung eine magische Anziehungskraft, er hatte mich verführt, wie mich die so klare und handgreifliche Expansion des 18. März überzeugt hatte.
So gut, daß, als das beklagenswerte Ende kam, ich in keiner Weise mich wohl dabei fühlte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte ich, als ich mein bescheidenes Amt als Schriftführer beim Zahlungsanweisungsamt versehen, meine Sinekure gehabt, da ja in einer solchen Verwaltung, die nach sechs Monaten eine fast »ebenso schlechte« abgelöst hatte, keinerlei Zahlungsanweisung möglich war; eine Sinekure, als welche man ja auch die Ehrenmitgliedschaft der Funktion des »Bureauchefs der Presse« bezeichnen konnte, welche durch die Kriegsräte später so stark verurteilte Stelle im früheren Exministerium des Innern tatsächlich bestand. Ich war in meinem Bureau von ehedem geblieben, wo es Platz für zwei gab und über dessen Tür auf Glasscheiben, die seit undenklichen Zeiten nicht geputzt worden waren, geschrieben stand: »Der Eintritt ist fürs Publikum verboten!«
Meine Beschäftigung bestand darin, daß ich die Zeitungen durchlief und die der Kommune günstigen oder feindlichen Artikel bezeichnete. Bei dieser wenig anstrengenden Arbeit unterstützte mich ein Mann von fünfzig Jahren, von dem ich nachher mit gutem Grunde glauben durfte, daß er ein in einen allzu fanatischen Kommunarden verkleideter Polizeispion war, der auf große Bogen streifigen Papieres die ausgeschnittenen inkriminierten Paragraphen aufklebte, nachdem sie zuvor mit Rot- oder Blaustift angestrichen und auf meine Weise mit leidenschaftlichen Kommentaren untereinander in Verbindung gebracht worden waren. Um vier Uhr ging ich und trug die »Arbeit« ins Kabinett des zuständigen Beamten. Was wurde aus diesen Berichten? Ich weiß davon nichts, denn der spätere Brand des Stadthauses machte alle behördlichen Akten und auch die meinen, zugleich mit mehreren Sachen in Vers und Prosa, verschwinden, deren Verlust ich weniger beklage, als ich mir die hinreichend törichte Rolle zum Vorwurf mache, die ich diese beiden Monate der Illusion gespielt habe, mochte diese Illusion auch eine hochherzige sein und ich alles in allem nicht bedauern, sie gehegt zu haben.
Ich war also der nächsten Zukunft wegen halbwegs beunruhigt, als ich am Morgen nach einem Abend Ende Mai, wo ich – welch klägliche Komödie! – einer öffentlichen Versammlung in der Kirche Saint-Dénis du Saint-Sacrement beigewohnt hatte, durch die Stimme meiner laut träumenden Frau geweckt wurde. Sie rief: »Da sind sie! o die ekligen Fliegen! Ach, wie viele, wie viele, mein Gott, wie viele! Schnell, retten wir uns, Paul!« …
Dann erwachte sie, ohne sich, wie dies immer der Fall ist, an ihren Traum, den ich ihr erzählte und über den wir schließlich lachten, zu erinnern. Ich schellte dann nach dem Hausmädchen, der gewohnten Frühschokolade wegen. Die alberne Kreatur, ein Hänfling, wie ich, indem ich sie neben die Gans halte, die bei meinen Schwiegereltern bedienstet war, sagen möchte, setzte die beiden Tassen und die beiden Hörnchen auf jeden von unsern beiden Nachttischchen (hab ich gesagt, daß unser Bett, gemäß unserm leicht verbesserten Projekt von früher, … nach meinem Geschmack, der »Umgebung« entsprach?) und rief mit stammelnden Worten: »Sie sind eingedrungen, Madame! sie sind an der Porte-Maillot!«
Es war so, wie ich mich sofort vergewissern konnte, als ich den Rauch der mit einer Gewalt, als wär es ganz in der Nähe, geplatzten Granaten über dem Arc-de-Triomphe und darüber hinaus, über die ganzen Champs-Elysées hin wahrnahm.
Das Getrappel fliehender Menschen auf der Straße, das zum Sammeln Trommeln, Notre-Dame, das in aller Eile Generalmarsch dröhnte, bekräftigten bald diese jähe Nachricht.
»Paul, du gestattest doch, daß ich zum Montmartre gehe?« (Meine Schwiegereltern, die immer die richtige Witterung hatten, wenn es darauf ankam, eine Gefahr zu vermeiden, waren in ihre Wohnung in der Rue Nicolet zurückgekehrt!) »Ich komme sofort wieder.«
»Geh doch!« antwortete ich und fügte, übrigens wenig freundlich und ohne sie umarmt zu haben, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, hinzu: »Bring ihnen ja Neuigkeiten!«
Vielleicht mit Rücksicht auf das Hausmädchen, das ein kleines Dingchen war und sich anfing zu fürchten, und das, als es sich mit mir allein sah, nach nichts weiter zu fragen schien, als in Sicherheit zu sein, blieb ich zu Hause …
Übrigens verschob ich diese Angelegenheiten, von denen ich mir nur einen kleinen Abschlag zu geben vornahm, für später und auf den Nachmittag und ging, nachdem ich ein sozusagen gemeinsames Frühstück eingenommen hatte, aus, um Erkundigungen einzuziehen, nicht ohne der, die in diesem Augenblicke für mich – eine flüchtige mädchenjägerische Regung, nicht? – das »hübsche Kind« war, zuvor meine sofortige Rückkehr versichert und ihr, nachdem sie ihre kleinen Einkäufe für das Frühstück besorgt hatte, vorgeschlagen zu haben, wenn es ihr lieber wäre, bei der Pförtnerin zu warten. Als ich von allen Seiten nur immer entsetzlichere Nachrichten bekam und man, vom Kai aus, auf dem strahlend blauen Hintergrunde des Himmels die hellen Flammen vom Palast der Tuilerien und vom Finanzministerium sah, fühlte ich mich meinerseits von einem brennenden Bedürfnis ergriffen, meine Mutter zu sehen, die in ihrem Batignolles ganz allein war, wo wir, meine Frau und ich, mehrere Monate gewohnt hatten, weil sie besser mit Vorräten, Eiern und Kartoffeln, versehen war als wir.
Ich ging bis zum Château d'Eau, mitten durch ein außer sich geratenes und übel kriegerisches Getriebe hindurch, das sich aber nach dem Schall der Trommel in Ordnung hielt.
»Hört ihr ihn? das ist der Tambour
Von der Nationalgarde,
Von der Nationalgarde …«
Hier hielt mir ein langer Schlingel, halb Unteroffizier, halb Zuhälterzivil, mit einem großen Säbel ausgerüstet und ein ungeheuerlich mit Borten besetztes Käppi auf, der Befehlshaber einer im Entstehen begriffenen Barrikade, einen Revolver an die Schläfe und forderte mich auf, sofort umzukehren, ungeachtet der gestempelten Verkehrskarte der Pariser Kommune, die ich ihm vorzeigte. »Ich sch... auf die Kommune, und Sie, machen Sie schnell, daß Sie dahin kommen, wo Sie hergekommen sind, oder …« Vor dem Quos ego dieses heruntergekommenen Cambronne zog ich mich tatsächlich zurück und versuchte auch noch mehrere Male »die Linie zu nehmen«. Überall krönte und entmutigte schließlich der gleiche Mißerfolg meine Anstrengungen. Ich begab mich nach der Rue Cardinal-Lemoine zurück. Die Pförtnerin empfing mich mit diesen Worten, die mich verblüfften, während zu gleicher Zeit mein im Hintergrund der Loge kauerndes Hausmädchen mich, man hätte sagen können, zähneklappernd ansah, wie man einen Zeus Soter anfleht: »Mein Herr, zwei Nationalgardisten sind auf Ihrem Treppenflur, die Sie erwarten.«
»Sie haben nichts gesagt?«
»Nur Ihren Namen, und sie haben sich als Ihre Freunde bezeichnet, aber ihr Aussehen verrät nichts …«
Gleich vier Stufen auf einmal nehmend, klomm ich hinauf und sah mich meinem Freund Edmond Lepelletier, dem wohlbekannten Publizisten, und Emile Richard gegenüber, der sehr viel später als Präsident des Munizipalrates von Paris gestorben ist; schwarz von Staub und Pulverqualm kamen sie von einer ganz in der Nähe befindlichen Barrikade und baten mich um Zuflucht.
Natürlich führte ich sie hinein, und wir machten uns daran, die Hosenstreifen zu verbrennen, gleicherweise die Käppis dem Feuer zu übergeben, die Metallknöpfe in den Abort zu werfen und andere Vorsichtsmaßregeln gegen eine wahrscheinliche Nachforschung zu treffen. Die Waffen und die Patronen waren bereits erledigt, sie hatten sie auf die Straße geworfen.
Vollständige Niederlage, berichteten sie mir. Das Hausmädchen, das mir auf dem Fuße gefolgt war, bediente uns, wir halfen ihm mit Späßen über seine Furcht hinweg, und es zeigte sich jetzt beruhigter. Dieser plötzliche Besuch mir werter, noch anwesender Freunde war mir in Anbetracht der gegebenen Umstände, von denen ich oben gesprochen habe, ein wenig gegen den Strich, – aber unter solchen Umständen ging die Gastfreundschaft allem andern vor, nicht wahr?
Gegen zehn oder elf Uhr vernahmen wir deutlich das sich nähernde Gewehrfeuer. Ein trockenes, mühlenartig rollendes Geräusch, ein wahrhaftes Ticktack … Und vom Balkon aus beobachteten wir den sich in guter Ordnung vollziehenden Aufmarsch des Bataillons der Rächer von Flourens (Florence sprachen es die Leute der Straße aus, wie sie auch Félixe Pyat und Paschale Grousset sprachen), junge Menschen von fünfzehn, sechzehn Jahren in der Uniform der kaiserlichen Gardejäger zu Fuß, schwarz und grüner Rock, Beinkleider wie die Zuaven, breiter weißer Gürtel, kecke, zu kecke Mienen; aber sie ließen sich am nächsten Tage auf der Barrikade der Austerlitzbrücke durch die wirklich zu wütenden Marinesoldaten töten bis auf den letzten Mann …
Zu gleicher Zeit erhob sich von dem Glockenturm des Stadthauses ein dünner, schwarzer Rauch; und höchstens zwei, drei Minuten darauf zersprangen alle Fenster des Bauwerkes und ließen riesige Flammen hervorbrechen, während das Dach unter einem ungeheuer hohen und breiten Funkenregen zusammenstürzte. Diese Feuersbrunst dauerte bis zum Abend, um dann in Form einer ungeheuren Glut abzunehmen, die für die Dauer der folgenden Tage ein riesenhafter Qualm wurde. Das schauerlich-schöne Schauspiel wiederholte sich während der Nacht mit der Kanonade der Höhe des Montmartre, die von neun bis drei Uhr morgens ein Feuerwerk entwickelte, wie man es noch nicht gesehen hatte. Im Laufe des Tages hatten wir dann die entsetzlich starke Explosion des Pulvermagazins des Luxembourg, und unter allen möglichen Versprechungen brachen eine Menge Leute mit ihren Sachen in den Treppenflur ein; sie waren den Umgebungen des Panthéon entflohen, da gedroht war und sie es für gewiß nahmen, daß das Werk Soufflots durch eine Mine zerstört werden sollte. Meine Frau war nicht zurückgekehrt, was mich unter solchen Umständen nicht wunderte, und ich war sehr in Unruhe, was aus meiner Mutter in ihrem für gewöhnlich zwar friedlichen, aber von Anfang an sehr stark im insurrektionellen Sinne bearbeiteten Viertel geworden war … Gegen vier Uhr morgens – meine Gäste hatten sich auf Matratzen im Speisezimmer niedergelegt, ich in dem für diesmal verlassenen Ehegemach –, als sich strahlend der Tag an dem vom schrecklichen Geräusch der Schlacht widerhallenden Himmel erhob, machte uns der laute Schall der Flurglocke erbeben. Halbnackt eilte ich zur Tür. Es war meine atemlose Mutter. Sie hatte die ganze Nacht damit verbracht, die belagerten Barrikaden zu überschreiten; und eben erst hatte sie ganz in der Nähe, Rue de Poissy, der Niedermetzelung von »Insurgenten«, Männern, Weibern und Kindern, beigewohnt …
»Oh,« sagte sie noch erschauernd, »ich bin eine Soldatenfrau; aber heute habe ich vor der Uniform und den Waffen ein Grauen bekommen!«
Wie viel Küsse, nicht wahr, und welcher Herzenserguß!
»Und deine Frau?«
In diesem Augenblick ließ sich die Glocke zum zweitenmal vernehmen. Es war meine Frau. Endlich! Diesmal umarmte ich sie heftig, und vor Freude weinten wir alle drei. Dann beschäftigten wir uns, unsern kompromittierten Freunden zur Flucht zu verhelfen, was sich dank meiner ausgedienten Garderobe und zum Teil auch der des ausgezeichneten Hauswirtes, Herrn Brazies Vater, bewerkstelligen ließ, der, als wahrhafter Mann von Herz, diesem Hilfswerk sich zur Verfügung stellte. Wohlbehalten durften die Flüchtlinge ihr Heim erreichen, abgesehen von einem kleinen Abenteuer, das Lepelletier begegnete, der – nachdem er sich für die Dauer des Krieges hatte anwerben lassen und tapfer die ganze Pariser Kampagne seit dem Rückzug von Mézières mitgefochten hatte –, als er aus meiner Haustür heraustrat, auf Soldaten seines Regimentes stieß, die von einem Sergeanten geführt wurden, den er kannte, weil er mit ihm in der Kantine getrunken hatte, und mit dem er für diesmal – verdammt! – des Dienstes wegen trank.
Als sie gegangen waren, vertraute meine Frau uns an, daß sie seit zwei Monaten schwanger sei; ein Umstand, der mich ihr für einige Zeit wieder näher brachte, übrigens auf die Ratschläge meiner Mutter hin, die wohl fürchtete, daß in unserer Ehe nicht alles zum besten stünde.
Alles ging bald so, bald so mit ihr weiter … bis im Oktober 1871 Arthur Rimbaud nach Paris kam, gegen den meine Frau auf der Stelle eine, übrigens in dem gemein unfreundlichen Sinne, wie sie es auffaßte, vollkommen ungerechtfertigte Eifersucht faßte … Es handelte sich im Grunde gar nicht um eine Zuneigung, um irgendeine Sympathie zwischen zwei so verschiedenen Naturen, wie die des Dichters der »Assis« und der meinigen, sondern im höchsten Grade um eine Bewunderung, ein Erstaunen gegenüber diesem jungen Menschen von sechzehn Jahren, der schon längst Sachen geschrieben hatte, die, wie Fénelon so vortrefflich gesagt hat, »vielleicht weit über der Literatur« standen …
Hier enden, vielleicht für einige Zeit, meine »Beichten«. Die Gesamtheit meines Werkes in Vers und Prosa bezeugt sattsam viele Schwächen, manche sagen oder finden: zu viele, Laster sogar, und noch mehr Unglück, mehr oder weniger würdig ertragenes.
Aber trotzdem und ohne zu viel Eitelkeit oder Stolz meinerseits kann das Wort Rousseaus den moralischen Querschnitt meines Lebens geben:
»Man ist stark, wenn man sich vergleicht.«
Oder vielmehr, um abzuschließen als Christ, der zu sein ich versuchte und der vielleicht doch nicht so ganz und gar untergetaucht ist, darf ich wohl mit Rücksicht auf meine ganze Vergangenheit mit jenem anderen Selbstbekenner, dem verehrungswürdigen Bischof von Hippone sagen: