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Sammy

Erst um die Morgendämmerung, eine blaßviolette gelbe Wintermorgen-Dämmerung, geschah es, daß Frau Jeanne Moureau, seit gestern Mittag verheiratet, sich zu Geständnissen entschloß.

Moureau, ein kleiner, dicker, blonder Mann, sprang aus dem Bett, ohne zu wissen, was er eigentlich wollte, rannte mehrmals wie ein vergiftetes Raubtier in der Stube herum, kam dann mit einem Satze zu seiner Frau zurück, packte sie an der Schulter und fing zu heulen an:

»Ha! Du Elende! ... Elende! ... ich war dessen sicher!... Ha! Du hast einen Liebhaber gehabt ... ich war dessen sicher, ich war dessen sicher ...«

Und er schüttelte sie wie wahnsinnig, er preßte ihre beiden Schultern, als wären es zwei Kehlen, die er hätte würgen wollen.

Sie antwortete nicht. Sie verharrte schweigsam, regungslos, bleich.

Er wiederholte, sie loslassend:

»Ich war dessen ganz sicher! ... sicher, sicher, sicher! ...«

Und er begann wieder das Gemach zu umkreisen und brüllte mechanisch sein »sicher! sicher!« heraus.

Und doch war er, er mochte sagen, was er wollte, Tags zuvor ebenfalls sicher, aber sicher des geraden Gegenteils, sicher, daß sie, die er heiratete, ein makelloses, unberührtes, absolut keusches Mädchen sei. Und um seine Überzeugungen bis zu dem Grade umzustoßen, hatte es nur einer einzigen Erfahrung bedurft.

Er kleidete sich langsam an, stieg in seinen kleinen Strumpfwarenladen hinab, nahm die Fensterläden weg und richtete die Schaufensterauslage her. Dann, als ihm seine Frau ein Schälchen Milchkaffee in den hinteren Laden brachte, setzte er sich ihr gegenüber an den Tisch und frühstückte, ohne ein Wort zu sagen.

Jeanne schwieg auch; sie spähte nach den Blicken ihres Mannes, bereit, ihn um Verzeihung zu bitten, es mit lauten Beteuerungen der Reue, mit feierlichen Versprechungen der Treue zu versuchen – obwohl ihrer lässigen Natur dramatische Scenen, stürmische Auseinandersetzungen widerstrebten.

Aber Moureau sah sie garnicht ein; er erhob sich, als er fertig gefrühstückt hatte und fing wieder an, seinen Beschäftigungen nachzugehen. Bis zum Abend dauerte das Schweigen und als die Nacht gekommen, legte sich Moureau, ohne weiter etwas zu sagen, zu Bett.

Der nächste Tag, der übernächste und noch ein weiterer Tag vergingen so in beängstigendem Schweigen. Was mochte nur Moureau denken, welche Pläne wälzte er nur in seinem geheimnisvollen Kopfe, hinter seinen gesenkten Augenlidern, hinter seinem ruhigen, anscheinend wieder heiteren Gesicht? Sann er etwa auf Scheidung, auf komplizierte Racheakte, oder bereitete er sich zur Verzeihung vor? Frau Moureau wagte nicht, auf diese Fragen Antwort zu suchen, wagte nicht, das Rätselvolle, was in dieser schweigsamen Gleichgiltigkeit lag, durch Worte, durch Bitten herauszufordern.

Endlich, am Ende der Woche, Sonnabend Abend, nahm Moureau, als er zu Bett ging, seine Frau in seine Arme und teilte ihr in einer stürmischen Umklammerung flüsternd seine endgiltigen Entschlüsse mit:

»Na, ich vergebe Dir ... Ich vergebe Dir, weil ich Dich liebe ... Ich weiß nicht, wer der gemeine Verführer ist, der sich erdreistet hat ... Aber ich will's auch nicht wissen ... Nein, es interessiert mich nicht... Und übrigens wäre es auch nicht zartfühlend ... Wir wollen nie davon sprechen ...«

Er hielt inne, ganz gerührt von seinem Zartgefühl, seiner Hochherzigkeit, und einen Augenblick später betonte er nochmals:

»Ja, wir wollen nie davon sprechen, hörst Du! nie wieder! nie wieder!«

Frau Moureau brach in ein dankbares Schluchzen aus, weinte an seinem Halse und flüsterte:

»O! Dank, Geliebter! Dank!«

*

Am nächsten Morgen indessen, gleich nach dem Kaffee, konnte Moureau doch nicht umhin, zu sagen:

»Hör' mal, ich hab' Dir versprochen, wir wollen nie davon sprechen... Was versprochen ist, das ist versprochen ... Und ich will auch nicht wissen, wer es ist ... Nur das Eine möchte ich gern wissen: was er trieb, ja, schlechtweg nur, was er trieb ... seinen Beruf ...«

Frau Moureau erwiderte in flehendem Tone: »O! Geliebter! ... Du hattest mir doch versprochen!...«

Moureau versetzte mit gewichtiger Miene:

»Schon gut! Schon gut! Was versprochen ist, das ist versprochen ... Du willst mir's nicht sagen, nun, so sage mir's nicht! ...

Und er entfernte sich mit der stolzen und ein wenig seltsamen Miene eines Mannes, der sein Wort wohl brechen könnte, der es aber doch hält.

Aber obwohl versprochen blieb, was einmal versprochen war, hörte Moureau von diesem Moment an nicht auf, sich mit den tückischsten Kunstgriffen abzuquälen, um das herauszubekommen, was er wissen wollte. All seine während der Schweigetage gebändigte Neugierde bäumte sich jetzt auf, drängte ihn, inspirierte ihn, gab ihm tausend Kriegsliste ein. Er verhörte Frau Moureau nicht, er stellte ihr keine direkten, eindringlichen Fragen, er blieb seinem Schwure treu, er sprach nie »davon«. Doch war er stets auf der Lauer, auf dem Anstande nach den geringsten Gesten, den geringsten Worten Jeannes; er spähte wie ein Schiffbrüchiger nach dem Sichtbarwerden der winzigen Segel in der Ferne, nach dem plötzlichen Auftauchen eines Anzeichens hinsichtlich dessen, was der unbekannte Verführer wohl treiben möchte, dessen, was der gemeine Verführer wohl war. Manchmal bildete er sich ein, es erraten zu haben, seine Lippen schienen auseinander zu schnellen, die gefundene Lösung sprang ihm aus dem Munde. Kein Tag, wo er nicht zu triumphieren glaubte, wo Frau Moureau im unerwartetsten Augenblick, beim unbedeutendsten Worte ihn nicht brüsk ausrufen hörte:

»Ein Maler war's!«

Oder:

»Ein Journalist war's!«

Oder:

»Ein Börsenmensch war's!«

Frau Moureau leugnete regelmäßig und hartnäckig. Dann wurde Moureau kleinlaut, brummte sein: »Schon gut! Schon gut!« und ging wieder an seine Arbeit, mit gesenktem Kopfe, mit beschämtem, wütendem Blick, wie ein Raubtier, dem eben seine Beute entwischt ist. Und den ganzen Tag, den Abend, ja auch die Nacht blieb er stumm und verdrießlich, aus Anlaß der entnervenden, immer erneuten Enttäuschung.

*

Wären sie weniger häufig, weniger brutal gewesen, so hätten diese improvisierten Überfälle, diese schroffen Versuche, das Geheimnis ihr abzulocken, Frau Moureau gar nicht so sehr mißfallen.

Sie gaben ihr das Gefühl einer Überlegenheit gegenüber ihrem Gatten, der wohlverschanzten und befestigten Überlegenheit dessen, der weiß, über den, der nicht weiß und sich vergeblich um das Wissen bemüht. Und dann brachten sie ihr eine Reihe angenehmer, halb vergessener Bilder ins Gedächtnis zurück, erinnerten sie an die Zeit, an die Episoden ihrer Liebschaft mit dem gemeinen Verführer.

Sie erblickte sich wieder, wie sie ganz atemlos und wie närrisch vor Furcht bei ihrem Liebhaber, Georges Monnard, in der Villa ankam, die er in der Nähe von Puteaux bewohnte, wo sein Vater eine Fabrik besaß, eine große Knochenmehl-Fabrik. Sie fand, wenn sie ihr schwaches Gedächtnis gehörig anspannte, alle Einzelheiten ihres zärtlichen Beisammenseins wieder heraus, alle Einzelheilen der Scenerie, innerhalb deren es sich vollzog. Sie rief sich namentlich gern die Züge Sammys ins Gedächtnis zurück, des niedlichen kleinen australischen Wildschweinchens, das Georg gezähmt und abgerichtet hatte – o! ein kleines, gar zartes, gar intelligentes Tier!

Und wie drollig war es doch auch, dieses Sammy! Sie brauchte nur zu erscheinen, und schon wollte es seine Kunststücke zum Besten geben. Sobald sie nur herein kam, richtete es sich auf seinem Hinterteil auf und stieß schwache, zärtliche Schreie aus, einem scharfen, rauhen Glucksen vergleichbar. Dann gab es seinem braunen, mit goldgelben Ringen gesprenkelten Körper das Übergewicht nach vorn und schoß einen Purzelbaum. Dann rannte es im Galopp und vielfach die Gangart wechselnd ums Zimmer herum. Nein, man konnte sich kein so schauspielerndes, so selbstgefälliges Wildschweinchen denken, wie dieses unermüdliches Sammy war!

Sie lächelte bei diesen Erinnerungen. Aber Monreau brummte sofort:

»Weshalb lachst Du? ... Es ist gar keine Veranlassung dazu! ...«

Sie schwieg, und zwischen ihnen breitete das Geheimnis von neuem seinen eisigen, unheilvollen Schatten.

*

Eines Sonntags im April waren sie in den zoologischen Garten gegangen, um dort den Nachmittag zuzubringen. Moureau war an dem Tage gerade bei ausgesucht guter Laune. Seit dem Morgen hatte er es nicht einmal mit einem Ausrufe probiert: was der Verführer wohl sein könnte. Er drückte den Arm seiner Frau an sich, preßte ihn wiederholt lange und heftig.

Und sie wandelten an den Käfigen entlang, allen Streites vergessend und die schöne, reine, frische Luft einziehend, an der sie sich wie an köstlichem Frühobst erlabten.

Aber mit einemmale blieb Monreau, der sich von Zeit zu Zeit das Vergnügen machte, den Tieren Brot zu geben, vor einem Käfig stehen, woran ein weißes Schild hing, und rief:

»Sieh doch! Was ist denn das?«

Jeanne hob den Kopf, las: » Wildschweine aus Neuguinea«, senkte lebhaft den Kopf wieder und erkannte auf den ersten Blick hinter dem Käfiggitter Sammy.

Moureau rief das Wildschwein an und hänselte es: »Pst! Pst!... Oh! Hast Du aber einen Kopf, Du, Du kannst Dir 'was darauf einbilden! ... Pst! ... He! Pst!«

Sammy näherte sich mit kleinen, geringschätzigen Schritten. Jeanne war außerordentlich bleich geworden. Der junge Eber steckte seinen Rüssel in eines der Löcher des Gitters und hob dann den Kopf in die Höhe, um nach dem Stückchen Brot zu schnappen, das Moureau ihm hinhielt. Aber sobald er Jeanne bemerkt hatte, ließ er das Brot fahren, richtete sich auf seinem Hinterteil auf, machte Männchen, schoß Purzelbaum, galoppierte herum – kurz, exerzierte das ganze Programm durch, und als die Vorstellung beendet, kam er und postierte sich wieder vor das Paar, wobei er rauhe Klagelaute ausstieß und gerührt die Augen rollte.

Moureau, zuerst belustigt, schaute allmählich immer finsterer drein. Seine roten Wangen nahmen eine bläuliche Färbung an. Sein vom Verdacht gepeitschtes Blut pochte wildhämmernd an seine Schläfen. Und alsbald knirschte er, Jeanne am Handgelenk fassend:

»Du kennst diesen Eber!«

Jeanne versuchte, sich loszumachen, und stotterte: »Nein ... Ich schwöre Dir, nein ... Ich kenne ihn nicht ...«

Moureau, mit gesenktem Kopfe vor dem Käfig hin- und hergehend, begann wieder:

»Doch, doch, Du kennst ihn ... Du bist ja ganz bleich ... Du kennst ihn!«

Und mit triumphierender Stimme herausplatzend, heulte er laut:

»Ein Jäger war's.«

Frau Moureau, des Streitens, des Leugnens müde, erhob keinen Einspruch. Moureau setzte unter den aufmerksamen Blicken Sammys seine Promenade vor dem Käfig fort. Jeanne wagte den Vorschlag:

»Wollen wir nach Hause? ... Es ist spät! ...«

»Wenn Du willst,« meinte Moureau in gedrücktem Tone ...

Sie fuhren im Fiaker nach Hause ... Moureau sprach kein Wort, behauptete seine beleidigte, stumpfsinnige Miene aus den ersten Tagen der Ehe. Aber plötzlich, kurz vor der Ankunft, schnellte er empor, schlug sich mit der Geste eines Erfinders an die Stirn und erklärte:

»Ein Jäger? ... Nicht doch! ... Er hätte ja den Eber erschossen ... Nein! ... Einer, der Tiere zeigt, war's, ein Clown (er sprach »Clohn« aus), ein Clohn ... Haha! ... ein Clohn! Das ist 'ne saubere Geschichte! ...«

Er sah Frau Moureau prüfend von der Seite an, um die Wirkung seiner Hypothese zu beobachten, um zu sehen, ob die Schuldige nicht auch diesesmal wieder leugnen würde, die offenkundige Wahrheit leugnen würde. Aber nein, sie leugnete nicht, sie schloß die Augen, preßte die Lippen auf einander, entschlossen, nicht mehr zu diskutieren, durch Stillschweigen diesen unerträglichen Verhören ein Ende zu machen. Moureau hielt dieses Gebahren für Zustimmung, für Schmerz, für Scham, und allsogleich fühlte er sich von großem Mitleid ergriffen. Er faßte seine Frau um die Taille und flüsterte ihr sanft ins Ohr:

»Armes Kind ... Ein Clohn! ... Ich begreife ... Du leidest ... 's ist wirklich schrecklich ... Aber Du lieber Himmel! ... Du warst jung ... Du wußtest ja nicht! ... Ich verzeihe Dir ... Ich schwöre es Dir ... Na, gräme Dich nur nicht weiter, ich verzeihe Dir ja! ... Ich vergesse! ...«

Seit jenem Tage gewann er übrigens all seine Jovialität, all sein Zutrauen, das harmlose, gutmütige Aussehen eines kleinen, dicken Mannes wieder, die es Jeanne zuerst angethan hatten. Sein Verdacht schien verschwunden; man hätte meinen sollen, der Wein des Wissens habe ihn betäubt, eingeschläfert. Und Jeanne, von dem täglichen Ausgefragtwerden erlöst, ließ die Kränkung über sich ergehen, daß ihr vermeintlich von einem Clown der erste Schimpf angethan worden sei.

Nur von Zeit zu Zeit, an trüben, unfreundlichen Tagen, in Dämmerstunden, ließ sich Moureau soweit gehen, in klagendem Tone zu murmeln:

»Ein Clohn! ... Ein Clohn! ...«

Aber das Mitleid gewann rasch wieder die Oberhand. Er eilte zu Jeanne, herzte sie, hätschelte sie, entschuldigte sich wegen seines unwillkürlichen Ausrufs:

»Armes Kind! ... Das thut nichts! ... Du wußtest ja nicht ...«

Eines Abends trieb er die Selbstverleugnung sogar so weit, seine Frau in den Circus zu führen.

Beim Austreten der Clowns war er sehr maßvoll, konnte er an sich halten. Lachend sagte er:

»Ja, sie sind sehr spaßhaft, sehr spaßhaft! ...« Und großmütig drückte er Jeanne die Hand und raunte ihr ins Ohr: »Armes Kind! ... Armes Kind! ...«

*


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