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Dreimal konnte die Aufführung von »Hänsel und Gretel« im Walde wiederholt werden. Jedesmal erntete Bärbel großen Beifall. Je öfter sie ihre Rolle gab, um so mehr wuchs sie hinein, um so besser gefiel ihr das Theaterspielen. Dann trat Regenwetter ein, mitten in den Sommerferien. Es regnete vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen. Grau verhangen waren Himmel und Berge. Die Schneekoppe ließ sich nicht sehen, so sehnsüchtig die Sommergäste und all die Ferienkinder nach ihr Ausschau hielten. Einen dicken, grauen Wolkensack hatte Rübezahl ihr über den Kopf gestülpt. Nebelschwaden jagten am Gebirge hin über die Halden und Matten. Triefend standen die Bergföhren da. Es trommelte auf den roten Ziegeldächern der Bauernhäuser, rauschte aus den Dachrinnen als Bächlein über die Wege, spritzte und sprühte in Tausenden von Tropfen gegen das Fensterglas. Da preßte sich manch Kindernäschen gegen die Scheiben, ob denn der Herr der Berge noch immer keinen Sonnenschein schicken wollte. Die Kinder der Sommergäste langweilten sich. Die Bücher waren längst wieder und wieder durchgelesen. Spiele hatte man nicht mitgebracht, man wollte sich doch die ganze Zeit im Freien tummeln. Die Mütter versuchten ihre Kinder zu beschäftigen. Die Väter spielten Skat und stöhnten über das unnütz ausgegebene Geld.
Die Landwirte, Bauern und Ackerbürger sahen sorgenvoll drein. Das Getreide, beinahe schnittreif, begann zu faulen. Das Heu auf den Wiesen, mit großen Säcken zugedeckt, trocknete nicht, sondern schwamm in Nässe. Die Kartoffeln, die Hauptnahrung der Gebirgsbevölkerung, wurden moderig.
Im Riesengebirgskretscham saßen die Ackerbürger beim Hirschberger Bräu oder beim Enzian zusammen und kratzten sich ratlos den Kopf. Das gab ein Notjahr, ein böses.
Die Bewohner des Rosenhäusels waren fleißig wie immer; vom Vater an, der jetzt keine Außenarbeit tun konnte, sondern daheim Stühle und Körbe flocht. Die Mutter regte stets emsig die Hände. Konnte sie die Wäsche, die sie für die Fremden wusch, nicht auf der Wiese trocknen, nun, so mußte man sich halt mit dem Stückel Trockenboden oben im Hause begnügen. Freilich, die Sonnenbleiche fehlte. Bärbel war das Wetter am wenigsten unerwünscht. Es tat ihr zwar leid, daß die Freilichttheateraufführungen ausgesetzt werden mußten; aber dafür kamen die Regentage ihren Büchern zugute. Sie hatte sich für die Ferien ein Pensum gesetzt, das sie erledigen mußte. Sämtliche Schillersche Dramen, die sie noch nicht kannte, wollte sie lesen. Theaterstücken galt jetzt ihr besonderes Interesse. Sobald die Zimmer gerichtet und die Hausgäste befriedigt waren, ging es ans Studieren; freilich nicht ungestört. Das eine Parterrezimmer bewohnten zwei ältere Damen, pensionierte Lehrerinnen. Die hatten ihre Freude an dem intelligenten und fleißigen Dorfmädel und nahmen Bärbel nicht unnötig in Anspruch. Um so mehr Wünsche hatte Zimmer Nummer zwei, wo Frau Möbus, eine Berliner Dame, mit ihren Sprößlingen, einem Jungen und einem Mädchen von drei und fünf Jahren, einlogiert waren. Die Kinder waren während der Regentage nicht zu bändigen. Die Mutter, selbst erholungsbedürftig, schickte die kleinen Lärmmacher nur zu gern hinaus, da sie in den Kleinertschen Kindern doch Spielgefährten hatten. Aber Karl verleitete die Kleinen zu allerlei dummen Streichen. Bärbel wurde als Kindermädel angestellt. Sie eignete sich auch ganz gut dazu. Nur ließ ihr diese Tätigkeit wenig Zeit für die »Jungfrau von Orleans«, die sie gerade studierte. Sobald sie sich in das Drama vertieft hatte, gab es Lärm unter ihren Pflegebefohlenen. Karl neckte die jüngeren Kinder, und Bärbel mußte dann wie die Jungfrau von Orleans der schwächeren Partei zu Hilfe eilen.
Das Wunder in dem Schillerschen Drama, das aus einem einfachen Dorfmädel eine Heldin macht, gab Bärbel in diesen grauen Regentagen Anlaß zum Nachdenken. War es nicht viel eher möglich, daß aus einem Dorfmädel, das eine gute Stimme hatte, eine berühmte Sängerin wurde?
Wenn die Kinder gar zu arg im Hausflur tobten, konnte nur die Großmuttel mit ihren Rübezahlmärchen Ruhe stiften. Sobald die alte Frau erzählte, saßen auch die wildesten Lärmmacher mit großen, halb begeisterten, halb angstvollen Augen daneben.
Vater Kleinert kam von Krummhübel, wo er Stühle abgeliefert hatte, zurück. Das Wasser floß von seiner Mütze und aus seiner Joppe. Er setzte sich an den warmen Küchenherd, um zu trocknen. Mohrle, zitternd vor Kälte und Nässe, kroch beinahe ins Ofenloch.
»Nee, Kindersch, das is a Wetter. Da mecht man jo sprechen, es rägnet halt Bindfaden. Dabei sull's morgen wieder mit a Arbeet losgähen. Das Wasser tut halt steigen. Drunten an a Lomnitz sullen noch in a Hetze Steindämme uffgeschittet wärden. Hochwassergefahr – das fählt uns jetzt ooch noch.« Er trocknete sich mit seinem roten Schnupftuch die nasse Stirn.
»I, Karle, was du ooch immer räden tust! Wozu wär' denn die Talsperre in Krummhiebel? Seit mer die haben tun, da kummt keen Hochwasser nä mähr«, fiel seine Frau beruhigend ein.
»Krummhiebel is nä Wolfshau«, ließ sich die Großmuttel, mit dem Strickzeug klappernd, vernehmen. »Wenn und's Wasser kummt, mir sein im Rosenhäusel am erschten dran, nu jo jo.«
»Das bissel Wasser drunten im Bächel, Großmuttel?« lachte Bärbel, die Abendbrotteller für die Fremden zurechtsetzend.
»Tu du ooch nä lachen, Bärbele. Ich kann halt länger denken als du. Ich weeß eich die Zeit, wo das Bächel drunten wie a reißender Fluß gewäst is, der in die Häusel hinnekummen is bis zum ärsten Stockwerke nuff. Hochwasser, das is halt nä zum Lachen, Kindersch. Nu jo jo, nä nä!« Die alten Augen der Großmuttel spähten sorgenvoll in den unentwegt herniedergehenden Regen hinaus.
»Nu, asu schlimme wird's jo hoffentlich nä werden«, fiel jetzt auch der Vater, die erschreckten Blauaugen seiner Bärbel gewahrend, beruhigend ein.
Am nächsten Morgen trat er bei immer noch strömendem Regen, einen alten Kartoffelsack zum Schutz gegen die Nässe über dem Kopf, seine Arbeit an der Lomnitz unterhalb des Bahnhofes an.
Karl kam aufgeregt aus dem Ziegenstall.
»Bärbel, das Bächel is jetze schon a ganzes Stickel am Ufer nuff. Paß ooch uff, Mädel, morgen gäht's halt bis ieber die Wiese und ieber unser Heu.«
Einen Augenblick fühlte Bärbel ihr Herz stärker klopfen. Dann lachte sie. »Was du einem auch vorreden tust, Karl. Ordentlich angst kann einem werden. Bis das Bächel die Wiese 'naufkommt, da scheint längst wieder die Sonne.«
»Und wenn's bis in unser Häusel kummen tut? Das gäb' a Spick, gelt ja?« Die Augen des Jungen blitzten unternehmungslustig. Er schien nichts sehnlicher zu wünschen.
»Red auch nicht so gottlos daher, Karl.« Auf Bärbels heitere Sorglosigkeit legte es sich wie ein Alp.
Der Vater kam später als sonst am Abend heim. Er war müde von der anstrengenden Arbeit und völlig durchweicht.
»Nachtschicht sull'n mer heite noch machen, wo man miede is wie a Hund. Um Uhre zwee gäht's wieder nach Krummhiebel nuff.«
Bärbel brachte dem Vater geschäftig trockenes Zeug und Schuhe, während die Mutter die dampfenden Kartoffeln mit Quark auf den Tisch setzte.
»Sieht's denn gor so schlimme aus, Mann?«
»Nu, ich denk, halt schlimme genug. Der Wasserstand in a Lomnitz is eich halt su hoch wie seit Jahren nä mähr. Aus a Bergen sull schon Hochwassergefahr gemeldet sein.«
»Und mir sein hiere am erschten dran, nu jo jo, nä nä!« nickte die Großmuttel vor sich hin, eine Kartoffel in den weißen Käse tauchend. »Hert ihr ooch, wie's trummeln tut an a Fenster? Riebezahl zieht seine Schleisen uff.«
Stumm schlang man seine Kartoffeln hinunter und lauschte dem Rauschen und Prasseln da draußen.
»Vatel, mußt du heute wirklich noch mal auf Arbeit gehn? Mir ist halt so bange, wenn du nicht bei uns bist.« Bärbel schmiegte den dunklen Kopf an des Vaters Schulter.
»Ich kann eich ooch nä vor dem Wasser beschitzen, das missen mir halt unserm Herrgotte ieberlassen.« Der Vater ging hinaus, um sich noch ein paar Stunden hinzulegen, bis die Nachtschicht für ihn wieder an die Reihe kam. In der Tür machte er noch mal kehrt.
»Es wär' halt gutt, Großmuttel, wenn und du tätest heite oben bei der Mariele schlafen. Ich leg' mich halt a paar Stunden unten in dein Stübel. Wenn's Ernst werden sullt, du bist halt schlecht uff a Fißen und kannst nä so schnelle nuffspringen wie a Junges.«
»Karle, tuste denn wirklich meenen, es hat heite Gefahr?« Frau Kleinert, sonst so beherzt, verfärbte sich.
»Nu nä, Mariele, nu nä, Fraule, halt fier alle Fälle. Und die Fremden, die mißt ihr natierlich zuerscht nuffbringen; vor allem die Kindel. Bis da oben nuff wird's Wasser jo nä kummen.«
»Mann, du kannst eenen aber ooch bangemachen.« Mutter Kleinert zwang sich wieder zu einem heitern Ton. »Paßt uff, morgen in der Friehe tut uns halt die Sonne auslachen.«
»Das wull'n mer winschen.« Die Großmuttel schien nicht davon überzeugt.
Bärbel geleitete die alte Frau, der die Treppen recht sauer wurden, hinauf ins Stübchen der Eltern. Bald lag das Rosenhäusel in tiefem Dunkel. Aber geschlafen wurde dort in dieser Nacht nicht viel. Die Großmutter schlief sowieso nicht mehr gut. Die Eltern fürchteten die zeitige Stunde zum Aufstehen zu verschlafen. Bärbel lauschte auf das unentwegte Rauschen des Regens in der Dachrinne. Ob das Wasser arg stieg?
Als sie Lichtschein im Haus gewahrte, als der Vater sich anschickte, um zwei Uhr nachts wieder zur Arbeit anzutreten, hielt es sie auch nicht länger in den Federn.
»Nu, Mädele, was willst denn du schon in aller Herrgottsfriehe? Die Nacht is zum Schlafen da, tu ich meenen«, empfing sie die Mutter, die dem Vater noch rasch etwas Kaffee wärmte.
»Vatel, mir ist so bange, wenn das Wasser kommt. Bleib auch bei uns, Vaterle.« Bärbel schmiegte ihre Hand in die schwielige des Vaters.
»Nu nä, Bärbele, wir missen halt jedes unsere Pflicht tun und im iebrigen den da oben sorgen lassen.« Da war der Vater auch schon in der Regennacht verschwunden.
Bärbel schaute ihm beklommen nach. Dann lauschte sie in das Unwetter hinaus. Das rauschte und trommelte unentwegt, gleichmäßig ging der Regen hernieder. Da war noch nicht an ein Aufhören zu denken.
»Nu, Mädel, mach ooch, daß und du kummst wieder in dein Bette«, mahnte die Mutter.
»Wär's nicht besser, Muttel, wir brächten halt unsern Hausrat nach oben in Sicherheit? Wenn das Wasser kommt . . .«
»Her ooch uff, Mädel, verdirb eenen ooch nä noch das bissel Nachtruh. Morgen frieh is halt ooch noch Zeit genug dazu.« Damit legte sich die Mutter wieder aufs Ohr.
Auch bei Bärbel siegte die gesunde Müdigkeit der Jugend über alles Sorgen und Fürchten. Bald schlief auch sie fest und traumlos.
Langgezogenes Tuten weckte sie plötzlich. Jäh fuhr sie empor und rieb sich erschreckt die Augen.
»Tu – u – u – uut« – war das nicht das Feuerhorn, das die Löschmannschaft der freiwilligen Feuerwehr zusammenrief?
»Es brennt!« rief Bärbel erregt und sprang mit beiden Beinen zugleich aus dem Bette.
Weinend schreckte das Schwesterchen aus süßem Schlummer empor.
Karl steckte den blonden Strubbelkopf aus der Nachbarkammer verschlafen zur Tür herein: »Wo brennt's?« Seine Abenteuerlust war noch größer als seine Müdigkeit.
»Tu – u – uut« – schaurig hörte sich das Tuten an.
»Das Wasser kummt – sie tun schon blasen!« rief die Stimme der Mutter aufgeregt durch das Haus. »Macht ooch zu, Kindersch, daß mer unsere Sachen zusammengeklaubt kriegen.« Sie schleppte bereits einen Korb mit Bettwäsche die Stiege empor.
»Jo jo, 's Wasserhorn – dos is halt's Wasserhorn! Asu ham se geblasen damols, als mer und mer hatten die große Ieberschwemmung dazumalen«, nickte die Großmutter vor sich hin. Ihre Ruhe wirkte befremdend in dem aufgeregten Durcheinander. Auch die Hausgäste hatte das Tuten aus dem Schlafe gerissen. Notdürftig bekleidet waren sie aus ihren Stuben geeilt, um sich zu erkundigen, ob es Gefahr habe.
Mutter Kleinert beruhigte sie, so gut sie es in ihrer eigenen Aufregung und Geschäftigkeit vermochte. »I wohär denn? Wohär sullte es denn Gefahr hoben? Bei uns hier sein Sie sicher – – –.«
»Tu – u – – uut«, blies das Wasserhorn dazwischen.
»Asu sicher sein Sie hier im Rosenhäusel wie daheeme. Bis zu uns kummt das Wasser nä – – –.«
»Tu – uu – uut«, erklang es wieder schaurig.
»Muttel, der Keller steht halt schon voll Wasser – unsere Wiese und der Garten ist ganz überschwemmt. Mutterle, sieh auch, das Wasser kommt ja schon zur Tiere 'nein«, schrie Karl aus vollen Lungen.
»Räd' ooch nich asu tummes Zeig dahär«, rief die Mutter ärgerlich, daß der Junge die Gäste beunruhigte. Aber ein hastiger Blick zur hinteren Haustür belehrte sie, daß Karl recht hatte. Das Wasser drang bereits zu dem tiefer gelegenen Hinterausgang herein.
»Unsere Ziege«, rief Bärbel angstvoll, »und unsere armen Hühner!« Sie verstaute das Rotkehlchen und des Vaters Zither, das, was ihr besonders am Herzen lag, oben in der Schlafkammer. Dann lief sie mit Karl in der grauen Frühdämmerung zum Stall hinüber. Kniehoch mußten sie im Wasser waten. Die Wiese bis zur Lomnitz hinab war ein See. Obenauf schwamm das zum Trocknen ausgebreitete Heu.
»Das Winterfutter für unsere Ziege!« jammerte Bärbel, sich durch das Wasser vorwärtskämpfend.
»Jesses, unsere Ziege ersauft ja balde«, rief Karl, als erster den Stall öffnend. Die Ziege stand bereits bis zum Leib im Wasser, sie meckerte kläglich. Die Hühner dagegen waren bis hinauf zum Dachgebälk geflogen und äugten von dort mißtrauisch auf die Sintflut herab. Es war unmöglich, sie zu greifen. Man mußte sie ihrem Schicksal überlassen. Nur die Ziege konnte man abbinden und mit vereinten Kräften durch das Wasser hinter sich ins Haus zerren. Denn das verängstigte Tier sträubte sich, in die Wasserfluten hinauszugehen.
Mit den zurückkehrenden Kindern drang auch das Wasser durch die geöffnete Tür, überschwemmte den roten Backsteinboden des Hausflurs. Die Gäste waren dabei, ihre Koffer nach oben zu bringen. Die weinenden Kleinen hatte man als erstes ins obere Stockwerk in Sicherheit gebracht. Grenzenlose Aufregung herrschte. Die nervöse Berliner Dame lief jammernd die Treppe hinauf und hinunter, beförderte lauter unwichtige Dinge nach oben und war allen im Wege.
Um so umsichtiger waren die beiden Lehrerinnen. Sie organisierten in Gemeinschaft mit Frau Kleinert sachgemäß die Beförderung der Betten, des Spirituskochers und der notwendigsten Lebensmittel. Denn man konnte ja nicht wissen, wie lange die Sintflut anhalten würde.
»Tu – u – u – ut – – –«, wenn nur das Wasserhorn endlich Ruhe geben wollte. Die nervöse Dame hielt sich die Ohren zu und brach in Tränen aus. Als die Kleinen die Mutter weinen sahen, fielen sie mit lautem Gebrüll ein. Mohrle blaffte dazwischen. Die Ziege, die man draußen an der Stiege angebunden hatte, meckerte jämmerlich. Die Katze mauzte. Auch das Rotkehlchen im Bauer, das sonst jubelnd schmetterte, ließ heute in der fremden Umgebung nur ein ängstliches »Piep« hören. Die Tiere witterten die Gefahr.
»Die reine Arche Noah«, meinte eine der Lehrerinnen mit Galgenhumor. »Hoffentlich verschlingt uns die Sintflut nicht.«
»Mer stähn halt alle mitanonder in Gottes Hand. Wenn und es sullt halt sein Wille sein, daß mer in a Fluten umkummen tun, ich tu sprechen: Herre, ich bin bereit.« Die Großmuttel faltete mit der Abgeklärtheit des Alters die runzeligen Hände.
Diese fromme Ergebenheit wirkte beruhigend. Frau Möbus trocknete ihre Tränen und richtete sich mit ihren Kindern in dem Kleinertschen Schlafstübchen ein. Die Lehrerinnen bezogen Bärbels und Friedels Kammer. Bärbel schien überall zu gleicher Zeit zu sein. Wo man sie brauchte, hatte sie schon von selbst Hand angelegt. Sie schien äußerlich ruhig und zuversichtlich, um die fremden Sommergäste nicht noch ängstlicher zu machen. Aber da drinnen in der Brust hämmerte ihr Herz. Wäre doch der Vater bei ihnen gewesen! Bärbel sorgte vor allem um ihren Vatel.
Mutter Kleinert kochte Kaffee, denn Essen und Trinken munterte die ängstlichen Gemüter am besten auf. Karl hatte neben der Ziege an der Treppe Posto gefaßt und beobachtete mit größtem Interesse das langsame Steigen des Wassers. Er war der einzige im Rosenhäusel, auf welchen die Schreckensnacht abenteuerlichen Reiz ausübte.
»Muttel, das Wasser kommt schon balde an die zweite Stufe 'nan«, meldete er mit schallender Stimme.
»Bschscht, Karle, mach' mir halt die Gäste nä noch kopfscheier«, dämpfte die Mutter die unvorsichtige Äußerung. Besorgt spähte sie in das Erdgeschoß – kein Zweifel, das Wasser stieg weiter.
»Wär's nicht richtiger, Muttel, wir gingen zum Nachbar Hensel oder halt noch besser zum Herrn Lehrer Opitz 'nauf?« schlug Bärbel vor, mit erschreckten Augen die langsam steigenden Fluten beobachtend. »Dort oben hat's keine Gefahr. Und jetzt möchte man am Ende noch durchkommen. Das Wasser dringt zum Hintereingang, der bedeutend tiefer liegt, ins Haus. Zur Vordertür könnten wir noch 'naus.«
Das war ein verständiger Vorschlag und des Überlegens wert. Dennoch schüttelte die Mutter nach kurzem Besinnen den Kopf. »Und was sullt aus unserer Großmuttel werden? Sie kann mit ihrem gichtkranken Beine nä in das Wetter 'naus. Und halt unsere Ziege und unser Hausrat und die gutte Wäsche, Stickel fier Stickel sauer erspart. Nä, Mädel, ich tu halt in unserm Häusel bleiben.«
»Die Bärbele hat rechte, Mariele. Mach' du ooch mit a Kindern und mit a Gästen zum Herrn Lährer nuff, da kummt das Wasser nä so balde hin«, mischte sich die Großmuttel in die Überlegungen. »Mich laßt ruhig dahiere in a Häusel. Der da droben tut mich beschitzen, wenn und er befindet's halt fier gutt.«
»Großmuttel, ich bleibe bei dir.« Bärbel schmiegte den dunklen Kopf an die Schulter der alten Frau, wie sie's als Kind getan.
»Nu nä, Mädele, du meenst es gutt. Aber du bist halt a junges Blut, du geheerst dem Läben.«
»Das Wasser wird jo wieder zurückgähn und – – –.«
»Tu – u – uut –«, da war es schon wieder, das schreckliche Wasserhorn.
Frau Kleinert brach mitten in ihren Einwendungen ab. Mit fliegenden Händen raffte sie ihre paar Ersparnisse zusammen. Bärbel hatte inzwischen die Friedel und den Fritzel, die kleinen Geschwister, in Tücher gehüllt. Nun kam noch das Schwerste, die Hausgäste, denen man die drohende Gefahr bisher schonend verborgen hatte, von der Auswanderung in Kenntnis zu setzen. Die Berliner Dame mit ihren Kindern sowohl wie die Lehrerinnen waren sofort bereit. Sie waren wie erlöst, fortzukommen. Nur verlangte Frau Möbus, daß man ein Auto bestellen solle. Man könne doch unmöglich zu Fuß bei diesem Unwetter gehen.
»Wir haben keinen Augenblick mehr zu verlieren, Frau Möbus.« Eine der Lehrerinnen wies auf die bereits vom Wasser überspülte dritte Treppenstufe.
»Wollen wir wirklich die alte Großmuttel mit der Bärbel allein hier im Hause zurücklassen?« Zögernd wandte sich die andere Lehrerin noch einmal zurück. »Wenn wir die alte Frau abwechselnd in einem Korbsessel tragen würden – – –.«
»Unmöglich, man muß froh sein, wenn man allein durchkommt.«
»Ich tu euch mit a Kahne abholen, Bärbel«, versprach Karl, der zuerst unschlüssig gewesen, ob er bleiben oder mitgehen sollte. Aber die Rettung der Großmuttel und der Schwester in einem Boote, das war eine Heldentat, die er sich unmöglich entgehen lassen konnte.
Auch Mohrle schien zweifelhaft, ob er mit auswandern oder zurückbleiben sollte. Er lief von der Großmuttel, zu deren Füßen er seinen Stammplatz hatte, immer wieder zur Treppe, hin und her. Schließlich entschied er sich für das Zurückbleiben. Denn Mohrle war eine treue Hundeseele.
»Gott schitze eich, Großmuttel und Bärbele, und unser Häusel dazu!« Als letzte folgte die Mutter, Klein-Fritzel auf dem Arm, den Voraneilenden. Weiß Gott, sie wäre lieber im Rosenhäusel zurückgeblieben. Durch den Hausflur watete man bis zu den Knien im Wasser. Auch draußen auf der Straße flossen die Regenmassen als munteres Bächlein dahin. Trotzdem war es noch möglich, sich durch die Überschwemmung durchzukämpfen und das höher gelegene Krummhübel zu erreichen. Im Lehrerhaus fanden die gänzlich Durchweichten Aufnahme. In menschenfreundlicher Weise sorgten Herr Opitz und seine Frau für die Unterbringung der zahlreichen Obdachlosen. Hermann aber, der mit Hand anlegen sollte, war zu nichts zu gebrauchen. Er war voller Sorge, daß seine Freundin Bärbel in dem bedrohten Rosenhäusel zurückgeblieben war.
»An der Talsperre hat's Kähne, wir holen uns einen Rettungskahn, Hermännel, gelt?« schlug Karl vor, obgleich er eben erst trockenes Zeug von Hermann angelegt hatte.
Der Primaner stimmte dem Vorschlag begeistert zu. Die beiden Jungen eilten, ihren Vorsatz auszuführen.
Aber ein anderer hatte bereits daran gedacht, daß das Rosenhäusel vom Hochwasser bedroht sei. Den Vater hielt es nicht länger bei seiner Arbeit. Er mußte nach seinen Leuten sehen. Die Großmuttel würde er mit dem Hörnerschlitten fortschaffen. Da hatte er schon schwerere Lasten geschleppt.
Vater Kleinert war an Unwetter in den Bergen gewöhnt. Er stampfte mit seinen hohen Schaftstiefeln durch das aufgewühlte Erdreich, arbeitete sich hindurch durch die von den Bergen stürzenden Wassermassen. O weh – so arg hatte er es sich doch nicht vorgestellt. Baumstämme und große Felsblöcke führte das zum reißenden Strom gewordene Bächel mit sich. Da schwamm ein Stuhl, dort Betten und anderer Hausrat. Barmherziger Himmel – stand das Häusel noch?
Im Rosenhäusel hatte Bärbel nach dem eiligen Auszug der andern erst einigermaßen Ordnung geschafft. Arbeit half am besten gegen Angst und Sorge. Dazwischen aber warf sie immer wieder einen bangen Blick zur Treppe hinaus. Die vierte – bald auch die fünfte Stufe war überschwemmt! Wie lange noch und das Wasser drang in den Oberstock ein. Was sollte dann werden?
Drin im Stübchen saß die Großmuttel, den Kopf mit dem schwarzen gehäkelten Tuch über das Gesangbuch geneigt. Aber sie las nicht darin. Sie kannte alle Choräle auswendig. Mit der heiseren Stimme des Alters summte sie die frommen Lieder, die vom Tode handelten, vor sich hin.
Bärbel brachte Mohrle seinen Futternapf. Das Tier schnupperte daran, aber es fraß nicht. Liebkosend fuhr Bärbel durch das weiche schwarze Fell. »Gelt, Mohrle, wir wollen noch nicht sterben, wir sind ja noch so jung.« Einen Augenblick kam dem Mädchen der Gedanke, ob sie nicht doch hätte mit den andern fortgehen sollen. »Schäme dich«, sagte sie gleich darauf zu sich selbst. »Wolltest du im Ernst deine gute Großmuttel hier allein der Gefahr preisgeben?« – »Aber was nützt es denn, wenn wir beide sterben«, meldete sich der Wille zum Leben wieder. So wurde Bärbel von entgegengesetzten Gewalten hin und her gerissen.
»Bis zur fünften Stufe ist das Wasser schon gestiegen, Großmuttel. In einer Stunde ist es sicher bis zu uns 'nauf. Großmuttel, was machen wir dann?« Herzensangst sprach aus Bärbels Worten.
»Eene Stunde ist halt lange. Da kann der da droben manch a Wunder tun«, beruhigte die Alte die junge Enkelin. »Asu is es ooch gewäst vor sechzig Johren, wenn ich halt a junges Mädele wie du gewäsen bin. Gerade su hat er getobt, der Herr Riebezahl. Gebarmt und gebätet ham 'mer. Und uff eenmal, Kind, da hat halt der, der noch stärker is als der Herr Riebezahl, den Wassern Einhalt geboten. Tu a Vaterunser sprechen, Bärbele, mer stähn halt in Gottes Hand.«
»Aber der Karl hat doch versprochen, uns mit dem Kahn zu holen. Und die Muttel wird uns halt sicher Hilfe schicken. Wenn nur dem Vatel beim Dammbau nichts geschehen ist! Er würde sich doch sonst um uns kümmern.«
»Sprich du dein Vaterunser, Bärbele, das hilft halt besser als die Hilfe von a Menschen.«
Bärbel faltete die Hände und begann: »Vater unser, der du bist – Großmuttel, 's Mohrle schlägt an. So tut er nur bellen, wenn der Vatel kommt. Großmuttel, ich glaube – – –.« Da war die Bärbel auch schon zur Tür hinaus.
Mohrle, der wasserscheue, sprang bereits die Treppen hinunter. Hochauf spritzte das Wasser. Er schwamm seinem Herrn entgegen.
»Mariele – Bärbele – Karle – seid ihr noch im Häusel?« klang die Stimme des Vaters erregt vom Straßeneingang her.
»Vatel!« jubelte es von oben herab. »Die Großmuttel, der Mohrle, unsere Ziege und ich, wir sind halt noch da. Die andern sind nach Krummhübel zum Herrn Lehrer 'nauf. Vatel, du kommst uns holen, gelt?«
Inzwischen hatte Vater Kleinert die Treppe erreicht. Das Wasser schwippte ihm in die hohen Schaftstiefel hinein. Da hing die Bärbel auch schon am Hals ihres Vaters, so naß er auch war. Nun war alles gut, wenn der Vater bei ihr war.
»Großmuttel, Bärbele, bleibt ooch ruhig da. Der Wind hat sich halt gedräht. Man mecht sprechen, es scheint uffzuheeren mit a Rägen. Paßt uff, das Wasser tut fallen.« Vater Kleinert riß den triefenden Sack vom Kopf.
»Gott gäb's!« kopfnickte die Großmuttel, während Bärbel geschäftig Ziegenmilch auf dem Spirituskocher für den Vater wärmte. Alle Angst war plötzlich geschwunden.
Vater Kleinert war wetterkundig. Er behielt recht. Das Wasser sank langsam von Stufe zu Stufe.
Als Karl und Hermann Opitz mit dem Rettungskahn, den sie im Schweiße ihres Angesichtes hinter sich herzogen, am Rosenhäusel erschienen, gab es eine große Enttäuschung für Karl, den Lebensretter. Denn keiner dachte mehr daran, sich retten zu lassen. Die Hochwassergefahr war vorüber.
Aber schlimme Zeiten hatte die Wassersnot über die armen, sowieso schon hart um ihren Lebensunterhalt ringenden Riesengebirgsbewohner gebracht. Die Heu- und Getreideernte war vernichtet. Der Wasserschaden in den tiefgelegenen Häusern war groß. Und zum Überfluß reisten die durch die Schreckensnacht verängstigten Fremden Hals über Kopf ab. Schweren Herzens sahen die braven Schlesier dem kommenden Winter entgegen.