Else Ury
Das Rosenhäusel
Else Ury

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6. Kapitel.

In der dritten Klasse

Als der Enzian im Eulengrund blühte, als man die Kartoffelfeuer überall auf den Äckern entzündete, ging Bärbel zum ersten Male ins Mädchenlyzeum. Herbe war die Luft von dem verbrannten Kartoffelkraut. Es roch nach Vergehen. Aber vor Bärbel lag der Frühling. Hoffnungsfreudig, voll junger Zuversicht trat sie in den neuen Abschnitt ihres Lebens ein.

Wochen fleißiger Arbeit lagen hinter ihr. Ohne ihre häuslichen Pflichten zu vernachlässigen, hatte sie im Verein mit Herrn Lehrer Opitz, der ihr ein treuer Führer war, die Lücken aufgefüllt, um die Reife für die dritte Lyzeumsklasse zu erlangen, die ihrem Alter entsprach. Oft sank ihr der Mut, wenn die französischen unregelmäßigen Verben gar so schwer waren, wenn sie sich gar nicht ihrem Kopf einprägen wollten. Da war es Hermann, welcher der jüngeren Freundin immer wieder Mut zusprach, wenn sie am Verzagen war, ob sie es schaffen würde. Er setzte Prämien für sie aus, ein schönes Buch, das er ihr lieh, oder eine Klavierstunde, die er ihr erteilte. Dann fühlte Bärbel neue Willenskraft in sich, die schweren französischen Worte, die ihr solche Pein machten, zu meistern. Und da gab es noch etwas, was Bärbel immer wieder anfeuerte, nicht die Flinte ins Korn zu werfen: das Rosenhäusel, ihr liebes Häusel, das sie mit erringen helfen sollte.

Von der Provinzialschulbehörde war die Bewilligung einer Freistelle für Barbara Kleinert in Wolfshau eingegangen. Als die letzten Rosen im Garten blühten, hatte Bärbel den ersten Teil der französischen Grammatik durchgeackert, meistens im Ziegenstall, um ganz ungestört zu sein. Herr Opitz konnte sie guten Gewissens der dritten Lyzeumsklasse überweisen.

Sauber gekleidet wie stets, betrat Bärbel am ersten Morgen die dritte Klasse.

»Was will denn die hier? Die Kleinert Bärbel gehört doch nicht ins Lyzeum«, sagte da eine Mädchenstimme laut genug, daß die Neue es hören mußte.

Bärbel wandte sich errötend um. Sie begegnete den blaßblauen Augen der Martha Liebig, die schon am Pfingstfest in der Kirche neidisch auf Bärbels Sologesang gewesen war. Der Tausend, die Liebig Marthel noch in der dritten Klasse – ihren Jahren nach mußte sie schon in der ersten sein.

»Der Herr Lehrer Opitz hat mir eine Freistelle im Lyzeum verschafft«, berichtete Bärbel freudig, denn sie war an gutes Einvernehmen mit den Schulkameradinnen gewöhnt. Sie meinte, ein jeder müsse sich mit ihr freuen.

»Nu, da könnt ja halt jedes aus der Volksschule ins Lyzeum gehen. Da ist man ja hier bald mit Krethi und Plethi zusammen«, sagte die Maurermeistertochter und drehte dem armen Häuslerkind dummstolz den Rücken.

»In der Schule geht's nicht nach dem Geldsack, sondern nach dem, was man leistet«, fiel da die Erste, Lisbeth Bechert, mit lauter Stimme ein. Sie war Arzttochter und ihr Vater als Menschenfreund rings in den Dörfern bekannt. »Du mußt dich halt jetzt noch auf die letzte Bank setzen, Kleinert Bärbel; aber du wirst schon 'naufkommen, gelt?« Besonders freundlich zeigte sich Lisbeth gegen die Neue, um den andern ein gutes Beispiel zu geben.

»Ich muß bald in der ersten Bank sitzen« gelobte sich Bärbel, als sie ihren letzten Platz einnahm.

Das war aber nicht so einfach. In Deutsch, Geschichte und Geographie war sie weiter als die Mitschülerinnen, da hatte sie keine Schwierigkeiten. Im Gegenteil, die dritte Klasse schaute oft bewundernd auf die Neue, wie sicher sie jeden Namen, jede Zahl wußte. Im Rechnen war die Sache schon schwieriger. Geometrie hatte Bärbel noch nicht in der Volksschule gehabt; diese Stunde machte ihr arges Kopfzerbrechen. Ohne ihren Freund Hermann Opitz wäre sie wohl gar nicht damit zustande gekommen; denn dem Herrn Lehrer mochte sie nicht immer ihre Dummheit eingestehen. Aber vor dem Hermännel brauchte sie sich nicht ihrer Unwissenheit zu schämen. Der plagte sich selber genug mit dem Griechischen herum. Hermann hatte immer Zeit für Bärbel, immer Geduld, wenn sie auch noch so schwer begriff. Und allmählich erhellte sich ihr Verständnis, allmählich drang sie in die schwierigen Berechnungen der Dreiecke und des Kreises ein. Beim Melken der Ziege sagte sie sich die Geometrieformeln auf, und die Ziege schaute sie dann mitleidig an, als wollte sie sagen: Was seid ihr Menschen dumm, daß ihr euch mit solchem Zeug plagt.

Gut, daß es auf den Winter zuging. Da hörte die Außenarbeit, nachdem die letzten Spätrosen verblüht und die Rosensträucher warm gegen die scharfen Winterstürme eingedeckt waren, auf. Da hatte Bärbel Zeit für ihre Schulaufgaben, wenn sie die mündlichen auch oft beim Scheuern und beim Füttern der Haustiere erledigen mußte.

Einmal, als sie am Samstag auf den Knien die roten Backsteine des Hausflurs scheuerte und dabei französische unregelmäßige Verben halblaut konjugierte, tönte plötzlich lautes Lachen in das fleißige Lernen. Im Eingang stand die Martha Liebig mit einer andern Schulkameradin. Sie brachten Vater Kleinert Hausgerät zum Ausbessern.

»Hahaha, es soll mich halt nicht wundern, wenn unsere Scheuerfrau auch nächstens französisch spricht«, lachte sie Bärbel aus. »Gelt, Annele, so stellt man sich eine Lyzeumsschülerin vor!« Sie wies spöttisch auf Bärbels Sackschürze, auf die schweren Holzpantinen an ihren Füßen.

Bärbel strich sich mit der nassen Hand verlegen eine dicke Haarsträhne aus der Stirn. Es tat weh, das Ausgelachtwerden.

Da meinte Annele, welche die Freundin begleitete, begütigend: »Arbeit schändet nicht, sagt meine Muttel immer.« Ein dankbarer Blick flog aus Bärbels tiefblauen Augen zu der Fürsprecherin. Dann öffnete sie die Tür zur Stube, wo der Vater allerlei bastelte.

»Vatel, die Liebig Marthel möcht' halt was gerichtet haben.« Während die Schulkameradin mit dem Vater verhandelte, riß Bärbel die Sackschürze vom Körper und schlüpfte aus den Holzpantinen. Die Mädel sollten sie nicht noch einmal als Scheuerfrau erblicken. Aber das Wort, das die Martha gesprochen, ging ihr nach. Paßte sie wirklich nicht ins Lyzeum? War es Unbescheidenheit von ihr, daß sie sich dort eindrängte, wohin sie nicht gehörte?

Sie mußte ihre Bedenken ihrem Freunde Hermann mitteilen. Der lachte sie aus, aber es war ein anderes Auslachen als das der Martha. Gutmütig und beruhigend klang es. »Mädel, wer hat dir denn solche Flausen in den Kopf gesetzt? Die Liebig Marthel – die tut weder in der Schule was noch daheim. Die stiehlt dem lieben Herrgott die Zeit weg und pocht auf ihres Vaters Geldbeutel. Aber die Zeiten sind vorbei. Jetzt heißt es nicht mehr, wer ist der Mann, sondern was kann er. Heute sind wir gottlob so weit, daß man die Menschen nicht mehr nach ihren Kleidern, sondern nach ihren Leistungen einschätzt. Nimm dir die dummen Worte der Liebig Marthel nur nicht zu Herzen, Bärbel, zeig ihr halt, daß du mehr leistest als sie.« Und getröstet ging Bärbel heim.

Ja, wenn Hermännel nur immer mit seinem Trost bei der Hand gewesen wäre! Bärbel war gut Freund mit all den Schulgefährtinnen; ihr freundliches, gefälliges Wesen, ihre strahlenden Blauaugen taten es fast jeder an. Und doch – die Liebig Marthel war als älteste und als reichste aus der Klasse tonangebend. Wenn die Marthel die Nebenihrsitzenden auf Bärbels feuerrote Hände aufmerksam machte, welche diese nichtsahnend auf dem Tisch liegen hatte, und dazu spöttisch flüsterte: »Jetzt blüht der Mohn halt schon zu Weihnachten«, dann hatte sie die Lacher auf ihrer Seite. Was nützte es, daß Bärbel die roten Verräter fleißiger Arbeit geschwind unter den Tisch barg, daß Lisbeth, ihre treue Annehmerin, schlagfertig für sie antwortete: »Nu freilich, aber halt der Klatschmohn!« Bärbel wurde ihre beste Eigenschaft, ihre natürliche Unbefangenheit, durch den Spott der Schulkameradinnen genommen. Kinder sind grausam. Sie denken sich nichts Arges dabei, wenn sie lachen, sobald ihnen etwas komisch erscheint. Bärbels französische Aussprache war in der Tat etwas drollig. Sie sprach das Französische ungefähr so, als ob einer Holz hackt. Martha Liebig, die mit den Eltern schon in der französischen Schweiz gewesen, hatte eine bessere Aussprache. Aber deshalb brauchte sie doch nicht jedesmal eine laute Lachsalve anzuschlagen, in welche die ganze Klasse einstimmte, wenn Bärbel ihr abgehacktes Französisch hören ließ. »Die Kleinert Bärbel stottert französisch«, dieser Witz der Martha machte die Reihe herum in der Schule. Bärbel wagte gar nicht mehr, sich in Französisch zu melden, auch wenn sie die richtige Antwort wußte, so fürchtete sie sich vor dem Spott der Gefährtinnen. Dabei mußte sie sich auch noch redlich Mühe geben, ein reines Deutsch zustande zu bringen. Etwas schlesische Mundart sprachen sie ja alle, die Kinder aus dem Gebirge. Aber in der Schule sollte man dialektfrei sprechen. Bärbel hörte daheim von der Großmuttel und den Eltern, von den Nachbarn ringsum unverfälschte schlesische Mundart, während die Kinder der gebildeteren Kreise reineres Deutsch zu Hause sprachen. Aber wenn Bärbel im Rosenhäusel hochdeutsch zu sprechen begann, dann lachten wiederum die Geschwister sie aus, und die Mutter meinte wohl gar: »Nu, Mädel, sprich ooch, wie dir der Schnabel gewachsen sein tut. Wenn und du rädst halt wie der Herr Pastor uff a Kanzel, da tun die Leite sprechen: ›Die Kleinert Bärbel is halt nä richtig in a Kuppe.‹«

Dem Bruder Karl war es unfaßbar, daß Bärbel sich so nach dem Lernen riß. Der war froh, wenn er seine Aufgaben heruntergeschmiert hatte und sich im Hause oder im Freien tummeln konnte.

»Scheene tumm biste, Bärbel, daß du dich aso abquälen tust. Wenn und du wärst in a Volksschule geblieben, da wärschte nächste Ostern fertig. Im Lyzeum mußte dich halt noch a paar Jahre schinden.«

Es gab Stunden, wo Bärbel selbst es dachte, daß es dumm von ihr gewesen sei, den geraden Weg zu verlassen und sich ein schwierigeres Ziel zu stecken. Wäre es nicht besser gewesen, wenn der Herr Rübezahl ihren Wunsch nicht erfüllt hätte?

»Aller Anfang ist halt schwer, Bärbele«, tröstete der Vater, der im Herzen seines Kindes zu lesen verstand. Wenn er am Feierabend zur Zither griff, und Bärbel fiel nicht in seinen Sang ein, oder ihre Stimme klang matt, dann wußte er, heute hat nicht alles in der Schule geklappt, da hat es mal wieder eine Enttäuschung gegeben. Wieviel Enttäuschungen hatte er in seinem Leben zu verzeichnen! Die Hauptsache war, sich nicht unterkriegen zu lassen, Zuversicht und Frohsinn zu bewahren. Mit Kopfhängerei meisterte man das Leben nicht. Dabei hatte er selbst jetzt nichts zu lachen. Es war schwere Zeit. Frühzeitig war der Winter ins Gebirge gekommen. Auf dem Kamm lag bereits Schnee. Unten im Tal aber regnete es in Strömen. Erdarbeiten wurden bei diesem Wetter nicht ausgeführt. Vater Kleinert war seit Wochen arbeitslos. Auch der gelbe Hörnerschlitten, der den Winterverdienst brachte, stand noch tatenlos im Schuppen. Erst kurz vor Weihnachten kamen die Wintergäste ins Gebirge. Aber wenn das so anhielt mit dem Regenwetter, dann sah es bös aus. Der Spargroschen für das Pferdel mußte angegriffen werden. Von Tag zu Tag schmolz er mehr dahin. Kein Gedanke daran, das Pferd in diesem Winter zu kaufen. Nun, da spannte man sich halt selber wieder vor, das verdarb Vater Kleinert nicht die gute Laune. Ein bissel verdiente er ja mit Stühleflechten, mit dem Anfertigen von Schneeschuhen und Rodelschlitten. Und wenn erst zu Weihnachten die Fremden in Krummhübel einrückten, dann war der angegriffene Spargroschen bald wieder ersetzt.



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