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Die Ordnerin der Quinta sammelte vor Beginn des Unterrichts die Frühstückspäckchen ein. Jede Schülerin des Gymnasiums brachte an bestimmten Wochentagen außer ihrer Stullenration noch ein Extrapäckchen mit in die Klasse, das zur Verteilung an bedürftige Schüler, denen die Eltern kein Frühstück mit in die Schule geben konnten, weiter geleitet wurde, denn es war ein bitterschwerer Winter. Viele Väter hatten keine Arbeit mehr, Not herrschte in vielen Familien.
Herta Trott zählte die eingegangenen Frühstückspäckchen. »Sechsunddreißig, – zwei Schülerinnen fehlen wegen Krankheit, folglich sind zwei Drückeberger dabei. Vierzig müßten es sein. Schämt euch, daß ihr nicht mal für die Winterhilfe ein paar Stullen übrig habt«, wandte sie sich mit erhobener Stimme gegen die unbekannten Drückeberger.
Zwei von den achtunddreißig Quintanerinnen wurden rot. Eine braune und eine blonde. Beide steckten sie voll Übereifer den Kopf in den Atlas, als gelte es, in aller Eile die noch fehlende Weisheit zu erhaschen. Der Eintritt des Geographielehrers lenkte zum Glück die Aufmerksamkeit der Klasse auf die Landkarte. So merkte keiner, wie Inges blutrotes Gesicht allmählich wieder normale Farbe annahm. Die einige Bänke weiter sitzende Lotte Müller hielt den blonden Kopf immer noch krampfhaft über ihren Atlas gesenkt. Keine der Mitschülerinnen sollte die Tränen sehen, die Hertas Worte ihr in die Augen getrieben hatten.
»Wir fahren jetzt durch die Straße von Gibraltar und kommen – Lotte Müller, wohin kommen wir?«
Dem Lehrer war der gesenkte Kopf unter all den der Landkarte zugewandten Augen aufgefallen.
»In – in ….« Lotte schreckte empor. Keine Ahnung hatte sie, wovon die Rede gewesen war.
»Du scheinst noch nicht ausgeschlafen zu haben, mein Mädel – gute Nacht, wünsche wohl zu ruhen«, lachte Doktor Peters. Die Klasse stimmte in sein Lachen ein.
Jetzt ließen sich Lottes Tränen nicht länger zurückhalten. Schnell das Taschentuch gegen den Mund gestopft, um bloß nicht laut zu schluchzen. Es kam nicht oft vor, daß Lotte Müller getadelt wurde. Sie zählte zu den Besten.
»Aber Kind, das brauchst du dir doch nicht so zu Herzen zu nehmen, wie kann man nur gleich so empfindlich sein«, begütigte der Lehrer. »Ein anderes Mal paß besser auf.« Der Zeigefinger schwamm weiter durch den Atlantischen Ozean in den Golf von Biskaya.
Lotte bemühte sich, ihres Schmerzes Herr zu werden und durch verdoppelte Aufmerksamkeit ihr Versäumnis wettzumachen. Hatte sie nicht als Freischülerin die Pflicht, sich mit allen Kräften beim Unterricht einzusetzen? Wie oft sagte ihr die Mutter daheim, daß sie sich dankbar und der Wohltat, die sie in der Schule genoß, als gute Schülerin würdig zeigen müßte. Aber manchmal nützte aller gute Wille nichts. Oft war Lotte matt und abgespannt in der Schule. Besonders in letzter Zeit, wo die Mahlzeiten zu Hause immer kärglicher wurden. Seit einigen Tagen brachte sie auch keine Frühstücksbrote mehr mit in die Schule. Das Brot und der Aufstrich mußten zum Abend aufgespart werden. Und da bezeichnete sie Herta Trott sogar noch als »Drückeberger«! Wie gern hätte sie selbst eins von den Frühstückspaketen gehabt, die Herta nach Schluß der Stunde für die Winterhilfe ablieferte. Aber die Scheu, von den Kameradinnen über die Achsel angesehen zu werden, schloß Lotte den Mund. Lieber hungerte sie.
Drückeberger Nummer zwei, Inge Riemann, biß in der großen Pause wie immer eiligst in ihr Butterbrot. Die ganze Geographiestunde über hatte sie geschwankt, ob sie ihr eigenes Frühstück statt des vergessenen Päckchens für arme Kinder abliefern sollte. Aber warum sollte sie denn selber hungern? Nein, das konnte kein Mensch von ihr verlangen. Es waren ja so viele Päckchen da. Aus allen Schulen kamen sie zusammen. Davon konnten genug arme Kinder gespeist werden.
»Inge, wo bleibst du?« riefen die Freundinnen Ellen und Ruth vom Korridor zur Klassentür hinein. Schnell noch einen Bissen, ehe sie dem Ruf Folge leistete, – Schinken schaute lecker zwischen dem Brot hervor. Gut, daß sie es nicht fortgegeben hatte. Im Hinausgehen begegneten Inges Augen denen von der ebenfalls in der Klasse zurückgebliebenen Lotte Müller. Es war ein merkwürdiger Blick, halb sehnsüchtig, halb traurig, der Inge bannte.
»Warum sitzte denn so traurig auf die Banke?« begann Inge ein Berliner Couplet zu trällern, um sich gegen ein unbequemes Wehgefühl, das der traurige Blick in ihr auslöste, zu panzern.
»Hast dir wohl den Anschnauzer von Peters zu sehr zu Herzen genommen? So'n Blödsinn!« Damit war Inge zur Tür hinaus. Im lebhaften Geplauder mit Ruth und Ellen vergaß sie schnell den traurigen Blick der Schulkameradin.
Lotte Müller hatte keine richtige Freundin. Sie war mit allen gut Freund, aber eine sogenannte »beste« fehlte ihr. Sie war immer fleißig und freundlich, »ehrpußlig« nannten sie die Mädel. Und »ehrpußlige Dinger« waren nicht besonders beliebt in der Klasse. Da war Inge Riemann, die für jeden dummen Streich zu haben war, doch ein ganz anderes Mädel. Die sprühte vor Lust und Leben und schien aus lauter Frohsinn und Lachen zusammengesetzt.
In der französischen Stunde bei der Ordinaria ging es Lotte Müller heute auch nicht so gut wie sonst. Sie verwechselte die Artikel und schrieb ein fehlerhaftes Extemporale.
»Nanu, was ist denn heute mit unserer fleißigen Lotte los?« wunderte sich Fräulein Studienrat. »Ich kenne dich ja gar nicht wieder, Mädel. Bist du nicht wohl?«
Lotte schüttelte den Kopf. Blässe und Röte wechselten in ihrem Gesicht. Es war ihr peinlich, von allen angestarrt zu werden.
»Sie hat Kopfschmerzen«, rief Inge, die gern Hans in allen Gassen war.
»So iß eine Kleinigkeit, Kind«, riet die Lehrerin sorglich. »Dann wirst du wieder frischer.«
»Ich habe – ich habe – mein Frühstück zu Hause vergessen«, schwindelte Lotte Müller. Nein, bloß sich nicht bemitleiden lassen, weil man arm war.
»Warum hast du das nicht früher gesagt? Es sind so viele Frühstückspäckchen heute mitgebracht worden. Wolltest wohl keinem armen Kinde die Wohltat entziehen? Na, wer hat für die vergeßliche Lotte noch ein Brot übrig?« wandte sich die Lehrerin an die Klasse.
»Alles bereits aufgefuttert ….!« Es zeigte sich, daß der Appetit in der Quinta nichts zu wünschen übrig ließ. Die meisten schämten sich, daß sie so gefräßig gewesen waren. Nur Inge Riemann hatte sich noch ein Brot für die nächste Pause verwahrt. Das gab sie aber nicht her, nein, noch dazu, wo es gerade mit Schinken belegt war. Warum war die Lotte Müller auch so vergeßlich.
Lotte hungerte weiter und wurde immer blasser. Inge schielte ab und zu unbehaglich zu ihr hinüber. Hätte sie ihr nicht lieber doch die Schinkenstulle geben sollen?«
Nach Schluß der französischen Stunde wandte sich die Ordinaria noch einmal zur Quinta.
»Hört mal, Kinder, ich möchte noch etwas mit euch besprechen. Ihr wißt doch, was für einen schweren Winter wir durch die große Arbeitslosigkeit haben, daß viele Familien darben müssen. Euch, die ihr im Elternhause satt zu essen habt und warm gekleidet werdet, euch glücklichen Kindern möchte ich die Kinder ans Herz legen, denen es nicht so gut geht wie euch. Jeder von euch hat sicher eine Sparbüchse. Ich mache euch den Vorschlag, daß ihr in jeder Woche ein paar Pfennige herausnehmt und dafür ein Pfund Mehl oder ein Pfund Nudeln, Reis, Graupen, Grieß, Erbsen, – irgend welche Lebensmittel, was es auch sei, kauft und es mit in die Schule bringt, zur Verteilung an arme Familien. Ich weiß, daß ihr sicherlich alle gern dabei seid, wenn es gilt, zu helfen, – daß ihr auch bereit sein werdet, mal auf eine eigene Freude, die ihr euch von eurem Spargeld verschaffen wolltet, zu verzichten, um andern Freude zu machen.«
»Ja, ja, natürlich«, riefen die Schülerinnen hilfsbereit.
»Ich besitze überhaupt keine Sparkasse«, meinte Ruth kleinlaut.
»So bitte deine Mutter um ein Pfund Lebensmittel. Sie wird sicher etwas für den guten Zweck übrig haben. Oder ihr könnt auch ein abgelegtes warmes Kleidungsstück mitbringen. Irgend etwas findet sich überall«, schloß Fräulein Studienrat.
»So, Lotte Müller, und nun komme du mal mit mir, wollen mal sehen, ob wir nicht noch etwas für dich zu essen finden.«
»Ich habe ja gar keinen Hunger«, sagte Lotte und fühlte zu ihrem Schreck, daß ihr leerer Magen laut zu knurren begann. Wirklich, der Hunger war ihr durch den Vorschlag, den Fräulein Studienrat soeben der Klasse gemacht hatte, vollständig vergangen. Wie sollte sie jede Woche Geld zu Lebensmitteln aufbringen! Ihre Sparbüchse war längst geleert. Seitdem der Vater abgebaut war, bekam sie überhaupt kein Taschengeld mehr. Sicher würden die andern Mädel sie wieder als Drückeberger ansehen, wenn sie nichts mitbrachte.
»So, Kind, nun laß dir's schmecken.« Freundlich reichte die Lehrerin Lotte ihren eigenen Apfel. »Und ein anderes Mal vergiß nicht wieder ….« Da hielt sie inne. Irgend etwas in Lottes blassem Gesicht hatte stumm gegen ihre Worte Einspruch erhoben. Schmal und elend war das Kindergesicht, wie man es sonst hier in der höheren Schule kaum zu sehen bekam. Sollte Not ….
»Was ist dein Vater, Lotte?« begann Fräulein Studienrat zu examinieren.
»Bankbeamter.«
»In fester Stellung?«
Lotte schüttelte den Kopf. »Abgebaut«, kam nach einem Weilchen die zögernde Antwort.
Aha, – hatte sie es sich doch gedacht. Die menschenfreundliche Lehrerin beschloß, Lotte Müller im Auge zu behalten.
Trotz des grauen Novemberregens legten die Quintanerinnen heute noch langsamer als sonst den Heimweg von der Schule zurück.
Der Vorschlag der Ordinaria, allwöchentlich die Sparbüchse für die Winterhilfe zu plündern, mußte eingehend besprochen werden.
»Was wird da aus unsern Weihnachtsgeschenken?« überlegte Ellen besorgt. »Seit Oktober spare ich jeden Groschen, um dafür Handarbeiten für die Eltern und für Großmuttchen zu kaufen. In der nächsten Woche wollte ich sie besorgen. Und nun muß ich ein Loch in den Sparschatz, den ich glücklich beisammen habe, reißen.«
»Ich habe mein Weihnachtsgeld noch gar nicht beisammen«, meinte Inge unbekümmert. »In meiner Sparkasse ist immer Ebbe.«
»Weil du solche Naschkatze bist und dein Taschengeld meistens in Eiswaffeln anlegst«, lachte sie Ruth aus.
»Freilich, solch ein Knauser wie du bin ich nicht«, wehrte sich Inge Riemann.
»Inge ist wenigstens menschenfreundlich und hat immer die Spendierhosen an«, kam Ellen anerkennend der Freundin zu Hilfe.
»Meine Mutti sagt, für Überflüssiges hat man jetzt kein Geld.«
Den »Knauser« mochte Ruth nicht auf sich sitzen lassen.
»Na, dann wird sie ja von den Lebensmittelpaketen, die du zur Schule mitbringen sollst, nicht sehr begeistert sein.«
»Doch, für andere, für Arme hat Mutti immer noch was übrig«, beteuerte Ruth.
Unter den regenberieselten Weiden des Parks huschte eine schmale Gestalt mit freundlichem Gruß vorüber.
»Na, Lotte, vom Hungertod wieder auferstanden?« rief ihr Inge übermütig nach.
Es kam keine Antwort. Das Nebelgrau hatte Lotte Müller bereits verschluckt.
»Aus Lottes Mantel würde ich mir an ihrer Stelle lieber eine Badehose machen lassen, so kurz ist er«, spottete Inge hinter ihr drein.
Während Ellen den Witz belachte, äußerte Ruth nachdenklich: »Ihre Eltern werden kein Geld haben, ihr einen neuen Mantel zu kaufen.«
»Mit dem dünnen Fähnchen kann sie sowieso nicht den ganzen Winter herumlaufen. Sie trägt überhaupt noch einen Sommermantel«, meinte Ellen kopfschüttelnd.
»Ich bekomme zu meinem Geburtstag einen neuen Wintermantel mit feinem Pelzbesatz«, frohlockte Inge.
»Ich finde deinen Mantel eigentlich noch sehr anständig.« Ruth betrachtete die nasse Schulfreundin von allen Seiten. Solchen »anständigen« Mantel hätte sie selbst noch lange tragen müssen.
»Richtig, du hast ja bald Geburtstag, Inge. Fein! Gibt es dieses Jahr wieder eine Überraschung?« erkundigte sich Ellen eifrig.
»Sicher. Kindergesellschaft ohne was Besonderes ist mopsig. Mutti wird schon was Hübsches ausdenken. Vielleicht ein Glücksrad, wo man was gewinnen kann. Oder mein großer Vetter macht wieder eine Kintoppvorführung oder – halt, Kinder, ich habe eine famose Idee. Wir wollen Theater spielen, irgendwas Ulkiges ….«
»Ach, Kasperletheater haben wir ja schon ein paarmal an deinem Geburtstag gehabt«, wandte Ellen ein.
»Wer spricht denn von Kasperle? Wir selbst wollen Theater spielen in Kostümen wie die Großen. Das wird famos!«
»Au ja – das wird famos!« fielen die Freundinnen ein, und alle drei vollführten einen Freudensprung über eine Pfütze hinweg.
Inge Riemanns Geburtstagsgesellschaft war stets ein wichtiges Ereignis im Schulleben. Sie war das einzige, etwas verwöhnte Töchterchen. Ihre Eltern pflegten daher ihren Geburtstag ganz besonders zu feiern. Nirgends gab es so viel Schlagsahne wie bei Riemanns. Tagelang vorher überlegte man schon in der Klasse, wen Inge wohl einladen würde und wen nicht.
Die Freundinnen hatten sich getrennt. Eine jede eilte schleunigst heim zu Tisch. Man hatte sich heute tüchtig verplaudert.
Es war ein gemütliches, warmes Heim, das Inge erwartete. Marie trug bereits die Suppe auf, denn der Vater hielt auf Pünktlichkeit. Er gönnte sich nur eine kurze Mittagspause.
»Na, nachgesessen, Strolch?« empfing er die aus der Schule heimkehrende Tochter.
Während Inge beteuerte, daß sie nur mit Ellen und Ruth noch ein wenig auf und ab spaziert sei, rief die Mutter besorgt: »Bei diesem Regenwetter! Wechsele erst Schuhe und Strümpfe, Kind, bevor du zu Tisch kommst, damit du dich nicht erkältest!«
»Wir haben nämlich etwas ganz Wichtiges zu besprechen gehabt«, berichtete Inge, als man dann bei der Suppe saß. »Es handelte sich um meinen Geburtstag.«
»Damit hättest du dir ja noch vierzehn Tage Zeit lassen können«, meinte der Vater belustigt.
»Wo denkst du hin, Vati! Wir wollen doch zu meiner Kindergesellschaft Theater spielen, meine Freundinnen und ich. Das eilt sehr, wenn wir es noch richtig lernen und proben wollen. Und Kostüme müssen wir doch auch dazu haben.«
»Was wollt ihr denn für ein Theaterstück aufführen?«
»Noch keine blasse Ahnung von 'ner Idee. Mutti wird schon was Hübsches für uns herausfinden. Nicht wahr, Muttichen?«
»Hör mal, mein Kind, ich wollte diesmal gar nicht so viel von deinem Geburtstag hermachen. Du weißt, daß viele Leute in diesem Winter Not leiden müssen. Da soll man für unnötige Dinge ….«
»Aber eine Kindergesellschaft ist doch sehr nötig. Alle freuen sich schon darauf.« Inge begann mit den Tränen zu kämpfen. »Und Vati verdient doch noch genug Geld, der ist doch nicht abgebaut ….«
»Na, die Mutti wird schon ein Einsehen haben, Kind. Dein Geburtstag ist ja nur einmal im Jahr«, tröstete Herr Riemann. Denn er mochte sein lustiges Töchterchen nicht gern betrübt sehen.
»Vater, es ist notwendig, daß unsere Inge auch den Ernst der Zeit begreifen lernt«, stellte die Mutter ihm vor. »Sonst wird sie ein oberflächliches Mädchen.«
»Bitte erst nach meinem Geburtstag, Muttichen, ja? Dann bin ich doch schon elf Jahre alt, da begreife ich den Ernst bestimmt besser«, beteuerte der Schlaukopf. »Und wir helfen überhaupt auch bei der Winterhilfe. Jede Woche sollen wir ein Pfund Reis oder Nudeln oder sowas Ähnliches für arme Familien zur Schule mitbringen, noch dazu aus unserer eigenen Sparbüchse.«
»Dann spare nur fleißig«, neckte der Vater.
»I wo! Mutti oder Luise« – das war die Köchin – »gibt mir sicher ein Pfund Reis«, meinte Inge zuversichtlich.
»Das ist nicht das Richtige, Inge. Von eurem eigenen Geld sollt ihr etwas für arme Menschen, die hungern müssen, übrig haben«, erklärte ihr die Mutter.
»Mein Taschengeld brauche ich selber nötig«, behauptete Inge, wurde aber doch etwas rot dabei. Denn eigentlich ließ sie sich alles, was sie für die Schule brauchte, von den Eltern kaufen. Meistens wurde das Taschengeld in Sahnenbonbons oder in Eiswaffeln angelegt.
»Du weißt nicht, wie gut du es hast, Kind. Was sehe ich täglich für Elend, wenn ich von der Winterhilfe aus meine Nachforschungen in den notleidenden Familien machen muß. Heute ist mir die Patenschaft über eine hochachtbare Familie in unserer Nähe übertragen worden. Der Mann abgebaut, die Frau versucht, durch Strickarbeiten etwas zu verdienen. Die Kinder sind blaß und elend. Ich habe die drei in unserem Bekanntenkreis als Mittagsgäste verteilt. Jeder kann schließlich noch ein Kind mit satt machen. Die Älteste soll zu uns essen kommen. Das Mädel ist total unterernährt. Für die Eltern werden wir vier Familien, wo die Kinder zu Gast sind, abwechselnd das Mittagbrot mitschicken. Wenn jeder, der noch zu essen hat, sich an der Nachbarhilfe beteiligt, kann dem ärgsten Elend gesteuert werden.«
»Unsere Mutti hat ein warmes Herz für andere«, sagte der Vater, nickte seiner Frau liebevoll zu, strich Inge über das Haar und ging, den Wagen anzukurbeln. Denn seine freie Zeit war zu Ende.
»Mutti, wird das Bettelkind, das bei uns Mittagessen bekommen soll, bei Luise und Marie in der Küche essen?« erkundigte sich Inge.
Einen Augenblick zögerte Frau Riemann. Sie hatte eigentlich beabsichtigt, das fremde kleine Mädchen in der Kinderstube essen zu lassen, damit es sich nicht unter den ihm Fremden scheue, tüchtig zuzulangen. Aber Inges Frage zeigte ihr, daß dies nicht das Richtige sei. An ihren Tisch und an ihr Herz mußte sie das arme Kind nehmen.
»Nein, Inge, die Kleine ißt mit uns am Tisch.«
Inge machte ein langes Gesicht. »Das schmutzige Bettelkind?« Sie sah sich in dem mit behaglicher Eleganz ausgestatteten Raum um. »Es wird sicher unmanierlich und unappetitlich essen.«
»Du irrst dich, Inge. Die Kleine ist ein sehr wohlerzogenes Mädchen. Ich sagte es ja schon, daß der Vater stellungslos ist, und die Familie dadurch in Not geraten. Wie kannst du nur so überheblich sein und ein Kind, dem es weniger gut geht als dir, ein ›schmutziges Bettelkind‹ nennen?« Frau Riemann war recht unzufrieden mit ihrer Tochter.
Gleich am andern Tage sollte die »Nachbarhilfe«, zu der sich Frau Riemann gemeldet hatte, einsetzen. Inge war nun doch ziemlich neugierig, wie das fremde Mädel ausschauen, und wie es sich wohl benehmen mochte. Sicher hatte es unsaubere Hände, daß einem der Appetit verging. Inge dachte nicht daran, daß sie selbst öfters von Tisch geschickt wurde, weil sie vergessen hatte, sich vorher die Hände zu waschen.
»Heute gibt es einen Spaß bei uns«, erzählte Inge den Freundinnen auf dem Nachhauseweg von der Schule. »Ein armes Kind soll bei uns mit zu Mittag essen.«
»Das ist doch kein Spaß«, wunderte sich Ruth. »Das ist doch traurig, wenn es zu Hause hungern muß.«
»Sei doch nicht so tranig, Ruth. Natürlich wird das ulkig werden. Sicher schlingt das Bettelkind vor Hunger. Hoffentlich maust es keinen silbernen Löffel.«
In diesem Augenblick lief gerade Lotte Müller wieder an den dreien vorbei. Sie nahm sich nicht einmal Zeit zum Gruß. Sie lief, als ob sie verfolgt würde.
Heute war Inge rechtzeitig zu Hause. Neugierig spähte sie nach dem fremden Gast aus. Als es pünktlich um zwei Uhr klingelte, war sie noch vor dem Stubenmädchen an der Entreetür.
»Mutti –Muttchen – das Mädel ist ja ein Junge!« rief Inge aufgeregt zum Wohnzimmer hinein.
»Nanu?« wunderte sich Frau Riemann. Wirklich, draußen in der Diele stand ein nett aussehender Junge von ungefähr zehn Jahren. Gesicht und Hände glänzten vor Sauberkeit.
»Wer bist du denn, Kleiner?«
»Fritz Müller.« Es folgte eine wohlerzogene Verbeugung. »Ich habe mit meiner Schwester getauscht. Sie wollte lieber zu Neumanns essen gehen, wo ich eigentlich heute hinkommen sollte. Die Mutter meinte, es würde wohl gleich sein.« Inge wunderte sich, daß der Junge ganz richtig deutsch sprach.
»Dann lege nur ab, mein Junge«, sagte Frau Riemann freundlich. »Lieber wäre es mir freilich gewesen, wenn deine Schwester gekommen wäre, weil ich selbst ein Töchterchen habe und bei Neumanns Knaben in deinem Alter sind. Na, morgen tauscht ihr dann wieder aus. Du gehst zu Frau Neumann und schickst deine Schwester zu uns, nicht wahr?«
»Sie wollte ja durchaus nicht, Mutter war ärgerlich auf sie«, erzählte Fritz.
Sicher ein scheues Mädel, dem es peinlich war, zu Fremden zu gehen, dachte Frau Riemann. Dabei machte der Junge einen freien und unbefangenen Eindruck. Auch bei Tisch zeigte es sich, daß man ein gut erzogenes Kind zu Gaste hatte. Der fremde Junge aß durchaus manierlich, er steckte weder das Messer in den Mund, noch nahm er die Hände zu Hilfe, worauf Inge noch ganz besonders achtete. Trotzdem sah man, wie gut es ihm mundete. Kein Wort sprach Inge mit ihm. Sie starrte ihn nur an. Aber als der Junge auf eine Frage des Vaters, in welche Schule und in welche Klasse er gehe, antwortete: »In die Sexta, Reform-Gymnasium«, da rief Inge erstaunt: »Was, du bist Gymnasiast? Und dann gehst du zu fremden Menschen ….« Das Wort »essen« verschluckte Inge rasch auf einen mahnenden Blick der Mutter hin.
Aber Fritz mußte es doch wohl erraten haben. Er wurde rot und sagte: »Wenn unser Vater doch abgebaut ist.« Dabei sah er, wie um Entschuldigung bittend, zu Inge hin. An wen erinnerte sie bloß dieser Blick?
»Willst du noch ein bißchen mit Inge spielen, Fritz?« fragte Frau Riemann, als die Mahlzeit beendet war.
Noch ehe Fritz antworten konnte, rief Inge: »Ich habe heute sehr viel Schularbeiten zu machen. Ich muß gleich anfangen, sonst werde ich nicht fertig.« Das sollte ihr fehlen, auch noch mit dem fremden Jungen zu spielen.
So verabschiedete sich Fritz mit »bestem Dank« und versprach, am nächsten Tage seine Schwester zu schicken.
Frau Riemann hoffte, daß Inge mit einem gleichaltrigen Mädel sich besser stellen würde. Sie hatte ja gar nicht gewußt, daß solch ein Hochmutsteufel in dem Kinde steckte.
Inge saß an ihrem Arbeitspult und studierte ein Kinder-Theaterstück, das ihr der Vater aus einer Buchhandlung mitgebracht hatte. Die »vielen Schularbeiten« hatten noch Zeit. Das ulkige Theaterstück »Puppengeburtstag«, wo die kleinen Schauspieler als lebendige Puppen auftraten und über ihre Puppenmütter herzogen, war viel belustigender.
Am nächsten Tage gab es in der Schule eifrige Besprechungen wegen der Rollenverteilung. Daß die beiden besten Freundinnen Ellen und Ruth dabei sein mußten, war selbstverständlich. »Aber den Puppenjungen muß ich spielen, das ist die Hauptrolle, – weil ich das Geburtstagskind bin«, erklärte Inge. »Außerdem bin ich dann schon elf Jahre alt, und ihr seid erst zehn.«
Ellen und Inge stritten um die Hauptrollen, während Ruth dachte, daß ihre Mutter immer zu sagen pflegte, daß die Wirtin hinter ihren Gästen zurücktreten müsse.
Als Inge sich endlich von den Freundinnen trennte, hatte man sich immer noch nicht über die Hauptrolle geeinigt.
»Das fremde Mädel ist schon da, Inge«, empfing sie daheim die Marie. »Ich habe sie in die Kinderstube geführt, weil Mutti noch nicht zu Hause war.«
»Na, hoffentlich geht sie mir da nicht an meine Bücher heran«, meinte Inge ungehalten. Sie war ärgerlich. Erstens, weil Ellen durchaus den Puppenjungen spielen wollte. Zweitens, weil Marie das fremde »Bettelmädel« in ihr Zimmer geführt hatte. Und vor allem, daß Marie immer noch »Kinderstube« sagte. Es war doch schon ein richtiges Jungmädchenzimmer, das ihr die Eltern eingerichtet hatten. Wenn sie erst elf Jahre alt war, ließ sie sich das aber bestimmt nicht mehr gefallen.
Unter diesen Überlegungen trat Inge in ihr Zimmer und – lachte laut auf.
»Du bist es, Lotte? Hahaha, und die Marie dachte, du seiest das fremde Mädel. Willst dir wohl irgendeine Arbeit von mir holen oder ein Buch leihen?« Auf dem kleinen Kretonnesofa saß Lotte Müller und las in einem Schulbuch.
Ihr blasses Gesicht färbte sich blutrot bei Inges Anblick. Sie wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus vor Erregung.
»Hast wohl heute nicht aufgepaßt in der Schule und willst dir von mir Bescheid holen? Hahaha, die fleißige Lotte Müller weiß auch mal nichts«, neckte Inge.
Da öffnete sich die Tür. Die heimkehrende Mutter nickte dem Töchterchen liebevoll zu und reichte dem sich in peinlichster Verlegenheit erhebenden fremden Mädchen die Hand.
»Sei uns willkommen, Kind. Wie heißt du doch? Richtig, Lotte – Lotte Müller. Ich sehe, ihr habt euch schon beide bekannt gemacht, Kinder. Das ist recht. Haltet nur Freundschaft miteinander.«
»Aber das ist ja Lotte Müller aus meiner Klasse, Mutti.« Inge wollte sich ausschütten vor Lachen, daß die Mutter die Lotte mit dem erwarteten Mittagsgast verwechselte.
»In einer Klasse seid ihr? Davon hast du mir ja gar nichts erzählt, Inge. Um so besser, da braucht ihr euch ja nicht erst miteinander anzufreunden. Kommt zu Tisch, Kinder, der Vater wartet.«
»Zu Tisch? Die Lotte Müller soll bei uns essen? Ja, aber –« Inge brach plötzlich ab. Hieß der Junge, der gestern da gewesen war, nicht auch Müller? Und hatte er nicht erzählt, seine Schwester wollte nicht zu ihnen kommen? Plötzlich hatte Inge die Wahrheit erfaßt. Nein, war das peinlich, war das bedrückend, daß Lotte Müller das fremde Bettelmädel war! Was würden nur Ellen und Ruth dazu sagen?
Inge mundeten die Klöße mit Backobst heute gar nicht. Ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit stocherte sie stumm in dem Essen herum. Wie schrecklich, daß die Lotte, ein Mädchen aus ihrer Klasse, und noch dazu eine der fleißigsten, zu Hause nichts zu essen hatte, daß sie zu anderen Menschen gehen mußte, um satt zu werden! Zum ersten Male in ihrem Leben empfand Inge Not und Elend nicht als etwas Fremdes, sie selbst nicht Berührendes. Ein Kind wie sie, das sie kannte, ein Mädel aus ihrer Klasse litt Hunger – wie furchtbar war das – ein Tränenstrom ergoß sich plötzlich über Inges Klöße.
»Aber Kind, Herzchen, was ist dir denn?« Ratlos stand der Vater dem plötzlichen Schmerzensausbruch seines Lieblings gegenüber. Die Mutter verstand ihre Inge besser. Sie hatte vergeblich versucht, ein unbefangenes Gespräch zwischen den beiden Schulkameradinnen in Gang zu bringen. Lotte antwortete auf alle Fragen leise und mit gesenkten Augen. Dabei rührte sie das gute Essen kaum an, trotzdem sie doch Hunger haben mußte.
»Nun eßt mal eure Klöße auf, Kinder – Klöße mit Tränensoße schmecken nicht, Inge« – da mußte die Inge trotz ihres Kummers wieder lachen.
Als die beiden Mädel, nachdem man »gesegnete Mahlzeit« gewünscht hatte, in Inges Zimmer gegangen waren, meinte Herr Riemann zu seiner Frau: »Es wäre vielleicht besser, wenn wir den Jungen wieder zu uns kommen ließen, der ist munter und frisch. Das Mädel saß heute ja wie der steinerne Gast bei Tisch. Ordentlich beklommen wurde einem zumute. Unsere Inge muß auch darunter gelitten haben, daß sie plötzlich zu weinen begann. Das Kind ist zu weich.«
»Unsere Inge hat heute zum ersten Male in ihrem Leben die Not anderer als eigene Not empfunden. Ihr soziales Empfinden ist heute erwacht. Das ist mit einem ungemütlichen Mittagessen nicht zu teuer bezahlt«, war Frau Riemanns ernste Antwort.
Zwischen den weißen Möbeln und dem geblümten Kretonnesofa in Inges Zimmer standen sich die beiden Schulkameradinnen zuerst stumm gegenüber.
»Ich habe gleich nicht herkommen wollen, aber meine Mutter wünschte es«, begann Lotte sich zu entschuldigen. »Sie meinte, das Komitee von der Winterhilfe würde sich am Ende sonst nicht mehr um uns kümmern. Ich habe es gewußt, daß es dir unangenehm sein würde.«
»Unangenehm?« Ja, war es ihr denn zuerst nicht höchst peinlich und unangenehm gewesen? Aber dann hatte sie doch nur ein starkes Weh um Lotte empfunden, Mitleid, – nur viel schmerzhafter.
»Auf Wiedersehen, Inge!« Lotte reichte ihr die Hand zum Abschied, da Inge immer noch kein Wort der Erwiderung fand. »Ich lasse deinen Eltern vielmals danken, aber wiederkommen kann ich nicht. Du wirst ja verstehen, daß es noch viel schwerer für mich ist, zu euch zu kommen als zu ganz Fremden.«
»Nein, Lotte, nein« – jetzt fand Inge endlich die Sprache wieder. »Jeden Tag mußt du zu uns kommen, gerade, weil wir in dieselbe Klasse gehen. Und Ellen und Ruth brauchen überhaupt nichts davon zu erfahren. Keinem Menschen sage ich es. Ich halte dicht«, versicherte Inge.
»Meine Mutter sagt, es ist keine Schande, wenn man unverschuldet in Not gekommen ist, die Hilfe von denen anzunehmen, denen es besser geht. Aber was du neulich auf der Straße zu Ruth und Ellen gesagt hast von ›Bettelmädel‹ und ›silbernen Löffel mausen‹, das war so schrecklich, daß ich lieber hungern wollte, als zu euch gehen. Nur Mutter zuliebe habe ich es doch getan.«
Inges Gesicht färbte sich dunkelrot. O Gott! Das hatte die arme Lotte mit angehört, diese unüberlegten bösen Worte?
Einer warmherzigen Regung folgend, schlang Inge den Arm um Lottes Schulter. »Es war sehr häßlich von mir. Bitte, bitte, denke nicht mehr daran, Lotte. Nicht wahr, du kommst trotzdem mittags zu uns?«
Lotte nickte. Dankbar drückte sie Inges Hand.
Als Frau Riemann etwas später nach ihrer kleinen Pflegebefohlenen schaute, saßen die beiden einträchtig auf dem Kretonnesofa und spielten Halma. Frau Riemann nickte ihnen befriedigt zu. Die Freundschaft schien geschlossen.
Am Abend legte Inge plötzlich ihr belegtes Brot beim Abendessen hin. »Ich kann nicht mehr«, erklärte sie.
»Aber Inge, du bist doch sonst nicht satt zu machen«, wunderte sich die Mutter.
»Ich – ich – ich kann nicht essen, wenn die arme Lotte hungern muß. Sicher bekommt sie kein Abendbrot. Und Frühstück hat sie gewiß auch nicht in der Schule. Neulich hat sie so sehnsüchtig nach meiner Schinkenstulle geschaut. Und ich habe sie ihr nicht gegeben, weil ich selbst so gefräßig war«, so klagte sich Inge an.
»Du kannst deine Mahlzeit doch nicht mit jedem, der Hunger leidet, teilen, Herzchen. Du mußt dankbar sein, wenn du selbst was zu essen hast«, sprach ihr der Vater zu.
»Aber die Lotte Müller ist nicht jeder. Die Lotte kenne ich doch. Darf ich ihr nicht mein belegtes Brot hintragen, Mutti? Sie wohnt ja gar nicht weit.«
»Marie hat bereits einen Korb mit Lebensmitteln zu Müllers hingebracht«, beruhigte die Mutter das aufgeregte Kind. »Lotte bekommt heute ihr Abendbrot wie du.«
»Aber morgen und alle die folgenden Tage?« Inges Mitgefühl war jetzt geweckt. Und plötzlich kam ihr ein Gedanke: »Vati, liebes Vatichen, kannst du nicht Lottes Vater in der Fabrik anstellen?«
»Aber Kind, wie denkst du dir denn das? Wir haben selbst einen Teil unserer eingearbeiteten Leute entlassen müssen, da nicht genug zu tun ist. Unmöglich, jemanden anzustellen.«
Es war wohl das erstemal, daß der Vater seinem Töchterchen einen Wunsch versagte. Und noch dazu einen, den es nicht für sich selbst tat.
Am nächsten Tage in der Schule, als Inge auf dem gewohnten Platz Lotte Müller sitzen sah, aufmerksam wie immer dem Unterricht folgend, da erschien es ihr kaum möglich, daß Lotte daheim hungern sollte. Blaß und schmal sah sie ja aus, freilich. Und ihre Augen blickten auch nicht so hell und froh wie die der andern Kinder. »Ehrpußlig« hatten Inge und ihre Freundinnen sie deshalb genannt.
In der Pause ärmelten Ellen und Ruth Inge unter und zogen sie aus der Klasse. Eigentlich hatte Inge auf Lotte warten und sehen wollen, ob sie Frühstück mit hatte. Aber als Ellen sagte: »Wir müssen die Rollen zu dem Theaterstück nochmal besprechen, Inge, und dann wollen wir auch gleich die Proben festsetzen«, da fand Inge das doch im Augenblick wichtiger.
Lotte Müller spazierte, wie meistens, allein auf dem Schulhof auf und ab. Sie hielt ein Frühstückspäckchen in der Hand. Fräulein Studienrat hatte es ihr mit freundlichen Worten eingehändigt. Aber es schmeckte ihr nicht so gut, wie Inge geglaubt hatte. Sie blickte zu Inge Riemann und ihren Freundinnen herüber. Lächerlich, daß sie gehofft hatte, Inge würde sich jetzt auch in der Schule ihrer annehmen. Die kümmerte sich ebensowenig um sie wie früher. Wie die drei lachten. Ob Inge den beiden am Ende erzählte, wer das »Bettelmädchen« war?
Nein, Inge hielt, was sie versprochen hatte. Sie erzählte nichts. Aber trotzdem Ellen auf die Rolle des Puppenjungen im Theaterstück verzichtet hatte, wurde Inge dessen nicht recht froh. Sie gab sich Mühe, mit den Freundinnen zu scherzen und zu lachen, aber es kam ihr nicht von Herzen. Ihr Blick wurde immer wieder zu Lotte hingezogen. Was wollte sie denn? Lotte hatte ja eine Stulle in der Hand, die hungerte heute nicht. Aber sie ging ganz allein. Warum konnte sie denn nicht mit ihnen gehen? Ja, aber was würden Ellen und Ruth bloß dazu sagen?
Noch ehe Inge mit dieser Frage im reinen war, klingelte es zur nächsten Stunde.
Beim Nachhauseweg, da wollte Inge aber bestimmt auf Lotte warten. Doch Lotte war nirgends zu sehen. Vergeblich spähte Inge am Schultor nach ihr aus. Dann folgte sie mit einem Gefühl der Erleichterung den Freundinnen.
Der Mittagsgast kam heute spät zu Riemanns. Die Suppe stand bereits auf dem Tisch. Inge überlegte bedrückt, ob ihr unfreundliches Verhalten etwa schuld sei, daß Lotte nicht erschien. Gott sei Dank, da klingelte es. Gleich darauf entschuldigte sich die knicksende Lotte bei den Eltern, daß sie sich verspätet habe.
»Warum kommt ihr denn nicht zusammen aus der Schule nach Hause, Mädels?« wunderte sich die Mutter.
Jetzt kam es heraus. Jetzt würde Lotte sie verpetzen, daß Inge sich in der Schule nicht um sie kümmerte. Aber nichts dergleichen geschah. Lotte wurde rot und sagte: »Meine Mutter war heute morgen nicht wohl, da wollte ich noch mal nach ihr sehen.«
»Was fehlt ihr, Kind? Liegt sie zu Bett? Was sagt der Arzt?« erkundigte sich Frau Riemann.
»Wir haben ihn noch nicht gerufen, weil ….« Der Nachsatz, daß sie kein Geld dazu hatten, wurde verschluckt. »Mutter ist sehr schwach«, fügte Lotte leise hinzu.
»Ihr bekommt von der Wohlfahrt aus einen Arzt, Lotte.« Frau Riemann hatte den Nachsatz richtig erraten.
»Komm, Lotte, wir wollen noch ein bißchen zusammen spielen oder willst du lieber mit mir Französisch präparieren?« schlug Inge nach Tisch vor in dem Wunsche, ihr Verhalten gegen Lotte in der Schule wieder gut zu machen.
»Danke, Inge, aber ich möchte nach Hause. Mutter soll nicht den Abwasch selbst besorgen, und um die Kleinen muß ich mich auch kümmern.« Vom Fenster aus sah Inge, wie Lotte die Straße entlang heimlief.
Eigentlich hatte Inge nach Erledigung der Schularbeiten die Rollen für das Theaterstück ausschreiben wollen. Aber die Lust fehlte ihr dazu. Warum mußte sie bloß unausgesetzt an Lotte denken, wie die jetzt gewiß fleißig der kranken Mutter im Haushalt zur Hand ging. Inge nahm ihre Sparbüchse, eine kleine silberne Mühle, vor und zählte den Inhalt. Sechs Mark siebzig Pfennige waren darin. Neulich waren es doch noch über zehn Mark gewesen. Hatte sie das tatsächlich für Krimskram und Näschereien ausgegeben? Ach, morgen war ja der Tag, an dem sie Lebensmittel für die Winterhilfe mit in die Schule bringen sollte. Beinahe hätte sie es vergessen. Ob Lotte Müller wohl daran dachte? Die hatte doch bestimmt kein Geld dazu, Nudeln oder Reis für andere zu kaufen.
Eilends lief Inge in die Küche hinaus. »Luise, was kostet denn ein Pfund Reis?« erkundigte sie sich.
»Jeld«, meinte die Köchin lachend.
»Das weiß ich, aber wieviel?«
»Willst du einkaufen jehen, Inge? Das überlaß nur Mutti'n oder mir. Morgen jibt es überhaupt jar keinen Reis nich, sondern Mohrrüben und Schoten.«
»Aber Luise, wir sollen doch in die Schule Kaffee oder Zucker, Reis oder Nudeln mitbringen, irgendwas zur Winterhilfe für arme Leute.«
»Nanu wird's Tag in der Nachtmütze! Was jeht das die Schule an. Da sollt ihr euch belernen, aber nich mit Reis und Nudeln losjehn.«
»Mutti sagt, das wäre eine sehr schöne Einrichtung, daß wir Schulkinder auch für die armen Leute, die nichts zu essen haben, mit sorgen helfen sollen. Nicht wahr, Luise, Sie geben mir ein Pfund Reis und ein Pfund Grieß oder Nudeln?« bettelte Inge.
»Ich werd' mir ja hüten. Da käme mir Mutti schön auf'n Kopp. Wenn du was für arme Leute tun willst, Inge, dann berappe man jefälligst aus deine Sparkasse.«
»Das Geld brauche ich für was anderes.«
»So, das werden jewiß Sahnenbonbons oder Lutschwaffeln sein. Man weiß ja, wozu du dein Jeld verbrauchst. Willste Jutes tun, dann mußte dir selbst was absparen und nich aus Vaters Tasche.« Luise war meistens kurz angebunden, aber ihr einfaches Empfinden traf oft das Rechte.
Wieder saß Inge an ihrem Arbeitspult und rechnete. Es waren keine Rechenaufgaben für die Schule. Da rief die Mutter nach ihr.
»Inge, hast du Lust, mich zu begleiten? Ich will noch einige Besorgungen machen.«
»Ja, gern.« Inge war im Nu fertig. »Dann kann ich gleich noch was für die Winterhilfe mitbesorgen. Luise sagt, ich müßte den Reis und die Nudeln selber von meinem Gelde kaufen. Sie will mir nichts geben.«
»Da hat Luise ganz recht. Du weißt ja, wie ich darüber denke.« Frau Riemann machte sich mit ihrem Töchterchen auf den Weg.
»Für Lotte kaufe ich auch ein Pfund Mehl oder sowas, was am billigsten ist. Die kann sicher morgen nichts mitbringen«, sagte Inge.
»Das ist lieb von dir, Herzchen. Obgleich Lotte ruhig sagen sollte, daß sie keine Pakete mitbringen kann.«
»Dann halten die andern sie am Ende für einen Geizkragen, Mutti. Ob die Pakete mehr als eine Mark kosten?«
»Sicher nicht.«
»Fein, dann behalte ich noch fünf Mark und siebzig Pfennige übrig für unser Theaterstück. Wir wollen uns Kostüme aus Krepppapier selber machen. Das ist nicht teuer.«
»Jede unnütze Ausgabe ist in einer so schweren Notzeit zu teuer, Inge. Aber du bist wohl noch zu jung, um das zu verstehen.«
»Das verstehe ich schon sehr gut, Mutti. Aber die Kostüme zu dem Theaterstück sind doch notwendig.«
»Wäre ein warmer Mantel für Lotte Müller nicht notwendiger?« Wer hatte das nur eben gesagt? Die Mutti nicht, die war ja gerade in einen Laden getreten. Konnte eine innere Stimme so deutlich sein?
»Mutti, findest du meinen Wintermantel noch anständig?« erkundigte sich Inge, als sie das Geschäft wieder verlassen hatten.
Die Mutter lachte. »Aber Inge, seit wann bist du denn eitel? Zur Schule und bei schlechtem Wetter da geht er noch sehr gut. Zum Geburtstag sollst du ja einen neuen für Sonntags bekommen.«
»Muttichen, die Lotte Müller läuft noch bei dem kalten Wetter mit ihrem ausgewachsenen Sommermantel herum. Könnte ich nicht den neuen Mantel, den ich bekomme, gleich für die Schule tragen und der Lotte meinen alten Wintermantel schenken?«
Eigentlich bedeutete das gar kein Opfer für Inge. Sie trug viel lieber den neuen Mantel gleich für die Schule.
Mutti machte ein nachdenkliches Gesicht. »Was meinst du denn dazu, Inge, wenn du auf den neuen Mantel verzichten würdest, und wir stattdessen der Lotte einen warmen Mantel kaufen würden?«
»Das – das – nein, Mutti, das geht nicht. Lotte soll den schönen, neuen Mantel kriegen und ich den ollen behalten? Nein, Mutti, das ….« Inge konnte vor Erregung nicht weiter.
»Überlege es dir, mein Mädel. Du bekommst eher mal ein neues Kleidungsstück als Lotte, die solch einen Mantel jahrelang tragen muß.«
Was gab es da zu überlegen? Gar nichts. War es nicht genug, daß sie morgen von ihrem Spargeld ein Pfund Grieß für Lotte mit in die Schule brachte, damit sie nicht vor den andern als Geizkragen galt? Sie wollte es ihr sogar heimlich in die Mappe schmuggeln. Gar keinen Dank wollte sie dafür haben. Aber den neuen Mantel, nein, den überließ sie der Lotte nicht. Mütter verlangten doch manchmal wirklich zu viel von ihren Kindern.
Die Lebensmittelpakete für die Winterhilfe waren von Fräulein Studienrat in der Quinta eingesammelt worden. Keine Schülerin hatte sich davon ausgeschlossen. Alle waren sie freudig dabei. Selbst Lotte Müller hatte zu ihrer Verwunderung, als sie die Bücher zur nächsten Stunde zurecht legen wollte, die Tüte mit Grieß in ihrer Mappe entdeckt. Hatte Fräulein Studienrat, die ihr jetzt jeden Tag das Frühstück mitbrachte, etwa auch dafür gesorgt? Oder sollte gar Inge …. Ein fragender Blick flog zu der Schulkameradin und begegnete Inges beobachtenden Augen. Ja, sicher war es Inge. Fräulein Studienrat hätte ihr das Paket doch auch gleich mit dem Frühstück übergeben und es nicht heimlich in ihre Mappe getan. Nein, das mußte Inge gewesen sein. Ein warmer Strom freudiger Dankbarkeit durchfloß Lotte und färbte ihre blassen Wangen, gerade als Inge überlegte, warum bloß die Lotte Müller trotz des guten Essens, das sie jetzt täglich bekam, noch immer so elend aussah? Vielleicht sorgte sie sich um ihre kranke Mutter.
Als Lotte in der darauffolgenden Pause wieder allein unter den zu dreien und vieren eingehakten, kauenden und schwatzenden Schülerinnen unter den entlaubten Schulhoflinden auf und ab ging, bekam das Gute in Inge die Oberhand über peinliche Bedenken. Sie gab sich einen Ruck, zog Ruth und Ellen zu der Einsamen hin, ärmelte sie unter und sagte lachend: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.«
Lotte errötete halb erfreut, halb verlegen. Aber das noch eben so muntere Gespräch der Freundinnen schien plötzlich eingefroren. Selbst Ruth, die eigentlich den besten Willen hatte, sich mit Lotte Müller zu unterhalten, fand nicht das richtige Wort. Mit einem Gefühl der Erleichterung begrüßten sie alle vier das Klingelzeichen zum Unterricht.
»Hast du einen Piepmatz, Inge?« erkundigte sich Ellen erstaunt, als Inge Riemann nach Schulschluß erklärte, auf Lotte Müller warten zu wollen, da man ja doch denselben Weg habe.
»Es hat sich doch an unserem Schulweg nichts geändert und an der langweiligen Lotte Müller erst recht nichts.«
»Ihre Mutter ist krank und sie ist sehr traurig«, erklärte Inge ein wenig unbehaglich.
»Du bist ein gutes Mädel, Inge.« Ruth drückte den Arm der Freundin, während Ellen brummte, daß man sich hier an der zugigen Ecke auch noch etwas holen könnte.
Lotte kam nicht. Sie mußte wohl schon fort sein. Aber auch mittags erschien sie nicht bei Riemanns. Inge wollte spornstreichs nach Tisch zu der unweit gelegenen Müllerschen Wohnung, um nach dem Grund des Ausbleibens zu forschen. Doch Frau Riemann war ängstlich, daß Grippe oder sonst eine ansteckende Krankheit bei Müllers herrschen könnte. Sie versprach, selbst nachzuschauen.
»Lotte Müller ist ein Prachtmädel«, berichtete Frau Riemann heimkehrend. »Sie ist heute mittag nicht gekommen, weil der Arzt die Mutter ins Krankenhaus hat bringen lassen. Sie hat sich zu Hause nicht die notwendige Ruhe gegönnt. Nun macht das fleißige Mädel den ganzen Haushalt allein. Ich werde ihr unsere Marie nachher zur Hilfe hinschicken.«
»Ich würde der Lotte auch gern helfen, wenn ich es könnte«, sagte Inge und schämte sich etwas. Zog sie nicht schon ein Gesicht, wenn eins der Mädchen Ausgang hatte und sie nur beim Tischdecken helfen sollte? Und Lotte, die nicht älter war als sie, versah jetzt den Haushalt ganz allein.
»Muttichen«, sagte Inge nach längerem Nachdenken, »ich habe mir das mit dem Wintermantel überlegt. Es ist doch wohl besser, ihr kauft der Lotte einen derben, warmen Mantel als mir einen eleganten.« Inges Stimme zitterte ein wenig. Leicht wurde es ihr nicht, auf den neuen Mantel zu verzichten.
»Brav, Inge!« Anerkennend strich die Mutter ihrem Kinde über das Haar.
Auch ihr Spargeld vernaschte Inge nicht mehr. Jeder Pfennig kam in die kleine silberne Mühle zu Weihnachtsgeschenken für Lotte Müller und ihre kleinen Geschwister.
Inges elfter Geburtstag aber wurde gefeiert. Anders als sonst. Die drei Freundinnen, Ellen, Ruth und Lotte mit ihren kleinen Geschwistern kamen zur Nachmittagsschokolade. Auf eine große Kindergesellschaft wie sonst verzichtete Inge, denn sie hatte selbst eingesehen, daß jetzt keine Zeit war, kostspielige Feste zu feiern. Nie hatte ihr die Geburtstagsschokolade so gut gemundet wie heute, wo sie sah, wie die kleinen Müllers mit strahlenden Augen es sich schmecken ließen. Das Theaterstück »Puppengeburtstag« wurde aber trotzdem aufgeführt. Die Kostüme dazu hatten sich die Freundinnen aus ihrem eigenen Vorrat, ohne etwas dazu zu kaufen, recht nett zusammengestellt. Vater und Mutti, Lotte Müller und ihre kleinen Geschwister, Marie und Luise waren ein dankbares Publikum.
Am merkwürdigsten jedoch war Inges Geburtstagstisch in diesem Jahre. Elf Lichter brannten um das dicke, rote Lebenslicht wie immer – nur, daß es in jedem Jahre eins mehr wurde. Statt der vielen schönen Gaben, welche die Eltern sonst ihrem Töchterchen aufzubauen pflegten, lagen nur ein paar nützliche Geschenke unter Blumen. Aber ein Mantel, ein schöner warmer Wintermantel war da. Und als Inge ihn der erstaunten Lotte überzog, empfand sie über Lottes dankbare Überraschung eine größere Freude, als wenn sie selbst den neuen Mantel bekommen hätte.
Das Schönste, das Allerschönste aber war, daß der Vater Inge versprach, Herrn Müller eine Tätigkeit in seinem Büro zu verschaffen, da er sich inzwischen von seinen Fähigkeiten überzeugt hatte.
Inge hatte an ihrem elften Geburtstag gelernt, für andere Opfer zu bringen.
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