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Kleine Spottdrossel.

Das lustigste Mädel in der Quinta war die Hanni. Wo die Hanni war, gab's stets was zu lachen. Allenthalben fand sie etwas Ulkiges heraus, über das sie ihre Glossen machte. Aber leider fast immer auf Kosten anderer. Die etwas krummen Beine des Schuldieners, das Struwelpeterhaar des Mathematiklehrers, das fürwitzige Zopfschwänzchen, das sich ab und zu aus dem vorsintflutlichen Haarknoten einer Lehrerin löste, ja, selbst die Ehrfurcht gebietende Glatze des gestrengen Herrn Direktors, alles gab ihr Stoff zum Lachen. Vor nichts machte ihr Spottmäulchen halt. Die Schulkameradinnen jubelten ihr Beifall zu, wenn sie irgendeine kleine Eigenheit der Lehrer getreulich nachahmte. Dabei waren die Freundinnen selbst vor Hannis Spott niemals sicher.

»Kommt ihr heute nachmittag aufs Eis?« fragte Margot beim Abschied an der Straßenecke. Sie lispelte ein wenig, wenn sie das S sprach, nur ein ganz klein wenig. Es hörte sich eigentlich ganz niedlich an, als ob sie noch ein kleines Kind wäre. Die Schulfreundinnen waren an ihre Sprechweise gewöhnt. Sie hatten das nette Mädel gern, so wie es eben war. Nur Hannis Spottmäulchen ahmte der Margot bei jeder Gelegenheit das Lispel-S nach.

»Natürlich kommen wir aufs Eis, von vier bis sechs.« Hanni stieß genau wie Margot beim S mit der Zunge an.

Die andern Mädel lachten. Margot wurde rot und bog mit eiligem »Auf Wiedersehen« beschämt in eine der Straßen ein.

»Auf Wiedersehen!« rief die lose Hanni immer noch lispelnd hinter der Davoneilenden her.

Eva, ihre Intima, schob ihren Arm in den Hannis. »Du mußt die arme Margot nicht immer lächerlich machen. Sie kann doch nicht dafür, daß sie lispelt. Das ist ein Zungenfehler. Über Gebrechen darf man nicht spotten.«

»Lispeln ist eine schlechte Angewohnheit, die sie sich abgewöhnen muß«, widersprach Hanni. »Sie kann mir nur dankbar sein, wenn ich sie darauf aufmerksam mache.«

»Das ist sie aber ganz und gar nicht. Im Gegenteil, ich sah, wie sie mit den Tränen kämpfte, das arme Ding«, meinte Eva mitleidig. »Du darfst sie nicht immer vor den andern aufziehen, Hanni.«

»Geweint hat die Margot?« Hanni machte ein bestürztes Gesicht.

Aber auf dem Heimweg gab es allerlei, was niederdrückende Gedanken nicht aufkommen ließ. Gefrorene, spiegelblanke Pfützen, auf denen man schliddern konnte, wenn man auch schon elf Jahre alt war. Lustig schneeballende Jungen, die einem einen weißen Gruß gegen die Pelzmütze sandten und denen man natürlich mit einem weißen Geschoß antworten mußte, wenn man nicht für feige gelten wollte. Und nun fing es auch gar noch an zu schneien, lustig und übermütig im tollen Flockentanz. Sollte da ein junges Menschenkind etwa Trübsal blasen? Nachdenklichkeit war niemals Hannis Sache. Die Margot, – pah, die würde heute auf der Eisbahn schon wieder gut werden. Was brauchte die auch so empfindlich zu sein! Sie hatte es doch wirklich nicht böse gemeint.

In glänzender Laune langte Hanni daheim an. Ach, es war ja Mittwoch heute, da war Lieschen, das gute Nählieschen, regelmäßig bei Bessers. Alles, was man in der verflossenen Woche an abgerissenen Knöpfen und heimlichen, vor Mutteraugen nicht immer ganz angebrachten Rissen aufgespeichert hatte, wurde dem guten Lieschen ins Hinterstübchen eingeschmuggelt. Lieschen half aus allen Nöten. Nicht nur Wunden an Kleidern wußte sie mit ihren geschickten Fingern zu heilen, auch für alle seelischen Schmerzen der Besserschen Sprößlinge hatte das Nählieschen mit ihrem warmem Herzen stets ein Pflaster bereit. Mit all ihren Wünschen und Anliegen kamen die Kinder zuerst zum Lieschen. Sie war eine gute Fürsprecherin bei den Eltern.

Was Wunder, daß die Kinder am Mittwoch nicht aus Lieschens Nähstube herauszukriegen waren. Ja, die Großen beneideten das kleine Mariannchen, das Bessersche Nesthäkchen, das noch nicht zur Schule ging. Mariannchen hatte es gut, die konnte den ganzen Tag hinten beim Nählieschen stecken.

Behutsam öffnete Hanni die Tür zu Lieschens Werkstatt. Hinter dem Rücken der Näherin schlich sie sich auf den Zehenspitzen heran und legte ihr plötzlich die Hände vor die bebrillten Augen.

»Herrje, hab' ich mich aber erschreckt!« Lieschen fuhr aus ihrer Flickerei empor. Hanni wollte sich vor Lachen ausschütten, daß Lieschen solchen Schreck bekommen hatte.

Das gute Lieschen lachte wie immer mit. »Kleine Spottdrossel, mußt du dich denn immer auf Kosten anderer lustig machen!« Sie drohte Hanni scherzhaft mit dem zerstochenen Zeigefinger.

Hanni wurde rot. Sie mußte an Margot denken. Aber schon im nächsten Augenblick wurde der lästige Gedanke beiseite geschoben.

»Was machst du denn da, Lieschen? Ach, Kurts Hosen? Mein schottisches Kleid ist viel notwendiger. Ich gucke schon wieder mit beiden Ellbogen heraus. Und aus meinen Handschuhen wachsen Spargelköpfe, alle Finger zerlöchert; und am Mantel bammeln drei Knöpfe. Geliebtes Lieschen, nicht wahr, du machst es mir?«

»Na, wollen mal sehen«, schmunzelte die alte Näherin, wie immer bereitwillig. »Sind ja noch beinahe vierzehn Tage bis Weihnachten. Da müssen wir die alten Handschuhe wohl noch mal herrichten, ehe der Weihnachtsmann neue bringt.«

»Mutti hat gesagt, die Hanni kann sich schon Knöpfe und Handschuhe allein nähen, sie ist ein großes Mädchen. Du sollst sie nicht so verwöhnen, hat die Mutti gesagt«, berichtete das Nesthäkchen wichtig.

»Geht dich gar nichts an, dummes Ding«, fuhr Hanni ärgerlich auf die kleine Schwester los.

»Geht mich doch was an. Lieschen wollte mir bei meinem Puppenkleid helfen, und nun kommst du mit deinen ollen Spargelhandschuhen dazwischen.« Die Kleine verzog weinerlich den Mund.

»Kinder, vertragt euch! Ich finde schon noch zu allem Zeit«, beschwichtigte Lieschen. Wie oft im Laufe des Tages ihr »Kinder, vertragt euch!« erklang, das konnte weder sie, noch eins der Kinder zählen. Es gab gar oft Katzbalgereien zwischen den dreien in Lieschens Nähstübchen.

Denn auch Kurt, der Sextaner, der alsbald auf der Bildfläche erschien, war mehr Bengel als Engel. Er foppte das kleine Schwesterchen und er hielt auch mit Hanni nicht Frieden. Das Schlimmste aber war sein technischer Forschungstrieb. Immer hatte Kurt etwas an Lieschens Nähmaschine herumzubasteln, meist mit dem Erfolg, daß das Rad plötzlich stillstand und sich nicht mehr drehte. Dann lachte Hanni mit Kurt um die Wette das arme Lieschen, das sich nun mit der streikenden Nähmaschine herumärgern mußte, aus.

Lieschen wurde niemals böse. Höchstens drohte sie mal: »Kinder, ich setze euch an die Luft.« Aber die drei wußten, daß sie nicht Ernst machte.

War das gemütlich drin beim Nählieschen! Man kannte das nüchterne Schrankzimmer, in das man die ganze Woche über kaum kam, am Mittwoch gar nicht wieder. Da war's nicht so schön aufgeräumt, wie in den andern Zimmern, wo man keine Unordnung machen sollte. Flicken und Fädchen lagen da umher, bunt und lustig. Zwischen all dem Schneiderkram auf dem Tisch dampfte Lieschens geliebte Kaffeetasse, die ihr wichtiger war als das Mittagbrot. Und ein rotbackiger Apfel lag meist auch noch dazwischen. Das gute Lieschen hatte ihn vom Frühstück für die Kinder aufgespart. Merkwürdig, – so wie dieser Apfel schmeckte kein anderer von der Obstschale drin im Eßzimmer.

Da saß die Hanni mit ihren Rechenexempeln, der Kurt mit seiner Lateinarbeit, und Klein-Mariannchen mit ihren sämtlichen Puppenkindern. Alles so eng wie möglich um Lieschens Nähmaschine geschart. Das Gemütlichste aber war sie selbst. Klein, nicht größer als die Hanni, mit etwas schiefer Schulter und etwas hinkendem Gange. Lieschen war der Größenmaßstab für alle Kinder, in deren Familien sie arbeitete. Selbst das fünfjährige Mariannchen stellte sich auf die Zehenspitzen und behauptete, bald so groß zu sein wie das niedliche »Nählieschen«.

Wenn Lieschen da war, wußte die Mutter ihre drei gut aufgehoben. Sogar bei den Schularbeiten half Lieschen. Lateinische und französische Vokabeln mußte sie abfragen. Wenn aber Lieschen eins der ihr fremden Worte falsch aussprach, gab das Hanni endlosen Stoff zum Lachen und zum Spotten.

»Spottdrosselchen – Spottdrosselchen!« drohte Lieschen lächelnd. »Ich habe meine Eltern nicht so viel Geld gekostet wie du. Ich habe nicht so viel lernen dürfen.«

Dann tat es Hanni wohl leid, daß sie Lieschen verlacht hatte, und sie erdrückte das kleine Persönchen fast mit ihren Liebkosungen. Aber bei der nächsten Gelegenheit machte sie es wieder ebenso.

So gern die Kinder sonst auf die Eisbahn gingen, heute, wo Lieschen da war, wären sie viel lieber zu Hause geblieben. Aber Lieschen war es ganz lieb, daß die drei mal auf ein Weilchen aus ihrem Stübchen verschwanden. Denn vierzehn Tage vor Weihnachten gab es schon allerlei Überraschungen mit der Mutter zu beratschlagen.

Alle Freundinnen waren auf der Eisbahn. Nur Margot fehlte. Vergeblich spähte Hanni nach ihr aus. War sie nicht gekommen, weil sie sich gekränkt fühlte?

Man lief Achten, Autobus, Schlange und Flugzeug, so ausgelassen wie sonst. Die Wangen der jungen Eisläufer glühten, die Augen strahlten. Aber Hanni konnte trotz aller Freude an dem gesunden Sport ein bedrückendes Gefühl nicht los werden. Warum war Margot nicht gekommen?

Daheim beim Nählieschen mußte Hanni ihrem Herzen Luft machen. Wenn man dem Nählieschen etwas anvertraute, fühlte man sein Gewissen gleich erleichtert.

Über die Brille hinweg sah Lieschen das errötend stotternde Mädchen schweigend an, so merkwürdig, daß es Hanni unbehaglich zumute wurde.

»Ich weiß schon, was du sagen willst, Lieschen, – ›Kleine Spottdrossel!‹ Hab' ich's getroffen?« Sie lachte, aber es war ein unfreies Lachen.

»Ja, Kind, du wirst mit deiner Spottsucht noch viel Lehrgeld im Leben zahlen müssen«, sagte Lieschen ernst.

»Lehrgeld?« Hanni versuchte schon wieder, die Sache ins Lächerliche zu ziehen.

»Freilich, du wirst dich dadurch unbeliebt machen, daß du andere auslachst und verletzt. Ich weiß, du bist nicht herzlos, aber du kannst leicht dafür gehalten werden, wenn du über alles spottest.«

So ernst hatte Lieschen selten zu einem der Kinder gesprochen. Es ging Hanni mehr zu Herzen, als wenn die Mutter ihre Unzufriedenheit äußerte. Mütter haben öfters mal was an ihren Kindern auszusetzen. Aber Lieschen, nein, wenn Lieschen so sprach, dann mußte sie wirklich die abscheuliche Spottsucht abzulegen suchen.

»Warum nennst du mich denn bloß immer ›Kleine Spottdrossel‹, Lieschen?« erkundigte sie sich ablenkend. Allzulange pflegt man sich nicht gern bei seinen eigenen Fehlern aufzuhalten.

»Na, weil die Spottdrossel dasselbe unter den Vögeln ist, was du unter deinen Freundinnen bist. Der Lustigmacher auf Kosten anderer. Die Spottdrossel macht alle Vogelstimmen nach, darum können sie die andern Vögel nicht leiden.«

»Mich können sie aber alle in der Klasse leiden, mich haben sie sogar sehr gern«, behauptete Hanni.

»Weil du ihnen zu einem Spaß verhilfst. Insgeheim ist doch einer jeden dein loses Spottmäulchen unbehaglich. Denn jede muß ja befürchten, daß sie selbst mal herankommt.«

Nählieschens Worte gingen Hanni diesmal länger nach als sonst.

»So schweigsam, Wildfang?« erkundigte sich der Vater beim Abendessen verwundert. »Was ausgefressen?« Seine Augen wanderten von seiner Ältesten zu seiner Frau hinüber.

»Hanni ist sicher von der Eisbahn müde, nicht wahr?« meinte diese lächelnd.

»Ach, keine Spur«, verteidigte sich Hanni.

»Ich weiß, was sie hat«, ließ Kurt sich pfiffig hören. »Die Hanni denkt sicher über den Weihnachtswunschzettel nach.« Er selbst hatte den ganzen Abend damit zugebracht, seinen Wunschzettel dreimal zu schreiben und wieder zu zerreißen.

»Na, was soll der Weihnachtsmann denn diesmal bringen, ihr Krabben?« erkundigte sich der Vater.

»Den Funkturm!« rief Kurt ohne Besinnen.

»Ja, den Funkturm!« fiel Hanni lebhaft ein.

»Den Funkturm!« rief es auch aus dem Nebenzimmer, in dem Klein-Mariannchen bereits schlafen sollte.

»Ei der Tausend, wißt ihr nicht noch ein größeres Geschenk?« Der Vater lachte belustigt. »Du meinst wohl einen Stabilbaukasten, mit dem du einen Funkturm bauen kannst, Kurt?«

»Nee, wir meinen den richtigen Funkturm, der hier bei uns in Charlottenburg steht und abends immer hell und dunkel wird«, beharrte Kurt, der Sprößling.

»Kurt ist dämlicher als dämlich«, spottete Hanni. »Den Funkturm sollt ihr uns natürlich nicht unter dem Weihnachtsbaum aufbauen. Aber du hast uns versprochen, Vater, daß du mal mit uns hinaufsteigst. Man soll von dort über ganz Berlin sehen können.«

»Ja, und die Menschen sollen von da oben wie Ameisen aussehen, die in den Straßen herumkrabbeln, sagt unser Lehrer.«

»Und dann ist man gleich im Himmel oben«, gähnte Nesthäkchen aus dem Bette.

»Ja, Vater, dann werden wir doch wohl mit den Kindern mal auf den Funkturm steigen müssen«, fiel die Mutter lächelnd ein. »Wenn das ihr einziger Weihnachtswunsch ist ….«

»Jawohl, der einzige! Aber der allergrößte!« riefen Hanni und Kurt. »Am ersten Weihnachtsfeiertag gehen wir auf den Funkturm – ja, Mutti? Hurra!«

Nählieschen, die sich gerade verabschieden kam, schmunzelte.

»Na, dann bestellt euch nur gleich klares Wetter zu eurer Klettertour, damit ihr auch Aussicht habt. Nehmt ihr mich nicht mit?«

»Natürlich!« rief Kurt gutherzig. »Vater, das Nählieschen muß auch mit auf den Funkturm.«

»Nählieschen ist noch viel zu klein, die kann gar nicht über das Gitter 'rübersehen«, ließ sich Nesthäkchen schon ziemlich verschlafen vernehmen.

Hanni schwieg. Sie warf einen vielsagenden Blick auf Lieschens kleine Gestalt in dem altmodischen Mantel, der ihr fast bis zu den Füßen reichte.

»Ich mache mich auch fein dazu«, sagte Lieschen beim Hinausgehen. Merkwürdig, wie das Nählieschen Gedanken erraten konnte.

Etwas beklommen ging Hanni am nächsten Tage in die Schule. Würde Margot böse mit ihr sein?

Nein, Margot war nett und freundlich wie immer. Als ob nichts vorgefallen sei. Sie hatte Besuch bekommen und war deshalb nicht auf der Eisbahn gewesen. Wie dumm, daß sich Hanni überhaupt deshalb Gedanken gemacht hatte.

Sie war wieder ganz obenauf. Keiner war vor ihrem losen Mund sicher. Nicht einmal Freundin Eva, die heute in der deutschen Stunde wegen Schlafmützigkeit getadelt worden war. Sobald Hanni ihrer ansichtig wurde, begann sie laut zu schnarchen. Natürlich stimmten die andern Mädel in ihr Lachen ein.

Eva war beleidigt.

Sie ging nicht wie sonst mittags mit Hanni nach Hause, sondern mit irgendeiner andern. Hanni folgte im großen Mädchenschwarm. Sie tat so, als ob Eva ihr ganz gleichgültig sei. Aber heimlich nahm sie sich vor, künftig mehr auf ihre spöttische Zunge zu achten. Es war doch nicht angenehm, mit seiner »Besten« einen ganzen Tag lang schuß zu sein.

Weihnachten rückte näher und näher. Der Tannenwald war in die Großstadt gewandert und erfüllte die nüchternen Straßen mit seinem Duft und seiner Poesie. Weihnachtsfreude auf allen Gesichtern der mit Paketen beladen Dahinhastenden.

Im Besserschen Hause zählte man die Tage bis Weihnachten wie allenthalben, wo sehnende Kinderherzen dem Feste entgegenschlugen. Ein jedes der Kinder hatte sein Geheimnis, seine Weihnachtsüberraschung. Aber der schöne Tannenbaum, der draußen auf dem Balkon der schmückenden Hand harrte, hatte diesmal Konkurrenz bekommen. Der Funkturm, der am ersten Feiertag erstiegen werden sollte, war den Kindern nicht weniger wichtig. Wenn es bloß klares Wetter zum Fest wurde!

Und dann flammte der Lichterbaum auf. Die altvertrauten Klänge des lieben Weihnachtsliedes durchzogen weihevoll den Raum. Kindersang, Kinderjauchzen und Kinderglück. Und schließlich eine dankbare Müdigkeit nach all der Freude.

»Morgen ist ein ebenso feiner Tag wie heute«, stellte Kurt beim Gutenachtsagen fest. »Vormittags Funkturm und Nachmittags Bescherung beim Nählieschen.« Der Besuch am ersten Feiertag beim Nählieschen gehörte für die Besserschen Kinder zu Weihnachten wie Karpfen und Stolle.

»Lieber Gott, mach', daß es morgen nicht regnet«, betete Nesthäkchen in seinem Gitterbett. Hanni, die daneben schlief, hätte es am liebsten ebenso gemacht. Aber sie war doch schon viel zu groß dazu. Spöttisch lächelte sie. Und gleich darauf erschrak sie. Wenn der liebe Gott sie nun strafte und es regnen ließ?

Nein, blauer Frosthimmel überspannte feiertäglich am andern Morgen die Welt. Die Wintersonne, sonst so fahl, gab sich Mühe, so golden wie möglich zu strahlen. Auch die Augen der Besserschen Kinder strahlten, als sie in den neuen, vom Nählieschen verfertigten Weihnachtskleidern zu den Eltern an den Frühstückstisch traten.

»Gehen wir gleich auf den Funkturm?«

»Na, erst wollen wir mal in Ruhe frühstücken, Kurt«, erklärte die Mutter.

Aber die Kinder gaben keine Ruhe. Jede Minute liefen Kurt oder Marianne ans Fenster, um zu sehen, ob die Sonne auch noch schiene, ob Nählieschen sie noch nicht abholen käme.

Hanni sah dem Nählieschen mit geteilten Gefühlen entgegen. So nett Lieschen auch im Hinterstübchen war, auf der Straße, nein, da machte sie doch eine zu komische Figur. Und am Lietzensee, ganz nahe am Funkturm, wohnte eine ihrer Schulfreundinnen. Wenn die sie mit dem kleinen, hinkenden Lieschen erblickte!

Die Telefonglocke schlug an. Hanni stürzte zum Apparat. »Mutti, eine Dame will dich sprechen.«

Und gleich darauf die freudig erregte Stimme der Mutter: »Martha, du! Das nenne ich aber eine Weihnachtsüberraschung! Wieviele Jahre haben wir uns nicht gesehen? Ach, bloß auf drei Stunden seid ihr hier? Das ist ja eine kurze Freude. Natürlich sind wir zusammen. Du kommst mit deinem Mann zu uns! Also so bald wie möglich, Martha.«

»Nein – nein – das geht ja gar nicht! Wir müssen doch auf den Funkturm!« Dreistimmiger Protest der Sprößlinge erhob sich, als die Mutter den Hörer zurücklegte.

»Auf den Funkturm können wir an jedem andern Tage gehen, Kinder. Aber meine Jugendfreundin ist nur heute vormittag in Berlin. Freut ihr euch denn nicht auch auf Tante Martha, von der ich euch erzählt habe?«

»Nee, gar nicht!« Die Antwort ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. »Dann kann ja Vater mit uns auf den Funkturm gehen«, verlangte selbst die große Hanni enttäuscht.

»Aber Kind, sei doch nicht so unvernünftig! Wenn Tante Martha zum ersten Male mit ihrem Mann zu uns kommt –.«

»Aber uns hast du's zuerst versprochen, Vater. Uns hast du's zu Weihnachten geschenkt. Und was geschenkt ist, bleibt geschenkt. Es ist unser allergrößter Wunsch gewesen.« Kurt weinte, trotz seiner Sextanerwürde, vor Enttäuschung.

»Nählieschen kann ja mit uns gehen«, schlug Nesthäkchen vor.

»Ach, mit Nählieschen ist es lange nicht so schön wie mit Vater und Mutter.« Daß es nur äußerliche Gründe waren, weshalb Hanni nicht mit Lieschen gehen mochte, verschwieg sie.

Pünktlich wie immer erschien Lieschen. Sie hatte sich wirklich fein gemacht. Aber trotz Lieschens nettem Mantel und Hut blickte Hanni unzufrieden drein. Während sich die Geschwister freudestrahlend in Lieschens Arm einhängten, blieb Hanni auf der Straße sogar immer ein paar Schritte zurück, als gehöre sie nicht zu den dreien. So zogen sie dem hohen Funkturm, dem Wahrzeichen der Stadt Charlottenburg, entgegen.

»Lieschen hat heute nachmittag Überraschungen für uns, für dich auch, Hanni«, rief Nesthäkchen.

Lieschen blieb stehen und wandte ihr gutes Gesicht zurück.

»Schon müde, Hannichen? Du willst ja heute gar nichts von deiner alten Freundin wissen.«

Bis über die Ohren wurde Hanni rot. Sie stotterte irgend etwas. Aber es war, als ob Lieschens klare Augen bis auf den Grund ihrer Seele drangen. Gern hätte sie ihre falsche Scham bezwungen und des guten Lieschens Arm genommen. Aber da kam ja gerade ihre Schulfreundin, schön geputzt, in Begleitung ihrer Eltern ihr entgegen.

Man begrüßte sich. Wozu mußte denn auch Lieschen mit den Kindern stehenbleiben? Da war es kein Wunder, daß die Schulfreundin ihr zuflüsterte: »Was habt ihr denn für ein niedliches Kinderfräulein?«

»Das ist doch bloß unser Nählieschen!« Hanni stimmte in das Lachen der andern ein. Und dabei hatte sie deutlich das Gefühl ihrer Schlechtigkeit, daß sie ihre alte Freundin verlachte.

Nählieschen schien nichts gehört zu haben. Freundlich betrat sie mit den Kindern den freien Platz, auf dem der Funkturm in den blauen Himmel hineinwuchs. »Was ist das für ein stattliches Bauwerk! « sagte sie bewundernd. »Man wird schon schwindlig, wenn man es nur von unten ansieht.«

»Abends, wenn der Scheinwerfer vom Turm leuchtet, ist es noch viel feiner«, rief Kurt.

Unwillkürlich maß Hanni die voranhumpelnde kleine Näherin mit dem Riesenturm. Und als Lieschen jetzt am Billettschalter Karten löste, ging ihr Spottmäulchen wieder mit ihr durch.

»Lieschen, du brauchst nur ein Kinderbillett, weil du so klein bist«, spottete sie.

Lieschens blasses Gesicht überflutete peinliche Röte. Denn die Umstehenden lachten offen oder versteckt. Nur eine ältere Frau sagte verweisend: »Die heutige Jugend kennt keinen Respekt mehr vor den Erwachsenen.«

Jetzt war es an Hanni, rot zu werden. Sie drückte Lieschen heimlich abbittend die Hand: »Ich wollte dich nicht kränken, Lieschen, bloß ….«

»Bloß die kleine Spottdrossel konnte mal wieder ihren Schnabel nicht halten«, lachte Lieschen gutmütig und begab sich zum Fahrstuhl, der zur Aussichtsgalerie emporführte.

Kurt hielt sie am Mantel fest. »Wir wollen lieber die Stufen hinaufklettern. Wir haben um unsere Marzipanschweinchen gewettet, Hanni und ich, ob mehr als dreihundert Stufen sind.«

»Um Himmels willen, so viele Stufen soll ich mit meinem lahmen Bein steigen!« entsetzte sich Lieschen. »Nee, Kinder, nee, das könnt ihr nicht verlangen. Man wird ja schwindlig, wenn man nur daran denkt. Das ist ja gerade, als ob man in die Luft hineinsteigt!«

»Ist auch gar nicht erlaubt, mein Sohn«, mischte sich der Fahrstuhlführer hinein. »Bis zum Restaurant auf halber Höhe kann man die Treppe benutzen. Die Turmgalerie ist nur mit Fahrstuhl zu erreichen.«

»Es gehen doch aber Treppen hinauf«, beharrte Kurt. Er wollte doch zu gern seine Wette und Hannis Marzipanschweinchen gewinnen.

Nun standen sie hoch oben auf der Turmgalerie. Weit blickten sie auf Charlottenburg und Berlin hinab, auf alle die beschneiten, vom Sonnenglanz überfluteten Häuser, die so winzig klein wie Spielzeug aussahen. Eine Elektrische fuhr unten über den Platz – nein, war die niedlich. Und die Menschen krabbelten da unten auf dem Schnee herum wie Fliegen auf Zucker.

Lieschen hatte nicht Hände genug, um die drei, sich fürwitzig an das Galeriegitter wagenden Kinder festzuhalten und gleichzeitig ihren Sonntagshut, der bei dem Winde da oben das Weite suchen wollte. Sie hatte ja heute die Verantwortung für die Besserschen Kinder.

Über den schneeglitzernden Grunewald hinweg sah man die Türme von Spandau, die weiße Weite des Wannsees schimmern.

»Eine richtige Weihnachtsandacht hat man hier oben«, sagte Lieschen. »Man merkt, daß man dem Himmel ein Stück näher ist.«

Die Kinder empfanden weniger Andacht. Mariannchen strebte, von Lieschens fesselnder Hand loszukommen. Die beiden Großen, die sich längst befreit hatten, tuschelten miteinander.

Dabei schielten sie hinüber zu dem Schild an der Turmtreppe, auf dem in großen schwarzen Buchstaben »Verboten« zu lesen war.

»Komm' nur, schnell, der Wächter merkt es nicht, der ist gerade auf der andern Seite«, flüsterte Kurt aufgeregt Hanni zu.

Und die große Schwester, anstatt den vorwitzigen Jungen von seinem unerlaubten Vorhaben zurückzuhalten, folgte ihm tatsächlich die steile, in Windungen vom Turm herabführende Eisentreppe hinunter.

Aber schon nach wenigen Stufen klang Lieschens sonst so sanfte Stimme entsetzt hinter ihnen her: »Wollt ihr wohl sofort zurückkommen, Kinder! Das größte Unglück kann ja passieren. Augenblicklich macht ihr kehrt, oder ich hole euch!«

»Jawohl!« lachte es ausgelassen von der Turmtreppe.

»Bis du mit deinem lahmen Bein bei uns bist, sind wir lange unten«, spottete Hanni.

Plötzlich ein Schrei, ein Stöhnen. Mariannchens Weinen und die aufgebrachte Stimme des Turmwächters klang zu den herzklopfend Lauschenden herab. Da war etwas passiert. Was Lieschens Worten nicht gelungen war, das bewirkte jetzt ihr Stöhnen. Schreckensbleich kehrten die beiden Ausreißer um.

Oben empfing sie der Turmwächter scheltend.

»Könnt ihr denn nicht lesen? Es steht doch groß und breit hier angeschrieben: ›Verboten‹. Aber da muß immer erst ein Unglück passieren!«

Ein Unglück? Ja, da lag Lieschen mit geschlossenen Augen, leise wimmernd auf dem Boden. Fremde Menschen bemühten sich um sie. Mariannchen stand mit tränenüberströmtem Gesicht daneben.

»Was ist denn geschehen?« Kaum vermochten Hannis zitternde Lippen die Worte zu bilden.

»Was geschehen ist, das siehst du ja. Zurückholen wollte euch die Dame und ist dabei schwindlig geworden und gestürzt. Nun liegt sie hier mit 'nem Loch im Kopf. Und ihr seid schuld daran.«

O Gott! Aus Lieschens graublondem Haar sickerte Blut. Eine Dame wusch es mit schnell geholtem Wasser ab, machte einen Notverband um Lieschens Kopf.

»Wir sind schuld daran, – ich habe das arme Lieschen mit ihrem lahmen Bein verspottet – nun straft mich Gott dafür!« Wie in einem Kreis wirbelten die Gedanken in Hannis Kopf. Sie konnte nichts anderes denken.

»Wir müssen sie nach Hause schaffen und so schnell wie möglich ärztliche Hilfe holen.« Der Turmwächter trug die leichte kleine Gestalt in den Fahrstuhl. Und nun wurde Lieschen in ein Auto gebettet. Die fremde Dame stieg mit ein. Menschenfreundlich stützte sie die noch immer Bewußtlose. Gegenüber saßen die weinenden Kinder. Hanni streichelte heimlich Nählieschens Hand, die sich so oft für sie gemüht hatte. Und dabei betete sie aus Herzensgrund: »Lieber Gott, laß bloß Lieschen nicht sterben!«

Lieschens Wohnung war bald erreicht. Der Autoführer trug die noch immer Ohnmächtige die vier Treppen hinauf. Oben empfing sie Lieschens Schwester entsetzt. Barmherziger – war Lieschen von einem Auto überfahren worden?

Die fremde Dame half die Bewußtlose zu Bett bringen. Hanni lief zu einem nebenan wohnenden Arzt.

»Herr Doktor, lieber Herr Doktor, kommen Sie bitte schnell. Es ist jemand verunglückt und ich bin schuld daran.« Der Arzt sah die Seelennot in dem blassen Gesicht des Mädchens. Aufmunternd klopfte er ihr die Wange. »Es wird ja nicht so schlimm sein, Kind, beruhige dich nur.«

Es mußte aber doch wohl schlimm sein. Denn bei der Untersuchung des Arztes stöhnte und wimmerte das arme Lieschen aufs neue. Jeder Ton gab der herzklopfend lauschenden Hanni einen Stich ins Herz.

Es war das Weihnachtszimmer, in dem die Besserschen Kinder auf das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung warteten. Ein niedliches, lustigbuntes Tannenbäumchen stand auf dem Tisch. Darunter hatte das gute Lieschen bereits ihre Gaben für ihren jungen Nachmittagsbesuch ausgebreitet. Da war eine ganze Wäscheausstattung für Mariannchens Puppenbaby; allerliebste Windelhöschen, Jäckchen und Häubchen, alles von Nählieschens fleißigen Fingern verfertigt. Da gab es einen Stabilbaukasten, aus dem man einen hohen Funkturm bauen konnte, für Kurt. Wie beschämt empfand der Schlingel da seinen Fürwitz und seinen Ungehorsam vor Lieschens Güte. Und da saß in einem kleinen Bauer ein graues, unscheinbares Vögelchen. Das stieß ein merkwürdiges Gezwitscher aus. Es hörte sich beinahe wie Lachen an. »Spottdrossel« stand auf einem Zettel, von Lieschens Hand geschrieben.

.

Hanni schlug die Hände vor das Gesicht.

Nie, nie mehr wollte sie eine Spottdrossel sein! Wenn der Himmel nur diesmal noch gnädig war und Lieschen gesund werden ließ.

Da knarrte eine Tür. Der Arzt trat ins Zimmer.

»Nun, kleines Fräulein«, sagte er zu der verängstigten Hanni, »es sieht ja nicht schön aus. Eine Gehirnerschütterung. Aber mit Gottes Hilfe werden wir sie wieder gesund machen.«

Das wurden trübselige Weihnachtsfesttage. Tagelang bangten die Kinder um das Leben ihrer alten Freundin. Kein Wort des Vorwurfs hatten die Eltern für sie. Sahen sie doch, wie schwer sie für ihr Vergehen litten.

Aber Hanni verstand auch gut zu machen. Der Himmel erhörte ihr Flehen. Nählieschens Befinden besserte sich. Langsam, sehr langsam ging die Genesung vonstatten. Schneeglöckchen und Krokus blühten bereits, als Hanni ihrer alten Freundin die ersten Lenzboten selbst an das Krankenlager bringen durfte. Bleich lag Lieschen in den Kissen, aber ihre Augen blickten gütig und verzeihend auf das sich selbst anklagende Mädchen. »Meine kleine Spottdrossel«, sagte sie liebevoll.

Nein, Hanni war keine Spottdrossel mehr. Auch ohne Lieschens Weihnachtsgabe, die in ihrem Zimmer lustig zwitscherte, vergaß sie nie, daß ihre Spottsucht beinahe ein Menschenleben gekostet hätte.


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